Kapitel IV


 

Die hundertste oder tausendste Lautsprecherdurchsage hallte durch das kleine Quartier. Wie immer war kein Wort davon zu verstehen. Es klang nur geschäftsmäßig und fordernd. Die von den unbekannten Phrasen und dem Tonfall ausströmende Kälte ließ Etienne Belian noch mehr frösteln.

Er gab den Versuch, Schlaf zu finden, auf und wickelte die Decke enger um sich. Alles hier war kalt. Die abgeschlossene kleine Zelle mit der nüchternen und rein auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Einrichtung. Dazu die Luft, die mit einem leisen, stetigen Zischen aus dem Lüftungsloch strömte und an anderer Stelle wieder abgesaugt wurde. Dann noch die grau gestrichenen, eintönigen Metallwände. Und natürlich das All, das dahinter lag.

Bei der Erinnerung an den grauenvollen Flug wurde ihm erneut schlecht. Er hielt sich den Bauch und wusste genau, dass er nichts mehr würde erbrechen können. Es war nichts in ihm. Nur noch Wasser.

Louises Medaillon in der Tasche seiner dunkelvioletten Jacke aus viel zu grobem Stoff schien zu brennen. Ohne den hilfsbereiten Leutnant hätte man Belian auch dieses letzte persönliche Erinnerungsstück abgenommen. Der ganze Rest war schon weg. Inklusive der Reitsachen, in denen sie ihn nach der Ankunft am Raumhafen hier hochgeflogen hatten. Der Transport war sehr schnell und präzise abgelaufen. Das Aussteigen aus dem Hybridgefährt, die weitere Degradierung zum Gefangenen, als seine Handschellen von einem grobschlächtigen Mann in Violett doch hinter seinem Rücken angebracht worden waren, die sofortige Verschleppung an Bord des Shuttles, das Anpassen des Sitzes und der Start.

Sein grüner Engel war mitgekommen. Ohne ihn hätte Belian in dem Raumfahrzeug erneut die Nerven verloren. Die kurze Schwerelosigkeit und die körperlichen Strapazen hatten ihn beinahe an seine Grenzen gebracht. Genauso wie die Endgültigkeit seiner nicht mehr umkehrbaren Entführung.

Zuletzt hatte Rosil, der schon lange vor der Landung auf der Raumstation von Nouvelle Espérance seine eigenen Gurte gelöst hatte, ihm tröstend über den Arm gestrichen. Dann war der vermeintliche Diebstahl gefolgt. Belian hatte natürlich unweigerlich geglaubt, sein unersetzlicher Talisman wäre endgültig weg. Der Leutnant hatte jedoch nur den Finger auf die Lippen gelegt und auf seine Armbanduhr gedeutet. Wenig später hatte Belian verstanden, warum. Nach seiner Ankunft hatten sie ihn, der noch nie in seinem Leben gefesselt gewesen war, zwar befreit, aber dafür hatte er sich unter Aufsicht ausziehen müssen. Nach einer Untersuchung durch einen Medikus hatten sie ihn in eine Dusche gebracht und ihm dann dieselbe Kleidung gegeben, wie sie die meisten Leute hier auch trugen.

Violett, aber ohne jede Zierde oder jedes Rangabzeichen. Im Gegensatz zu den Uniformen der wenigen anwesenden Männer in Grün gab es bei den gleich geschnittenen anderen Pendants sehr viel Putz. Vor allem auf den Schultern. Die Abteilung, zu der Ginnes Rosil gehörte, war dagegen geradezu bescheiden. Ihre Aufmachung erinnerte Belian trotz des Farbunterschieds eher an Kristian Jasko und die anderen. Sie hatten Braun getragen. Ob die Farbe eine Schiffszugehörigkeit symbolisierte? War das der Grund, weshalb die gefangenen Offiziere erneut verhaftet worden waren, anstatt befreit zu werden? Durften Militärs sich untereinander streiten? Sicherlich doch eher nicht!

Die Art aller hier war nämlich schockierend. Gebrüll von den Anführern, sich ständig wiederholende Gesten, die so etwas wie Unterwerfung und Dominanz bedeuten mussten, und keinerlei Freundlichkeit. Stattdessen überall Schusswaffen. Sie symbolisierten für ihn Todesandrohung und Zwang. Das war die Welt, in die man ihn gestoßen hatte. Nun war er der Gefangene.

Nach der entwürdigenden Untersuchung, die Belian schrecklich viel Nerven gekostet hatte und ihm garantiert genau wie der Flug hierher noch zukünftige Alpträume bescheren würde, hatte er Rosil wiedergetroffen. Den Begleiter in der violetten Uniform mit dem schwarzen Dreieck am Ärmel hatte der Leutnant vor dieser Zelle weggeschickt. Dann hatte das Medaillon erneut den Besitzer gewechselt, und der Terraner hatte ihm die Hand gegeben. Die englischen Worte mochten auch ein guter Wunsch für die Zukunft gewesen sein, denn sie hatten verabschiedend geklungen. Auf ihre Weise irgendwie endgültig.

Vielleicht hatte der freundliche Offizier, der keineswegs so Angst einflößend war, wie es sein strenges Gesicht nahelegte, die Station in den langen Stunden längst wieder verlassen. Ein Leutnant mochte in der Navy vielen Männern etwas zu sagen haben, aber über ihm standen Commander mit drei Ärmelstreifen. Und über denen wiederum stand sicherlich einer der violetten Kerle, deren protziger Schulterschmuck den Rang genauso verkündet hatte wie die vier Ärmelstreifen. Womöglich gab es derer sogar fünf, sechs oder unendlich viele.

Commander Abraham und seine Leutnants hatten auf Nouvelle Espérance sehr viele militärische Verhaltensweisen abgelegt. Manchmal mochte etwas mehr davon wieder aufgeblitzt sein, aber meistens doch eher weniger. Hier jedoch schien jeder Zweite mit Nachnamen ‚Sir’ zu heißen oder so ähnlich. Wie die Leute sich da wohl gegenseitig auseinanderhielten?

All das zu bedenken war besser als in schädliche Grübeleien und die nachfolgende dumpfe Verzweiflung zu verfallen. Einmal hatte er am Anfang jenen Fehler begangen, kurz nachdem er sich nach einem probeweisen Rütteln an der abgeschlossenen Tür völlig aufgelöst auf die harte Matratze des viel zu schmalen Bettes geworfen hatte.

Sein mögliches künftiges Schicksal hatte ihm düster vor Augen gestanden: auf ewig die gleiche Behandlung wie die Terraner sie auf Nouvelle Espérance erfahren hatten. Gefangen, isoliert, einsam und als unterstes Glied der terranischen Gesellschaft völlig rechtlos. Er würde nicht einmal nach der Volljährigkeit seines kleinen Bruders heiraten können, sondern schlicht und ergreifend nie.

Schon wenige Stunden nach dem Beginn seiner Einschließung in diesen kleinen Raum kämpfte er außerdem gegen die Platzangst, obwohl er noch nie Klaustrophobie gehabt hatte. Zu Hause auf Gut Auvergne hatte er manches Mal Zimmerarrest gehabt, aber da gab es wenigstens ein Fenster zum Hinausschauen und ein Leben außerhalb. Auf der anderen Seite des Metalls gab es nur das feindliche kalte Nichts. Hatte Belian wirklich früher mal Nouvelle Espérance aus dem All sehen wollen, wie einer seiner Onkel es getan hatte? Ja, es mochte vielleicht ein schöner Anblick sein und hatte ihn von Sternenreisen träumen lassen, aber die Idee war eben nur eine hypothetische Wunschvorstellung gewesen. Ein Titelerbe verließ seine Heimatwelt nie, aber ein solcher war er nicht mehr.

Stattdessen war er ein verachtenswerter Krüppel und eine im Grunde wertlose Geisel, die außer seiner in dieser Hinsicht leider nicht sehr einflussreichen Schwester Louise niemand vermisste. Was auch immer die Terraner vielleicht künftig vom Duc d’Auvergne erwarteten, sie würden es garantiert nicht von ihm bekommen. Und dann würde Belian sterben, ohne dass sein ehemaliger Vormund auch nur im Geringsten am Wohlergehen seines ältesten Kindes interessiert war.

Wenn er über diese Dinge nachdachte, sich seiner grenzenlosen Verlorenheit und Hilflosigkeit bewusst wurde, drehte er durch. Er war kein Terraner, und irgendwann würde er im Gegensatz zu den sechs Offizieren die Wände hochgehen. Sich womöglich umbringen wollen wie ein Kristian Jasko oder ein schreckhaftes Nervenbündel werden wie manche der anderen. Zwei Jahre würde er die Haft im Gegensatz zu Jeffrey Abraham und seinen Leutnants nicht überstehen, und bis Terra waren es ja allein mehr als zwei Jahre. Und was sollte dann schon kommen? Nur ein anderes Gefängnis.

Um sich davon abzulenken, beschäftigte er sich lieber. Er dachte über seine Beobachtungen nach und versuchte, dazuzulernen. Seine persönlichen Erinnerungen oder die Gedanken an seine Zukunft versuchte er abzuschalten.

Er würde dringend Englisch lernen müssen. Verstehen und verstanden werden. Außerdem war das etwas, worauf er sich geistig einlassen konnte. Vielleicht traf er ja Ginnes Rosil noch einmal wieder oder jemanden wie ihn. Einen Terraner, der zuhörte oder präziser formuliert ‚nett’ und ‚zugänglich’ war. Kristian Jasko hatte damals nach eigenen Angaben mit einem Computer Französisch gelernt. Das musste doch auch umgekehrt gehen! Belian würde also nach einem solchen Gerät fragen oder vielmehr darum bitten müssen. Sein Stolz war nämlich das Erste, was sie ihm genommen hatten. Direkt nach seinem Gepäck und unmittelbar vor seiner letzten persönlichen Kleidung.

Das herrische französische ‚Ausziehen!’ des Übersetzers klang ihm jetzt noch in den Ohren. ‚Wir schauen dir schon nichts weg! Nur wenn du dich nicht beeilst, machen wir dir Beine!’

Wieder schauderte ihn, und er zitterte vor Kälte, Zorn und Ohnmacht.

Nein! Er würde nicht aufgeben! Es gab auch nettere Feinde. Mit ihnen würde er sich arrangieren. Vielleicht würde sich daraus eine Chance ergeben. Gott strafte die Hochmütigen, aber womöglich konnte Demut eine Wende hervorrufen. Könnte den Allmächtigen irgendwie dazu bringen, all das zurückzunehmen und ungeschehen zu machen.

Die Tür ging nach sehr kurzer Vorwarnzeit auf.

„Raus!“ Der Übersetzer mit dem Dreieck am violetten Ärmel und ein zweiter Mann, der gar kein Schwarz daran hatte. Dafür lag die Hand an der offen im Gürtel getragenen Waffe.

„Eine falsche Bewegung, und du bist dran.“

Er war schon längst Geschichte, aber das wusste außer ihm selbst und denjenigen, die ihm das Ganze angetan hatten, keiner. Verschüchtert wickelte er sich aus der fast nutzlosen dünnen Decke und nestelte nach seinen billigen und drückenden Schuhen, die natürlich nicht an seine Füße angepasst waren.

„Schneller! Mach gefälligst schneller! Der Don Captain wartet nicht gern!“

Belian hatte keine Ahnung, wer oder was das sein mochte, aber er glaubte zu ahnen, dass er diese Bekanntschaft lieber nicht machen wollte. Irgendwie hatte die Minizelle jetzt doch etwas Verheißungsvolles an sich.

Auf dem Gang standen bereits zwei andere Gefangene, die jeweils bewacht wurden. Der eine etwas jüngere war in der Ausbildungsanstalt seines Wissens vier Halbjahre unter ihm gewesen. Er gehörte zur Familie de Montierre, wenn Belian nicht alles täuschte.

Dem zweiten lief das Blut aus der Nase und tränkte den violetten Ärmel. Adrian Gervais de Tourennes hatte sich bei den Terranern den Kopf eingerannt. Das sah ihm ähnlich, denn Belian wusste nur zu genau, dass er mit seinem Widersacher vermutlich noch am Tag der Vergabe ihrer Abschlusszertifikate den Degen in einem Duell gekreuzt hätte.

„Ach, sieh an, so sieht man sich wieder! D’Auvergne verarscht die Terraner, indem er ihnen sein hinkendes, ihm Schande bereitendes Muttersöhnchen unter…“

Ein drohendes Knurren eines Wächters und eine andeutungsweise gehobene Pistole ließen Belians ungehobelten Intimfeind schweigen. Intelligent und in begrenztem Ausmaß lernfähig war der Kerl leider, ansonsten wäre er niemals auf die Ausbildungsanstalt für die Söhne der großen Familien gekommen.

Der Beleidigte vergaß das Ganze nach der ersten Instinktreaktion jedoch gleich wieder nahezu völlig. Er war kein d’Auvergne mehr. Also konnte Adrian Gervais ihm sprichwörtlich gestohlen bleiben. Im Moment gab es Wichtigeres.

Zuletzt waren sie sieben. Manche Türen blieben jedoch aus unerfindlichen Gründen geschlossen. Diejenigen, die jetzt in violetter Einheitsuniform der Feinde hier standen, vertraten dennoch einen guten Anteil der großen Familien von Nouvelle Espérance. Leider war auch ein Prévôt de Lille darunter. Glücklicherweise nicht Jean, sondern sein mittlerweile wohl zwanzigjähiger Bruder, der bald volljährig sein würde und bereits verheiratet war. Es war natürlich ungerecht, angesichts dessen noch froh zu sein, aber hier hätte Belian seinen ehemaligen Freund von der Ausbildungsanstalt, zu dem er seit dem Unfall den Kontakt komplett verloren hatte, nur äußerst ungern wiedergesehen.

Die Reaktion des älteren Prévôt zeugte jedoch von einer noch bestehenden Verbindung aufseiten der reichen Stadtverwalter. Jean dachte also nicht schlecht von Etienne Belian. Einen Verachteten nahm man nicht zur Kenntnis. Freundschaften eines älteren Sohnes waren hingegen oftmals auch mögliche Bande zwischen den Familien, genauso wie es umgekehrt sein konnte.

Der Bruder seines früheren Freundes und er tauschten zwar angesichts der Umstände keinen verbalen Gruß aus, aber ein Nicken. Der Übersetzer hatte Gespräche zuvor nachdrücklich verboten, und jeder von ihnen hatte einen Bewacher neben sich.

Man führte sie den Weg zurück, den Belian irgendwann schon einmal gegangen war. Wann auch immer das gewesen sein mochte. Zumindest seiner dürftigen Erinnerung nach war die Strecke identisch. Er bemühte sich um einen aufrechten Gang und verbarg sein Hinken instinktiv vor dem hinter ihm gehenden Gervais. Manche Reflexe waren nicht zu unterdrücken.

Tatsächlich hatte sein Gedächtnis ihn nicht getrogen. Sie kamen wieder in der riesigen Halle an, wo Shuttles diverser nahe bei der Station liegender Raumschiffe andocken konnten. Das war wohl der Ort, an dem der Transfer zwischen Planet Nouvelle Espérance und der Handelsflotte abgewickelt worden war. Ausländische Händler hatten das System in der Regel nicht ansteuern dürfen. Taten sie es doch, wurden sie bestraft. Nur wer wollte eine ganze Flotte der Terranischen Föderation bestrafen? Zumindest in diesem einen Punkt hatte Theodore Charles Belian d’Auvergne garantiert nicht gelogen. Die Terraner waren hier, also war ein Kampf sinnlos gewesen. Ergo war der Gegner zu stark.

In einer Ecke der kühlen Halle standen mehrere Männer. Darunter waren ein noch nicht zuvor gesehener herausgeputzter Vierstreifer mit einer Brille auf der Nase, zwei Leutnants, diverse Dreiecksträger und eine Handvoll Leute ohne Abzeichen. Aus der violetten Masse stachen zwei einzelne grüne Uniformen deutlich heraus. Gleichfalls ein Vierstreifer und noch dazu ein Leutnant. Leider war es nicht Ginnes Rosil, sondern ein rundlicher älterer Mann, der die Arme gelangweilt verschränkt hatte und ein abfälliges Gesicht machte. Der kleinwüchsige höhere Offizier war zwar nicht so abweisend, aber er wirkte doch unbeteiligt. Die beiden standen am Rand. Fast als wären sie nur Zuschauer.

Sehr bald erwies sich, dass dies auch haargenau zutraf. Eigentlich waren alle Zuschauer, als der Übersetzer auf Französisch die Aufforderung verkündete, eine Reihe zu bilden.

Dabei gelang Belian, zwischen de Montierre und Jean Prévôts Bruder stehen zu bleiben. Erst viel zu spät ging ihm auf, am falschen Ende zu stehen. Der nervöse Jüngere zu seiner Linken hatte sich nämlich verschätzt, während es dem Ältesten von ihnen natürlich weniger ausmachte. Man konnte Unheil aufschieben, aber entrinnen konnte man ihm dennoch nicht. Daran dachte auch Belian, als der herausgeputzte Offizier sich aus der Traube seiner Leute löste und allein vor die nicht ganz ordentliche kleine Reihe trat. Die Augen schielten über die Brillengläser.

„Mein Name ist Don Miguel Sergio Torres.“ Glasklares und kaum akzentuiertes Französisch, das weit hallte. „Ich bin Captain Seiner Majestät Xerxes dem Ersten von Alpha Centauri. Die vereinigte Navy des Sternenreiches von Alpha Centrauri und Sirius hat dieses System gestern erobert und dem Gebiet der Allianz einverleibt.“

Die Übersetzungspause existierte trotzdem, aber sie war für das englischsprachige Publikum gedacht. Für die gelähmten Einheimischen waren die mächtigen Worte wie Schläge gekommen. Der Offizier im Rang des Captains fing nämlich gerade erst an.

„Damit sind Sie alle automatisch zu Staatsbürgern des Sternenreiches geworden. Da es jedoch keinen König außer Seiner Majestät Xerxes dem Ersten geben kann, hat der vormalige Monarch dieses provinziellen Planeten heute Mittag um zwölf Uhr abgedankt. Er nimmt mit seiner Familie die Gastfreundschaft unseres generösen Herrschers an und wird uns zurück nach Alpha Centauri begleiten. Ein vorläufig von uns eingesetzter Gouverneur wird dem zurückgebliebenen Nouvelle Espérance helfen, den Stand eines modernen, industriell geprägten Mitgliedes des Sternenreiches zu erreichen. Die Lebensbedingungen aller Menschen auf Ihrer Heimatwelt werden sich binnen weniger Jahre drastisch verbessern.“

Allein die Stimme des Übersetzers durchbrach die Stille.

‚Das kann doch nicht wahr sein! Das kann und darf doch alles nicht wahr sein!’ Immer wieder dachte Belian genau das, aber leider wachte er nicht auf.

„Sie alle verstehen sicherlich, dass die Allianz sich der Mitarbeit Ihrer Familien versichern muss. Normalerweise…“ Torres schritt die Reihe immer wieder von vorn bis hinten ab.

„… würden auch Sie lediglich das Privileg genießen, mit Alpha Centauri einen der Ursprungsorte der menschlichen Kultur, natürlich neben Sirius und Mutter Terra, zu sehen und dort eine fundierte Ausbildung und Einblicke in eine viel fortgeschrittenere Lebensweise zu erhalten.“

Belian fiel beinahe um! Gegen Torres war der Duc d’Auvergne ja ein Heiliger! Nouvelle Espérance, ein Planet der Hinterwäldler?! Es gab doch alles! Moderne Medizin, Naturwissenschaften, Raumfahrt… Bloß weil die Bevölkerung sich von Anfang an bewusst gegen eine industrielle Ausbeutung ihres Planeten entschieden hatte, sollten sie alle minderwertig und dumm sein? Für wie blöd wollte dieser Kerl die Geiseln eigentlich verkaufen?

„Bleib ruhig!“, zischte Prévôt ihm ganz leise zu, ohne dass es sonst jemand hörte.

„Leider hat Fortschritt jedoch seinen Preis. Wie Sie vermutlich bereits gemerkt haben, rede ich nur von der Allianz beziehungsweise dem Sternenreich. Vor drei Jahren provozierte Terra mit seiner unermesslichen Arroganz und Rückständigkeit unseren König dazu, aus der Terranischen Föderation auszutreten. Die herrschenden Weisen von Sirius…“ Torres erwies den beiden grün gekleideten Offizieren seine Reverenz. „… hielten uns als jahrhundertelangem Haupthandelspartner die Treue und folgten uns. Daraufhin erklärte Terra uns feige und hinterhältig den Krieg. Diese Aspekte der internationalen Politik sind nichts, das der durchschnittliche Mensch durchschauen könnte. Ich gestehe ehrlich, ich selbst kann auch nur einen Bruchteil davon verstehen…“

Während alle Leute aus Alpha Centauri nach der Übersetzung lachten, fand Belian endlich zu seiner stoischen Maske zurück und versteckte seine Gefühle dahinter. Auch er war auf der Ausbildungsanstalt in Rhetorik geschult worden. Das wiederum schien Torres nicht zu wissen.

„… aber irgendwann wird jeder von Ihnen dahin kommen, dass er etwas davon versteht. Viele gute Männer sind seit Kriegsbeginn gestorben. Wir müssen unsere Schiffe bemannen, damit die noch so junge Allianz von Sirius und Alpha Centauri weiter bestehen, blühen und wachsen kann. Unsere Verbündeten waren so außerordentlich großzügig, aufgrund der großen Verluste unserer Navy vorerst darauf zu verzichten, aus diesem System stammende und unter die Wehrpflicht fallende Staatsbürger des Sternenreiches zu rekrutieren. Deshalb werden Sie alle gleich König Xerxes dem Ersten den Treueid schwören und den Raumstreitkräften von Alpha Centauri beitreten!“

Ihrer aller Ausbildung hatte ihnen ermöglicht, alles bislang gut wegzustecken. Sogar de Montierre hatte sich an Belian und Prévôt ein Beispiel genommen. Jetzt lief das Fass jedoch über. Mehrere von ihnen schrien leise oder stöhnten zumindest auf.

Belian war eher danach, hysterisch zu lachen. Paradoxerweise wusste er sogar, dass er jetzt genauso entsetzt und empört sein sollte wie seine gleichsam verdammten Landsleute, aber er fand es nur lachhaft.

Don Captain Torres mit seinem angeblichen König Xerxes: so übertrieben, wie der Kerl rhetorisch argumentiert hatte, hatte seine Seite vermutlich den Krieg angefangen. Krieg gegen Terra und die Föderation, das war echter Wahnsinn! Vor allem, wenn man sich obendrein gegenüber Neutralen noch als der angebliche Feind ausgab!

„Wie heißen Sie?“ Captain Torres war vor dem sechzehnjährigen Jungen am Kopf der Reihe stehen geblieben.

Der Angesprochene schien panisch nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen, aber es gab keine. Nur einen drohend von hinten herantretenden Wächter in Violett.

„Ph... Philippe Chirac d… de Montierre.“

„Monsieur Chirac, sprechen Sie mir die folgenden englischen Worte nach...“

Belian unterdrückte einen Lachanfall. Gleichzeitig fragte er sich, ob es an seinen Nerven lag oder ob der aufgeputzte kleine Geck das Problem war. Warum schob er sich seine Brille und den Eid nicht in den Hintern?

‚Ich bin überreizt. Ich bin eindeutig überreizt.’ In seinem verzweifelten Versuch, nicht seine Maske fallen zu lassen und infolgedessen in brüllendem Gelächter aus der Reihe zu tanzen, verpasste er beinahe seinen Einsatz.

„Ihr Name, Mister?“ Eine französische Frage, aber eine bekannte englische Bezeichnung.

Sich nach einem Zusammenzucken auf die Lippe beißend wurde Belian zumindest teilweise wieder nüchtern. Torres verstand keinen Spaß. Er hatte schon Philippe Chirac vereidigt und wollte dasselbe jetzt mit ihm machen.

‚Vergiss es!’ Es war womöglich sein Tod, aber Belian würde sich weigern.

„Etienne!“

„Halten Sie den Mund!“, orderte der Captain an den völlig außerhalb gesellschaftlicher Konventionen sprechenden, bleichen Prévôt gewandt. Dann forderte er erneut auf sehr nachdrückliche Art: „Ihr Name?“

„Etienne Belian.“ Er sprach es aus wie eine Herausforderung.

„Und weiter?“ Torres nahm sie an. „Aus welcher Familie stammen Sie?“

„Ich habe keine Familie mehr.“ Louise mochte es ihm verzeihen, aber womöglich bereute sie auch schon, ihn zum Bruder zu haben.

Die Übersetzung dieser eigenartigen und resoluten Antwort ließ jedermann aufmerken. Die anderen Geiseln plus alle Militärangehörigen in violetten Uniformen. Auch die beiden Offiziere aus Sirius waren gleichfalls sehr aufmerksam. Sogar der desinteressierte Leutnant war aufgewacht, als die langweilige Pflichtveranstaltung jäh interessant zu werden versprach.

Torres versuchte, den Widerspenstigen mit Blicken hinter den Brillengläsern einzuschüchtern, doch Belian ließ das nicht zu. Er war sich instinktiv des Erstaunens aller anderen Gefangenen bewusst, aber sie ahnten nicht, wie hässlich der Abschied auf Gut Auvergne ausgesehen hatte. Niemand wusste das.

Die Zähne bei dem kurzen Flashback zusammenbeißend, blieb er unbeweglich stehen. Er wartete.

Torres tat ihm den Gefallen. „Monsieur Belian, sprechen Sie mir jetzt die folgenden englischen Worte nach…“

„Bedaure, Monsieur. Ich werde keinen mir unverständlichen Eid ableisten und schon gar nicht der Navy von Alpha Centauri beitreten“, fuhr er dem Captain voll in die Parade. Auch er konnte lügen und Leute mit den eigenen Waffen schlagen. „Ich komme von Nouvelle Espérance, und Sie sind in meinen Augen mein Feind, weil Sie hier einmarschiert sind!“

Der Offizier war sprachlos. Genauso wie alle anderen. Sogar der Übersetzer brauchte einen Augenblick, bis er sich gefangen hatte.

Das war der Moment, in dem die beiden grün Uniformierten vortraten. Auch jener Leutnant verstand Französisch und war mit seiner leisen privaten Übersetzung schneller fertig gewesen.

Während die beiden Captains sich auf Englisch in die Haare gerieten, rief Adrian Gervais aus: „Da braucht jemand eine geistige Korrektur!“

„Du hast echt Mut“, sagte Belians älterer Nachbar stattdessen. „Dafür wird er dich umbringen lassen oder sonst was mit dir machen.“

„Soll er.“ Es war dem Enterbten wirklich egal. Er wusste nur, dass er niemals seine Heimat und sich selbst verraten würde. Oder Louise, die er gerade schon einmal um der besseren Wirkung willen verleugnet hatte.

Der äußerst erregte Torres raufte sich beinahe die Haare, aber sein ausländischer Kollege schien auf etwas zu beharren und hob schließlich eine Hand. Fast sofort wurde es still.

„Bitte, Leutnant“, kam die englische Aufforderung an den Begleiter.

„Monsieur Belian…“ Seltsamerweise verschluckte der Kerl aus Sirius beim Sprechen die halben Vokale. „… uns liegt eine einzelne und noch nicht verifizierte Aussage vor, dass Alpha Centauri Sie womöglich gar nicht vereidigen darf, weil Sie es bereits sind. Stimmt das?“

Irgendwie nahmen die Überraschungen kein Ende.

„Ich würde zunächst gern erfahren, wie und wo diese Aussage zustande kam und wer der Urheber ist, Monsieur. Vorher werde ich mich nicht dazu äußern.“ Wer einen pompösen feindlichen Captain verhöhnte, der konnte auch gegenüber einem selbstgefälligen Leutnant Forderungen stellen.

Nach der Rückübersetzung gebot der Captain aus Sirius dem schnaubenden Kollegen aus Alpha Centauri Einhalt und nickte.

„Ein terranischer Leutnant mit Namen Jasko hat angegeben, dass er Ihnen den Eid abgenommen und Ihnen so schon vor Monaten in einer langen Nacht den Status eines Offiziersanwärters verliehen hat. Ist das korrekt? Bedenken Sie, wenn Sie jetzt mit Ja antworten, haben Sie automatisch den Status eines Kriegsgefangenen. Mit allen Konsequenzen.“

Die wahrscheinlichen Konsequenzen ergaben sich schon automatisch aus dem Angebot. Mit Sicherheit hatte die Navy von Sirius einen Kristian Jasko nicht zum höflichen Plausch bei Kaffee und Kuchen eingeladen. Trotzdem existierte die Aussage als beabsichtigter Freundschaftsdienst. Das war die Anspielung auf die ‚lange Nacht’, als der Terraner so dringend Hilfe benötigt hatte.

Jasko glaubte zu erahnen, dass Belian nicht in die Navy von Alpha Centauri eintreten wollte. Das traf natürlich auch zu. Interessant war nur, wie ein in Gefangenschaft befindlicher Terraner denn überhaupt von der Geiselnahme durch den Feind erfahren hatte. Oder wieso zwei Offiziere aus Sirius davon wussten und rein zufällig als Einzige hier anwesend waren. Louises Medaillon brannte sich durch Belians kratzige Uniform. Kristian Jasko mochte sich diesen Versuch ausgedacht haben, um ihm zu helfen, aber war es gar ein Ginnes Rosil, der auch hier seine Finger im Spiel hatte? Konnte ein Leutnant so mächtig sein? Ein Interesse daran haben? Und wenn ja, warum verriet der Mann aus Sirius dafür quasi den eigenen Verbündeten Alpha Centauri?

„Sie sollten mir jetzt antworten, Monsieur. Ein simples Ja oder Nein genügt“, ermahnte der rundliche französischkundige Offizier ihn.

Nun, zumindest die letzte Frage war andeutungsweise zu beantworten. Zwischen den beiden Partnern der Allianz herrschte keine Liebe. Oder genauer gesagt nicht zwischen den Offizieren, die sie umsetzen mussten. Womöglich überwogen hauptsächlich deshalb die violetten Uniformen auf der Raumstation, falls das nicht an etwaigen zahlenmäßigen Unterschieden lag.

„Monsieur?“

Auf diesen dritten Frageversuch antwortete er schließlich mit einem simplen „Ja“, und betete dabei, dass sie nicht von ihm verlangen würden, einen Eid zu rezitieren, den er nie abgeleistet hatte.

Captain Torres wollte im Nachfolgenden wohl genau das, aber der kleinere ranggleiche Kollege zuckte nur die Achseln und kümmerte sich nicht darum.

Der Leutnant war so frei, die Antwort seines Chefs zu dolmetschen. „Captain Frede sagte soeben, dass es zweifelsohne sehr sinnlos wäre, von Ihnen zu verlangen, einen Eid zu wiederholen, dessen Wortlaut Sie in Ermangelung entsprechender Sprachkenntnisse nicht einmal gekannt haben. Papageien haben kein monatelang währendes Gedächtnis.“ Der an Alpha Centauri gerichtete Seitenhieb war klar, aber genauso war auch Belian betroffen. Die grün gekleideten Offiziere wussten genau, dass er niemals der Terranischen Navy beigetreten war. Und doch holten sie ihn sich sprichwörtlich.

Wie der unter Waffengewalt von den anderen Geiseln getrennte und weggeführte Belian bald erfuhr, war Sirius auf seine Weise genauso wenig zimperlich wie sein Verbündeter. Die anfängliche Erleichterung darüber, den Fängen der Violetten entronnen zu sein und sich jetzt ausschließlich in den Händen von vermeintlich netteren grün Uniformierten zu befinden, wich ganz rasch der Ernüchterung und dann der Panik. Ganz gemäß dem zunehmend drastischen Verlauf des ersten Verhörs, das Stunden dauerte und ihn einen Schneidezahn kostete. Dafür bekam er viele Prellungen und fiel schlussendlich sogar in Ohnmacht.

Da bereute er, die Mahnung des Leutnants aus Sirius, der ihn pflichtschuldig gewarnt und sogar dreimal gefragt hatte, nicht beherzigt zu haben. Was konnte noch schlimmer sein als eine solche Behandlung? Am Ende stahlen die Diebe ihm sogar Louises Medaillon, obwohl er den Verlust erst sehr viel später bedauerte. Genauer gesagt nach seinem schlimmen Aufwachen auf dem Boden einer ähnlichen Zelle wie der letzten. Der Unterschied zwischen einer Geisel und einem Gefangenen bestand jedoch nachweislich darin, dass ein menschliches Faustpfand einen Wert besaß. Ein Gefangener konnte dagegen nach Belieben misshandelt werden.

Kristian Jasko hatte vielleicht nur Terra einen Dienst erweisen wollen, indem er den Feind eines bestimmten Rekruten von Nouvelle Espérance beraubte. Über diese nachtragende absurde Art des Denkens kam Belian jedoch irgendwann hinweg.

Das Verhör war schuld. Die Terraner hatten genau das hier schon öfters und länger überstanden. Die brutalen Verhörexperten aus Sirius würden sich aber wohl kaum monatelang mit ihm abgeben. Er wusste doch nichts! Die Frage war nur, ob sie es schnell oder langsam herausfinden würden.

Währenddessen würde Belian vielleicht irgendwann Aufschluss über die Beweggründe eines Ginnes Rosil erhalten, der die Aussage eines gefangenen Leutnant Jasko wörtlich an Vorgesetzte wie Frede und Kollegen weitergegeben zu haben schien.

 

 

 

 





Nach einer letzten Frage über die letztjährigen Exportquoten von nahezu allen Agrarprodukten, die ihnen einzufallen schienen, und dem üblichen Schlag ins Gesicht, als Belian die Zahlen nicht wusste, war auch diese Befragung gottlob vorbei. Längst hatte er aufgehört, nachzuhalten, die wievielte es war. Manches Mal holten sie ihn mehrmals hintereinander. Ihre Fragen bezogen sich nicht einmal auf Angelegenheiten des terranischen Militärs, sondern sie drehten sich ausschließlich um Nouvelle Espérance. Die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Politik, nur ganz am Anfang hatte man ihn ein einziges Mal detailliert nach den sechs terranischen Offizieren gefragt. Wann sie gekommen waren, warum und woher. Sachverhalte, die er mit Ausnahme des Monats nur rudimentär gewusst hatte. Jasko hatte damals Andeutungen gemacht, aber Dinge wie den Bruch innerhalb der Terranischen Föderation hatte Belian nie erfahren. Das hatten die sechs Männer gehütet wie ein Geheimnis. Sogar gegenüber den brutalsten Staatsschutzbeamten in Dunoise. Von Commander Jeffrey Abraham bis hinunter zum jüngsten Crewman hatten die Überlebenden der Schlacht von Grenne im Frachtraum der Mouette gelobt, darüber zu schweigen. Koste es, was es wolle.

Belian wusste mittlerweile, wie viel es die Terraner garantiert gekostet hatte. Auch er hatte im ersten Verhör durch den Feind sämtliche Auskünfte verweigern wollen. Genau wie alle anderen Opfer vor ihm hatte er erfahren, wie unmöglich das war. Wie es einen zermürbte, wie menschlicher Abfall mit einem schmerzendem Körper und tagtäglich ein Stück mehr angeschlagener Psyche zurück in das kleine Refugium namens Zelle gestoßen zu werden und dort über den Boden zu kriechen, um das Bett zu erreichen. Die Folterer waren einander gleich. Nicht nur sie waren jedoch der Feind, sondern auch die Zeit, die abgrundtiefe Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit. Die Erkenntnis, sogar die eigene Mutter verkaufen zu wollen, wenn das verlangt wurde. Einfach nur, damit die Tortur der Schläge und der aus ihnen resultierenden Schmerzen ein Ende fand.

Auch Belian sprach mittlerweile über alles, was sie ihn fragten. Diesen Rat hatte er von jemandem bekommen, dem es genauso ging. Damals, als er noch länger mit seinem Zellengenossen hatte reden können.

Sogar das gehörte zum psychologischen Druck des Feindes. Er brach die Moral seines jüngsten Gefangenen, indem er ihm durch Gesellschaft eindeutig vor Augen führte, wie es auch mit ihm enden würde. Wenigstens war sein Kamerad nicht Kristian Jasko.

Der 25-jährige Julien Niven, den die Terranische Navy unter Abertausenden Abiturienten ein Jahr vor dessen Schulabschluss per Zufallsgenerator ausgelost hatte, um einen Akademiejahrgang zu füllen, war mittlerweile ein Wrack. Jemand, den sie nicht einmal mehr abholten. Der kriegsversehrte Offizier hatte die dunkle Straße, auf der Etienne Belian wanderte, schon viel weiter beschritten. Er hatte nichts mehr zu geben, sondern er brach schon in Tränen aus und flüchtete schreiend in die hinterste Ecke der kleinen schmutzigen Zelle, sobald auch nur die Tür aufging.

Das war auch heute so. Erst nachdem die Bewacher den zusammengeschlagenen Belian auf den Boden geworfen und den Zugang wieder verschlossen hatten, wagte der Leutnant sich ängstlich wieder vor.

Der gebrochene Niven sprach schon lange nicht mehr. Weder das stark bemühte Französisch noch seine Muttersprache. Trotzdem war er da und hatte auch in seinem Zustand noch etwas zu geben: Trost durch Gemeinschaft und die Vermittlung der sicheren Erkenntnis, dass sein Gefährte in der Hölle nicht allein war. Wie schon so oft zuvor legte der echte Offizier sich einfach dazu, schlang den einen Arm um ihn und gab seinem entkräfteten Leidensgenossen dadurch neue Kraft.

Belian hatte es heute wieder geschafft. Bis zum garantiert kommenden nächsten Mal.

Er schob die Hand beiseite und setzte sich auf. Natürlich ließ Niven nicht zu, dass sein Freund ihn verließ. Der Terraner wollte immer ganz genau da sein, wo sein Zellengenosse war. Diese Anhänglichkeit zeigte sich schon länger und störte den einst so distanzierten Belian nicht mehr. Er kroch über den Boden zu den dort abgestellten beiden Metallschüsseln. Bevor er selbst aß, fütterte er zunächst den bedürftigen Leutnant, der gar nichts mehr allein konnte oder wollte. Die Verantwortung für diesen teilnahmslosen gebrochenen Mann, der ohne ihn sterben würde, richtete Belian wenigstens ein bisschen wieder auf. So wie immer.

Jene letzte trotzige Aufmüpfigkeit, trotz allem noch überleben und seinen auf ihn angewiesenen Gefährten dabei mit durchbringen zu wollen, leistete der Gefangene von Nouvelle Espérance sich. Dieser Funke verlosch niemals. Nivens Schwäche gab ihm in dieser Hölle Kraft, obwohl sie ihn täglich auch entmutigte. Irgendwann würde Belian ebenfalls zusammenbrechen, aber vorher noch so viel passiven Widerstand leisten wie möglich.

„Mach noch einmal den Mund auf, Julien. Dann ist es gut.“ Die eigene Portion des unregelmäßig gelieferten braunen Breis stand Belian noch bevor. Anfangs hatte er das eklige Zeug nicht hinunterschlucken können, weil es aussah, als hätte es schon einmal jemand gegessen. Niemals zuvor hatte man ihm je so etwas serviert. Nach zwei Tagen hatte das Bedürfnis gesiegt. Mittlerweile aß der ehemalige Erbe der Auvergne die undefinierbare, teigige Masse einfach, um damit wenigstens das bohrende Hungergefühl zu bekämpfen.

Danach flößte er Niven Wasser ein und trank selbst. Dermaßen gestärkt konnte er die Herkulesaufgabe in Angriff nehmen, trotz seines geschundenen, protestierenden Körpers auf die einzelne Pritsche zu klettern.

Sein beweglicherer Freund kam nach ihm, aber diesmal war es Belian, der umarmte und Trost sowie Wärme spendete. Sie teilten alles miteinander. Das Bett, die Decke und die Kopfläuse. Natürlich hatte sich hier niemand mehr die Mühe gemacht, die Behandlung des Leutnants fortzusetzen. Die drei Tage auf dem Gut waren einfach zu wenig gewesen.

Wenn Belian einen Nissenkamm besessen hätte, wäre er wenigstens in der Lage gewesen, einen sinnlosen Kampf zu führen, aber sie beide besaßen nichts. Nur die Decke, ihre speckige, verschwitzte Kleidung, die in Nivens Fall noch immer orangefarben und in Belians violett war, und die Metallteller nebst den Mineralwasserflaschen. Es war noch nicht einmal genug, um sich irgendwie umzubringen, obwohl Belian nur ein einziges Mal daran gedacht hatte. Am allerersten Tag, bevor man ihn später zu Julien Niven verlegt hatte.

Was im Kopf des psychisch ganz klar gestörten Leutnants vorging, war mittlerweile nicht mehr nachvollziehbar. Anfangs hatte sein Leidensgenosse Belian all das berichtet, was damals auf dem Planeten noch strikt tabu gewesen war: die Beschreibung der langen Reise von Sol nach Grenne und das Ende der sich urplötzlich gegenseitig vernichtenden zwölf Föderationsraumer, zu denen auch das Flaggschiff eines terranischen Commodore Leal gehört hatte. Niven war genau wie sein gleichrangiger Kollege Garther und der vorgesetzte Commander Abraham Teil von Leals zwanzig Mann umfassendem Stab gewesen.

Der Leutnant hatte den tödlich verwundeten terranischen Oberbefehlshaber zusammen mit Garther zur Schiffskrankenstation getragen, während der Captain der Europe an Leals Stelle sein Schiff und seine Landsleute hatte retten wollen. Vor den eigenen Verbündeten und Vorgesetzten, die das verübt hatten, was nach Nivens Meinung ein lange verabredeter und geplanter Streich zur Vernichtung der terranischen Schiffe gewesen war. In Alpha Centauri war der alte König gestürzt worden. Xerxes der Erste war ein Usurpator. Ein Mörder, der bei seinem Putsch und seinen Plänen zum Austritt aus der Förderation offensichtlich das eigene Militär gänzlich auf seiner Seite gehabt hatte.

Der Captain des terranischen Kreuzers Europe war in Grenne gescheitert. Noch vor den tödlichen letzten Torpedoeinschlägen hatte er den Evakuierungsbefehl gegeben und dabei die Überlebenden seiner Crew und die Stabsmitglieder auf Gedeih und Verderb entweder der Gnade der verräterischen Feinde oder den etwaigen übrig bleibenden eigenen Leuten überantwortet. Die zweite Möglichkeit war wohl fast unmöglich erschienen, weil die hinterhältigen Verräter aus Sirius und Alpha Centauri nicht nur alle Vorteile der Überraschung auf ihrer Seite gehabt hatten, sondern auch die schwereren Schiffe. Trotzdem war das Undenkbare gelungen. Die terranische Madagascar hatte das letzte Schiff aus Alpha Centauri vernichtet und somit gesiegt.

Andreas Maitland hatte es getan, nachdem seine beiden Vorgesetzten gestorben waren. Er hatte danach umgehend so viele der überlebenden Terraner aus dem All geborgen wie möglich. Alle Offiziere außer dem damals vollständig gelähmten Kristian Jasko, der Vierter Leutnant des einzigen noch existierenden Kreuzers gewesen war, verdankten dem schwarzhaarigen groben Leutnant deshalb ihr Leben. Auch Julien Niven, dessen Arm bei der Evakuierung der Europe durch Splittereinschlag zerfetzt worden war. Commodore Leals Verletzung und Tod hatten den Leutnant indirekt gerettet. Niven hielt das für Gottes Willen. Hätte er nicht den Commodore ins Lazarett gebracht, wäre später niemals rein zufälligerweise ein Medikus in derselben Rettungskapsel gewesen wie er.

Eine Art später überirdischer Gerechtigkeit für einen Mann, der aus freien Stücken niemals in die Terranische Navy eingetreten wäre. Wegen seiner ausgezeichneten Ausbildung hatte man den Leutnant dazu bestimmt, als er genau in Belians Alter gewesen war. Die göttliche Vorsehung hatte danach jedoch wieder umgekehrt zugeschlagen. Die Diktatur Nouvelle Espérance war keine Station auf dem Weg zur Rettung gewesen, sondern eine vorläufige Endstation. Das Fegefeuer, während die Hölle genau hier war. Auf dieser Raumstation, die jetzt dem Feind gehörte.

Nach seinen eigenen Erfahrungen hatte Belian dem Terraner nicht widersprechen können. Nouvelle Espérance war aus seiner Sicht keine Diktatur, aber musste es einem schlecht behandelten Ausländer nicht so erscheinen? Wenn jetzt jemand aus Sirius oder ACI hereingekommen wäre und Belian ein Loblied auf das Sternenreich gesungen hätte, wäre das für ihn genauso unglaubwürdig und heuchlerisch gewesen. Es gab eine so genannte Genfer Konvention. Julien Niven hatte immer wieder davon gesprochen. Genauso wie von ihrer gravierenden Missachtung. Den Abdruck eines Ringes hatte der Terraner noch heute in seinem eingefallenen, früher so attraktiven Gesicht. Ein hässliches Andenken an die Reaktion eines gleichrangigen Kollegen in Grün, nachdem Niven während eines Verhörs an das Gefangenenschutzabkommen erinnert hatte.

König Alexander hatte in den Verhandlungen mit den Invasoren natürlich die Gefangenen von Terra erwähnt, um sich irgendwie doch noch das Wohlwollen der angeblichen Föderierten zu erkaufen. Don Vice Admiral Naples waren die sechs Terraner völlig egal gewesen. Seinetwegen hätten sie auf Planet Nouvelle Espérance verschimmeln können.

Der stellvertretende Oberbefehlshaber aus Sirius hatte im Gegensatz dazu jedoch auf einer Aufklärung der schon zwei Jahre zurückliegenden Schlacht von Grenne bestanden. Dazu bedurfte es natürlich diverser Befragungen der feindlichen Überlebenden. Das war den sechs sich den Tod wünschenden, geschockten und wütenden Terranern als Tatsache eröffnet worden, als sie gefesselt und machtlos vor den Landsleuten jener grün gekleideten Verräter gestanden hatten. Mitglieder der Navy von Sirius, die sie damals Hand in Hand mit ihrem ‚Allianzpartner’ ACI alias Alpha Centauri hatte ermorden wollen.

Dann hatte man die Offiziere auseinandergerissen, in Isolationshaft genommen und erneut sämtliche Konventionen gebrochen. Ganz wie es auf Nouvelle Espérance im Gefängnis passiert war. Dieses Mal hatte der völlig aus dem Gleichgewicht gebrachte und sogar an Gottes Existenz zweifelnde Julien Niven in den Verhören den neuen Schergen nichts mehr entgegenzusetzen gehabt und sich dafür selbst gehasst. Vielleicht hatte seine Flucht nach innen ihm wenigstens davon Erlösung verschafft. Belian hoffte es für ihn und schloss Niven in seine täglichen Gebete ein. Genauso wie Kristian Jasko und die anderen, falls sie noch lebten.

Es gab nämlich keine Menschlichkeit mehr. Nur noch Gewalt und Profitinteressen. Das Volk von Sirius lebte vom Handel. Die dortigen Weisen hatten ihre Dienste wohl an den Meistbietenden verkauft, wie der terranische Leutnant vor seinem Rückzug aus der Realität geglaubt hatte. Womöglich wollte Sirius auch auf Nouvelle Espérance gute Geschäfte machen und drehte Belian so lange durch die Mangel, um möglichst viel über die sich bietenden Möglichkeiten zu erfahren.

Mittlerweile war der invalide Offizier zu solchen Analysen nicht mehr fähig. Nur noch zu Furcht und Tränen.

Sein machtloser Beschützer wischte die jetzigen zärtlich weg, wie er es so oft machte. Es war ein natürlicher Instinkt. Julien Niven war für ihn der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz geworden. Seine Familie. Die konstante Aufopferung für ihn gab Belians Leben hier noch einen Sinn.

Als das Jucken auf seinem Kopf zu schlimm wurde, nahm er die gleiche Hand und fuhr sich damit durch die Haare. Jene fettigen, läuseverseuchten Strähnen, die ihn schon beim bloßen Anfassen schaudern ließen. Glücklicherweise gab es nirgendwo einen Spiegel. Der eigene Schmutz war kaum zu ertragen. Alles war manchmal für ihn kaum zu ertragen. Die körperliche Gewalt, auf die ihn nichts und niemand vorbereitet hatte, der Psychoterror und das Eingesperrtsein.

In seltenen Momenten wurden auch seine Augen feucht. Stets wandte er sich ab, wenn es soweit war, damit Niven es auch ja nicht sah. Heute war er jedoch zu langsam.

„Nein, Etienne.“ Ein ganz leises Wispern, das von weiteren englischen Worten begleitet war. Dazu strich ihm Nivens rechte Hand, die der einarmige Leutnant ironischerweise immer nur schwer gänzlich für alles hatte verwenden können, weil er ausgerechnet zu der Minderheit der Linkshänder gehörte, sachte über den Kopf.

Das Gemurmel war zwar unverständlich, aber es reichte Belian, dass der Freund überhaupt irgendetwas sagte. Er gab sich diesem unerwarteten Geschenk der Tröstung hin und ließ den Tränen freien Lauf. Sie halfen ihm genauso wie die Zärtlichkeit eines zum einzigen und letzten Freund gewordenen Mitgefangenen.

Schließlich fand er zu sich selbst zurück, dankte seinem Zellengenossen mit einem Lächeln für die Hilfe und versuchte, die Wasserflasche zu erreichen.

Sie wurde ihm prompt gebracht. Niven war zwar auch noch zerschunden, aber wenn man von den blauen Flecken des Leutnants ausging, war das letzte Verhör bei ihm schon eine gute Woche her. Es tat zwar immer höllisch weh, aber an sich verursachten die Feinde in der Regel keine bleibenden Schäden. Sie waren Folterexperten. Man konnte auch unerträgliche Schmerzen oder Ängste heraufbeschwören, ohne etwas irreparabel kaputtzumachen.

Beispielsweise mit der Methode, die einmal bei Julien Niven angewandt worden war, um seine Blockadehaltung zu brechen. Ein simples, über den Kopf gelegtes Handtuch und ein Wassereimer, der etappenweise langsam ausgeleert wurde, bis der gefesselte Gefangene unter dem nassen Stoff zu ersticken drohte. Belian hatte sich bis zu der gequälten Erzählung seines Freundes nicht vorstellen können, dass so etwas möglich war oder irgendjemand dazu fähig sein konnte. Natürlich hatte der Leutnant, dessen große Angst die Vernehmungsfachleute aus Sirius bereits gesehen hatten, nicht widerstanden.

Hoffentlich hatte Paul sich bei seiner ‚Entlausung’ im kalten Waldbach nicht so schlimm gefühlt. Belian hatte den neunjährigen Erben der Auvergne zu jener Zeit für seine Niedertracht und sein Verhalten bestrafen und erschrecken wollen. Dabei hatte er natürlich auch so etwas wie Rache genommen, aber er hatte seinen kleinen Bruder doch nicht etwa so ähnlich gefoltert?!

Hatte Paul etwa auch geglaubt, ertränkt zu werden? Er hatte geheult, geschrien und gebettelt! Das bloße schlechte Gewissen hatte Belian auf der Stelle alles vergeben und vergessen lassen, das Paul jemals gesagt oder getan hatte. Der mittlere Sohn des Ducs hatte nur zu dem werden können, was seine grausame Familie aus ihm gemacht hatte. Auch Belian hatte etwas getan, das beinahe dem gleichkam, was Sirius einem Julien Niven mit dem Handtuch angetan hatte. Das war schrecklich, und wenn es möglich gewesen wäre, hätte der junge Gefangene es auf der Stelle ungeschehen gemacht.

Wie konnte er nur denken, dass sein Volk nicht so niederträchtig und unmenschlich war, wenn er doch dieselbe Grausamkeit in sich hatte wie die Leute aus Sirius? Die Staatsschutzbeamten in Dunoise hatten den invaliden Stabsoffizier und die anderen Terraner nämlich lediglich immer wieder verprügelt. Dem hatten die Männer teilweise widerstehen können. Belians Landsleute waren jedoch zu solchen Grausamkeiten wie der Wasserfolter nicht fähig. So etwas ging gegen Gottes Gebote. Normale Prügel gab es auch bei den Schergen aus Sirius. Sozusagen zusätzlich.

Sie allein war Belian schon unerträglich, und das ließ jeden der Terraner in seiner Achtung steigen. Vielleicht bestrafte Gott ihn jetzt dafür, dass der beinahe doppelt so alte Bruder Paul gegenüber so grausam gewesen war. Auch Etienne Belian war ein Folterer! Er hatte etwas getan, was noch nicht einmal ein Beamter des Staatsschutzes fertiggebracht hatte! Nur weshalb mussten auch die Terraner so schlimm leiden? Was hatten sie damit zu tun? Warum wurde ein gläubiger Mensch wie Julien Niven vom Allmächtigen so gestraft?

Die tagelange Ruhe von den Verhören hatte dem Leutnant zumindest ermöglicht, sich körperlich besser zu erholen als der von schlimmen Selbstvorwürfen gequälte Einheimische, der ein Experte für blaue Flecken geworden war. Früher war Belian nur gelegentlich vom Pferd gefallen und hatte auf der Ausbildungsanstalt Selbstverteidigung gelernt. Prellungen waren deshalb nichts Ungewohntes für ihn, aber anhand dessen die vergangene Zeit bemessen zu müssen, war ihm sehr neu.

Konnte etwa auch eine weitergehende Verbesserung von Nivens Zustand eintreten? Eine mentale Regeneration? Schließlich sprach der Gefährte wieder, zeigte Anteil an der Realität und wies genug Rationalität auf, um selbstständig zu erkennen, dass Belian die offene Mineralwasserflasche haben wollte. Niven holte sie sogar!

„Danke, Julien.“ Belian sagte es sowohl auf Französisch als auch auf Englisch.

Dieses Mal musste er Niven jedoch keine Flüssigkeit einflößen. Der Leutnant wirkte klarer im Kopf und trank selbst. Es war nach Ansicht seines Freundes eine Bejahung des Überlebens. Erstmalig wieder nach so langen Tagen!

Leider dauerte es jedoch nur eine kurze Zeit. Beim Öffnen der Tür verfiel der ältere Mitgefangene prompt wieder in alte Verhaltensweisen.

Als ein ihm bekannter Mann eintrat, starrte Belian ihn an. Sowohl entgeistert als auch ängstlich und wütend. Die Emotionen tobten in ihm, während ein irrationaler Teil seiner selbst irgendwie hoffte, ohne zu wissen, auf was. Zu lange hatte er die Existenz eines Leutnant Ginnes Rosil vergessen. Der Offizier, der auch aus Sirius kam, war irgendwie besser als der Rest. Belian konnte ihn nicht mit allen anderen in einen Topf werfen. Trotz allem, was Niven ihm über die generelle Organisation von allen Raumstreitkräften der Föderation und auch denen der Ex-Mitglieder gesagt hatte, weigerte sich ein Teil des jüngeren Opfers, einen Mann, der ihm schon Gutes getan hatte, pauschal mit allen anderen zu verurteilen.

Allerdings war die Miene des Offiziers hart und gab nichts preis, als er sich vor der Pritsche aufbaute. Dank des ebenfalls eingetretenen Übersetzers im Unteroffiziersrang sowie wegen des bewaffneten Soldaten an der Tür war die Zelle überfüllt.

Den gleichaltrigen Kollegen, der ganz klein in der Ecke auf dem Boden kauerte, kaum eines Blickes würdigend, begann Rosil mit dem, was er zu sagen hatte. Er sprach ganz klar Belian an, der um eine aufrechte Sitzhaltung kämpfte.

Julien Niven schrie irgendwann auf, und erst danach sah der Leutnant in der grünen Uniform den Terraner an. Der rätselhafte Ausdruck, der ganz kurz das scharfe Gesichtsprofil überdeutlich betonte, ging mit einem ganz kurzen Stocken der Stimme einher.

Der Unteroffizier übersetzte, nachdem Rosil seine Rede abgeschlossen hatte.

„Monsieur, die Untersuchungen sind abgeschlossen. Mit Hinblick auf die beträchtliche Entfernung zum befriedeten Kerngebiet des Sternenreiches hat Vice Admiral Naples nach Konsultation seines Stellvertreters die Entscheidung getroffen, dass Sie und die anderen nicht dorthin überführt werden. Nicht der logistische Aufwand ist dafür maßgeblich, sondern ausschließlich die von der Terranischen Navy in Grenne verübten Verstöße gegen die Genfer Konvention. Der Oberbefehlshaber dieser Allianzflotte hat in Übereinstimmung mit seinem Stellvertreter entschieden, dass sämtliche in diesem System befindlichen terranischen Offiziere wegen der in Grenne verübten und befohlenen Verbrechen am morgigen Tag um sechs Uhr früh hingerichtet werden. Sie sind bereits für schuldig befunden worden und werden deshalb nicht für einen etwaigen Prozess nach Sirius oder Alpha Centauri überführt. Sie sind keine Kriegsgefangenen mehr, sondern verurteilte Mörder.“

Das war also der Ausweg, den Ginnes Rosil ihm bot. Ihm allein, denn natürlich wusste der Leutnant aus Sirius, dass Belian weder als Offizier auf Terra vereidigt noch in Grenne dabei gewesen war. Der Wechsel von der ersten in die distanzierte dritte Person Plural machte sehr deutlich, wie ausgenommen Belian von der Anklage war. Rosil wollte ihn wirklich retten, aber vor etwas weitaus Schlimmerem als den Verhören.

Das Schluchzen des nicht allzu laut vor sich hinweinenden Julien Niven erfüllte den totenstillen Raum.

Der kurze Blick hinter die Fassade hatte gerade Rosils neuerlichen Wunsch verraten, jetzt nicht hier zu sein. Und doch war er gekommen, aber das Angebot war keineswegs anständig.

Belian, der sich wie geschlagen fühlte, sammelte schließlich genug Luft für seinen Protest: „Das ist reine Propaganda! Vice Admiral Naples und Ihr Vorgesetzter wissen ganz genau, dass es Sirius und Alpha Centauri waren, von denen der Angriff in Grenne ausging, Monsieur! Wollen Sie ernsthaft Männer des Mordes beschuldigen, die sich nur verteidigt haben?“

Die Schärfe der Ausdrucksweise ging in der Übersetzung verloren, aber die entschlossene Haltung des jungen Gefangenen und der Ton kamen natürlich an.

Rosil schob das Kinn vor, und seine Augen blitzten.

Wieder wurde der als Mittel zur Verständigung dienende Unteroffizier der Botschaft nur unzureichend gerecht, obwohl der Dolmetscher über den Affront gleichfalls wütend war.

„Auch in Propaganda steckt manchmal Wahrheit!“

Belian lachte verächtlich auf, während die Furcht in ihm dennoch immer weiter wuchs. Alpha Centauri und Sirius würden so etwas doch nicht ernsthaft tun, oder?

„Niemals! Nicht in diesen abstrusen Behauptungen! Nicht die Terraner sind hier die Mörder!“

Der eiskalte Blick des Feindes, der plötzlich nichts Freundliches mehr an sich hatte, ließ ihm für einen Moment das Blut in den Adern stocken. Sie würden es doch tun. Sirius würde es gleichfalls anordnen und ausführen. Sogar ein vermeintlich netter Leutnant Ginnes Rosil.

„Der Krieg ist schmutzig, Monsieur. Vielleicht werden Sie das auch irgendwann begreifen. Wenn Sie hingegen weiterhin behaupten, etwas zu sein, das Sie nicht sind, werden Sie nicht lange genug leben, um Ihre Naivität abzulegen. Commander Abraham, Leutnant Maitland und Leutnant Heathen haben gestanden.“

„Ja. Und Julien haben Ihre Landsleute auch mit einem klatschnassen Handtuch über dem Kopf dazu gebracht, alles zu sagen, was Sie hören wollten! Die anderen haben zweifellos nur am längsten Widerstand geleistet! Meinen Sie, bei uns hätte es nie Schauprozesse gegeben? Mein ehemaliger Vormund ist genauso ein verlogener Mensch wie Vice Admiral Naples!“

In manchen Belangen war die Monarchie Nouvelle Espérance wirklich eine Diktatur, aber noch lange nicht in allen! Belian war in diesem System aufgewachsen und wusste, was Ehre war. Er spuckte deshalb auf den Boden, wie es die Folterknechte immer machten, um ihn zu beleidigen. Seine sorgsam geschliffenen Manieren konnten ihm gerade gestohlen bleiben. Sofort darauf fuhr er trotz seiner mittlerweile riesengroßen Angst wohlkalkuliert fort:

„Ich sterbe lieber, als dass ich der Scheiß-Navy von ACI beitrete und so jemand werde wie Sie und Ihresgleichen!“

Das eingestreute englische Schimpfwort sowie die abfällige Betitelung des Verbündeten von Sirius verfehlten ihre Wirkung nicht. Den Fluch hatte er auch von einem der brutalen Schergen entliehen, und die abwertende Bezeichnung verwendete Niven immer für die violett Uniformierten. Oder besser gesagt hatte der terranische Leutnant es einst getan. Der Freund, den er nie im Stich lassen würde.

‚Julien hat damals von der Schlacht in Grenne so gut wie nichts mitbekommen und schon gar nichts angeordnet. Er war sehr schwer verletzt und wäre um ein Haar gestorben!’ Genau das traf auch auf andere der terranischen Offiziere zu, und der Rest von ihnen hatte sich nur verteidigen müssen, um nicht getötet zu werden!

Der Bewaffnete betrat die Zelle in der unzweifelhaften Absicht, Gewalt anzuwenden. Erst sah es so aus, als würde Rosil das Vorhaben zulassen, aber dann gebot er dem Kerl energisch, zu gehen. Der übersetzende Unteroffizier wollte es auch tun, während der gedemütigte und deshalb vor Wut bleiche Vorgesetzte noch etwas ganz Leises sagte.

Der Dolmetscher schleuderte die Worte anschließend voller Genugtuung umso nachdrücklicher auf Französisch in den Raum:

„Möge Ihr blinder Starrsinn Ihnen erhalten bleiben, wenn Sie in sieben Stunden und dreißig Minuten als rangniedrigster terranischer Offizier nach allen anderen die bluttriefende Luftschleuse für Ihren Gang ins Vakuum betreten, Leutnant Belian!“

Der Knall, mit dem die Tür der Zelle zufiel, verschluckte den abgrundtief entsetzten Laut, der ohne Zutun des Urhebers aus dessen Kehle hervorbrach. Sein Heldenmut hatte ihn genau in diesem Moment verlassen. Julien Niven und Kristian Jasko hin oder her, so wollte er nicht sterben! Das ungebetene Bild ließ ihn trotz seines wunden Körpers hochkommen und verzweifelt an die Tür hämmern. Er war kein Terraner, kein Navyleutnant und schon gar kein tapferer Held!

Es war jedoch zu spät. Ginnes Rosil kehrte nicht mehr zurück, um die Todeszelle nochmals aufzuschließen und eine weitere Chance zu offerieren.

Als dieser Gedanke irgendwann auch für Belian zur Gewissheit wurde, blieb lediglich die verzweifelte Hoffnung auf eine morgige letzte Gelegenheit. Seine Ahnung sagte ihm jedoch jetzt schon, dass er enttäuscht werden würde. Er hatte es sich mit dem letzten Feind verscherzt, der seinen Tod hätte verhindern können und genau deshalb ein einziges Mal gekommen war. Sich aufzudrängen hatte der schwer vor den Kopf gestoßene Leutnant aus Sirius nicht nötig. Belian hätte es an seiner statt auch nicht getan.

Als er endlich wieder logisch genug denken konnte, um dies geradezu klinisch distanziert zu folgern, erhob er sich unter Schmerzen von den Knien. Julien Niven hatte sich gleichfalls nicht gerührt und bot noch immer ein einziges trauriges Bild des Jammers.

Wie in Trance folgte Belian dem altbekannten Automatismus und suchte instinktiv erneut die tröstliche Gesellschaft seines Mitgefangenen. Die beinahe hoffnungsvolle Vermutung, dass Niven es womöglich nicht einmal begriffen hatte und nur wegen des Eindringens in die Zelle verschreckt war, erwies sich bald als falsch.

Als Belian in die rot umrandeten, aufgerissenen Augen des bei ihm Halt suchenden Leutnants sah, flehte ihn dieser geradezu an: „Etienne, ich will nicht sterben!“

Jeder Wunsch, tot zu sein, löste sich angesichts der Verkündigung des konkreten Tages und der genauen grausigen Exekutionsart schlagartig in Nichts auf. Der erstmals seit Langem wieder Französisch sprechende Julien Niven hatte sich selbst wiedergefunden und wollte genauso verzweifelt überleben wie Belian. Sirius und Alpha Centauri scherzten allerdings nicht.