Kapitel 10
Ränkespiel
Die roten Steinchen funkelten in der blassen Morgensonne. Naomi hatte sich das edelsteinbesetzte Kettchen wieder um den Fuß gelegt und saß nun zusammengesunken vor Erin auf dem Rücken des riesigen braunen Pferdes. Das Fieber war am frühen Morgen hartnäckig zurückgekehrt, sodass Anna in aller Eile einen neuen Holunderblütentee gebraut und ihn der Verletzten geduldig, aber entschieden eingeflößt hatte. Nur mit Mühe konnte sich Naomi im Sattel halten und hätte ihre Schwester nicht fürsorglich den Arm um ihre Taille geschlungen, sie wäre längst hinuntergerutscht. Im Handumdrehen hatte die kleine Karawane den Wald hinter sich gelassen, allen voran Oskar, der fröhlich zwischen den drei Pferden hin und her sprang. Gut zwei Stunden waren sie inzwischen unterwegs.
Anna sah sich verstohlen um. Niemandem, außer Naomi vielleicht, schien das Reiten irgendwelche Mühe zu bereiten. Doch ihr schmerzte der Rücken, der Hintern war taub. Außerdem belegte Ronan, Glenns hünenhafter blonder Freund, fast die gesamte Rückenlänge samt Sattel, sodass Anna mit dem nicht gerade schmalen Hinterteil des dunkelbraunen Pferdes vorliebnehmen musste. Hinter dem Sattel! Sie hatten vor der Wahl gestanden, entweder zu Fuß zu gehen oder sich die Pferde zu teilen. Es war unwahrscheinlich, dass Kyra bereits von ihrer und Alexanders Existenz wusste, doch je schneller sie den Wald hinter sich ließen, umso besser. Die Zeit drängte, ein Blick auf Naomi genügte, um zu wissen, dass die junge Frau Hilfe brauchte, besser früher als später. Und sie? Nun ja, sie fühlte sich ein wenig besser als vor zwei Tagen, doch eine anstrengende, mehrstündige Reise?
Erin wollte vor Einbruch der Dunkelheit das Haus ihrer Eltern erreichen, das einen Tagesritt entfernt lag. Eindeutig zu weit für ihren strapazierten Rücken. Sie brauchte eine Pause. Ablenken, sie musste sich ablenken und so ließ sie den Blick in die Ferne schweifen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, als sie den Waldrand erreichten, doch beinahe war sie enttäuscht. Hätte Anna es nicht besser gewusst, so hätte man annehmen können, dass sie sich in der Nähe von Bauer Carlsons Hof befanden. Sicher, die breite Landstraße war verschwunden, doch auch hier gab es einen, wenn auch recht schmalen, lehmigen Weg, der sich anfangs noch am Wald entlangschlängelte. Auf der anderen Seite reihten sich endlos Wiesen an bestellte Felder, die sich in einem fort über das hüglige Land erstreckten, unterbrochen von dunkelgrünen Klecksen. Mehr Wald wahrscheinlich. Hin und wieder tauchten Häuser auf. Die meisten waren aus Holz gebaut und besaßen ein Reetdach. Doch die Bewohner dieser Behausungen waren ihnen bislang noch nicht begegnet. Missmutig starrte sie an Ronan vorbei, suchte den Horizont nach irgendwelchen Lebewesen ab. Menschen, Tiere, magische Kreaturen. Irgendetwas. Sie drehte sich vorsichtig zu Alexander um, aber vermied schnelle Bewegungen. Das fehlte noch, dass sie vor aller Augen vom Pferd stürzte. Wie schafften die anderen das nur? Alexander saß mit zusammengebissenen Zähnen hinter Glenn und machte ein finsteres Gesicht. Anna wusste, es gefiel ihm nicht, sich erneut das Pferd mit dem bärtigen Gefangenen teilen zu müssen. Nun saß er mit grimmiger Miene hinter dem Gefangenen, doch als er ihren Blick auffing, huschte ein kurzes, aufmunterndes Lächeln über sein Gesicht. Anna hielt sich verbissen am Sattelende fest, kerzengerade saß sie hinter dem Koloss, der vor ihr im Sattel hin und her schaukelte. Verzweifelt versuchte sie, so viel Abstand wie eben möglich zwischen sich und Ronan zu bringen.
»Hey, Erin, wie wär‘s mit einer kleinen Pause?«, rief Alexander und zwinkerte ihr zu. Ob er ihr ansah, dass sie gleich vor Erschöpfung vom Pferd fiel? Sie schenkte ihm ein zartes Lächeln und atmete tief durch.
Erin warf einen Blick nach hinten und nickte ihm kurz zu. Sie wies geradeaus, wo der Weg in Sichtweite eine scharfe Linkskurve machte. »Dort, Alexander.«
In wenigen Minuten hatten sie die Kurve erreicht und Erin lenkte ihre braune Stute in den Wald hinein. »Hier verläuft der Bach direkt am Waldrand, die Erfrischung wird uns guttun.«
Seufzend ließ sich Anna von dem gewaltigen Gesäß des Pferdes gleiten und war nicht überrascht, als ihre Beine unter ihr nachgaben und sie unbeholfen zu Boden fiel. Dieses Mal stand Alexander nicht neben ihr, um sie aufzufangen. Mühsam erhob sie sich und rieb über den schmerzenden Rücken. Plötzlich war Alexander an ihrer Seite.
»Alles in Ordnung?« Er griff ihr helfend unter die Arme und führte sie zu dem plätschernden Bach, an dem sie sich in das warme, weiche Gras sinken ließ. Die vergangenen Stunden waren ereignislos verlaufen, niemand hatte sie belästigt, keine Wölfe, keine Drachen oder andere Bösewichte. Während Nervosität und Anspannung nachließen, spürte Anna nun überdeutlich, wie schwach sie wirklich war. Es war ihr ein Rätsel, wie es ihr gestern überhaupt gelungen war, nach Kräutern für Naomi zu suchen und sich so lange auf den Beinen zu halten.
»Danke, Alexander. Ja, es geht. Ich bin nur furchtbar schlapp.«
Kleine Sorgenfältchen bildeten sich unter seinen Augen. Anna wusste, dass sie erst einen kleinen Teil des Weges bewältigt hatten und wenn sie ehrlich war, so graute ihr vor den restlichen Stunden, die sie auf dem Rücken oder vielmehr dem Hintern des Pferdes verbringen musste. Alexander warf einen raschen Blick in die Richtung der Schwestern.
»Bin sofort wieder da.«
Erin hatte ihren Arm um Naomis schmale Taille gelegt und versuchte, vom Pferd zu steigen, ohne zu riskieren, dass Naomi dabei hinunterfiel.
»Ich hab sie, Erin.«
Vorsichtig zog Alexander die geschwächte Frau aus dem Sattel, hob sie kurzerhand hoch und trug sie zu Anna an das grasbewachsene Ufer, an dem er sie behutsam zu Boden gleiten ließ. Prüfend legte er ihr die Hand auf die Stirn. »Nicht gut, du glühst. Gestern Abend ging es dir doch schon viel besser. Was ist das bloß für ein fieses Gift? Kannst du einen Moment auf sie achtgeben, Anna?«
Sie nickte. Naomi hatte die Augen geschlossen, darunter lagen dunkle Schatten, ihre Wangen waren leicht gerötet. Ihr schneller Atem wurde hin und wieder von einem trockenen Husten unterbrochen. Anna nahm ihre Hand und drückte sie kurz. Naomi öffnete die Augen, doch ihr Blick war trüb und vage. Ob sie sie überhaupt erkannte? Naomi brauchte Hilfe, und zwar eindeutig andere, als ein bisschen Kräutertee. Was waren da schon ein paar lächerliche Stunden auf dem Rücken eines Pferdes? Auf einmal kam ihr die Schwäche albern vor. Natürlich würde sie es schaffen.
Alexander half Erin, die Pferde an einem Baum anzubinden. Er hatte sich erstaunlich schnell den veränderten Umständen angepasst. Gerade beförderte er Glenn und Ronan aus dem Sattel. Es gab ein kurzes Gerangel zwischen Alexander und Glenn, dem es offensichtlich missfiel, mit eisernem Griff nach vorn geschoben zu werden. Glenn kochte vor Wut und versuchte vergeblich, Alexander abzuschütteln.
»Nimm deine Finger weg, du Grünschnabel. Keine Sorge, ich laufe dir schon nicht davon.«
Anna schüttelte den Kopf. Wozu die Provokation? Glenn hatte nicht den Hauch einer Chance, sich zu befreien. Sie hoffte, Alexander würde sich nicht davon beeindrucken lassen. Doch dieser schien nur noch fester zuzupacken und die Männer stolperten dem dünnen Stamm einer jungen Eiche entgegen, an den sie gefesselt werden sollten.
»Lass ihn, Alexander.« Erin schob ihn sanft, aber bestimmt zur Seite. »Ich mache das schon. Sieh du bitte nach Naomi und Anna.«
Widerwillig überließ er ihr die Gefangenen, kam langsam zu Anna zurück und setzte sich neben sie. »Was hab ich nur angerichtet.« Sein schlechtes Gewissen war unübersehbar. Zerknirscht fuhr er sich durch die schwarzen Haare.
»Alexander, bitte. Es ist nicht deine Schuld. Im Gegenteil, es spricht für dich, dass du mich nicht einfach fallen gelassen hast.« Anna lächelte. Viele Frauen hätten sich sicherlich nur zu gern von ihm auffangen lassen … »Ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle nützen jetzt niemandem etwas. Wer weiß, vielleicht wäre ich von ganz allein und ohne deine Mithilfe hier gelandet.«
Er rieb sich durchs Gesicht und sah sie an. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber es ist nicht nur das. Allein unsere Anwesenheit scheint einiges in Bewegung zu setzen und nicht nur uns, sondern auch viele andere, in Gefahr zu bringen. Wären wir nicht hier, bestünde nicht die Möglichkeit, dass diese Magierin …«
»Kyra«, half Anna nach.
»Ja, dass Kyra …«
»Irgendwann wären andere angekommen«, unterbrach sie ihn, zog Schuhe und Strümpfe aus und ließ ihre Füße von dem glasklaren Wasser umspülen. Ah, das tat gut! »Wenn ich Erin und Naomi Glauben schenken soll, dann sind wir nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten, die von … von drüben hergekommen sind. Und ich bin sowieso nicht lange hier«, fügte sie bestimmt hinzu.
Alexander schmunzelte und griff nach ihrer Hand. Warm und angenehm ruhte sie in ihrer rechten. »Bis dahin müssen wir auf der Hut sein. Ich vermute, sie werden uns so lange wie möglich irgendwie verstecken.«
Anna nickte nachdenklich, wand sich aus seinem Griff und zeigte auf Naomi, die nach wie vor mit geschlossenen Augen neben ihr lag. Gerade hustete sie wieder und griff sich automatisch an ihre verletzte Schulter. »Gestern ging es ihr besser. Sie hat richtig viel erzählt.« Sie griff nach der kleinen Feldflasche und setzte sie behutsam an Naomis Lippen, ohne Erfolg. »An der Verletzung liegt es nicht, es muss das Gift sein. Umso wichtiger, dass wir schnell vorankommen.« Als sie Alexanders prüfenden Blick bemerkte, verknotete sie die Hände rasch in ihrem Schoß. Zu spät, Alexander war das leichte Beben ihrer Finger nicht entgangen.
»Kann ich … irgendwas tun? Möchtest du was essen? Vielleicht hat Erin noch ein paar von diesen Beeren.«
Beinahe tat er ihr leid. Er musste sich verdammt lausig fühlen. »Gute Idee, ich gehe Erin mal fragen.« Mit einem Satz war sie auf den Beinen.
»So habe ich das nicht gemeint! Bleib sitzen, Anna. Ich mach das schon.«
*
Anna hatte es plötzlich mächtig eilig. Wahrscheinlich gab sie ihm insgeheim doch die Schuld. Alexander beobachtete, wie sie mit Erin sprach, die ihr tatsächlich einige Beeren in die Hand drückte, die Anna augenblicklich in ihrem Mund verschwinden ließ. Die beiden Frauen standen noch eine Weile beieinander und unterhielten sich leise. Alexanders Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Die zwei hätten unterschiedlicher nicht sein können. Erin, zierlich und schmal, mit kurzen hellblonden Haaren, sah beinahe zerbrechlich aus. Anna, fast einen Kopf größer, mit hellbraunen schulterlangen Locken und einem athletischen Körper, erweckte den Eindruck, als ob sie unschlagbar wäre und niemand ihr etwas anhaben könnte. Und doch wusste er, dass der Schein trog. Die zierliche blonde Frau war, zumindest im Augenblick, der sportlichen Brünetten klar überlegen. Ob sich Anna, wenn sie erst einmal ihre Kräfte zurückgewonnen hatte, irgendwann mit dieser erfahrenen Kämpferin messen konnte? Wundern würde es ihn nicht, seine Reisegefährtin wider Willen schien immer für eine Überraschung gut zu sein. Zögernd löste er seinen Blick von den beiden, sank an Naomis Seite und legte ihr erneut seine Hand auf die Stirn. Unverändert. Matt erlaubte er sich einen Moment, seine Gedanken ruhen zu lassen. Seit sie vor drei Tagen hier gelandet waren, hatte er sich diesen Luxus nicht gegönnt. Ständig musste er nachdenken und blitzschnell Entscheidungen treffen, die nicht nur sein Leben, sondern auch das einer Menge anderer Menschen beeinflussten. Die Ereignisse hatten sich nicht nur täglich, nein, beinahe stündlich, wenn nicht minütlich überschlagen. Pausenlos jagte er dem Geschehen hinterher, stets darum bemüht, den Schaden, den er offenbar angerichtet hatte, in Grenzen zu halten. Als er Oskars feuchte Nase in seinem Nacken spürte, schloss er müde die Augen. Der Hund legte seinen riesigen Kopf in seinen Schoß. Aus der Ferne hörte er die leisen Stimmen von Erin und Anna. Der Bach plätscherte sanft, begleitet von dem Rascheln der Blätter im Wind. Seine Gedanken schweiften dorthin zurück, wo er sich noch vor Kurzem befunden hatte. Zurück zum Wald, den er so häufig besucht hatte, zurück zu den Trümmern der Stadt, zu der Schreinerei, zu seiner Mutter. Als seine Gedanken sich weiter in die Vergangenheit wagten, öffnete er entschieden die Augen und griff nach seiner Gitarre, die jemand neben ihn gelegt haben musste.
Hatte er geschlafen? Anna saß wieder neben ihm. Erin hatte sich an der Seite ihrer Schwester niedergelassen und flößte ihr schluckweise Wasser ein. Beinahe liebevoll ließ er die Finger über die Saiten gleiten und entlockte dem Instrument ein leises Summen. Die Gitarre hatte ihren kleinen Ausflug erstaunlich gut überstanden, schien noch nicht einmal verstimmt zu sein. Seine Gitarre … plötzlich wusste er, warum er ausgerechnet nach ihr gegriffen hatte, als er sich mit Oskar auf den Weg gemacht hatte. Sie sollte ihn daran erinnern, dass er es seinen Gedanken eines Tages erlauben konnte, die Reise in die Vergangenheit anzutreten. Dieses schlichte, zerkratzte Instrument gab ihm ein seltsames Gefühl von Trost und Geborgenheit. Die Gitarre und das winzige Taschenmesser, mehr hatte er nicht mitgenommen.
Er ließ die Hand in seine Hosentasche gleiten und tastete nach dem Messer. Sie war leer! Ein frostiger Schauder rieselte unbarmherzig seinen Rücken hinunter. Alarmiert setzte er sich aufrecht hin, griff in die andere Tasche. Ebenfalls leer, es war fort. Sein Messer war fort. Mit einem Satz war er auf den Beinen.
Erin tat es ihm erschrocken gleich. »Was, Alexander?«
Sie bemerkten es zur gleichen Zeit. Ronan drehte seinen Kopf panisch von links nach rechts, wand sich vor dem rauen Baumstamm, soweit es seine Fesseln erlaubten, doch an seiner Seite befand sich niemand mehr. Glenn war verschwunden! Erin sprintete zu der Eiche, vergewisserte sich im Vorbeilaufen, dass Ronans Fesseln noch saßen, und drehte sich suchend um. Doch von Glenn fehlte jede Spur.
»Wo? Wo ist er?« Erin kniete vor dem blonden Hünen und drückte die Spitze ihres Dolchs an seine Kehle.
Alexander deutete auf den Boden. Glenns Fesseln lagen sauber durchschnitten im Gras. Sein Messer! Glenn musste irgendwie an sein Messer gekommen sein. Wütend schlug er sich vor die Stirn. Natürlich, Glenn hatte ihn angerempelt und er hatte sich provozieren lassen. In dem Gerangel, dem lächerlichen Machtkampf, musste es Glenn irgendwie gelungen sein, sich des Messers zu bemächtigen. »Verdammt! Wie hat er das nur geschafft?«
Erin stieß ihn unsanft in die Seite, legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete ihm an, zu schweigen. Nun hörte er es auch, ein Knacken im Unterholz. Die Pferde! Er folgte Erins Blick. Eins fehlte, nur zwei Pferde standen gelangweilt am Baum. Der schwarze Hengst war genauso wie sein Reiter abhandengekommen. Wieder raschelte es zwischen den Bäumen. Jede Faser seines Körpers stand unter Strom.
Glenn thronte auf seinem Pferd, entspannt und herablassend. Wie ein schwarzer Schatten schob er sich zwischen den Bäumen hindurch. Mit einem spöttischen Lächeln ließ er einen Pfeil hervorschnellen. Alexander duckte sich, doch das Geschoss galt nicht ihm. Es surrte dicht an dem dünnen Baumstamm vorbei, an den Ronan gefesselt war, und bohrte sich von hinten durch seine massige Schulter. Ronan riss erschrocken seine Augen auf, wand sich, doch bevor auch nur ein Laut über seine Lippen kommen konnte, hatte auch Alexanders Messer sein Ziel gefunden. Ronan kippte vornüber, das kleine silberne Messer steckte bis zum Heft in seinem Hals. Glenn hatte gut gezielt und sein dröhnendes Lachen verebbte langsam, als er mit dem Wald verschmolz.
*
Anna spürte den Schock in allen Gliedern. Ihr grauste vor dem entsetzlichen Anblick, doch sie konnte den Blick nicht von Ronans zusammengesunkenem Körper lösen. Regungslos stand sie neben Alexander. Erin beugte sich über den Toten und ließ ihre Hand leicht über die überraschten Augen gleiten. Annas Hand umklammerte Alexanders, so fest, dass sich ihre Finger tief in seine Haut gruben. Alles war so furchtbar schnell gegangen. Wieso hatte Glenn seinen Freund kaltblütig getötet?
»Bring sie hier weg, Alexander«, hörte sie Erins Stimme hinter sich und war dankbar, dass ihr jemand das Handeln abnahm und sie von diesem grausigen Ort fortbrachte. Sie spürte Alexanders Hand fest an ihrem Oberarm und ließ sich nur zur gern zurück zum Bach führen. Dort angekommen knickten die Beine unter ihr weg und für einen Moment wünschte sie sich, sie könnte mit Naomi tauschen, die von all dem nichts mitbekommen hatte. Die verletzte Frau lag immer noch mit geschlossenen Augen am Ufer. Anna beugte sich über das Wasser und benetzte ihre brennenden Augen mit dem erfrischenden Nass.
»Geht es wieder, Anna?«
Wie oft hatte sie diese Frage in den vergangenen Tagen gehört und wieder nickte sie. Natürlich, es ging immer, irgendwie …
»Warum?« Sie sah Alexander an und stellte fest, dass seine bronzene Haut eine Schattierung blasser zu sein schien.
»Ich weiß es nicht, Anna. Aber es war mein Messer«, fügte er tonlos hinzu.
Anna fuhr zusammen. Nein, das durfte er nicht. Er durfte nicht auch noch dafür die Verantwortung übernehmen. Sie wusste genau, wie sich das anfühlte. Man konnte nur ein gewisses Maß an Schuld mit sich herumtragen. Wenn es zu viel wurde, zerbrach man daran. Wie oft hatte Peter sie daran erinnert, als sie sich wieder und wieder vorgeworfen hatte, in der Bombennacht nicht bei ihren Eltern gewesen zu sein. Nächtelang hatte sie mit dem Schicksal gehadert und gegrübelt, ob sie sie vielleicht hätte retten können.
Entschieden spritzte sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und legte ihre Hand auf Alexanders Schulter. »Du musst damit aufhören. Du bist nicht für alles verantwortlich. Glenn ist durchtrieben und bösartig und er kennt sich hier aus. Wer weiß, wie er an dein Messer gelangt ist. Sieh mich an.« Langsam hob er seinen Kopf und blickte ihr in die Augen. »Es ist nicht deine Schuld, glaub es mir.« Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund. »Bitte, Alex.« Anna griff noch ein wenig beherzter zu und langsam entspannte er sich. Hatte sie ihn gerade Alex genannt?
Da sie weder eine Schaufel noch eine Hacke griffbereit hatten, dauerte das Ausheben des Grabes länger, als ihnen lieb war. Schwer atmend krempelte sich Alexander seine Hose hoch, entledigte sich des Hemdes und watete langsam durch das kalte Wasser. Breitbeinig stand er im Bach und wusch sich Staub und Schweiß vom Körper. Erin hatte sich neben Naomi ans Ufer gesetzt und sprach leise mit ihr. Sie hatte inzwischen die Augen aufgeschlagen und war halbwegs ansprechbar. Anna saß ein wenig abseits, hatte ebenfalls ihre Jeans hochgerollt und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Gestern noch hatte sie gedacht, es könnte nicht mehr schlimmer kommen und sich damit abgefunden, gemeinsam mit den Schwestern, Alexander und den Gefangenen ihre Reise fortzusetzen. Neugierig und beinahe ein wenig aufgeregt war sie heute Morgen aufgebrochen. Doch jetzt … Sie zwang den Impuls nieder, sich umzudrehen und zu der Eiche oder dem Erdhügel zu schielen, unter dem sich Ronans Leiche befand. Stattdessen beobachtete sie Alexander. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und sich gebückt, um Wasser zu schöpfen. Sie bemerkte das Spiel der deutlich ausgeprägten Rückenmuskulatur, als ihr zwei etwa zwanzig Zentimeter lange Narben, die sich diagonal über den sonst perfekt geformten Rücken zogen, auffielen. Anna runzelte die Stirn. Das musste einmal eine böse Wunde gewesen sein. Als würde er den Blick auf seinem Rücken spüren, drehte sich Alexander hastig um, und für einen kurzen Moment sah Anna Unsicherheit und Verletzbarkeit in seinen Augen. Entschlossen kletterte er ans Ufer und streifte sein blassblaues Hemd über.
»Noch ein paar Minuten, dann sollten wir aufbrechen.«
Anna nickte und sah verstohlen zu Naomi hinüber. Sie schluckte und äugte nun doch zu dem kleinen Erdhügel. »Warum hatte er Ronan getötet? Warum war er nicht einfach davongelaufen? Er hätte ihn doch zurücklassen können. Aber töten …«
»Glenn wusste, dass Ronan uns verraten würde, wo wir Kyra finden können. Er hätte uns zu ihr geführt«, meldete sich Erin überraschend zu Wort.
»Was meinst du damit?« Anna war nicht sicher, ob sie Erin überhaupt verstehen wollte.
»Ronan war ein Schwächling. Recht schnell hätten wir von ihm erfahren, was wir wissen wollen. Ehrlich gesagt haben wir lange auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Jemanden zu ergreifen, der uns zu der Magierin führt.«
»Ihr wisst nicht, wo sie sich befindet?« Das gefiel Anna überhaupt nicht. Sie sah sich unsicher um.
Erin lächelte beruhigend. »Keine Sorge, Anna. Wäre sie in der Nähe, dann wüssten wir es längst, glaube mir. Nein, wir haben zwar eine Ahnung, wo sie sich aufhält, doch genau wissen wir es leider nicht. Naomi muss ihr gefährlich nahe gekommen sein, als sie verletzt wurde. Viele kehren gar nicht zurück«, fügte sie leise hinzu. »Die Verletzung hat sie mit ziemlicher Sicherheit Kyra und ihren Anhängern zu verdanken. Kommt man ihr in die Quere, begibt man sich automatisch in Gefahr. Kyra weiß genau, wie sie ihre Spuren verwischen und sich unbequeme Besucher vom Hals halten kann.« Sie strich ihrer Schwester sacht über die verschwitzten Haare. »Von Glenn hätten wir nichts erfahren, da bin ich mir sicher. An ihm hätten wir uns die Zähne ausgebissen. Doch sein Freund oder besser Begleiter, das hätte nicht lange gedauert, glaub mir.«
Anna verkniff sich die Frage, wie genau man dem blonden Riesen irgendwelche Informationen entlockt hätte.
»Glenn musste einfach versuchen, zu fliehen. Erstens, um sich in Sicherheit zu bringen, zweitens, um Ronan daran zu hindern, irgendetwas zu verraten und drittens«, Erin legte eine kurze Pause ein und rieb sich betreten durch ihr Gesicht, »und drittens, um ihr von euch zu berichten.« Die zierliche Frau stand langsam auf und starrte in den Wald. »Ich hätte es wissen müssen!« Ihre schmalen Hände ballten sich zu Fäusten. Sie lief zu der jungen Eiche, an der vor Kurzem noch die Männer gefesselt waren, und schlug mit der Faust gegen den rauen Stamm. »Verdammt, ich hätte es wissen müssen. Ihm blieb nichts anderes übrig. Jetzt wird alles noch schwieriger. Wir können uns nur noch so viel Pausen wie absolut notwendig gönnen. Bevor Glenn Kyra gefunden hat, müssen wir das Haus meiner Eltern erreichen. Dort seid ihr sicher, zumindest für eine Weile. Anna, am besten sitzt du vor Alexander auf, er wird dich halten. Der Ritt wird anstrengend, aber ich kann weder auf dich noch auf Naomi Rücksicht nehmen.« Sie warf einen besorgten Blick auf ihre Schwester. »Da ist noch etwas, das ihr wissen müsst. Der Fenriswolf … ich glaube nicht, dass er gestern zufällig auf uns getroffen ist. Ausgerechnet an einer Passage, dem Ort, an dem man den Übergang von der alten Welt nach Silvanubis schaffen kann. Kyra und der Fenris sind beste Freunde, man sagt, er lässt sie auf seinem Rücken reiten. Sie wird ihn dorthin geschickt haben. Wer weiß, wen sie bei den anderen Passagen abgestellt hat.« Erin griff nach dem Halfter ihres Pferdes. »Tagsüber ist der Wolf ungefährlich, doch wenn die Sonne verschwindet, geht er auf die Jagd. Er tötet aus Freude, weil er Spaß daran hat. Oder, weil Kyra es ihm befiehlt. Nur mit Feuer lässt er sich vertreiben, wenn man es vor ihm erzeugt … Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.« Gemeinsam hievten sie Naomi auf das kräftige braune Pferd. »So ist es recht, Schwesterherz, lehn dich nur an seinen Hals. Ich bin sofort bei dir.«
Sie drehte sich zu Anna um, doch diese hatte sich bereits allein auf den Rücken von Ronans Pferd gestemmt. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie die Zügel, die ihr Alexander sacht aus der Hand nahm, als er hinter ihr aufsaß. Annas Anspannung ließ ein wenig nach, als sie Alexanders Brust an ihrem Rücken spürte und sie lehnte sich dankbar an ihn. Erin nickte ihr anerkennend zu, stieg hinter Naomi in den Sattel, schnalzte mit der Zunge und ließ ihren Hengst in einen leichten Trab fallen. Ronans dunkelbraunes Pferd folgte und Anna war froh, dass sie im Sattel vor Alexander saß. Oskar sprang freudig neben ihnen her, weil es endlich weiterging.
Sie kehrten zu dem schmalen Pfad zurück, und als die Pferde in einen zügigen Galopp fielen, sprang der schwarze Hund übermütig von einem Pferd zum anderen. Wenigstens einer amüsiert sich hier. Verbissen krallte Anna sich an der Mähne fest.