Kapitel 7
Suchen und Finden
Die schmalen, geschmeidigen Feuerflügel zerfielen zu Asche, das Heulen verstummte und die grauen Flocken schwebten sanft in die Tiefe. Nachdem das Grollen der zusammenfallenden Häuser verebbt war, erleuchteten unzählige funkelnde Sterne die Nacht und am Horizont glühte ein rotgelber Schimmer. Auch unter den Trümmern flimmerte es golden. Dort wollte sie hin! So schnell sie konnte, lief sie dem Leuchten entgegen, doch je mehr sie sich näherte, umso schwächer wurde es und erlosch schließlich.
»Nein!«
Anna wurde von einem heftigen Zittern geschüttelt. Das Licht unter den Ruinen war verschwunden.
»Es ist gut, Anna. Du hast geträumt.«
Eine Hand lag sanft auf ihrer Schulter. Anna blinzelte. Das hier war kein Traum. Sie befand sich immer noch in dem verfluchten Wald. Vor dem schwach glühenden Feuer lag die junge Frau, Naomi, und schlief. Sie selbst hatte offensichtlich in Alexander Bachs Armen geschlafen. War er nicht eben noch in dem Blätterhaufen verschwunden, bevor sie sich an Naomis Seite gesetzt hatte? Sie straffte die Schultern und erhob sich hastig. Zu hastig. Anna ächzte, ein scharfer Schmerz schoss ihr in den Rücken. Alles, aber auch alles tat ihr weh. Sie hob die Arme, streckte sich und lief steif vor dem Feuer auf und ab. Schließlich sammelte sie ein paar Äste vom Boden und warf sie lustlos in die Glut. Wieder hatte sie von dem Phönix geträumt, doch sie war nicht aufgewacht, als die Sterne am Himmel standen. Sie hatte ein Licht gesehen. Das Licht unter den Trümmern war ungewöhnlich, neu … Dieses Mal war sie mittendrin, dabei gewesen. Nicht neutrale Beobachterin wie sonst. Und gerade als sie meinte, der Lösung des Rätsels endlich ein wenig näher zu kommen, musste sie Alexander zum denkbar ungünstigsten Moment aufwecken. Wie konnte es auch anders sein.
»Alles in Ordnung, Anna? Du musst fürchterlich geträumt haben. Ich habe versucht, dich zu wecken.«
Sie drehte sich langsam um.
»Das hast du ja auch geschafft! Sieh dich doch mal um. Nicht nur, dass ich in diesem verdammten Wald übernachtet habe. Nein, ich fühle mich außerdem absolut gerädert. Ich kann jeden einzelnen Knochen in meinem Körper spüren. Weder wissen wir, wo wir uns befinden, noch wie wir nach Hause kommen. Und zum krönenden Abschluss hast du gestern Abend auch noch eine schwerverletzte Frau angeschleppt. Ich würde sagen, es ist nicht alles in Ordnung.«
Alexander richtete sich zögernd auf und zog eine Augenbraue hoch. Seine schwarzen Haare waren zerwühlt. Er sah müde und abgespannt aus.
»So habe ich das nicht gemeint, Anna«, antwortete er leise. »Die, ähm, kleinen Probleme sind mir hinlänglich bekannt. Ich wollte eigentlich wissen, ob es dir besser geht. Aber wer am frühen Morgen schon wie ein Waschweib schimpft, dem kann es eigentlich nicht besonders schlecht gehen.«
Er sah sie ratlos von der Seite an, griff nach der Wasserflasche und pfiff Oskar zu sich.
»Ich geh mich dann mal frisch machen.«
Anna stemmte die Hände in die Hüften, das kam gar nicht infrage. Nicht nur er musste sich frisch machen. Ein wenig Bewegung und kühles Wasser würden ihr ebenfalls guttun. Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand und schritt erhobenen Hauptes an ihm vorbei.
»Ich zuerst.«
Anna hatte sich bereits einige Meter von ihrem Lager entfernt, als sie stehen blieb und sich umdrehte.
»Wo …?«
Sie fuhr zusammen, Alexander stand grinsend hinter ihr.
»Komm, ich zeig dir, wo es lang geht.«
Alexander schickte Oskar, der sich schwanzwedelnd an seiner Seite eingefunden hatte, zurück. Enttäuscht, weil er um seinen wohlverdienten Morgenspaziergang gebracht wurde, setzte er sich winselnd an Naomis Seite.
»Bitte schön, Alexander, du darfst mal wieder vorangehen. Aber ich hätte den Bach auch allein gefunden.« Konnte er sich nicht endlich sein dümmliches Grinsen aus dem Gesicht wischen?
»Natürlich, Anna.« Er machte einen angedeuteten Diener, umrundete sie in gebührendem Abstand und marschierte mit ausladenden Schritten los, ohne sich zu vergewissern, ob sie ihm folgte.
Mit sanftem Plätschern schlängelte sich der Bach kristallklar durch das satte Grün des Waldes und das gleichmäßige Rauschen beruhigte augenblicklich ihre überreizten Nerven. Sie beugte sich über die spiegelnde Oberfläche und verfolgte die leise Strömung. Das hier war Wasser, ganz eindeutig. Anna kniete sich hin und ließ es in ihre Hände strömen, trank bedächtig und schloss die Augen. Es schmeckte noch genauso köstlich wie gestern. Sie wollte später Naomi danach fragen, vorausgesetzt sie war wach und es ging ihr ein wenig besser. Als sie ihren Durst gestillt hatte, richtete sie sich langsam auf und ihr Blick fiel auf Alexander, der hinter ihr stand, sie beobachtete und, wie konnte es auch anders sein, grinste.
»Was! Was ist jetzt schon wieder so komisch?« Sie zog sich Schuhe und Strümpfe aus und watete in das eiskalte Nass.
»Nichts.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Was, Alexander?« Er trat einen Schritt zurück und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen.
»Wirklich nichts, Anna. Wunderschöner Ausblick.«
Jetzt reichte es aber, sie drehte sich um, stapfte durchs Wasser und lief auf den Baum mit den kelchförmigen Blättern zu. Wortlos pflückte sie zwei Becher und füllte sie. Hoch erhobenen Hauptes stiefelte sie an ihm vorbei, zog den Fuß durch das kalte Wasser, sodass sich eine Fontäne kristallklarer Spritzer über ihn ergoss, griff nach Socken und Schuhen und kletterte ans Ufer. Er musste nur den Mund öffnen und sie fuhr aus der Haut. Was war nur mit ihr los? Sie hörte, wie es hinter ihr platschte, wahrscheinlich erfrischte er sich jetzt.
Hinter einem Baum blieb sie stehen und wartete. Er hatte sich nicht nur seiner Schuhe, sondern auch seines Hemdes entledigt. Breitbeinig stand er knietief im Bach und ließ das eisige Wasser durch seine Finger über den Kopf rinnen. In dünnen Fäden perlte es von den pechschwarzen Haaren ab und lief über seine Brust. Anna kniff ihre Augen zusammen. Sehniger Körper, kräftige Schultern und muskulöse Arme. Die Sonnenstrahlen, die mühelos in das durchsichtige Blau des Wassers tauchten, verliehen seiner Haut einen bronzenen Schimmer. Anna ertappte sich bei einem leisen Seufzer, und als Alexander seinen Kopf in ihre Richtung drehte, verschwand sie blitzschnell hinter dem Baumstamm und eilte davon.
Behutsam hängte Anna die vollen Blätter an einen dünnen Ast, Ollaris-Blätter hatte Naomi sie genannt. Sie schlief immer noch. Anna legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn und zog sie erschrocken zurück. Entweder war ihre eigene Hand schrecklich kalt oder Naomi glühte. Wo blieb nur Alexander? Anna spähte suchend in den Wald. Da kam er pfeifend angeschlendert. Seine schwarzen Haare lagen nass im Nacken, die Hände steckten lässig in den Hosentaschen. Sie wartete nicht, bis er sie erreicht hatte, sondern lief ihm hastig entgegen. Er verstummte augenblicklich und sein Lächeln erstarb.
»Naomi?«
Anna nickte und sah zu der jungen Frau hinüber.
»Ich glaube, sie hat furchtbar hohes Fieber.«
Er kniete sich neben sie und zog ebenfalls erschrocken seine Hand zurück, als er sie berührte.
»Die Wunde, sie muss sich entzündet haben.«
Kurzerhand zog er ihr das Hemd über den Kopf. Für Zartgefühl und Rücksichtnahme war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Behutsam entfernte er den provisorischen Verband. Naomi stöhnte, doch sie wachte nicht auf. Anna betrachtete neugierig die verletzte Schulter, doch die Wunde hatte sich nicht verändert. Im Gegenteil, sie schien gut zu heilen. Natürlich sah man den tiefen Schnitt, doch die Ränder der Verletzung waren weder gerötet noch geschwollen. Sanft tastete Anna die verletzte Schulter ab, doch die Haut dort war auch nicht wärmer als der Rest ihres Körpers.
»Glaube ich nicht, Alexander. Das Fieber muss woanders herkommen. Wenn ich nur Holunder oder Lindenblüten hätte, die sind entzündungshemmend und schweißtreibend. Dann würde das Fieber sinken. Verdammt, ich muss doch irgendwie Wasser kochen können.« Anna stöhnte. »Aber es ist sowieso egal, es ist ja erst April, da blüht ohnehin noch nicht viel.«
Alexander schaute überrascht auf.
»Obwohl …«, fuhr sie nachdenklich fort, »die Blätter der Bäume sind hier ja auch größer …« Anna unterbrach sich selbst, als sie Alexanders verblüfftes Gesicht sah.
»Ich dachte, du bist Spielzeugladenbesitzerin oder so ähnlich. Hast du nicht gesagt, du hast keine Ahnung von Medizin?«
»Hab ich auch nicht, aber ich interessiere mich ein bisschen für Pflanzen und Kräuter.«
»Das, Anna, hörte sich aber nach mehr an als nur ein bisschen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ist ja auch egal, oder? Wir haben schließlich weder Kräuter noch einen Behälter zum Wasserkochen. Und um zurück zu deiner Frage von vorhin zu kommen, nun ist wohl erst recht nichts mehr in Ordnung.« Anna blickte zu Naomi hinüber. »Wie es aussieht, können wir fürs Erste gar nicht mehr weg von hier, es sei denn, wir lassen sie zurück.«
Alexander nickte nachdenklich. Auf seiner Stirn bildeten sich schmale Falten. Keiner sprach. »Deshalb gehe ich allein Hilfe suchen«, fuhr er schließlich fort.
Anna wurde blass, er wollte sie hier zurücklassen. Allein im Wald, mit einer Verletzten.
»Das kommt gar nicht infrage! Ich kann genauso gut gehen!« Natürlich konnte sie das nicht. Anna wusste selbst, dass er recht hatte. Der kleine Ausflug zum Bach hatte sie bereits furchtbar angestrengt. Weit würde sie garantiert nicht kommen, aber der Gedanke hier, Gott weiß wo in Silvanubis, auf sich gestellt zu sein, gefiel ihr nicht. Erst Hilflosigkeit und dann Panik ergriffen sie und nur mit Mühe gelang es ihr, tief ein- und auszuatmen.
»Ich verspreche dir, wenn ich bis heute Abend niemanden gefunden habe, der uns helfen kann, dann kehre ich um und komme zurück.« Vorsichtig ergriff er ihre Hand.
Sie schluckte. Verdammt, sie hatte Angst. Angst vor dem Alleinsein. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, doch Alexander hob sanft ihr Kinn und erzwang ihren Blick.
»Anna, bitte. Sieh mich an. Hab keine Angst. Ich komme zurück, das verspreche ich. Ich verstehe dich vielleicht besser, als du denkst. Glaub mir, ich fühle mich genauso lausig wie du. Du kannst mir vertrauen. Bei Einbruch der Dunkelheit bin ich wieder da, mit oder ohne Hilfe.«
Sie entzog sich ihm unwirsch und ließ sich langsam neben die verletzte Frau auf den Boden sinken.
»Ich vertraue dir. Seltsamerweise.«
Ein dünnes Lächeln umspielte seinen Mund und verschwand wieder. Er hockte sich neben Naomi und ergriff entschieden ihre Hand.
»Aber ich fürchte, wir müssen unsere Patientin irgendwie aufwecken, bevor ich losziehe. Sie muss mir unbedingt noch ein paar Fragen beantworten.« Er drückte Naomis Hand fest und lange, sie wand sich und versuchte, sich ihm zu entziehen.
»Anna, sei so gut und hol mir eins der gefüllten Blätter.«
Alexander verstärkte der Druck seiner Hand, nahm das randvoll gefüllte Blatt entgegen und ließ das Wasser langsam auf die glühende Stirn der tief schlafenden Frau tropfen. Naomi versuchte, sich auf die Seite zu drehen, als die kalten Tropfen über ihre Stirn rannen, und wimmerte leise. Sie hustete und ihre Augenlider flatterten leicht. Es war ein trockener, heiserer Husten und Anna schmerzte allein vom Zuhören ihr eigener Hals. Sie verstand das nicht, gestern war sie noch davon überzeugt, dass es der jungen Frau heute besser gehen würde, und jetzt …
»Naomi.«
Alexander hatte ihre Hand losgelassen und sich über sie gebeugt. Er hielt ihr den Kelch an die Lippen und half ihr, vorsichtig zu trinken. Anna beobachtete ihn fasziniert. Dieser ewig grinsende Besserwisser hatte eine sanfte, stille Seite. Ihr war das bereits aufgefallen, wenn sie ihn mit Oskar beobachtete, und auch heute Morgen, als er sie beim Aufwachen in den Armen hielt, hatte es so einen Moment gegeben. Doch er zeigte ihr diese Seite nicht freiwillig, im Gegenteil. Obwohl, als er eben ihre Angst gespürt hatte, war seine Maske ebenfalls gefallen.
Naomi trank gierig, zu gierig und verschluckte sich, was einen weiteren Hustenanfall zur Folge hatte. Alexander kniete mittlerweile hinter ihr, richtete sie vorsichtig auf und lehnte sie an einen rauen Baumstamm. Nur mit großer Mühe hielt Naomi ihre Augen offen. Sie tat ihr furchtbar leid, doch Alexander hatte recht, wollte er Hilfe suchen und finden, musste er vorher mit Naomi sprechen.
»Es tut mir leid, Naomi. Ich hätte dich auch lieber schlafen lassen, doch wenn du kannst, dann musst du mir jetzt ein paar Fragen beantworten.« Er hielt kurz inne, weil die Verletzte erneut von dem bellenden Husten geschüttelt wurde, wartete bis Anna ihr etwas zu trinken gegeben hatte und fuhr dann fort.
»Aus welchem Grund auch immer es dir heute schlechter geht als gestern, eins steht fest, wir brauchen Hilfe, und zwar schnell.«
Naomi nickte und sah ihn fragend an. Sie kämpfte mit sich, um bei Bewusstsein zu bleiben. Alexander musste zur Sache kommen.
»Naomi, du musst mir sagen, wie ich aus dem Wald hinauskomme und wo ich jemanden finde, der bereit ist, uns zu helfen.«
Die junge Frau nickte zögernd, trank noch einen Schluck und sah von Alexander zu Anna. »Du … musst nicht … hierbleiben.« Ihre Stimme klang rau und heiser.
»Ich weiß«, antwortete Anna leise. »Doch leider bin ich selbst nicht ganz bei Kräften und außerdem kommt es gar nicht infrage, dass du hier allein zurückbleibst.«
Anna schluckte. Die Antwort entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit. Am liebsten hätte sie das Angebot auf der Stelle angenommen und wäre in Alexanders sicherer Nähe geblieben. Naomi sah sie durchdringend an und wendete sich dann an Alexander.
»Kannst du … den Himmelsrichtungen folgen?«
Alexander nickte.
»Nach Osten, etwa eine Stunde … Waldrand.« Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Folge dem Bach … genug zu trinken …« Ihre Lider flatterten erneut und ihre Augen rollten nach oben.
Alexander griff noch einmal nach ihrer Hand und packte sie fest. »Naomi, gleich, gleich kannst du dich ausruhen.«
Sie öffnete die Augen wieder und zog mit Mühe das linke Bein an. Anna folgte der Bewegung und sah, wie sie versuchte, ihren Knöchel zu erreichen. Eine goldene Kette blitzte am schlanken Fußgelenk. Anna berührte das Schmuckstück und Naomi nickte aufgeregt.
»Soll ich das abmachen?« Anna fingerte an dem kunstvoll verzierten Verschluss. Schließlich lag das Fußkettchen warm in ihrer Hand. Es war schlicht, doch wunderschön mit winzigen roten Steinen versehen und filigran verarbeitet.
Naomi deutete in Alexanders Richtung und Anna legte das Kleinod in seine große Hand.
»Am Waldrand links … kleiner Pfad … laufe so lange bis … Hilfe kommt … Calliditas entgegen.«
Anna verstand nicht und auch Alexander runzelte die Stirn. Was meinte sie? Ihre Augen wurden trüb.
»Naomi, ich verstehe nicht.«
Doch die junge Frau lehnte zusammengesunken an dem Baum und schließlich kippte ihr Kopf nach vorn. Alexander hielt ihre Hand immer noch fest in seiner.
»Naomi, ich verstehe nicht, was meinst du? Was war das für ein Licht gestern Abend, wie weit ist es bis … Naomi!«
Er hatte seine Stimme erhoben und begann die junge Frau zu schütteln. Und plötzlich begriff Anna. Auch er hatte Angst. Mit einem Satz war sie bei ihm und löste sanft seine verkrampften Finger von Naomis Schultern.
»Alexander, sie wird dir nicht mehr antworten, nicht jetzt. Lass sie schlafen.«
Zögernd erhob er sich und rieb sich das Gesicht. Das kalte Wasser hatte ihn nur vorübergehend erfrischt, seine Augenlider waren geschwollen, die Augen gerötet. Anna beugte sich über Naomi und seufzte erleichtert auf. Sie atmete tief und regelmäßig. Sie lebte. Noch. Unsicher drehte sich Anna zu Alexander um, der die glänzende Fußkette in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»Und wofür soll die gut sein, Naomi?«
Anna lief schweigend zu dem Baum, in dem ihr Rucksack hing, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und hob ihn aus der Astgabel. Beklommen öffnete sie ihn, griff hinein und zog ein großes Stück Fleisch heraus.
»Du solltest dich stärken, bevor du gehst.« Anna reichte ihm den Braten, der immer noch wunderbar würzig duftete und Alexander teilte ihn in drei Stücke.
»Du hast recht, Anna. Komm, setz dich zu mir. Allein essen ist langweilig.«
Anna nickte, griff noch einmal in den Rucksack und entnahm ihm auch den runden Salatkopf. Sie zupfte einige Blätter ab, stopfte den Rest und das letzte Drittel Fleisch zurück in die Tasche und hängte sie wieder in den Baum. Zaghaft hielt Anna ihm einige Blätter hin, die er dankend entgegennahm. »Vitamine.« Sie lächelte schwach. Ihr war ganz übel bei dem Gedanken, in einigen Minuten allein hier zurückzubleiben, doch sie würde den Teufel tun und es ihn jetzt merken lassen. Sie warf einen kurzen Blick in Naomis Richtung. Nun ja, nicht ganz allein. Schweigend verspeisten sie Bauer Carlsons Köstlichkeiten, sorgsam den Blick des anderen meidend.
»Ich hatte noch so viele Fragen, verdammt.« Alexander scharrte nervös mit den Füßen im Laub. Instinktiv ergriff sie seine Hand und drückte sie kräftig.
»Du schaffst das, Alexander.«
Seine Augenbrauen wanderten skeptisch nach oben. »Wenn du meinst. Wenn ich nur mehr wüsste von dieser rätselhaften Welt. Von Silvanubis.« Er zog sein Messer aus der Tasche und reichte es Anna.
»Hier, ich möchte, dass du es so lange behältst, bis ich wieder zurück bin.«
Anna verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
»Kommt gar nicht infrage. Sieh dich doch mal um, ist fast gemütlich hier.« Na also, sie hatte sich wieder im Griff.
Alexander legte das Messer wortlos auf den Boden und schüttelte den Kopf. »Außerdem bleibt Oskar hier.«
Anna blickte ihn überrascht an. Das hatte sie nicht erwartet, doch den großen starken Hund an ihrer Seite zu wissen, war schon beruhigend.
»Wenn du meinst.«
Er nickte bestimmt. »Außerdem bin ich ja vor Anbruch der Dunkelheit zurück.«
Anna hatte den Eindruck, er wolle mehr sich selbst als sie davon überzeugen. Nun hatte er es geschafft, jetzt fühlte sie sich richtig elend. Er ließ ihr Messer und Hund und sie haderte hier mit ihrem Schicksal und bedauerte sich. Sie kramte in ihrer Hosentasche, zog das zerkratzte Feuerzeug heraus und drückte es ihm in die Hand.
»Nur für den Fall, dass es doch etwas später wird. Feuermachen ist ja nun nicht gerade deine Stärke und unser Feuer hier lasse ich schon nicht ausgehen.«
Er betrachtete sie mit einer Eindringlichkeit, die sie erschreckte. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor sie sich in seinen grünen Augen und was sie darin sah, beschleunigte nicht nur ihren Pulsschlag, es machte ihr Angst.
»Pass gut darauf auf, es gehörte meinem Vater.«
Er schwieg eine Weile, rang mit sich und erhob sich schließlich hastig.
»Ich bringe es dir zurück. Versprochen, Anna Peters.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er im Wald.
Anna kämpfte sich mühsam hoch. Missmutig sammelte sie trockene Äste. Sie wollte genug Holz haben für den Tag und für den Abend, für die Nacht und für die Dunkelheit. Nur für den Fall. Ihr wurde rasch warm. Sie spähte blinzelnd durch den grünen Baldachin. Hier und da gruben sich vereinzelt Sonnenstrahlen wie Speerspitzen in den belaubten Boden. Gut, Regen konnte, durfte es heute einfach nicht geben. Sie wischte sich mit ihrem Ärmel durchs Gesicht und betrachtete zufrieden den Holzhaufen neben dem Feuer. Und nun? Ratlos ließ sie sich neben Naomi auf den Boden sinken und beobachtete sie besorgt. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, doch ihr Gesicht war nicht entspannt. Zwischen den blonden Augenbrauen hatten sich zwei tiefe Falten in die Stirn gegraben und hin und wieder presste sie ihre Lippen fest aufeinander. Anna griff nach der Feldflasche und versuchte, ihr Wasser einzuflößen. Gott sei Dank … die Verletzte nahm instinktiv kleine Schlucke auf. Und jetzt? Hier sitzen und warten? Sie berührte erneut Naomis Stirn. Sie fühlte sich noch heißer an als zuvor. »Ich hatte noch so viele Fragen.« Alexanders Worte hallten in ihren Ohren. Sie hatte auch viele Fragen. Sie erhob sich schwerfällig, griff vorsichtig nach einem der gefüllten Blätter, setzte es an ihre Lippen und trank. Mit dem Wasser fing es schon an. Wasser? Es sah aus wie Wasser, roch wie Wasser, nämlich nach nichts, und doch schmeckte es ganz anders, viel besser. Und dann der Wald, nicht nur die Blätter waren größer als gestern, er war dichter, stiller, ruhiger. Sie verstand das einfach nicht. Und schließlich Alexanders Geschichten von Drachen und Greifen und Einhörnern. Er war davon überzeugt, dass sie existierten, hier existierten. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, doch außer Bäumen, Laub und Gras war nichts Beunruhigendes zu sehen oder zu hören. Warum schenkte sie Alexander Glauben, obwohl nichts davon mit Logik zu erklären oder zumindest zu verstehen war? Anna rieb sich die Schläfen, ihr Kopf schmerzte. Alexander irrte sich. Es gab keine Drachen oder Einhörner. Das waren Fabelwesen, Märchengestalten ebenso wie der Phönix, der sie nachts besuchte. Mit einem Mal fröstelte sie. »Was war das für ein Licht gestern Abend?« Das wollte er Naomi noch fragen. Was hatte er nur damit gemeint? Und dann diese Blätter. Sie trank noch einen Schluck und betrachtete das grüne Blatt. Noch nie hatte sie so etwas gesehen. Eigentlich kannte sie sich mit Pflanzen, Kräutern und Blumen aus. Ollaris-Blätter waren ihr völlig unbekannt. Weder hatte sie eine solche Pflanze jemals gesehen noch darüber gelesen. Was hatte Naomi gesagt? Silvanubis? Sie befanden sich doch immer noch in dem gleichen Wald, den sie gestern betreten hatten. Wie konnten sie woanders sein? Calliditas … Je mehr sie grübelte, umso stärker wurde das Pochen hinter ihren Schläfen. Genug jetzt! Sie würde ihre Gedanken schleunigst auf das Naheliegende lenken und das war die Versorgung der Verletzten. Abermals legte sie ihre Hand auf Naomis Stirn. Heiß, keine Veränderung. Sie selbst war immer noch völlig erledigt, aber es ging ihr ein wenig besser als gestern. Sie würde jetzt frisches Wasser holen. Wer weiß, vielleicht fand sie ja doch Holunderbeeren oder irgendwelche anderen Kräuter. Anna griff nach der Feldflasche. Natürlich! Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. Warum war sie nicht vorher auf die Idee gekommen? Natürlich konnte sie Wasser kochen. Die Flasche war aus Aluminium. Sie musste sie lediglich irgendwie über das Feuer hängen und voilà, schon konnte sie Wasser erhitzen. Es waren keine großen Mengen, doch für ein bisschen Tee würde es reichen.
»Komm, Oskar, lass uns Wasser holen und Kräuter suchen.«
Ganz allein wollte sie nun doch nicht losziehen und Naomis Fieber würde weder mit noch ohne Oskars Anwesenheit sinken. Der rasselnde Atem war unüberhörbar. Sie war die Einzige, die Naomi helfen konnte.
Zufrieden trottete Oskar neben ihr her. Seit Alexanders Aufbruch war er nicht einmal von ihrer Seite gewichen. Anna kraulte dem schwarzen Riesen beim Laufen flüchtig den massigen Hals, doch kaum hatten sie den Bach erreicht, gab es für ihn kein Halten mehr. Anna grinste … Wie eine riesige Wasserratte. Sie ließ ihn zehn Minuten tollen, dann lief sie an dem plätschernden Gewässer entlang. Gewissenhaft suchte sie das Ufer ab und wanderte hin und wieder ins dunkle Unterholz. Nichts, aber auch gar nichts außer dichtem, sattem Grün. Elender Mist! Sie konnte doch nicht einfach auf Alexanders Rückkehr warten und nichts tun. Langsam ließen ihre Kräfte nach, Schweißperlen rannen ihr in die Augen. Es war wie verhext, warum war sie nur derart erschöpft? Sie gönnte sich eine kurze Pause am Ufer und ließ ihre müden Füße von dem glasklaren Wasser umspülen. Nachdenklich grub sie ihre Finger in Oskars dichtes Fell. Er schüttelte sich ausgiebig und übersäte Anna mit Hunderten von kleinen Tropfen. Dann ließ er sich zufrieden an ihrer Seite nieder. Anna schloss die Augen und ließ ihre Gedanken von dem gleichmäßigen Plätschern des Baches, dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen des Windes davontragen. Als sie seufzend die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf einen hellen Fleck an der anderen Uferseite. Eine sonnenüberflutete Lichtung. Anna blinzelte. Ein riesiger, blutroter Schatten streifte das Ufer. Sie neigte den Kopf zur Seite und hielt die Luft an. Ihr Blick folgte dem roten Schimmer, der über die Lichtung wanderte und verlosch. Furcht erfasste sie. Langsam richtete sie den Blick nach oben und atmete erleichtert auf. Nichts. Nichts außer strahlend blauem Himmel und blendender Sonne. Was zum Teufel war das … Sie ignorierte ihre Müdigkeit und durchquerte den Bach stelzbeinig. Die Sonne überschüttete die Lichtung geradezu mit Helligkeit und sie hielt schützend die Hand über die Augen. Anna stockte der Atem. Am Rande der Lichtung sah sie etwas weiß schimmern. Milchige, leicht gelbe Blüten. Mit schnellen Schritten lief sie auf den großen Busch zu und inhalierte die Luft regelrecht. Die Blütendolden dufteten schon von Weitem frisch und fruchtig. Nicht zu fassen, Holunderblüten. Wer hätte das gedacht? Es wäre doch gelacht, wenn sie damit das Fieber nicht ein wenig senken konnte. Anna blätterte in Gedanken in dem dicken Kräuterbuch ihrer Mutter. Es gehörte zu den wenigen Kostbarkeiten, die sie aus den Trümmern ihres Elternhauses retten konnte. Wie oft hatte sie darin gelesen, nur um sich Mutters Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Holunderblüten, schweißtreibend, entgiftend … Jedes Jahr war sie gemeinsam mit ihrer Mutter auf die Suche nach eben diesen weißen Blüten gegangen. Liebevoll pflückte sie eine Dolde und betrachtete die feinen, blassen, fünfzähligen Blütenblätter. Sie hatte etwa zehn der aufgeblühten Dolden gepflückt, als ihr ein kleiner Busch ins Auge fiel. Annas Herz tat einen verhaltenen Freudensprung. Noch besser, Salbei. Sie zupfte ein Blatt ab, zerrieb es zwischen Zeigefinger und Daumen und schnupperte selig. Mit dem Sud konnte sie die Wunde auswaschen. Anna sah sich um. Seltsam war es schon, ausgerechnet hier und so früh im Jahr diese Kräuter zu finden. Ob eine unsichtbare Hand sie hierher geführt hatte? Der rote Schatten vielleicht? Sie fröstelte und nicht zum ersten Mal war sie froh, dass Oskar sie begleitete. Den Hund ließ der kostbare Fund völlig unberührt. Er tobte bereits wieder vergnügt in der kalten Strömung des schmalen Flusses, war inzwischen pitschnass und hatte offensichtlich noch lange nicht genug von der eisigen Erfrischung. Anna pflückte rasch noch einige Salbeiblätter, füllte die Feldflasche und ein weiteres Ollaris-Blatt mit Wasser und durchquerte das kalte Nass ein zweites Mal.
Der Rückweg zu ihrem Lager wollte einfach kein Ende nehmen. Oskar hatte sich schweren Herzens von dem Bach getrennt und drückte sich nun nass, wie er war eng an ihre Beine. Drei Mal musste Anna eine Pause einlegen, sich hinsetzen und ausruhen. Alexander hätte sich wahrscheinlich über ihre schnaufende Atmung lustig gemacht, und obwohl sie nur im Schneckentempo vorankam, keuchte sie wie ein erschöpfter Marathonläufer kurz vor der Ziellinie. Ihr Herz pumpte so kräftig, als wollte es jeden Moment aus ihrer Brust springen. Als sie endlich den Rauch des Feuers erblickte, atmete sie erleichtert auf. Anna hängte die wassergefüllten Blätter an einen Ast und ließ sich erschöpft neben dem Feuer nieder. Sie schloss die Augen, um das lästige Schwindelgefühl zu verdrängen. Bald atmete sie ruhiger und ihr Pulsschlag verlangsamte sich. Die weißen Blüten und die schmalen Salbeiblätter lagen neben ihr auf dem Boden. Wenn sie nicht bald Naomis Fieber senken konnte, würde Alexanders Hilfe, falls er sie überhaupt fand, auf jeden Fall zu spät kommen. Anna atmete tief durch und erhob sich stöhnend. Sie hatte auf dem Rückweg genug Zeit zum Nachdenken und suchte nun zwei lange Astgabeln, die sie auf beiden Seiten des Feuers in den Boden rammte. Der lange Zweig, den sie in die Gabeln über das Feuer schob, passte genau. Zufrieden hängte sie die volle Flasche über das knisternde Feuer. Einige Holunderblüten gab sie gleich mit hinein.
Nun musste Naomi nur noch trinken, doch alle Versuche sie aufzuwecken, waren bislang fehlgeschlagen und die junge Frau glühte. Anna balancierte das mit Tee gefüllte Ollaris-Blatt vorsichtig zu dem Baum, griff Naomis Hand und drückte zu. Naomi würde trinken.
»Tut mir leid.« Naomi stöhnte, doch sie wachte nicht auf. Na gut, sie konnte noch fester, und dieses Mal klappte es. Kaum hatte sie ihre Augen einen Spalt geöffnet, legte ihr Anna den Kelch an die trockenen Lippen. Wie von selbst schluckte Naomi den warmen Tee und schloss die Augen wieder.
»Kommt nicht infrage.« Wieder und wieder flößte sie ihr Tee ein und gab sich erst zufrieden, als der Kelch beinahe leer war. Anna trank den letzten Schluck selbst, konnte ja nicht schaden … Nachdem sie den Salbeitee ebenfalls in einen Kelch umgeschüttet, ein wenig Holz nachgelegt und Oskar ein kleines Stück Fleisch gegeben hatte, begannen ihre Hände zu zittern. Sie musste sich ein wenig ausruhen, nur einen Moment. Die Sonne stand inzwischen direkt über ihr. Mittagszeit. Wenn sie ein wenig schlief, würde ihr das Warten auf Alexander, auf Naomis Genesung und auf ihre baldige Rückkehr nach Hause nicht ganz so schwerfallen.
Als Anna aufwachte, dämmerte es. Das Tageslicht war über dem Blätterdach nur noch zu erahnen und im Wald war es stiller geworden.
Blitzschnell sprang sie auf. Sie musste mindestens fünf Stunden geschlafen haben.
Das Feuer! Gott sei Dank, es glomm noch. Hastig warf Anna einen Haufen trockener Zweige in die Glut, die sofort prasselnd aufflackerten. Sie warf dicke, schwere Äste darauf, dann sah sie sich um. Oskar rekelte sich zufrieden vor dem knisternden Feuer. Hund müsste man sein. Naomi! Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, ihre Patientin schwitzte. Anna ergriff ihre Hand. Warm, aber nicht mehr heiß. Sie atmete auf, der Tee hatte gewirkt. Auch ihr zuvor gequälter Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Nun lag sie ruhig und entspannt auf dem Rücken und atmete langsam und gleichmäßig.
»Naomi?« Vorsichtig drückte sie die schmale Hand.
»Hm.«
Der blonde Schopf drehte sich in ihre Richtung. Gut. Sie war wach und bei Bewusstsein.
»Ich schwitze.« Ihre Stimme war leise, doch nicht mehr so rau.
Anna lächelte. »Das ist gut, Naomi. Dein Fieber scheint zu sinken. Hast du Schmerzen?«
Sie versuchte sich aufzusetzen, stöhnte und nickte. »Meine Schulter …«
Behutsam half ihr Anna, sich aufzurichten. Naomi schwankte gefährlich hin und her und die fiebergeröteten Wangen verloren schlagartig ihre Farbe.
»Anna, so heißt du doch, richtig?«
Anna nickte.
»Hab ich das geträumt, oder hast du mir ständig ein ziemlich bitteres Getränk eingeflößt?«
»Ja, das war ich. Scheint zu helfen. Oder etwa nicht?«
Naomi schmunzelte. »Holunder?«
Anna nickte. »Das hast du erkannt?«
Sie legte ihre Hand auf Oskars Rücken und ließ nachdenklich ihren Blick auf Anna ruhen. »Gute Wahl. Wo ist denn dein Freund?«
»Hilfe suchen. Erinnerst du dich nicht? Du hast ihm den Weg beschrieben und ihm eine kleine Kette mitgegeben.«
Naomi legte den Kopf schief. »Stimmt, er hat mir ins Gesicht geschlagen.«
Anna musste lachen. »Ja, das hat er so an sich. Kann ich mir mal deine Schulter ansehen?« Sie half ihr aus dem Hemd und entfernte den provisorischen Verband. Die Wunde blutete nicht mehr und schien sich nicht entzündet zu haben. »Ich habe Salbeitee gekocht. Ich würde deine Schulter gern damit säubern, wenn es dir nichts ausmacht.«
Naomi warf ihr einen ergebenen Blick zu. »Bitte schön.«
Anna griff nach dem Kelch und ließ den blassgrünen Tee langsam über die Wunde laufen. Naomi schüttelte sich. »Salbei …« Naomis Husten unterbrach sie, doch das Bellen, das die Anfälle heute Morgen begleitet hatte, war verschwunden. »Entzündungshemmend und blutstillend.«
»Du kennst dich aus.« Naomi zwinkerte ihr anerkennend zu. »Ich danke dir. Ich glaube, ich hatte Glück.«
Anna ließ ihr den letzten Tropfen Tee über die Schulter laufen und verband sie erneut. »Ein sauberer Verband wäre weiß Gott besser.« Anna zögerte. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten? Oder möchtest du dich wieder hinlegen?«
Naomi schüttelte den Kopf, löste ihren Zopf und strich sich durch ihre dichten blonden Haare. Schließlich band sie sie lose im Nacken zusammen. »Ich habe fürs Erste genug gelegen und ich beantworte dir gern ein paar Fragen. Aber erst, Anna, muss ich versuchen, aufzustehen. Kannst du mir helfen?«
Anna sah sie entsetzt an. »Ich weiß nicht, Naomi. Muss das sein?«
Naomi verdrehte die Augen. »Ja, es muss sein. Sprichwörtlich. Ich glaube, wenn ich nicht ganz schnell hinter den Bäumen verschwinde, platze ich. Wie viel Tee hast du eigentlich in mich reingeschüttet?«
Anna grinste und reichte ihr die Hand. Naomi stützte sich auf sie und Anna spürte, wie sie zu zittern begann. Zweimal glitt ihr Naomi fast aus den Armen, und als sie zurück an ihrer Lagerstelle ankamen, half sie ihr, sich zu setzen und wartete. Naomi hatte ihre Augen geschlossen und atmete tief durch.
»Gleich geht es mir besser. Einen Moment noch, Anna. Ist noch Wasser da? Ich habe Durst.«
Anna reichte ihr einen Kelch und setzte sich zu ihr. Eine Weile herrschte Schweigen, doch dann rieb sich Naomi über das Gesicht und räusperte sich.
»So, Anna, was willst du wissen?«
Alles, sie wollte alles wissen. Wo sie war, wer hier lebte, was es mit dem Wasser und den Ollaris-Blättern auf sich hatte, wie sie nach Hause kommen und wo Alexander Hilfe finden könnte, welche Bedeutung das Fußkettchen hatte … »Alexander sah ein Licht, als er dich fand. Was war das? Und … gibt es hier Phönixe?«