Kapitel 3

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1997 – Regen im Sommer. Nicht glorreich.

Max hatte den Nachmittag im Bett verbracht, denn Juan plante, die Nacht in den Tapas-Bars Logroños zu verbringen. Damit meinte er die ganze Nacht, bis die Sonne wieder aufging.

Max holte deshalb einige der Stunden nach, die ihm die letzte Nacht versagt hatte. Es war bereits neun Uhr abends, als Juan ihn weckte.

»Sag mal, kennst du eine Esther?«

»Was? Wen?« Der Traum wich nur langsam zurück, wollte der Realität nicht kampflos das Feld überlassen. Doch der Name Esther zerriss ihn jetzt wie eine Bombe.

»Sie kennt dich auf jeden Fall.« Eine Katze sprang auf sein Bett.

Max setzte sich auf, die Fetzen seines Traums verblassten im Nu. »Sie ist meine Ex. Und sie hat keine Ahnung, dass ich hier bin.«

»Oh doch.«

»Aber keiner weiß…« Und dann dämmerte es ihm. Seine Mutter. Er hatte sie angerufen, damit sie sich keine Sorgen machte oder die Polizei informierte. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, niemandem davon zu erzählen. Vor allem nicht Esther, die seine Mutter tief ins Herz geschlossen hatte. Ganz besonders nicht Esther. Und obwohl seine Mutter es ihm hoch und heilig versprochen hatte, tat sie für gewöhnlich das, was sie selbst für richtig hielt, statt das, was Max sich wünschte. Und Esther hielt sie für richtig. Doch woher wusste sie von Juan? Er selbst hatte es doch erst auf dem Weg entschieden, wo er Quartier bezog. Und sein Handy lag in einem Mülleimer des Kölner Hauptbahnhofs. Wie um alles in der Welt…?

»Was wollte sie?«

»Dich sprechen.« Eine weitere Katze erschien neben Juan.

»Was hast du gesagt?«

»Dass du nicht da bist.« Katze Nummer drei legte sich neben ihm auf den Rücken.

»Mist, dann weiß sie jetzt definitiv, dass ich hier bin.«

»Nein.« Juan riss die Decke vom Bett. Fünf Katzen warfen sich in Kampfeslaune darauf. »Ich habe gesagt, dass ich dich seit Jahren nicht gesehen habe.«

Max stand aus dem Bett auf, obwohl er nur ein T-Shirt trug – und stolperte dabei fast über eine der zwölf Katzen. »Wieso?«

Juan pfiff kurz, und die Katzen gaben den Weg frei. »Die anderen warten schon, zieh dich an. Es wird ein denkwürdiger Abend.«

»Woher hast du gewusst, dass du sagen musst, ich sei nicht da? Weil du ein verfluchtes Genie bist?«

Juan grinste breit. »Das auch. Aber es war vor allem ihre Stimme, sie war so…schneidend. Das kann ich nicht leiden. Und du machst den Eindruck, als wärst du auf der Flucht. Vielleicht vor einer Frau? Das könnte ich verstehen. Und als dein Bruder im Geiste gewähre ich dir hiermit offiziell Rioja-Asyl.«

Max schloss ihn in die Arme und strich ihm über die wallenden Haare. »Du bist echt gut, weißt du das? Richtig, richtig gut.«

»Weiß ich doch«, sagte Juan. »Und du solltest mich erst mal in einer Tapas-Bar singen hören.«

Es war laut. Ein startender Düsenjet wäre untergegangen. Spanier suchten sich grundsätzlich niemals eine Kneipe aus, in der noch Platz war, sondern stets die, in die eigentlich niemand mehr reinpasste. Auch keine Luft. Juan hielt sich mit Freuden an diese Tradition. Jetzt stand er auf dem Tisch und sang, irgendetwas über Wein, Schläuche und Frauen. Dreiviertel der Bar sangen mit.

Es blieb nicht die einzige Tapas-Bar, die sie in Logroño besuchten. Im Tapas-Viertel drückte sich in kleinen, mittelalterlichen Gassen eine Bar neben die andere, als wollten sie alle einen Platz in der ersten Reihe haben. Jede bot zwei, drei kulinarische Spezialitäten an, wegen derer die Gäste kamen und zu welchen stets ein Glas Wein getrunken wurde, bevor man weiterzog. So gab es auch keine Konkurrenz.

Max aß Chorizo Riojano a la Brasa, Croquetas Caseras de Jamón, Espárragos de Navarra con dos Salsas sowie Pimientos del Piquillo Asados al Homo und lernte viele neue Freunde kennen, deren Gesichter und Namen er sich nicht merkte. Irgendwann wusste er auch nicht mehr, ob er gerade im El Sitio de Logroño oder im Asador Tahiti war, alle Tapas-Bars verschmolzen zu einer, überall schienen die gleichen Menschen zu feiern, die Nacht schweißte alles zusammen zu einer einzigen langen Theke. Und mit Juan führte er ein einziges langes Gespräch – das in Wirklichkeit von ständigen Bar-Wechseln unterbrochen wurde. Der Alkoholpegel in Maxʼ Blut stieg derweil sprungartig an.

Es begann mit einer harmlosen Frage von Juan. »Wie ist das Leben als Modefotograf, Max? Klingt nach einem Traum.«

Max stieß mit ihm an. »Wie eine jahrelang aufsteigende Übelkeit – mittlerweile finde ich die ganze Branche nur noch zum Kotzen.« Er grinste in sein Glas. »Natürlich habe ich es am Anfang geliebt. Und auch viele Jahre danach noch. All die Bewunderung, die schönen Frauen, die schönen Frauen in meinem Bett, das Geld, die Partys, all das Highlife, das Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, zu Gottes Lieblingskindern.«

»Sind wir Künstler das denn nicht?«

»Vielleicht du. Aber ich gehörte in diese Szene nie hinein. Das war nie ich, verstehst du? Es war ein bisschen, als hätte man mich unter Drogen gesetzt. Und jetzt will ich den Entzug. Hier. Weißt du, was das für Leute sind, Juan? Merlot-Trinker, allesamt! Je samtig-weicher, desto besser!«

Juan verzog das Gesicht, als hätte ihn jemand mit High Heels auf den Fuß getreten. »Echt?«

Max nickte. »Am liebsten Merlot, der geschmacklich kaum von Fruchtbowle zu unterscheiden ist. Wobei sie ihn meist nicht mal getrunken haben, natürlich nicht, sie nippen nur daran, bevor sie zur Cola Light übergehen. Da kann man ja gleich an einer Plastiktüte lecken!«

»Und deine Freundin, Emilia?«

»Esther.« Max schüttelte den Kopf. »Wir haben nie zusammengepasst. Zumindest hat sie nicht zum echten Max gepasst. Zu dem gefeierten Modefotografen im Dauerhigh schon, zu dem Geblendeten, am eigenen Erfolg Besoffenen. Ich hab genug davon. Sollen sie mir Yachten, Inseln und Königreiche bieten. Ich kehre nicht zurück. Ich bleibe bei dir – natürlich nur, wenn du mich haben willst.«

»Aber sicher, Max. Das weißt du doch. Noch einen Tempranillo?«

»Einen alten«, sagte Max, »einen klassischen, einen animalischen, Gran Reserva, sonst nichts.«

Es gab einen alten Faustino, ein 1999er, guter Jahrgang. Er duftete nach Pflaumen, Himbeeren, Zedernholz, Waldboden, Vanille und Gewürzen aus dem Morgenland. Am Gaumen gesellte sich englischer Christmas Cake dazu. Alles harmonisch und komplex, kein bisschen zu schwer.

Max zeigte demonstrativ auf das Glas. »So einen Wein verstehen die in der Modeszene nicht. Das war die letzten Jahre meine kleine, meine einzige Rebellion gewesen, dieses Urzeug, dieses wilde Grollen, diese weingewordene Stierstampede, bei mir gabʼs nichts anderes, schon gar keinen Merlot!«

Juan füllte großzügig nach, denn so wie der Wein aus der Flasche floss, sollte auch all der Kummer aus Max entweichen.

»In Düsseldorf hattest du mit Mode doch noch gar nichts zu tun?«

»Bin da so reingerutscht, hatte nie vorgehabt, in dem Bereich zu landen… oder besser: zu stranden! Hatte einmal einen Job angenommen, der war gut gelaufen, dann folgte der zweite. Wie es halt so ist.«

Max verschwieg, dass sein Erfolg aber nicht nur Zufall war. Er hatte ein sehr gutes Auge für Motive, arbeitete professionell, und war im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen kein komplett geisteskrankes Arschloch. Deshalb stieg er rasant auf. Bald hatte er den Ruf, sogar mit den schwierigsten Zicken zurechtzukommen. Andere Fotografen kannten nur zwei Methoden, mit diesen umzugehen: devot all ihre Macken ertragen und hinterher ablästern oder den Brigadegeneral raushängen lassen inklusive Brüllen, Strafen, Einzelhaft.

Max ignorierte die Macken einfach, tat so, als wäre überhaupt nichts. So war es damals auch bei Naomi Campbell gewesen, dem Albtraum schlechthin, dem natürlichen Feind des Modefotografen, dem Teufel in Traummaßen. Sie hatte bei ihm die ganze Show abgezogen: Heulen, Schreien, übelste Beschimpfungen, Wurfgeschosse aus allem, was gerade zur Hand war – inklusive dem Mittagessen des gerade verhungernden Beleuchters.

Max fotografierte einfach weiter.

Das Magazin hatte die Fotos geliebt, die Leser hatten sie geliebt, die Jury des International Fashion Photography Prize ebenfalls – und ihm den ersten Preis verliehen.

Danach hatte Naomi ihn geliebt. Die Sache hatte sich schnell rumgesprochen: Zick nicht rum, er schießt sowieso. Und: Vertrau ihm, seine Bilder sind geil.

Danach konnte Max verlangen, was er wollte. Sie zahlten.

Es tat ihm gut, darüber zu reden. Auch wenn er sich danach arg selbstmitleidig vorkam. Aber wenn man das gegenüber einem guten Freund nicht sein durfte, wann dann? Eben!

Doch der Abend war in einer Hinsicht anders als erwartet. Er war ein Puzzle. Immer wieder drangen Gesprächsfetzen von anderen Barbesuchern an Maxʼ Ohr, die meisten über Familie, Fußball, Radfahren, Frauen oder Politik. Doch es gab ein weiteres Thema, das sich durch die Düfte der würzigen Spezialitäten und der roten, weißen und roséfarbenen Weine der Rioja stahl und das mit tödlicher Sicherheit in jeder Bar auftauchte, wenn man nur lange genug wartete. Zuerst hatte Max nicht erkannt, dass die einzelnen Teile zusammenhingen, doch am Ende der Nacht hatte er sie zusammengefügt.

Bar Lorenzo, ca. 22.20 Uhr, gegrillte Chistorra – Chorizo mit süßer Paprika und Knoblauch sowie Lamm-Kebab mit Geheimsoße.

»War der Ami schon bei euch in der Bodega?«

»Nein, welcher Ami?«

Der Rest ging im Gemurmel unter.

Bar Soriano (direkt daneben), ca. 22.50 Uhr, Setas – in Knoblauchbutter gebratene Pilze, aufgespießt mit einem Shrimp.

»Der Bursche, also der war wohl schon bei etlichen Bodegas.«

»Welcher Bursche?«

»Na, der aus den USA. Muss unglaublich viel Geld haben.«

La Aldea (gegenüber), ca 23.10 Uhr, Krustentiere, die hier bis zur Perfektion gekocht wurden.

»Ein Sammler. Aber was für einer. Frag mich nicht nach dem Namen. So was kann ich mir nie merken.«

La Tasco del Pato (etwas entfernt auf der Calle Laurel), wen interessierte es noch, wie spät es war? Gegrillter weißer Spargel mit einem Wrap aus Rioja-Käse und txangurrito, einem Fischkuchen aus Krustentieren und einer reichhaltigen Bechamelsoße.

»Nur Rotwein. Und alter. Probieren will der Ami nicht, nur kaufen.«

El Soldado de Tudelilla, nachts, Guingillas – Grüne Peperoni, die so scharf waren, dass die Luft vor ihnen flirrte.

»Ist erst seit wenigen Tagen in Rioja. Ein dicker Bursche, ein Walross mit prächtigem Schnurrbart, trägt immer Sonnenbrille, als wäre er ein Pokerspieler. Na ja, ist er irgendwie wohl auch. Ein knallharter Verhandler. Weiß genau, was die Weine auf dem Markt bringen.«

Max fand es interessant, dass sich der ganze Ort mit dem gleichen Mann zu beschäftigen schien, doch er dachte sich nichts weiter dabei. Seine Gedanken kreisten mit steigendem Alkoholkonsum immer weniger um den Mord und immer mehr um Cristina. In seinen sehnsüchtigen Gedanken verschmolz sie immer mehr mit seiner…ja, seiner großen Liebe, einer Frau von unglaublicher Sturheit und mit einem Willen, für den eisern ein zu biegsames Wort wäre. Menschen, die mit ihren Händen über dem Kopf tanzten, gingen für sie überhaupt nicht. Langhaarige Männer, Käse (außer Camembert), Tätowierungen, Innereien, lange Flüge, schwabbeliges Essen, Bitteres (auch Kaffee), Wellen. Die Liste der Dinge, die sie aus vollstem Herzen verachtete, war beeindruckend. Und für jede einzelne ihrer Abneigungen hatte er sie nur noch mehr ins Herz geschlossen. Und so begriffen, dass er sie liebte.

Ob Cristina ebenfalls dermaßen verrückt war?

Er hoffte es.

Morgens um kurz nach sieben war Max so betrunken, dass er sie anrief.

Es dauerte lange, bis sie abnahm. Cristina klang kein bisschen müde. Nach kurzer Zeit wusste er, warum.

»Max? Sie suchen die Ufer des Ebro nach Spuren des Mörders ab.«

»Wieso? Er ist doch…«

»Sie werden deine Reifenspuren finden. Und unsere Fußspuren. Du hast doch nicht irgendwas verloren, oder? Geldbörse? Einen Zettel? Irgendwas?«

»Nein. Nicht dass ich wüsste.« Doch mit einem Mal war sich Max nicht mehr so sicher. Und dann war er plötzlich stocknüchtern. »Ich muss hinfahren und nachsehen. Jetzt sofort.«

»Bist du wahnsinnig? Sie werden dich entdecken!«

»Es ist nur ein Flecken am Fluss. Selbst wenn die Polizei Spuren von uns findet, heißt es nicht, dass wir eine Leiche dort entsorgt haben.«

Cristina zog scharf die Luft ein. »Kannst du dich denn nicht mehr an die Nacht erinnern, Max? Wir haben die Leiche ein Stück über den Boden gezogen. Das werden sie sehen können.«

»Ich melde mich wieder.«

»Max!«

Er legte auf. Max wollte nicht hören, dass es eine dumme Idee war – das wusste er nämlich selbst. Cristina versuchte mehrfach, ihn zu erreichen, doch Max stellte das Handy auf stumm, und als er in seinen Wagen stieg, warf er es mit dem Display nach unten auf den Beifahrersitz.

Doch dann griff er es sich wieder.

Wenn es regnete, gäbe es keine Spuren mehr! Der Himmel über La Rioja war nicht strahlend blau, vielleicht war die Natur gnädig? Gab es nicht ein Regenradar für sein Handy? Max fuhr rechts ran, suchte, fand und lud sich die App herunter. Es dauerte lange, bis die GPS-Daten den entsprechenden Landkarten-Ausschnitt anzeigten.

La Rioja würde trocken bleiben.

Die Spuren von Reifen und Schuhen so frisch, als wären sie gerade erst entstanden.

Max trat aufs Gaspedal.

Ihm war noch etwas eingefallen.

Er hatte einen Zigarettenstummel ans Ufer geworfen. Und wenn CSI ihn irgendetwas gelehrt hatte, dann, dass DNA-Spuren heute fast so einfach zuzuordnen waren wie Porträtaufnahmen. Wieso war er damals bloß so dumm gewesen?

Wie lautete seine heutige Sekundenmeditation? Vielleicht beruhigte die ihn.

»Heute nehme ich Momente mit Zeit wahr.«

Prima, dann würde er heute nicht viel zu tun haben.

Max hielt die Augen nach Polizeifahrzeugen offen. Ja, er blickte sogar ständig in seinen Rückspiegel, ob er beschattet wurde. Wo war er nur hineingeraten? Er wollte sein Leben ordnen, seinen Weg finden, der ihm verloren gegangen war, und nun fühlte er sich verlorener als je zuvor. Wie in einem Film, dessen Regisseur aus Frankreich stammte. Lieber wäre ihm ein amerikanischer Actionfilm gewesen. Obwohl er sich die sonst nie anschaute. Aber die Helden überlebten und bekamen die schönste Frau.

Im Radio wurde berichtet, dass Escovedos Leben durchleuchtet wurde, seine Familie, Freunde, doch dass man bisher nichts Außergewöhnliches entdeckt hatte. Escovedo hatte lange im baskischen Tierpark Karpin Abentura gearbeitet, zum Schluss bei den Schildkröten, war beliebt gewesen bei den Kollegen, keine Auffälligkeiten. Eine Seele von Mensch, die Nachbarn waren ratlos. Nach einem unangemessen fröhlichen Lied von Shakira gab es Neuigkeiten von der Polizei. Diese hatte herausgefunden, dass die Folie, in die Escovedo eingewickelt war, fast ausschließlich von Bodegas benutzt wurde.

Die Schlinge zog sich enger.

Und auf dem Regenradar keine Änderung.

Max zögerte, als die Abzweigung zum Ufer rechts vor ihm auftauchte. Er wurde langsamer, blickte nochmals zum Himmel, steuerte dann jedoch abrupt den Feldweg hinab. Das Radio schaltete er aus, das Fenster kurbelte er herunter, Schritttempo. Trockener Staub wirbelte herein, Max versuchte, über dem Fahrgeräusch mögliche Stimmen von Polizisten zu hören.

Dann stoppte er den Jeep und setzte zurück, parkte an der Straße. Am klügsten wäre es, er ginge zu Fuß, und zwar nicht auf dem Feldweg, sondern auf dem vertrockneten, gelben Gras daneben; nur keine Spuren hinterlassen. Max ging langsam – und tatsächlich sah er etwas.

Jemand stand am Ufer.

Kein Polizist.

Er trug normale Kleidung. Und benahm sich … merkwürdig. Es handelte sich nicht um einen Angler, auch nicht um einen Spaziergänger. Der Mann hatte einen Besen dabei.

Und fegte den staubigen Boden.

Max legte sich auf den Boden und nahm die Szenerie genau in Augenschein. Rechts neben dem Weg stand ein Wagen, ein roter Alfa Romeo. Nicht gerade ein gängiges Polizeifahrzeug. Der Sportwagen stand ein ganzes Stück vom Ufer entfernt auf dem trockenen, gelben Gras, wo nicht so leicht Reifenspuren zurückblieben.

Der Mann telefonierte und blickte dabei den Ebro hinunter Richtung Logroño. Er diskutierte wild, zeigte immer wieder auf den Boden um sich herum, obwohl ihn sein Gesprächspartner ja nicht sehen konnte. Nachdem er aufgelegt hatte, fegte er den Boden in einem größeren Umkreis um sich herum. Dann hielt er inne, hob Maxʼ Zigarettenstummel auf und schnippte ihn ins Wasser. Erst in diesem Moment erkannte Max den Mann.

Es war Pepe Salinas.

Der Exportmanager von Faustino. Der Mann, der aus jeder Pore nach Party roch. Und an dem Cristina kein gutes Haar gelassen hatte, als sie in den langen Stunden, bevor sie die Leiche Alejandro Escovedos zum Ebro brachten, miteinander über Gott und die Welt gesprochen hatten.

Pepe blickte sich nochmals genau um, bevor er zu seinem Wagen zurückging und dabei die eigenen Spuren gründlich verwischte.

Max rannte gebückt Richtung Jeep. Salinas durfte ihn auf keinen Fall sehen! Er hörte den sich nähernden Automotor, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf den Boden zu werfen und zu hoffen, dass Salinas den Jeep am Straßenrand nicht wiedererkannte.

Max blieb noch geschlagene fünf Minuten auf dem Boden liegen, nachdem der Exportmanager an ihm vorbeigefahren war.

So ging es nicht weiter!

Max brauchte Hilfe.

Er musste Juan einweihen.

Max fand ihn draußen bei den Mülleimern, wo er die dösenden Katzen malte.

»Gut, dass du kommst! Eine von denen müsste den Kopf hochhalten, sonst ist das zu gleichförmig.«

Max stellte sich neben die Katzen, die mit ihrem Fell faul die Sonnenstrahlen einfingen und ihn keines Blickes würdigten. »Ich kann nicht gut mit Katzen. Ich mag sie nicht mal besonders.«

»Das ist gut! Das mögen Katzen.«

»Was, dass ich sie nicht mag?«

»Ja, eine Herausforderung. Sie sind wie Frauen.«

»Alter Chauvi.«

»Glaub mir, ein Mann, der mit Katzen umzugehen weiß, kann auch mit Frauen umgehen. Beiden musst du ihre Freiheit lassen, beide können kratzbürstig und schmusig sein, beide schnurren manchmal…« Er grinste anzüglich. »Nimm dir eins von den Leckerlis aus der Tüte unter der Spüle, und halt es über die Katzen. Eine wird hoffentlich hungrig genug sein und hochschauen.«

Nachdem Max das Leckerli geholt hatte, schaute tatsächlich eine Katze auf. Der sandfarbene Kater mit Namen Yquem versuchte, an seinem Arm emporzusteigen und benutzte dabei seine Krallen als Steigeisen.

Max biss auf die Zähne, schüttelte den Kater ab und hob die Hand höher.

»Die Polizei war hier«, sagte Juan beiläufig. »Hast meine Adresse angegeben, oder?«

»Ja, die haben mich befragt.«

»Mich auch. Wollten wissen, wo du vorgestern Abend und in der Nacht warst. Ich hab gesagt, wir hätten zusammen gegrillt und bis in die Nacht gebechert. Und ich wüsste nicht, wann ich eingepennt wäre. War das richtig so?«

»Ja, das war richtig so. Auch wenn es sich scheiße anfühlt, wenn du für mich lügst.«

»Hat Spaß gemacht. Wollte immer schon mal jemanden decken. Ich kam mir vor wie in einem Humphrey-Bogart-Krimi, nur nicht so schwarz-weiß. Ich weiß aber nicht, ob sie mir die Story abgenommen haben. Du musst mir nicht erzählen, wo du wirklich warst. Aber halt das Leckerli noch was höher.«

Max hielt es höher. Der rote Kater sprang höher.

Und erwischte Max mit seinen Krallen.

»Das tut tierisch weh.«

»Haltʼs einfach noch ein bisschen höher.«

»Ich muss dir was erzählen.«

»Wenn du musst, dann raus damit.«

Max ließ alles raus, über den Toten und über Cristina. Juan hörte schweigend zu und nickte zwischendurch immer wieder, als hätte er all das erwartet. »Ruf sie lieber nicht an. Du darfst nicht zu interessiert wirken. Sonst hat sie kein Interesse, dich zu erobern.«

»Was meinst du?«

»Cristina. Ruf sie nicht an.«

»Der Tote ist doch jetzt viel wichtiger!«

»Unsinn. Nichts ist wichtiger als die Liebe. Dafür ist sie viel zu selten, viel zu wertvoll. Ich kenne dich, Max, wie oft verliebst du dich Hals über Kopf? Alle zehn Jahre? Jedes Vierteljahrhundert? Der Tote ist tot. Aber die Liebe zu Cristina könnte, na ja, leben. Wenn du keinen Mist baust.«

Der Kater hatte immer noch ein gieriges Funkeln in den Augen. Max kam trotzdem nicht näher mit dem Leckerli.

»Lassen wir Cristina mal außen vor. Und Liebe ist ein viel zu großes Wort. Ich muss an diesen Exportmanager rankommen. Aber nicht so, dass er mich als Nächstes umbringt.«

»Wenn er es war.«

»Er weiß auf jeden Fall, dass Cristina und ich die Leiche weggeschafft haben.«

»Und hat nichts der Polizei erzählt.«

»Noch nicht. Vielleicht erpresst er Cristina bereits.«

»Okay, du musst sie doch anrufen. Aber nur deshalb. Die Hand ein Stück nach links. Jaaaa, genau so.«

Der Kater schlug mit der Pfote in Richtung Leckerli, doch sie war zu kurz. Er maunzte wütend.

»Das wächst mir alles über den Kopf, Juan. Ich bin hierhergekommen, um ihn wieder freizukriegen. Mich zu finden – falls es da noch was zu finden gibt. Und Wein zu trinken, Gran Reserva, je mehr und je animalischer, desto besser.«

»Dreh mal die Mülltonne ein wenig, sodass die Kante zu mir schaut. Und pass auf, dass die Katze dabei nicht … zu spät. Hol dir ein neues Leckerli. Ich hol uns animalischen Wein.«

Als Max mit einem neuen Leckerli zurückkehrte, verteilte Juan Farbe dunkel wie Blut mit dem Spachtel auf der Leinwand. Er schien in seiner roten Phase zu sein.

»Der Täter kann aus dem Weingut selbst stammen – oder aus einem anderen.« Juan verschwand kurz und kam mit einer Flasche Wein zurück, deren Etikett er mit der Hand verdeckte. »Nicht nur die Chinesen kopieren.«

»Was meinst du damit? Weinfälschung?«

»Nicht so plump. Eher eine Art Camouflage. Die Bodegas Faustino sind extrem erfolgreich, weltweit, das Etikett kennt man. Was, wenn nun ein Etikett fast genauso aussieht und auf dem Wein statt Faustino…sagen wir Claustino draufsteht. Würden die Leute das merken oder den Wein trotzdem kaufen? Vielleicht ist er sogar billiger als das Original.«

»So was gibtʼs?«

»Was denkst du?«

»Okay, dann bestimmt.«

Er nahm die Hand vom Etikett: Bodegas Francino. »Denen käme es zupass, wenn Faustino einen kleinen Skandal hätte, weil dann einige Großhändler auf ihren Wein umsteigen würden. Wenn ich Faustino an den Karren pinkeln wollte, dann würde ich vielleicht kurz vor dem Königsbesuch eine Leiche bei ihnen deponieren.«

»Ist das nicht sehr drastisch?«

»Gehtʼs der spanischen Wirtschaft gut?«

»Hörst du langsam mal auf mit den rhetorischen Fragen? Und ist das Bild endlich fertig? Mein Arm wird lahm.«

»Guckʼs dir an.«

Max trat zur Staffelei.

Er konnte keine einzige Katze erkennen.

Es sah noch nicht mal nach einem Tier aus.

Max hätte auf Traktor getippt.

Allerdings einen mit Fell.

Exportmanager Pepe Salinas hatte heute keine Zeit für ihn. Und, nein, morgen auch nicht. Die Vinexpo wollte vorbereitet werden und auch die Vinitaly, wichtige Geschäftskunden warteten, gerade war es sehr schlecht, leider, ein andermal gern, oh, da klingelte das Handy, er musste ran, ganz dringend, auf Wiederhören.

Danach hob Salinas nicht einmal mehr ab.

Juan sah Max an. »Er hat den Braten gerochen, oder?«

»Noch bevor ich ihn fragen konnte, ob er Zeit für mich hat.«

»Aber er kann doch gar nicht wissen, dass du ihn gesehen hast.«

Max zündete sich eine Zigarette an, wobei ihn Yquem vorwurfsvoll ansah. »Ich bin mir bei gar nichts mehr sicher.«

Juan mischte einen neuen Grünton auf seiner Palette zusammen. »Vielleicht hat Cristina recht, und du solltest es sein lassen.«

»Nein, es schnürt mir den Hals zu, aber ich hab zum ersten Mal im Leben das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Das ist zur Abwechslung ganz schön. Und es lenkt mich ab von…«

»… dem, was du zurückgelassen hast. Deiner Esther, Freunde, Familie.«

Auf Maxʼ Gesicht erschien ein gequältes Lächeln. »Danke, dass du mich daran erinnerst. Kommst du mit zu Francino? Du kannst mein Assistent sein.«

Juan zog die Augenbrauen empor. »Ein Traum wird wahr.«

»Siehste. Dann trag mal meine Kameratasche.«

Max hatte gerade seine Utensilien eingepackt, als Bewegung in die im Haus schlummernde Katzenmeute kam. Nicht, weil es nun Futter gab, sondern weil an der Tür des sparsam möblierten Gästezimmers etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Dort stand Cristina.

Er hatte ihr in der Nacht, als sie die Leiche in den Ebro warfen, von seinem Quartier bei Juan erzählt. Sie hatte es anscheinend nicht vergessen.

Ihre Wangen waren röter als sonst.

»Da ist was zwischen uns, oder? Ich weiß nicht, was, aber da ist was.«

Die Katzen versammelten sich um Cristina, als wäre sie ein wärmendes Feuer im kalten Winter. Eine große Katze wedelte sogar mit dem Schwanz.

Wedelte mit dem Schwanz?

Max sah genauer hin. Es war ein Hund. Straßenkötermischung.

War ihm noch nie aufgefallen.

»Ist da was, Max?«

»Ja, da ist was.«

Sie kam einen Schritt näher. Nur einen.

»Ich bin kompliziert.«

»Alle Frauen sind…«

»Unterbrich mich nicht. Ich hab Angst vor Autobahnen, Flügen, Schiffen, Seilbahnen.«

Wie wunderbar, dachte Max. Sie ist verrückt. Wunderbar verrückt.

»Na, und? Ich vor Spinnen.«

»Ich bin Löwin, Max.«

»Und was bedeutet das?«

»Es ist eine Warnung. Ich bin impulsiv, ungeduldig, eifersüchtig, und ich fluche beim Autofahren wie eine mexikanische Straßenhure. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, rücke ich alle Möbel um. Auch im Hotel. Oder wenn ich wo zu Besuch bin. Egal. Und ich will immer das letzte Wort haben. Nein, falsch. Ich habe immer das letzte Wort. Ich bin keine ganz harmlose Löwin.«

»Die sind mir am liebsten«, sagte Max mit einem Lächeln. »So lange sie süß sind.«

»Das steht ja wohl außer Frage!«

»Das tut es«, sagte Max. Denn so war es.

Er kam einen Schritt näher. Sie wich nicht zurück. Ihre dunkelbraunen Augen, er wollte ganz tief in sie blicken.

»Was ich damit sagen will, Max: Ich bin schwierig.«

»Schwierig ist gut.«

»Nein, schwierig ist schwierig. Kein Puderzucker drüber. Ehrlich sein. Und alles auf Augenhöhe.«

»Auf Augenhöhe. Anders würde ich es nicht wollen.«

Es fühlte sich an, als würden sie einen Pakt aushandeln. Er hätte sie am liebsten sofort umarmt. Doch sie wirkte wie eine Bombe, die noch nicht vollends entschärft war, einige Drähte mussten noch durchgeknipst werden. »Du bist eine starke Frau.«

»Aber ich will auch mal schwach sein dürfen. Jemanden neben mir haben, der stark ist, mich anlehnen können. Wenn du eine starke Frau suchst, such dir eine andere.«

»Ich suche sowieso nicht, ich finde. Können wir nicht einfach schauen, wie sich alles entwickelt?«

»Ich lasse eigentlich immer alles auf mich zukommen. Ohne Erwartungen. Aber bei dir fällt mir das irgendwie schwer.«

»Bist du fertig? Ich küsse dich jetzt.«

»Warte …«

»Ich muss dich jetzt küssen.«

Er küsste sie. Diesmal nahm er sich Zeit. Am Anfang fanden ihre Lippen noch nicht richtig zueinander, es war eher ein stürmisches Abtasten, aber mit der Zeit erspürten sie ihren Rhythmus. Der Kuss war köstlich, besser als jeder Gran Reserva.

Als Max wieder sprechen konnte, sah er sie an und musste lächeln. Einfach nur lächeln. Und Cristina ging es genauso.

Dann küssten sie sich ein zweites Mal. Ihre Lippen fanden zueinander, als wären sie seit Jahren aneinander gewöhnt.

Es folgten noch weitere Küsse – bis Juan räuspernd in der Tür stand und auf seine Armbanduhr deutete. »Die machen bald zu.«

»Wer?«, fragte Cristina.

»Francino. Kommst du mit?« Max hielt ihr Gesicht in Händen und hatte Mühe, sie nicht gleich wieder zu küssen.

»Was?«

»Ich muss da jetzt hin.«

»Das Haus des Antichristen betrete ich nicht. Aber wenn wir uns heute Abend treffen, dann können wir uns weiter…unterhalten.«

Als sie weg war, blieb ihr Geschmack auf seinen Lippen. Ohne dass er es merkte, fuhr er mit den Fingerspitzen darüber.

Es fiel Max schwer, sich während der Fahrt auf die Inkognito-Recherche zu konzentrieren, anstatt an Cristina, ihre Lippen und den bevorstehenden Abend zu denken. Mit Willenskraft versuchte er, seinen Herzschlag wieder in den Ruhepulsbereich zu senken. Max blickte auf das Regenradar seines Handys. Weit und breit nicht mal ein Fetzen Wolken in Sicht. Rioja war trocken wie die Wüste. Und plötzlich sehnte er sich nach Köln, das immer genug Wasser hatte und ab und an sogar generös vom Rhein überschwemmt wurde. Köln. Er liebte die Stadt. Trotz ihrer vernarbten Häuserschluchten, ihrer Lokalbesoffenheit, ihrer Parkplatznot. Denn sie hatte auch den Rhein, den Dom, den Grüngürtel, großartige Blutwurst und stets ein frisch gezapftes Kölsch.

Max blickte hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft.

Kein Rhein, kein Dom – und erst recht kein Kölsch.

Juan döste neben ihm, das hatte er früher schon getan, während ihrer Studienzeit. Egal, ob in Auto, Flugzeug oder Bahn, Juan schlief. Er meinte, es käme davon, dass seine Mutter ihn als Baby jeden Abend in den Schlaf gewiegt hatte. Der Rhythmus sei seitdem in seinem Blut.

Als Max den Wagen vor der Bodega Francino parkte, wachte Juan erfrischt wieder auf.

»Sind wir schon da?«

Max antwortete nicht. Sein Mund stand vor Staunen offen. In einem Micky-Maus-Comic hätten Vögel jetzt ein Nest darin gebaut. Francino sah aus, wie sich jeder Reiseveranstalter ein spanisches Weingut wünschte. Don Quijote und Sancho Pansa hatten darin sicher bereits Quartier bezogen. Schließlich gehörte zum Weingut auch ein kleiner, pittoresker Windmühlennachbau – direkt neben dem Busparkplatz, auf dem vier klimatisierte Riesengefährte standen, die ihre Fracht bereits zur Abfüllung ausgeladen hatten.

Dem Bau war anzusehen, dass er neu war, die lackierten Dachziegel glänzten. Es war die Puderzuckerversion eines Weingutes, über der genauso ein Schild wie bei Faustino thronte – nur dieses hier schien vergoldet. Faustino war bodenständig. Man sah es dem Weingut an, das Gewachsene, es war authentisch, ungeschminkt.

Dieses hier hatte Silikonbusen.

Sie waren gerade aus dem Jeep gestiegen, als sich am oberen Ende der breiten Eingangstreppen das hölzerne Tor öffnete und ein durchtrainierter, braungebrannter Surfer mit Khakihosen heraustrat und die Hand zum Gruß hob. Sie schickten also einen Praktikanten zum deutschen Fotografen. So viel zum Thema Wertschätzung. Hoffentlich erhielten sie wenigstens eine kurze Audienz beim Herrn der Finsternis, dem Chef dieses feuchten Weinguttraumes.

»Hallo, du musst Max sein. Ich bin David, willkommen in meinem Reich!«

Der Surfer lief die Treppe hinunter, reichte Max die Hand und schlug ihn mit der anderen auf den Oberarm. »Wollt ihr erst mal was trinken oder direkt loslegen mit den Fotos für eure Reportage? Dann würde ich euch zuerst alles zeigen, und wir trinken danach was zusammen. Was meint ihr?«

Er reichte auch Juan die Hand, der sich wie vereinbart als Assistent vorstellte.

»Du siehst genau wie ein anderer Juan aus. Juan Gil de Zámora, der Künstler, hat demnächst eine große Ausstellung im Guggenheim in Bilbao. Soll ein Spitzentyp sein. Du siehst ihm echt tierisch ähnlich. Ich mein, ich kenne ihn nur von Fotos, aber das ist schon irre. Und du bist dir ganz sicher, dass du es nicht bist?«

»Wer weiß schon, wer er wirklich ist«, antwortete Juan lässig.

»Auch wieder wahr. Also: trinken und gucken oder gucken und trinken?«

»Lieber gucken und trinken. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

»Na, na!«, sagte David und knuffte Max in die Seite.

Er führte sie in die von großen, unbefüllten Holzfässern umrahmte Probierstube, in deren Mitte ein aufgebocktes Wagenrad stand, auf das eine runde Glasplatte montiert war. Mit geübten Handgriffen stellte David die vier Weine des Gutes darauf: den Francino No. 1, den Francino No. 5, einen Rosé-Francino und einen weißen Francino. Schon mit einer Dioptrie hätte man sie alle für Faustino-Weine halten können.

Max schoss Fotos aus verschiedenen Winkeln, stellte ein Spotlight und einen Reflektor auf und positionierte die Flaschen in eine perfekte Reihe, bevor er wieder abdrückte.

»Mach schnell, sonst wird der Wein warm«, scherzte David, der bereits mit dem Kellnermesser bereitstand. »Ne, Quatsch, dann hol ich neue, lass dir ruhig Zeit.«

»Wo probieren eigentlich die Busladungen voller Touristen?«

David zeigte in alle Himmelsrichtungen. »Wir haben sechs Verkostungsräume, alle identisch, dazu drei größere Säle, in denen wir auch Bankette veranstalten können.«

Es schien Francino gut zu gehen. Doch wenn es ihnen gut ging, dann war dies eine Sackgasse, denn dann gab es keinen Grund, eine Leiche bei der Konkurrenz zu platzieren.

»Bin fertig«, sagte Max und reichte Juan die Kamera zum Verstauen. Der nahm sie jedoch nicht entgegen, sondern griff stattdessen nach einer der Flaschen. »Kommt mir sehr, sehr bekannt vor, das Etikett.«

»Du meinst wegen Faustino?«, fragte David. »Ja, klar. Wenn du erfolgreich bist, wirst du kopiert. Es ist eine Art Kompliment. Unser Wein kostet im Schnitt allerdings einen Euro weniger. Alles legal. Das Etikett ist genau so nah dran, wie es der Gesetzgeber zulässt. Wenn ihr mich fragt: Faustino profitiert davon, denn unser Wein ist klasse. Gut, wir produzieren keinen Gran Reserva, das ist einfach zu aufwendig, aber viele kaufen später auch die Flaschen von Faustino, weil sie denken, unser Wein wäre drin. Eine Win-Win-Situation.«

»Nur dass Faustino zuerst da war und sich das Image hart erarbeitet hat, von dem ihr nun profitiert.«

»Thatʼs life! Wir werden ja auch schon kopiert. Jetzt bauen sie überall schicke Bodegas und kurbeln den Vino-Tourismus an. Insgesamt machen immer mehr Firmen Werbung für Rioja, das hilft allen. Wir müssen halt besser sein als der Rest.«

»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte Juan, der langsam Spaß an der Investigation zu finden schien.

Natürlich würde David nicht die Wahrheit sagen. Geschäfte liefen immer gut. Es sei denn, das Finanzamt fragte, dann liefen sie miserabel.

»Geht so«, antwortete David. »Die Auslandsmärkte sind zur Zeit schwierig, vor allem England, da reißen meine Landsleute sich alles unter die Nägel.«

»Australier?«, fragte Max, der den Akzent schon bemerkt hatte.

»Wow, bin beeindruckt, Kumpel. Adelaide, um genau zu sein. Hab da am Roseworthy College Weinbau studiert und später bei Penfolds unter Peter Gago gearbeitet, bevor es mich hierher verschlagen hat. Bin jetzt seit zwei Jahren hier, und nächstes Jahr wollen wir richtig durchstarten. Wer weiß, vielleicht ist Faustino irgendwann froh, dass ihr Name wie Francino klingt und nicht mehr umgekehrt.«

»Wem gehört die Bodega eigentlich?«, fragte Max, während David den ersten Wein, einen weißen, einschenkte. Er war so kühl, dass er nicht nach viel schmeckte. »Auch Australiern?«

»Ihr werdet lachen: einem anderen Zweig der Firma Martinez – also den Besitzern von Faustino. Über achtzehn Ecken verwandt.«

»Gab es da keinen Ärger?«

David zuckte mit den Schultern und öffnete den Rosé. »Muss mich nicht scheren. Ich muss nur zusehen, dass der Wein gut wird. Und das heißt: modern, weich, fruchtig, zugänglich – und jedes Jahr gleich.«

»Also wie Coca Cola«, konnte sich Max nicht verkneifen zu sagen.

»Genau«, sagte David, kein bisschen beleidigt. »Die machen auch einen Superjob. Im Weißen war übrigens die typische Rioja-Rebsorte für hellen Wein, also Viura. Der Rosé, den ihr jetzt bekommt, ist aus achtzig Prozent Tempranillo und zwanzig Prozent Garnacha – genau wie der Faustino VII. Unserer heißt aber eben Francino XII und ist ein flüssiges Fruchtbonbon.«

Das traf es. Er musste für Weintrinker mit dem Gaumen eines Kleinkindes gedacht sein. Die beiden Roten, die nun folgten, waren nur unwesentlich kantiger. Vermutlich konnten Francino-Weine zum Abstillen verwendet werden.

»Und? Was meint ihr?«

Juan stellte sein Glas ruckartig ab. »Ganz ehrlich? Da kann ich auch Fruchtsaft trinken.«

Auf Davids gebräuntem Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Der dreht aber nicht so!« Er lachte laut auf. »Ich mag deine Art, nimmst kein Blatt vor den Mund, sehr australisch. Ich muss euch was zeigen.«

Er führte sie in sein Büro und rief die Homepage des Gutes auf. »Ich brauch neue Fotos, und zwar was Dynamisches, Hippes, wir müssen ein bisschen weg vom Alten und neue Kundenkreise ansprechen. Kriegst du so was hin? Hast du eine Homepage, wo man sich deine Sachen anschauen kann?«

Max nannte sie ihm.

Als David sie aufgerufen hatte, ließ er einen anerkennenden Pfiff erklingen. Und gleich noch einen. »Leck mich am Arsch. Du hast ja mit allen gearbeitet, Supermodels, Hollywoodgöttinnen, Politiker, sogar dem Hund von Paris Hilton, du bist ein verdammter Starfotograf. Was machst du in der Rioja?«

»Weingüter fotografieren. Und Reben. Das ist meine Art von Urlaub.«

»Kann ich mir dich überhaupt leisten?«

Max kannte diese Frage. Ebenso die Antwort. Sie kotzte ihn an. »Kann es sich dein Weingut leisten, schlechte Fotos zu haben?«

David stand auf und reichte ihm die Hand. »Ich krieg das finanziert. Und jetzt zeig ich dir, was du so richtig geil in Szene setzen musst.«

Nach der Führung durch das Gut fiel Maxʼ Blick beim Hinausgehen auf eine Glasvitrine, in der Gläser standen, leere Francino-Weinflaschen sowie einige errungene Weinmedaillen. In der untersten Etage lag ein Jakobsweg-Abzeichen, verkrustet mit Dreck. Die Flasche, die danebenstand, war so gedreht, dass ihr Etikett nicht zu sehen war. Doch Max erkannte an der Halskapsel, dass es eine Flasche Faustino war.

Er würde David danach fragen, wenn er sein Vertrauen vollends gewonnen hatte.