3. Kapitel

Das Wochenende war genau so verlaufen, wie ich es vorausgesehen hatte. Toni hatte die meiste Zeit in der Agentur verbracht, Hanna wollte bei einer Freundin übernachten und war erst am Sonntagabend wieder aufgetaucht, Tom hatte sich die Zeit damit vertrieben, auf seinem Fahrrad von einem Freund in der Nachbarschaft zum nächsten zu düsen, und ich hatte mich mit verschiedenen Kleinigkeiten aufgehalten. In einer Familie mit zwei Kindern gab es ja immer etwas zu erledigen. Ich hatte eine Liste gemacht, auf der ich abhaken konnte, was vor unserem alljährlichen nachweihnachtlichen Skiurlaub mit Freunden noch zu erledigen war. Auf einer weiteren Liste hatte ich meine Ideen für Weihnachtsgeschenke notiert, und in den Kochbüchern hatte ich mit Klebezetteln ein paar Menüideen für die Feiertage markiert. Vielleicht würde ich in diesem Jahr von der klassischen Pute abweichen und etwas Neues ausprobieren. Vielleicht wenigstens einen anderen Nachtisch als immer Vanilleeis mit heißen Himbeeren? Ich hatte die Ware aus dem Auto geräumt, Inventur gemacht, Hemden in die Reinigung gebracht, Brote für Tom geschmiert und abends bei einem Glas Wein irgendwelchen Zeichentrick-Abenteuern zugesehen und meinen Gedanken nachgehangen.

Jetzt, am späten Montagmorgen, saß ich mit der dritten Tasse Kaffee am Schreibtisch meines winzigen Arbeitszimmers. Im ersten Stock hatte Toni mir einen eigentlich als Abstellkammer gedachten Raum zu einem gemütlichen Zimmer umgestalten lassen. Direkt vor dem Fenster stand ein kleiner weißer Schreibtisch mit meinem Laptop darauf und einem Drucker darunter. Rechts davon ein Regal mit eingeschobenen Kästen, in denen ich die Warenmuster unterbringen konnte. In der anderen Ecke des Zimmers ein gemütlicher Sessel mit Fußhocker, in den ich mich kuschelte, um zu lesen, Musik zu hören oder einfach nur für mich zu sein. Der ganze Raum war in Braun- und Sandtönen gehalten und strahlte eine behagliche Atmosphäre aus. Und das Beste: Jedes meiner Familienmitglieder hatte begriffen, dass dieses Zimmer mein Reich war und ich hier nicht gestört werden durfte. Zu diesen Familienmitgliedern zählte auch Alma, die heute früh gekommen war, kurz nachdem Toni mit den Kindern in Richtung Schule und Büro aufgebrochen war, und die gerade die Betten im ganzen Haus neu bezog.

Beim Blick aus dem Fenster konnte ich Sönke sehen, der den kühlen, aber sonnigen Novembertag dazu nutzte, den Garten winterfest zu machen. Er harkte das letzte herabgefallene Laub zusammen und wickelte die Töpfe mit den Rosenbäumchen in Bastmatten, um sie vor dem harten Frost zu schützen. Bei jedem Atemzug schickte er kleine Wölkchen in die Luft.

Ich kuschelte mich tiefer in meine Fleecejacke und fuhr den Computer hoch, um meine E-Mails zu checken, die Abrechnung vom Freitagabend und die Bestellung der Ware an Lucinda-Dessous einzugeben.

Beim Sortieren der handgeschriebenen Listen fiel mir ein alter Zeitungsausschnitt in die Hände. Elissa hatte ihn vor etlichen Jahren aus einem Berliner Stadtmagazin herausgerissen und mir zur Erinnerung an einen winterlichen Abend mit meiner Freundin in Berlin geschickt. Er war mir im Gedächtnis geblieben, als wäre es gestern gewesen. Elissa war damals noch ganz frisch als Restaurantkritikerin bei der Stadtzeitung, lange vor ihrer Zeit auf Sylt, und es war einer ihrer ersten Test-Abende gewesen, der ihr den Weg in eine große Karriere an gedeckten Tischen in ganz Deutschland bereitete. Elissa wollte mich an ihrem neuen Leben in allen Facetten teilhaben lassen. Sie war stolz auf das, was sie geschafft hatte, und wollte mir zeigen, wie sie arbeitete. Ich war neugierig und aufgeregt. Natürlich hatte ich schon viel über ihre Arbeit und die Auswirkungen veröffentlichter Restaurantkritiken gehört, aber von Anfang bis Ende dabei gewesen war ich noch nie. Essen und Personal einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, war für mich etwas ganz Besonderes. Ich fühlte mich beinahe wie am ersten Schultag.

Das zu besprechende, damals neu eröffnete Restaurant lag in der Köpenicker Straße direkt an der Spree. Links und rechts vom Eingang glitzerten kleine Tannenbäumchen mit elektrischen Lichterketten. Ein roter Teppich geleitete die Besucher hinein. Bereits im Eingangsbereich eilte eine Mitarbeiterin des Hauses auf uns zu und nahm uns Mäntel, Schals und Mützen ab. Das Restaurant war gut besucht. In der Mitte des Raumes befand sich ein langer Tisch, fast schon eine Tafel, an der anscheinend eine vorgezogene Firmen-Weihnachtsfeier stattfand. Von den hohen Decken baumelten moderne Kronleuchter, an den Wänden prangten riesengroße Fotos, wie ich sie immer hatte machen wollen, von gegerbten Gesichtern verbrauchter Männer und zahnlos lachenden alten Frauen. Kleine, in den Boden eingelassene Lichter zeigten den Weg wie im Flugzeug bei einer Notlandung. Am einen Ende des Saals prasselte ein Feuer im Kamin, am anderen sah man durch eine lange Fensterfront die Lichter der Stadt, die sich in der Spree spiegelten. Die freundliche, mit einer schwarzen Hose, einer Bluse und darüber einer langen dunkelroten Kochschürze mit dem Logo des Restaurants bekleidete Servicekraft führte uns zu unserem Tisch am Fenster mit Blick aufs Wasser.

«Ach nein, am Fenster sitze ich nicht gern, wenn es so kalt ist. Da zieht es immer so. Könnten wir einen anderen Tisch bekommen?», fragte Elissa.

Die Kellnerin lächelte. «Selbstverständlich. Möchten Sie vielleicht in der Nähe unseres Kamins Platz nehmen?»

Elissa schüttelte unwillig den Kopf. «Bloß nicht, das kennt man ja, so eine Kamintemperatur lässt sich doch überhaupt nicht regeln. Da schwitzt man dann ganz fürchterlich und bekommt grässlichen Durst. Das hat sich der Wirt sicher extra so überlegt, damit man viel Wasser bestellt!»

Die Restaurant-Mitarbeiterin blieb geduldig: «Wie wäre es dann mit diesem Tisch?» Sie führte uns an den Fenstern vorbei in einen kleinen separaten Raum, in dem lediglich drei Tische standen. Sie zeigte auf den, der am weitesten vom Fenster entfernt war.

«Ja, das sieht nett aus.» Elissa marschierte auf den Platz zu, von dem aus sie das Restaurant gut überblicken konnte.

Sichtlich erleichtert zog die Kellnerin die Stühle zurück und reichte uns die Speisekarten. «Bitte schön. Darf es schon ein Getränk sein? Als Aperitif servieren wir heute einen Kir Breton aus Cidre und Creme de Cassis oder einen Prosecco mit Petersilien-Essenz.»

Sie stand abwartend da, während Elissa die Speise- und Getränkekarte ausführlich und ohne jeden Zeitdruck scannte. Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen, während die Minuten verstrichen und Elissa sich nicht regte. Aber die Abgesandte des Restaurants ließ sich nicht irritieren und wartete schweigend zwischen unseren Stühlen, beide Hände auf dem Rücken verschränkt. Ich wäre schon längst wahnsinnig geworden.

«Nein, Prosecco lieber nicht. Fürchterliches Zeug. Und diese gemischten Sachen mag ich auch nicht. Da hat man ja schon Kopfschmerzen, bevor das Dessert kommt. Bringen Sie uns doch bitte einfach zwei Champagner.»

«Sehr gern. Ich bin gleich zurück.»

Die Kellnerin war kaum drei Schritte von unserem Tisch entfernt, als ich losprustete: «Mensch, übertreib es nicht. Das arme Mädchen kann sein Studium nicht zu Ende bringen, wenn es den Job hier deinetwegen schmeißt. Mach es ihr doch nicht unnötig schwer, die ist wirklich nett.»

«Das mache ich ja gar nicht, im Gegenteil. Ich habe mich doch nun wirklich sehr schnell mit einem Tisch zufriedengegeben, noch dazu habe ich ein völlig simples Getränk zum Start ausgesucht. Die ersten Pluspunkte konnte das Mädel auch schon gewinnen. Gleichbleibend freundlich, ohne mit der Wimper zu zucken, so soll es sein. Und nun, meine Liebe, gucken wir mal, was der Koch so zu bieten hat.» Sie blätterte mit gerunzelter Stirn in der Speisekarte herum. «Nach was steht dir denn der Sinn? Eher Fisch oder Fleisch? Oder vegetarisch? Für Freunde des schlichten Gemüses ist die Auswahl eher gering, schade. Darf ich für dich mitbestellen? Ja, oder? Dann können wir gegenseitig probieren. Das macht es viel einfacher.»

«Merkst du dir eigentlich, was heute alles gut und nicht gut ist, oder schreibst du gleich noch etwas auf?»

Elissa grinste und deutete auf ihre geöffnete Handtasche auf dem Stuhl neben sich. «Profi-Equipment ist die halbe Miete, Schätzchen. Ich habe ein Diktiergerät und zeichne alles auf. So kann ich mich vollkommen auf das mehr oder weniger wunderbare Essen konzentrieren und vergesse nicht die klitzekleinste Kleinigkeit, sei es, was den Service betrifft, sei es …» Sie unterbrach ihre Erklärungen, als die Kellnerin mit unseren Getränken kam.

«Zwei Champagner, bitte schön. Haben Sie schon gewählt?»

«Was können Sie denn empfehlen?»

Ich kam mir vor wie in einem Sketch mit Dieter Hallervorden. Dann hätte die Kellnerin aber so etwas sagen müssen wie: «Gar nichts.» Oder: «Ich kann Ihnen dringend empfehlen, ein anderes Restaurant aufzusuchen.» Aber Elissa hatte mit ihrer Einschätzung richtiggelegen. Das Personal hier war professionell und kompetent.

«Als Vorspeise bieten wir heute zusätzlich Rote-Bete-Suppe mit Räucherente oder Lachs-Ceviche, wahlweise auch Blutwurstsalat mit Wachtelei.»

«Ist die Wurst hausgemacht?»

«Nein, die kommt von unserer Hausschlachterei in Brandenburg, ist mit Majoran und Thymian gewürzt und leicht angeräuchert.»

Elissa vertiefte sich wieder in die Karte. Die Kellnerin gab so leicht nicht auf. «Für den Hauptgang empfiehlt der Küchenchef Miesmuscheln in Kokosbrühe mit hausgebackenem Brot oder Glattbutt mit Sahnewirsing und Speck.» Sie machte eine kurze Pause, um dann zu ergänzen: «Und als Dessert haben wir gebackene Nektarinen mit Amaretto-Sahne oder weiße Schokomousse mit Kirschen.» Sie hielt erneut inne, um die Bestellung abzuwarten. Ich wurde gar nicht beachtet. Die «Frau Wirtschaft» hatte schon kapiert, dass ich lediglich Beiwerk war und die zickige Dame in Beige das Sagen hatte.

Und die hatte sich endlich entschieden. «Na, ländermäßig geht das aber bei Ihnen kreuz und quer, junge Frau. Norddeutschland, Peru, Italien, Brandenburg. Ist ja alles vertreten. Ist Ihr Koch so weit herumgekommen?»

«Das ist er allerdings. Unser Küchenchef hat in den vergangenen Jahren auf einem Kreuzfahrtschiff gekocht und überall auf der Welt die Inspirationen gesammelt, die Sie auf unserer Speisekarte wiederfinden.»

Elissa zog die Augenbrauen hoch. Sie schien tatsächlich beeindruckt zu sein. «Gut, dann wagen wir mal eine kleine kulinarische Weltreise: als Vorspeise bitte einmal die Rote-Bete-Suppe und einmal die Sardinen vom Grill mit Gremolata. Dann bitte einmal das Hirschsteak mit süßsaurer Paprika …»

«Oh, das tut mir leid. Hirsch ist heute nicht auf der Karte.»

«Ach so? Na, dann das Rindersteak mit Steckrüben und einmal die Wachteln. Das Dessert suchen wir später aus, lassen Sie uns doch bitte eine Karte hier.»

«Haben Sie noch einen Getränkewunsch? Einen Wein? Eine große Flasche Wasser?» Die Kellnerin nahm mir meine Speisekarte wieder ab und sah Elissa fragend an.

«Ja, eine Flasche Wasser. Und dann schicken Sie uns doch bitte Ihren Sommelier.»

«Das tut mir leid, meine Dame. Wir haben keinen hauseigenen Sommelier. Aber im hinteren Teil der Speisekarte finden Sie die Weine, und ich schicke Ihnen gleich den Kollegen, der bei uns für den Wein-Einkauf zuständig ist, wenn Sie sich beraten lassen möchten.»

«Sehr gerne.»

Fast hätte ich mich an meinem letzten Schluck Champagner verschluckt, denn kaum hatte die Kellnerin sich umgedreht, legte Elissa richtig los. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und lief vor Aufregung hellrot an.

«Ich glaube, ich spinne, das sah alles so gut aus, und nun haben die hier nicht mal jemanden für den Wein? Soll denn diese unterqualifizierte Studentin mir sagen, ob zu den Wachteln besser ein leichter Pinotage oder eine Riesling-Spätlese passt? Wie dumm, wie dumm. Da machen die sich die ganze schöne Kellnerarbeit gleich wieder kaputt.»

«Guten Abend, mein Name ist Jens. Meine Kollegin sagte mir, Sie wünschten Unterstützung bei der Wahl des richtigen Weins zu Ihrem Essen?»

Der herbeigeeilte Kollege lächelte mich verbindlich an. Der Altersdurchschnitt der Angestellten lag hier wohl deutlich unter dem der Weine. Nach meiner Einschätzung war der «Fachmann» für Spirituosen gerade erst in dem Alter angekommen, in dem man ungestraft Alkohol trinken durfte. Wie sollte so jemand Erfahrung in Sachen Wein mitbringen? Ich sah schwarz für diesen Laden. Aber Elissa war voll in ihrem Element.

«Das wäre wunderbar. Also, zum einen haben wir als Hauptgang die Muscheln, zum anderen Wachteln. Halbe Flaschen bieten Sie ja nicht an, haben Sie vielleicht eine Empfehlung, was zu allem passt?»

Der junge Weinkenner ließ sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen. «Selbstverständlich. Da in Ihrem Menü auch Räucheraromen zu finden sind, rate ich zu einem Frühburgunder. Zum Beispiel kann ich Ihnen den Alpha & Omega vom Deutzerhof empfehlen. Oder Sie versuchen es mit dem Spätburgunder aus Baden, der hat leichten Fasseinsatz und würde sich aromatisch über alle Gerichte legen.»

Klang in meinen Ohren toll, aber das lag vielleicht auch daran, dass ich den ganzen Nachmittag Prosecco getrunken hatte und der Auskenner dem jungen Alain Delon ganz entfernt ähnlich sah. In meinem Zustand hätte ich dem Mann auch Sangria im Fünf-Liter-Tetrapak abgekauft.

«Gut, dann probieren wir den Spätburgunder. Vielen Dank.»

Das Helferlein machte sich mitsamt der Karte wieder unsichtbar.

Elissa ruckelte an ihrer Handtasche und prüfte, ob die Aufnahme noch lief. «Hätte ich dem Laden gar nicht zugetraut, dass die so gut sortiert sind. Ich bin mal ehrlich gespannt, wie der Wein schmeckt.»

Was für mich zu einem außergewöhnlichen Abend mit köstlichem Essen und phantastischen Weinen wurde, war für Elissa harte Arbeit gewesen:

Damit Ihr nicht brecht

Ein Test von Elissa Brecht – heute: Restaurant Quartett

 

Seit einiger Zeit wird die Köpenicker Straße von der Berliner Clubszene in Beschlag genommen und macht das Leben dort zur Hölle. Anrainer sein ist dort nichts für zart Besaitete. Da die Clubber beizeiten Hunger haben, eröffnen Szeneclubbetreiber ein Restaurant nach dem anderen. Ansporn genug für die Macher des Sunshine und die Betreiber des Clubs deLuchs, nachzuziehen.

Ich bin misstrauisch, eigentlich eine Verfechterin des «Schuster bleib bei deinem Leisten». Doch kommt man in Berlin nicht um diesen Trend herum. Ich muss also hinsehen. Genauer … wie immer.

Unter der Lupe: der Architekt. Hat sich die Szene den guten Geschmack denn weggekokst? Natürlich steht ein Kamin in der Halle, die sich Restaurant nennt. Der ideale Sitzplatz befindet sich wohl irgendwo zwischen den zugigen Fenstern und der offenen Feuerstelle, die nicht die Steaks, sondern die Gäste grillt. Deutlich angenehmer dagegen das kleine Séparée, zum Glück bekommen wir dort noch einen Tisch.

Unter der Lupe: der Service. Mit der Geduld einer routinierten Altenpflegerin geht die studentische Aushilfskraft auf mich ein. Das schafft Sympathie und lässt die architektonischen Mängel ein bisschen in den Hintergrund rücken. Die Speisekarte kennt sie, doch vom Wein (wie sollte es auch anders sein, wenn man eigentlich Politologie studiert) hat sie keine Ahnung. Sie schickt uns einen Kollegen, der sich als Autodidakt mit dem Thema auseinandergesetzt hat und sich wohl um den Einkauf kümmert. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle abbrechen und gehen. Liebe Gastronomen, Ihr macht Eure Gäste zu Biertrinkern. Sind die 60 € Aufpreis fürs Öffnen der Flasche? Aber nichts für ungut, der Mann müht sich redlich, die Weinempfehlung ist durchaus kompetent.

Unter der Lupe: der Koch. Ein Weltreisender. Auf dem Schiff war er. Der Aquavit wird zum «Linie», indem er den Äquator überquert. Der Koch hat offensichtlich seine «Linie» bei der Überquerung desselben verloren. Ein Sammelsurium an Gerichten aus aller Welt. Nur ein Land hat er vergessen zu bereisen, nämlich eines, in dem man sich vegetarisch ernährt.

Beim Lesen lief mir wieder das Wasser im Mund zusammen. Während Elissa Bedienung, Koch und Wein-Einkäufer gnadenlos durch den Abend scheuchte, ließen wir uns die Rote-Bete-Suppe mit Räucherente (4,90 €) munden sowie eine Portion beim Grillen mit Yak-Salz bestreuter Sardinen mit Gremolata (7,90 €, «die Tunke hat etwas viel Knoblauch abbekommen, dafür war der Fisch aber gut gegart», so Elissa in ihrem Artikel), ein deftiges Rindersteak mit Steckrüben (28,00 €) und eine Wachtel (25,90 €), die laut Elissa zwar für sich betrachtet gut gemacht waren, in ihrer Kombination aber keinen Sinn ergaben. Mit der Beurteilung des Desserts endete der Bericht:

Die Portionen waren mächtig, dennoch entschloss ich mich, noch eine weiße Schokomousse mit Kirschen zu probieren, um Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin meiner Kolumne, einen allumfassenden Einblick geben zu können. Wir hätten es auch lassen können. Sie war nichtssagend.

Insgesamt also ein recht gemischtes Restauranterlebnis. Im Moment würde ich noch ins Zeugnis schreiben: «Sie bemühten sich stets …» Doch ist das Potenzial spürbar. Ich denke, nein, ich wünsche mir, dass aus dem «Quartett» etwas wird. Ich werde wiederkommen und erneut berichten.

Ihre E. Brecht

Es war ein wunderbarer Abend gewesen, und ich erinnerte mich, dass ich permanent Angst gehabt hatte, eine der Kellnerinnen könnte das Aufnahmegerät in Elissas Tasche entdecken. Auf dem Weg nach Hause hatten wir fast durchgehend gekichert, beschwipst vom Wein und beseelt vom guten Essen.

Zwei Jahre später war Elissa für kurze Zeit nach München gegangen, und nun arbeitete sie bereits seit gut fünf Jahren auf der Nordseeinsel Sylt. Die Gastroszene auf der Insel hatte sich in der letzten Zeit auf ein sehr hohes Niveau entwickelt, und ständig kamen neue Restaurants und Bistros hinzu. Anfangs hatte ich mich gefragt, ob es für eine umtriebige Restaurantkritikerin auf einer doch verhältnismäßig kleinen Insel überhaupt genug zu tun geben würde, aber Elissa war komplett ausgelastet. Sie schrieb Empfehlungen für verschiedene Wochenendbeilagen von Tageszeitungen aus Städten wie Berlin oder Düsseldorf, wo viele Sylt-Freunde lebten. Außerdem wurde sie häufig als Beraterin für Fernsehsendungen angefragt, in denen es um Küche und Kochen ging. Der allgemeine Trend, weniger Lebensmittel in der Mikrowelle aufzuwärmen und stattdessen gesundes Essen zu kochen, bescherte meiner Freundin volle Auftragsbücher.

Ich legte den Artikel zur Seite und machte mich gut gelaunt an meine Lucinda-Listen. Nachdem ich großzügig wattierte BHs, Minimizer, Strümpfe, Nachthemden, Bodys und einiges aus der Abteilung «Für den Mann» geordert hatte, widmete ich mich meiner elektronischen Post.

Neben Angeboten, mir den Penis vergrößern zu lassen, Probefahrten mit Kleinwagen zu unternehmen und günstige Omega-3-Pillen zu bestellen («Omega-3 ist so wichtig wie Vitamin C – pflegen Sie Körper und Geist mit unserem Kennenlernangebot»), gab es auch eine Nachricht von Elissa.

Von: brecht@sylt.de

An: roma@lucinda.net

Betreff: Einladung, und wehe, du kommst nicht

Gesendet: 24. November, 23:17 Uhr

 

Liebe Ilse,

meine Beste, ich hoffe, es geht dir gut und alle sind gesund. Ich hatte heute einen wunderbaren Abend in einem neuen Restaurant in Keitum. Das Essen war ganz großer Mist. Ich musste geschlagene zweiundzwanzig Minuten warten, bis ich an einen Tisch gesetzt wurde, nicht einmal ein Glas Leitungswasser wurde mir zur Überbrückung der Wartezeit angeboten. Der Rotwein war eiskalt, der Salat hätte im Dressing seinen Freischwimmer machen können, und die handgeschnitzten Fritten waren innen noch leicht gefroren! Die haben es nicht einmal hinbekommen, das Steak so zu braten, dass es noch als Rindfleisch erkennbar war. Ich werde gleich, wenn ich diese Nachricht an dich beendet habe, meine Kritik dazu schreiben. Das wird ein Fest!

Aber eigentlich melde ich mich, weil ich dich noch mal zu meinem Geburtstag einladen möchte. Die Location steht: Ich werde in einem tollen Restaurant in Westerland feiern, ein schickes Hotel mit einem sehr jungen neuen Küchenchef. Fast noch ein Geheimtipp. Und der Koch macht nicht nur einzigartiges Essen, sondern sieht noch dazu großartig aus. Das Auge isst ja bekanntlich mit. Das wird grandios. Du MUSST MUSST MUSST kommen, auch wenn du am Samstag am Telefon gesagt hast, dass es nicht geht, weil Toni so viel zu tun hat und ihr kurz danach wieder eure Skireise macht. Ganz ehrlich: Die kannst du doch nächstes Jahr auch noch machen, wenn ich nicht vierzig werde. Natürlich schläfst du bei mir, und am besten holst du eure Oma Nudel und lässt sie bei euch einhüten, damit wir ein schönes Wochenende zusammen haben. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Melde dich, so schnell es geht.

Ich drück dich

EB

Sich darüber zu freuen, dass ein Abend mit schlechtem Service und miesem Essen besonders gut geeignet für eine Restaurantkritik war, war typisch Elissa. Das Leben meiner Freundin bestand aus einer Aneinanderreihung von mehr oder weniger gutem Essen, begleitet von reichlich Wein. Allerdings war sie dazu übergegangen, hauptsächlich in der Mittagszeit Menüs zu testen. Zum einen war es preiswerter, sich bereits bei Tageslicht drei oder mehr Gänge einzufahren, schließlich mussten auch ihre Auftraggeber mittlerweile auf ihr Budget achten. Und zum anderen war der Küchenchef mittags meistens nicht im Restaurant, sodass die Wahrscheinlichkeit, einen Verriss zu landen, wesentlich größer war. Den konnte ganz Nordfriesland dann nachlesen in «Damit Ihr nicht brecht», ihrer Kolumne, die inzwischen in der größten Tageszeitung Schleswig-Holsteins erschien. Anschließend recycelte sie die Kolumnen in Reiseführern über die Insel.

Vielen Köchen und Kellnern war meine kleine Freundin inzwischen bekannt, sodass Elissa sich in den populäreren Läden verkleiden musste, wenn sie testen ging, damit sie keine Sonderbehandlung bekam. Daher versuchte sie mit kleinen Mitteln, ihre Optik zu verändern: eine dicke schwarze Brillenfassung hier, eine blondgelockte Perücke da oder ein unvorteilhaft geschnittenes Kleid, das sie geschätzte zehn Kilo dicker aussehen ließ. Ihre Verkleidungen sorgten immer für riesigen Spaß, wenn ich sie besuchte und zum Restauranttesten mitkam.

Kurz vor Weihnachten würde Elissa also ihren vierzigsten Geburtstag feiern, und seit Wochen nötigte sie mich, dabei zu sein. Ich hatte ihr mehrfach zu erklären versucht, dass ich Toni und die Kinder unmöglich allein lassen konnte, und nun kam sie mit einer neuen Idee. Oma Nudel hieß bei uns eigentlich Oma Etti – von Oma Spaghetti, weil sie immer Spaghetti in verschiedensten Variationen zubereitete, wenn sie bei uns war. Und Oma Etti kam gern für ein paar Tage zu uns nach Falkensee, um auf die Kinder aufzupassen, wenn ich Toni auf einer Reise begleitete. Meine Eltern waren für so etwas nicht zu haben. Sie hatten sich getrennt, als ich gerade achtzehn geworden war, und ich hatte so schnell wie möglich eine eigene Wohnung gesucht, um weder meiner Mutter noch meinem Vater weiteren Anlass für Streitereien zu bieten. Umso mehr freute ich mich über das enge und liebevolle Verhältnis zu Tonis Eltern, besonders zu Oma Etti. Allerdings hatte ich Elissa schon auf frühere Mails geantwortet, dass die Omi aus Italien auch älter wurde und so kurz vor Weihnachten sicher keine Lust auf einen Trip ins kalte Norddeutschland hatte. Im Übrigen hatte ich selbst bestimmt zu viele Party-Termine in der Adventszeit, sodass mir wirklich die Ruhe fehlte, um zu einer Feier nach Sylt zu fahren. Aber je näher Elissas Geburtstag heranrückte, desto mehr verstärkte sie den Druck auf mich. Ich bräuchte Abwechslung und eine Pause vom Familienleben, eine Auszeit von den Kindern, und die Wäschepartys seien ja finanziell ohnehin nicht vonnöten. Außerdem war sie der Meinung, dass jede Ehe ab und zu etwas Abstand benötigte, um die Liebe frisch zu halten.

Dabei hatte meine Freundin von Ehe und Partnerschaft ungefähr so viel Ahnung wie ein Frosch vom Fliegen. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte es nie länger als ein paar Monate in einer Beziehung ausgehalten, und schon als Schülerin war sie der Überzeugung gewesen, dass man ohne Kinder einfach besser dran sei. Mit Männern hielt sie es wie mit dem Essen: genießen und immer wieder neue Menüs und Zubereitungsarten probieren. Bewertet wurden die Herren ebenfalls nach dem Service, und wenn der dann aus Gewohnheit nachließ, war es nach Elissas Verständnis Zeit für einen Lokalwechsel.

Dennoch kam ich nach der erneuten Einladung ins Grübeln. Vielleicht war es ja tatsächlich eine gute Idee, an die Nordsee zu fahren und Elissa zu besuchen. Sich wieder einmal Westerland ansehen, frische klare Nordseeluft schnuppern, Strandspaziergänge machen, ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen, über alte Zeiten plaudern und sich mal richtig gehen lassen. Früher war ich mit Elissa in den Ferien oft nach Sylt gefahren. Wir waren in der Jugendherberge in Rantum gewesen oder auf dem Campingplatz in Westerland gleich hinter den Dünen. Dann hatten wir uns am Strand gegenseitig mit Sonnencreme eingerieben und dabei nach tollen Jungs Ausschau gehalten, die wir nach ihren Strandkorbnummern benannten. Dazu lief auf dem mitgebrachten Ghettoblaster die Neue Deutsche Welle rauf und runter. Spliff, Nena, Markus und Hubert Kah waren die musikalischen Helden dieser Sommer.

Die Vorstellung, für ein paar Tage so zu tun, als wären wir jugendliche Singles, hatte schon etwas für sich. Ausschlafen, ohne sich für den Schulanfang den Wecker zu stellen, nicht überlegen, was am Wochenende gekocht werden sollte, und nicht darauf achten, ob Tom sich die Zähne geputzt hatte. Andererseits war Tom doch noch so klein und schlief abends ohne mich schlecht ein. Und Hanna tat zwar immer so, als wäre ich ihr scheißegal, aber wenn ausgerechnet jetzt der erste Liebeskummer über sie hereinbräche, und ich wäre nicht zu Hause?

Nein, es ging einfach nicht. Toni hatte kurz vor dem Jahresende viel zu viel Arbeit in der Agentur, die zusätzliche Belastung der Kinderbetreuung konnte ich ihm auf keinen Fall zumuten. Und Oma Etti hatte sich schon für das Frühjahr angekündigt, vielleicht konnte ich dann ein paar Tage nach Nordfriesland fahren. Noch eine Reise durfte ich meiner Schwiegermutter in ihrem Alter wohl kaum zumuten. Jetzt nicht. Das würde ich Elissa sofort schreiben. Und mir danach überlegen, was ich ihr zum vierzigsten Geburtstag schenken sollte.

***

«Natürlich fährst du. Ich rufe meine Mutter an, die kommt gern ein paar Tage her, um auf die Kinder aufzupassen. Mein Vater ist sowieso bei einem Klassentreffen in Rom, und sie wäre ganz alleine. Das ist genau an dem Wochenende, an dem Elissa ihren Geburtstag feiern will. Genieß es und fahr doch von Donnerstag bis Montag. Dann lohnt sich der Aufwand wenigstens.»

Als wir nach dem Abendessen noch ein Glas Wein tranken, hatte ich Toni von Elissas Einladung erzählt.

«Siehst du, du bist auch der Meinung, dass es zu aufwendig ist.»

«Nein, bin ich nicht, ich meinte deinen Aufwand. Ich weiß doch, wie schwer du dich mit veränderten Tagesabläufen tust, deshalb wäre es vielleicht besser, wenn du nicht nur für eine Nacht zu Elissa fährst. Du bist ja bis Westerland mit der Bahn fast fünf Stunden unterwegs.»

«Aber Tom schläft schon immer so schlecht ein, wenn ich die Dessous-Partys gebe», ignorierte ich den Vorwurf und erklärte meine eigenen Überlegungen. «Wie soll das denn werden, wenn ich sogar vier Nächte nicht hier bin? Und Hanna …»

«Hanna kommt ganz gut ein paar Tage ohne ihre Mama klar, ich bin doch auch noch da.» Er tat entrüstet. «Und wenn meine Mutter den ganzen Tag für Tom kocht und backt und ihn mit Leckereien vollstopft, hat er am Abend vor lauter Bauchschmerzen gar keine Zeit, sich nach dir zu sehnen.»

«Herzlichen Dank. Hört sich fast so an, als könntest du es kaum abwarten, dass ich endlich verschwinde», versuchte ich, beleidigt zu sein.

Toni schenkte mir Wein nach und grinste. «Unsinn. Aber du kümmerst dich hier immer um alles, kaufst ein, kochst für uns, machst deine Partys und kommst aus Brandenburg höchstens heraus, wenn ich dich auf eine Dienstreise mitnehme.» Er stellte die Flasche auf einen Untersetzer und prostete mir zu. «Ich finde es klasse, wenn du auch mal an dich denkst. Wir kriegen das hier schon für ein langes Wochenende geregelt. Falls meine Mutter aus irgendeinem Grund nicht kommen kann, können wir immer noch Alma fragen.»

«Ach, ich weiß nicht. So kurz vor Weihnachten muss ich mich eigentlich um die letzten Bestellungen für dieses Jahr kümmern und die Adventskalender für die Kinder basteln, und dann muss ich unsere Skiausrüstungen durchsehen und schauen, ob Tom und Hanna die Anzüge vom letzten Jahr noch passen, und …» Ich bekam keine Gelegenheit, noch mehr Gründe anzuführen.

«Ja, und wenn du weiter überlegst, dann fallen dir sicher noch mindestens hundert andere Ausreden ein. Vor was hast du denn Angst, mein Schatz?» Toni nahm noch einen Schluck Wein. «Du machst dir auf Sylt mit deiner Freundin eine schöne Zeit, und die Kinder und ich, wir können uns in diesem Jahr ganz heimlich ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für dich überlegen und Pläne für deinen runden Geburtstag schmieden.» Er setzte sich neben mich auf das Sofa und sah mich an. «Es tut mir auch mal ganz gut, wenn ich gezwungen bin, mich mehr um die Kinder zu kümmern. Den Pitch für das Porsche-Projekt haben wir abgegeben. Der Banken-Spot ist morgen abgedreht, die Fotos dazu machen wir übermorgen, und dann wird es bei mir erst einmal ruhiger.»

«Das sagst du immer, und dann kommt plötzlich noch ein Pitch für irgendeine Kampagne, die ihr unbedingt gewinnen müsst, oder ein Etat wird bewilligt, von dem du schon so lange geträumt hast, oder das Kind in eurem Werbespot wird krank, und ihr müsst alles noch mal neu drehen, oder …»

«Oder, oder, oder. Was soll ich tun? Beim Leben meiner Mutter schwören, dass ich mich gut um unsere Kinder kümmern werde? Ilse, ich krieg das hin. Hanna ist kein Baby mehr und kann mit anpacken, wenn es klemmt. Im allerschlimmsten Fall setzt du dich in Westerland in einen Flieger und bist eine Stunde später in Berlin. Mach dir eine tolle Zeit, und dann feiern wir Weihnachten, und danach machen wir unseren Familienurlaub im Schnee. Wie jedes Jahr.»

Jedes Jahr am zweiten Feiertag starteten wir in den Skiurlaub. Mit Freunden ging es über Silvester auf eine Hütte in Österreich. Toni tauschte für ein paar Tage seine geliebten Joggingschuhe gegen Langlaufskier, die Kinder sausten auf Snowboards und Schlitten die Berge herunter, und ich ging gemütlich spazieren oder saß in der Sonne und ließ es mir gut gehen. Skifahren hatte ich nie gelernt.

Mir war selbst nicht klar, wieso ich mich so gegen die Fahrt nach Sylt sperrte. Vielleicht wollte ich einfach unentbehrlich sein. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Toni gebettelt hätte, dass ich nicht fahre, weil es ohne mich zu Hause nun mal nicht laufen würde. Natürlich erwartete ich nach fünfzehn Jahren Ehe nicht, dass er in Tränen ausbrach und mir erklärte, es breche ihm das Herz, wenn er in der Nacht meinen Herzschlag nicht an seinem spüre, dass es ihn vor Sehnsucht zerreiße, wenn er nur daran denke, dass ich mehr als vierhundert Kilometer von ihm entfernt wäre. Aber so ein bisschen angedeuteter Trennungsschmerz wäre auch ganz schön gewesen. Stattdessen drängte er mich förmlich aus dem Haus.

Gut, dann also ab an die Nordsee. Ich würde mein «Wäschegeld» nehmen und ein paar Tage so richtig auf die Pauke hauen. Ich würde die Nächte durchmachen und bis mittags schlafen, mich von den besten Köchen verwöhnen lassen statt Pfannkuchen zu braten und Nudeln zu garen. Und statt Lucinda-Dessous zu verkaufen würde ich sie nur tragen.