Kapitel 4
1984 – Ein sehr durchschnittlicher Jahrgang. Uninteressant. Nur zwei Prozent des Weins wurden zu Gran Reservas.
Cristina hatte ihm ihre Adresse nicht gegeben. Er sollte sie dort auflesen, wo er sie beim letzten Mal abgesetzt hatte. Sie musste sein Murren gehört haben, doch sie reagierte nicht darauf. Selektive Wahrnehmung war also nicht nur eine Stärke deutscher Frauen.
Max war zu früh in La Bastida, was ihm erst auffiel, als er den Jeep am staubigen Straßenrand parkte, wo die sengende Sonne das schwarze Blech innerhalb weniger Minuten auf Backofentemperatur erhitzen würde. Die Zeit, seit Jahren allgegenwärtig für ihn, sekundengenau sein Leben taktend, hatte sich in La Rioja aufgelöst wie eine Badekugel im Wasser.
Das gefiel ihm.
Doch nun musste er sie totschlagen, die Zeit.
Max schlenderte durch den Ort, fotografierte, was ihm ins Auge fiel, und landete schließlich auf dem Platz vor dem Rathaus, wo ihn beim letzten Mal der Alte abgekanzelt hatte. Eine Rückkehr an den Ort der Niederlage. Die Luft über den heißen Pflastersteinen flirrte, und Max hoffte, dass sich die Kühle des Abends heute etwas früher wie ein Seidentuch über das Land legen würde. Er wollte sich noch ein wenig auf den Platz des alten Mannes setzen und grimmig dreinschauen, damit einer diesen Job erledigte und alles seine Ordnung hatte. Doch seine Hilfe wurde nicht gebraucht. Der Greis saß wieder da, in derselben Körperhaltung, leicht vornübergebeugt, die Unterarme auf den Oberschenkeln abgelegt. Er sah den Neuankömmling – und blickte zu Boden.
Max setzte sich neben ihn, schaltete seine Digitalkamera ein und zeigte ihm die Fotos von La Bastide.
»Ein schöner Ort ist das.«
Keine Antwort. Max klickte Bild um Bild vor, der Blick des alten Grantlers haftete darauf. Plötzlich grunzte er, und Max klickte zurück. Die Kamera wurde ihm aus der Hand genommen. Auf dem Display war ein großes Gebäude zu sehen, das früher eine Art Verwaltung beherbergt haben musste, doch mittlerweile verfallen war. Einige Decken waren bereits eingestürzt, die Fensterscheiben zersprungen. Max hatte die Verwüstung fotografiert, den Verfall, schonungslos und doch auch mit einer friedlichen Schönheit. Den langsamen Verfall, das Nagen der Zeit. Doch aus einem bestimmten Winkel hatte es ausgesehen, als sei alles noch intakt, und die Sonne hatte ihr Licht wie Gold über der Szenerie ausgegossen. Max mochte das Foto nicht, obwohl es aus ästhetischen Gesichtspunkten gelungen war. Es war eine Lüge, oder zumindest eine Illusion.
Der Alte fuhr mit den Fingerspitzen über das Bild, wodurch die Kamera es heranzoomte.
»Ein Touchscreen, Sekunde«, Max stellte die Anzeige zurück.
»Wunderschönes Gebäude. Was ist es?«
Der Greis blickte nicht auf. »Eine Schule. Unsere Schule. Gutes Foto. Ich bin Fernando.« Er reichte ihm die Hand. Sein Atem roch nach Wein.
»Soll ich dir einen Abzug davon machen?«
»Zu viel Aufwand.«
»Mach ich gern.«
»Weil du was von mir wissen willst. Es ist ein Geschäft.«
»Wegen Cristina? Nein, ich muss nichts mehr über sie wissen, das schaff ich auch alleine.«
Fernando lachte knarzend. »Du meinst also, du kennst die Frauen?«
Max dachte darüber nach. Natürlich gab es »die Frauen« nicht, und jede Frau in seinem Leben hatte ihn überrascht und fasziniert. Er kannte die Frauen, so gut man sie eben kennen konnte. »Ich glaube schon.«
»Du kennst die deutschen Frauen, nicht aber die spanischen. Himmelweiter Unterschied. Und Cristina: Noch himmelweiter. Ihr Deutschen wisst nichts über Frauen, gar nichts.« Er reichte Max die Kamera zurück. »Mach mir einen Abzug, schön groß, dass ich ihn aufhängen kann. Dann erzähle ich dir was. Und jetzt kein Wort mehr über Cristina.«
»Was? Wieso?«
»Kein Wort, hab ich gesagt.«
Ein anderer Greis trat heran, im Gegensatz zu Fernando drahtig, Rücken gerade, jeder Zentimeter strahlte Stolz aus, die Augen klug, die Kleidung alt, aber makellos. In der Hand hielt er einen Reserva der Bodegas Campillo, die zur Grupo Faustino gehörte. Der Korken war gelöst, steckte aber noch im Hals.
»Hallo, Iker«, begrüßte Fernando ihn. »Das hier ist Max. Ein Freund.«
Iker, wie der berühmte Torwart der spanischen Fußballnationalmannschaft, dachte Max. Ein Mann mit Nerven wie Drahtseile.
»Trinkt dein Freund auch Wein?«
»Sonst wäre er nicht mein Freund«, antwortete Fernando.
Iker entkorkte die Flasche und reichte sie Max. »Weißt du denn überhaupt, was Wein ist, Max?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Flüssige Geschichte, das ist Wein. Kennst du ein anderes Lebensmittel, das zehn, zwanzig, dreißig, ja mehr als fünfzig Jahre hält? Nicht wie Whisky oder Schnaps, die sich nicht verändern, die sind konserviert, tot, nein, Wein reift, verändert sich, ist lebendig, wie wir Menschen. Wein ist einzigartig. Er erzählt uns etwas, wenn wir ihn trinken. Wenn er gut ist. Und wir zuhören.« Er grinste. »Was uns bei Frauen so schwerfällt. Hast du eine Frau, Max?«
»Es gibt da eine, die mich interessiert, sie heißt…«
Fernando stieß so kräftig gegen die Flasche, dass der Rotwein auf Maxʼ Hose spritzte.
»He! Was sollte das denn jetzt?«
»Entschuldige, Max.« Fernando reichte ihm ein altes, gebrauchtes Papiertaschentuch und lehnte sich zu ihm rüber, ganz nah an sein Ohr. »Iker ist Cristinas Großvater. Sag bloß nichts Falsches, sonst war es das. Am besten, du sagst gar nichts und haust lieber ab. Ich erzähl was Gutes über dich, mir fällt schon was ein.« Wer hätte gedacht, dass der alte Mann plötzlich so gesprächig sein konnte. Iker schien so in seine Gedanken vertieft, dass er das Flüstern der beiden gar nicht bemerkt hatte. Fernando sprach laut weiter. »Du musst doch zu deinem Termin, Max. Nett, dass du hier mit zwei alten Geiern wie uns sitzt, aber jetzt mach dich auf, wir kommen auch ohne dich klar.«
»Stimmt ja. Der Wein ist übrigens phantastisch, danke dafür.«
»Gern«, sagte Iker. »Hab ich gemacht, den Wein. Da muss er ja gut sein.«
Mit einem Lachen verabschiedete sich Max, keinen Augenblick zu früh, denn Cristina wartete bereits an der Ecke auf ihn.
Sie sah phantastisch aus, was Max ihr auch sagte. Ihr Rock ging bis zu den Knien, nicht eng, sondern luftig, Bluse und lackglänzende Schuhe waren auf eine mädchenhaft verspielte Weise perfekt aufeinander abgestimmt. Max wusste, wovon er sprach. Cristina hatte ein Gefühl für Mode, ohne dass es angestrengt aussah. Sie hatte Stil, kombinierte Grau- und Schwarztöne, welche ihre blasse Haut und ihre dunkelbraunen Augen perfekt unterstrichen. In ihrem dunklen Haar waren jetzt sogar rote Farbreflexe zu erkennen. Der Pferdeschwanz war streng nach hinten gekämmt, der Pony fiel in perfekter Linie über ihre Augenbrauen. Max verspürte den Drang, ihr eine vorwitzige Haarsträhne glattzustreichen, wie er es bei Fotosessions oft machte, wenn kein Stylist anwesend war.
Doch eigentlich war es so viel schöner. Perfekt unperfekt.
Der leichte Wind spielte mit ihrem Haar. Vielleicht war er ja extra dafür angereist. Wäre Max ein Wind, er hätte sogar den weiten Weg aus Deutschland auf sich genommen.
Die Begrüßung fiel trotz Küssen auf die Wangen – zweien und nicht wie in Frankreich dreien – eher nüchtern aus. »Wo geht es hin?«, fragte Max.
»Nach Logroño, wir treffen Freunde.«
Also kein romantisches Candlelight-Dinner. Party. Nun ja, ihm war gesagt worden, er sei gut darin. Trotzdem blickte Max kurz auf das Regenradar, das seine Hoffnung ein weiteres Mal enttäuschte. Kein Wolkenbruch würde diesen Abend in ein richtiges Date verwandeln, weil sie die ganze Nacht im Wagen sitzen mussten, um nicht bis auf die Knochen durchnässt zu werden. Wo waren die spanischen Regenwolken, wenn man sie mal brauchte?
Max war froh, dass Juan mit ihm durch die Tapas-Bars gezogen war. Jetzt kannte er den Verhaltenskodex, hatte sich an die Enge und die Lautstärke gewöhnt und wusste, wie viel Alkohol man trinken konnte, ohne als Säufer abgestempelt zu werden. Viel. Und wie viel man essen durfte, um nicht als gefräßig zu gelten. Ebenfalls viel.
Die Freunde waren zu viert, sie warteten schon, und sie wussten Bescheid: Maria (klein, blond und hager, aber mit einer Stimme wie ein ganzer Frauenchor), Elena (eine Matrone, ebenso rundlich wie herzlich, die Welt und ihn umarmend), André (der Stille, ein Zwei-Meter-Mann, gekleidet, als sei er farbenblind) und Carlos.
Manche Menschen schloss man auf den ersten Blick ins Herz.
Carlos nicht.
Zumindest Max nicht.
Carlos war unverschämt gut aussehend, auf eine gegelte, südländische, braungebrannte, breitschultrige Art. Seine schwarzen Haare waren lockig, sein Kinn kantig, sein Bart maskulin, exakt drei Tage alt. Er war zum Kotzen. Carlos lächelte breit, als er Max die Hand schüttelte, doch seine Augen lachten nicht, sie fixierten, taxierten, und Max wurde klar, dass Carlos nicht irgendein Freund war, sondern dass auch er mehr für Cristina empfand. Wie er sie bei der Begrüßung umarmte, diesen Hauch zu lange, wie er ihr in die Augen blickte, diesen Tick zu tief, wie er über ihren Witz lachte, diese Prise zu viel. Carlos, du machst keinem was vor. Die neue Konkurrenz aus Deutschland passte ihm sicherlich nicht in den Kram. Zeigen durfte er das natürlich nicht. Max kannte diesen Typ Mann. Carlos würde bestimmt damit beginnen, gegen ihn zu intrigieren und den Rest der Cuadrilla, Cristinas Clique, gegen ihn aufzustacheln. Max war auf Anhieb klar gewesen, dass dies nicht irgendwelche Freunde waren, sondern die engsten. Die Art, wie sie sich begrüßten, diese natürliche Herzlichkeit, wenn sie sich zur Begrüßung auf die Wangen küssten, ein hundertfach vollzogener Tanz. Die Cuadrilla, hatte Juan ihm erklärt, begleitete einen Spanier durch das ganze Leben, war wie eine zweite Familie und für viele sogar wichtiger als diese. Wer bei der Cuadrilla nicht ankam, der hatte verloren.
Genau auf solchen Scheiß hatte Max keinen Bock mehr.
In der Modeindustrie war Stutenbissigkeit gang und gäbe – und die Hengste waren dental kein bisschen besser. Eher im Gegenteil.
Maria bestellte eine Runde Rosado und lehnte sich verschwörerisch vor, als die Gläser vor ihnen standen. »Habt ihr das von dem Toten im Ebro gehört? Eine ganz mysteriöse Sache. Die ganze Stadt spricht davon!«
»Lasst uns doch über was anderes reden«, sagte Cristina laut. »Es ist doch so ein schöner Abend, da will ich mir nicht die Laune mit Geschwätz über einen toten, alten Mann verderben.«
Doch Maria holte bereits einen Zeitungsabschnitt hervor. »Ach was. Das ist doch spannend. Endlich passiert mal was in unserem verschlafenen Nest! Sie haben heute die Strecke seiner Wanderung abgedruckt. Die Policía hat sogar einen Verdächtigen, den sie aber wieder freilassen mussten aus Mangel an Beweisen. Doch er steht weiter unter Beobachtung. Ich glaube ja, der warʼs. Ist wahrscheinlich nur wegen eines Winkeladvokaten wieder auf freiem Fuß. Da läuft es einem eiskalt den Rücken runter, was? Der könnte glatt hier mit uns in der Bar stehen. Stellt euch das mal vor!«
Max sah sich um. Kein Gesicht blickte zu ihm, doch die Bar war so voll, dass ein Zivilpolizist direkt neben ihm stehen und lauschen könnte, ohne dass er etwas davon merkte. Alle redeten, alle tranken, alle aßen. Nur ein Typ in der Ecke war allein, graues, kurzes Haar, das Gesicht wie ein verprügelter Jean-Claude van Damme und den Kaugummi in seinem Mund malträtierend, als sei dieser für alles Elend auf der Welt verantwortlich.
André schaltete sich in das Gespräch ein. »Nur weil Escovedo aus dem Baskenland stammt, reden die Leute über ETA-Verbindungen. Als wäre jeder Baske ein Terrorist. Völlig lächerlich.«
»Richtig, manche sind auch nur völlig unpolitische Hobby-Bombenleger. Das sagst du ja nur, weil du aus Vitoria stammst«, konterte Elena. »Was meinst du denn zu der Sache, Max?«
»Ja«, unterstrich Carlos, »was meinst du? Das würde mich interessieren.«
Max hob abwehrend die Arme. »Ich halte mich da raus. Scheint mir viel zu früh, um Vermutungen anzustellen. Vielleicht ein Verbrechen aus Liebe?«
»Bei einem Greis, der den Jakobsweg wandert?« Carlos schnaubte verächtlich. »Und bevor du jetzt sagst, dass es um Geld ging: Er hatte kaum was bei sich, er ist nicht bestohlen worden, und auch sonst ist er nicht reich. Tierpfleger verdienen nicht so viel. Zumindest in Spanien, und in Rente erst recht nicht.« Er boxte ihn neckisch, aber verdammt fest gegen den Oberarm.
Gegenangriff.
»Viel mehr als der Tote interessiert mich, wie es Cristina geht. Ich meine, der Besuch des Königs steht doch bevor. Da hast du sicher irre viel zu tun. Du organisierst doch alles, nicht?«
Sie blickte ihn dankbar an. Carlos entging dies nicht.
Treffer. Versenkt.
»Nein, nicht allein, unserem Exportmanager wurde das als Zusatzaufgabe aufgehalst, und ich unterstütze ihn.«
Elena schüttelte entschieden den Kopf und nahm sie in den Arm. »Blödsinn! Du machst die ganze Arbeit. Hoffentlich sieht das auch mal einer.«
Cristina gab ihr einen Kuss. »Du bist die Beste!« Sie bestellte eine neue Runde, natürlich stammte der Wein von Faustino. Er hieß »9 mil«, weil es nur neuntausend Flaschen davon gab. Ein Tempranillo von einem fünfzig Jahre alten, exzeptionellen Weinberg an den Hängen der Sierra Cantabria. Nicht billig, aber Cristina brauchte jetzt anscheinend einen Schluck davon. »Die Sicherheitsvorschriften sind der Wahnsinn. Die Security des Königshauses und die örtliche Polizei hatten schon drei Termine bei uns. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Auskünfte und Bescheinigungen wir vorlegen müssen. Für den Abend ist ein Festessen in unserem großen Speisesaal geplant, dem tollen mit der hohen Decke und den achtzig Plätzen, alle Gäste werden im Vorhinein durchleuchtet. Es ist die Hölle. Aber…«
»Sind wir denn auch eingeladen?«, fragte Carlos.
Cristina lächelte schief. »Dich lassen sie bestimmt nicht rein. Nur Sportler, die mal eine Olympiamedaille gewonnen haben. Oder die Tour de France.«
Sportler war er also auch noch. Also ein durchtrainierter, athletischer Körper. Max war nicht unsportlich, aber jetzt wurde ihm klar, dass sich unter Carlosʼ Kleidung ausschließlich Muskeln und Knochen befanden.
»Die hätte ich beinah gewonnen! Wenn sie mich nominiert hätten.«
»Ja, klar«, sagte Maria. »Wissen wir doch. Wie damals, als du beinahe Torero geworden bist. Erinnert ihr euch noch, als…«
Ab da war der Abend für Max gelaufen.
Sie sprachen über die alten Zeiten, wärmten Anekdoten auf, ein Insider-Witz folgte auf den nächsten. Er war überflüssig, sogar mehr als das, er störte das harmonische Miteinander. Immer wenn er etwas zum Gespräch beitrug, stockte es. Er war der Merlot im Tempranillo-Regal. Zwar stellten sie ihm Fragen, versuchten ihn einzubinden, doch die natürliche Chemie entstand nicht. Max war sich sicher, das lag vor allem an Carlos, der geschickt Sackgassen errichtete oder Abzweigungen nahm, sodass Max verstummen musste.
Irgendwann war ihm das zu blöd und er verabschiedete sich. Cristina gab er zum Abschied einen Kuss. Geplant war dieser auf den Mund, der Anflugwinkel seiner Lippen war perfekt gewesen – doch die Landebahn hatte sich weggedreht, und er war neben dem Rollfeld zum Stehen gekommen. Cristina wollte sich noch nicht von ihm vor ihrer Cuadrilla küssen lassen. Vermutlich würde sie nach seinem Verschwinden die Bewertungen einholen, wie beim Eistanzen, wo nach der Kür alle gespannt auf die Wertung der Punktrichter warteten.
Das Ergebnis konnte Cristina gerne für sich behalten.
Wo war der Grauhaarige mit dem Van-Damme-Gesicht? Scheinbar fort. Gut so. Also nur Paranoia.
Max brauchte Luft, und er musste gehen. Egal wohin, nur erst mal weg.
Er zog eine neue Karte zur Sekundenmeditation. »Heute merke ich, wenn ich Glück habe.« Max schnaufte verächtlich. Wollte ihn sein Schicksal hochnehmen? Glück? Wirklich? War es Glück, dass er Cristina getroffen hatte, oder Pech? Beim Lotto wusste man immer direkt, ob man zu den Glücklichen zählte, im Leben stellte es sich häufig erst spät heraus. Manchmal zu spät.
Vielleicht sollte er das mit Cristina lieber lassen. Vielleicht war es eine Illusion. Genau wie die wahnsinnige Idee, einen Mord aufzuklären. Max war gefrustet und holte sein Handy aus der Innentasche des Leinensakkos, um zu Hause anzurufen. Wen, wusste er noch nicht, vielleicht Esther. So einfach zu gehen, war scheiße gewesen, sich verleumden zu lassen auch, das hatte sie nicht verdient. Sie würde ihn sicher wieder um den Finger wickeln, was sie so perfekt beherrschte wie eine Spinne, die ihr Opfer umspann.
Doch manchmal fühlte es sich wohlig warm an in einem solchen Kokon. Selbst wenn man wusste, dass man der Nachtisch war.
Er tippte ihre Nummer ein, als er ein Plakat sah, das für das örtliche Casino warb. Wo man angeblich sein Glück fand. Es waren nur ein paar Schritte bis dorthin.
Er schaute auf sein Handy, die Nummer stand schon im Display, er musste nur noch die Wähltaste drücken. Doch er blickte wieder auf das Plakat.
Wenn einem der Himmel irgendwo ein Zeichen sandte, dann wohl auf dem Jakobsweg, schließlich kamen von hier die meisten Anfragen. Und Max befand sich, wie ihm die Abbildung einer Jakobsmuschel zu seinen Füßen bewies, genau auf dem Pilgerpfad.
Ein kühler Wind strich über seine heiße Stirn.
Er konnte Esther später immer noch anrufen. Oder auch nicht.
Es war spät, als er das Electra Rioja Gran Casino betrat, und wenig los. Die Fernseher, die alle paar Meter an den Wänden hingen, waren ausgeschaltet, auf keinem liefen Nachrichten. Max erging es gerade wie im Urlaub, wenn er keine Zeitungen las und keine »Tagesschau« sehen konnte: Er wusste nicht, was in der Welt vor sich ging. Eine Zeit lang empfand er das als charmant, doch irgendwann fühlte es sich stets an, als sei er von der Welt abgeschnitten, als gehörte er nicht mehr dazu. Dann musste er sich dringend auf den neuesten Stand bringen.
Scheinbar musste er noch ein wenig ohne die Welt auskommen.
Das Casino war provinziell und hatte mit Las Vegas so viel zu tun wie Helgoland mit Hawaii. Am Roulettetisch saß ein brockiger Mann im Hawaiihemd, mit prächtigem Schnurrbart und Elvis-Sonnenbrille, neben sich ein Glas Rotwein und eine entkorkte Flasche.
Max setzte sich dazu.
Der Alkohol musste die Muskulatur des Mannes schon sehr entspannt haben, denn sein Kopf saß so wackelig auf dem Hals, als könne er jeden Augenblick hinunter kullern. Jetzt drehte sich die schwankende Kugel Max zu. »Glück ist ein flüchtiges Element. Zufriedenheit, die kann man erreichen, das ist auch schon schwierig genug. Aber Glück?«
Die weinbelegte Stimme des Mannes zog Schlieren in der Luft, doch Max wusste, dass die Worte zwar vom Alkohol emporgespült worden waren, doch vorher lange Zeit zum Reifen gehabt hatten.
»Kaum ist das Glück da, ist es schon wieder weg«, fuhr der Mann fort. »Nur die Liebe lässt es einen länger erleben – aber eben auch nicht für immer. Und danach weiß man erst richtig, was einem fehlt. Da fragt man sich doch, ob man besser ohne Glück dran ist, oder?«
Das Orakel von Delphi war er sicher nicht. Aber für Logroño ein ordentlicher Anfang.
»Was machen Sie?«
»Ich gewinne.«
»Sie sehen aber nicht so aus.«
»Wieso?«
»Menschen, die gewinnen, freuen sich normalerweise.«
»Tu ich doch. Ich tanze innerlich.«
Er reichte ihm die Hand. »Ich bin Max.«
»Timothy. Timothy Pickering. Nenn mich Tim, tun alle. Willst du was trinken? Hab einen 2001er Ygay Reserva Especial von Murrieta auf.«
»Gerne. Ich hol mir ein Glas.«
»Quatsch nicht«, er hob die Hand und gröhlte in den Raum. »Ein Glas für meinen Kumpel! Wir müssen meinen Gewinn feiern!« Er blickte Max an, die Augenlider hingen wie ausgeleierte Rollläden über seinen Augen. »Oder willst du etwa einen jungen Rioja trinken, was?«
»Nein, danke. Ich bin froh, mal was Gereiftes im Glas zu haben. Gerade um die Uhrzeit.«
»Richtige Antwort. Du gefällst mir. Kannst mich Tim nennen.«
»Danke. Tun alle. Tim.«
Er spielte weiter. Und gewann weiter. Nicht immer, aber oft genug. Für Tims Laune war es allerdings völlig einerlei.
Max genoss den alten Murrieta, der ihn mit seinem Duft nach Rindsleder und altem, teurem Holzschrank an seinen allerersten Gran Reserva von Faustino erinnerte. Er erzählte Tim von diesem besonderen Tropfen.
»Hör mir auf mit Faustino! Da will ich nix von hören.«
»Wieso? Die Weine sind doch hervorragend. Vor allem der Gran Reserva. Klassischer, alter Stil.«
»Klar ist der gut, scheiße ja, verdammt gut sogar, aber versuch mal an einen 64er zu kommen. Einen 64er! Damals erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis, Nikita Chruschtschow haben sie vom Hof gejagt, und Nelson Mandela wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Sarah Palin wurde geboren, Cole Porter starb. Und hier in Rioja hielt Gott höchstpersönlich seine Hand über die Trauben. 1964, das ist der größte Jahrgang, den es hier je gab!« Er kippte sich nach. »Versuch mal einen 64er von Faustino zu kriegen, ehrlich! Kannst du total vergessen. Zum Kotzen.«
Er gewann wieder – und merkte es gar nicht. Den Gewinn ließ er einfach auf Rot liegen.
»Die sind doch sehr nett bei Faustino.«
»Nett? Nett? Nett ist, wenn einem die Putzfrau aus dem Urlaub schreibt. Aber ist es nett, wenn man sich weigert, jemandem etwas zu verkaufen, obwohl der einen guten Preis zahlt? Findest du das nett?«
»Ne.«
»Siehste! Du bist in Ordnung! Darfst mich Tim nennen.«
»Danke. Tun alle. Tim.« Er stieß mit Tim an, den er nun Tim nennen durfte. Gleich dreifach. Tim. Tim. Tim. Super. Dieser Abend war doch noch ein großer Erfolg geworden.
»Und, Tim, was meinst du, Tim, wer den Mann im Ebro umgebracht hat? Tim?«
»Den vom Jakobsweg?« Timothy, von allen seinen Freunden Tim genannt, wurde still. »Da weiß ich nichts drüber. Gar nichts.«
»Du musst doch eine Meinung dazu haben?«
»Scheiße, wieso denn? Muss ich zu jedem Dreck eine Meinung haben? Muss ich nicht! Der alte Sack kann mir gestohlen bleiben.«
»Recht hast du, Tim.« Max hob das Glas, um mit ihm anzustoßen.
»Timothy für dich, klar?«
»Timothy. Ich heiße Maximilian.«
Was für ein Scheißabend.
Und auf dem Regenradar war immer noch nichts zu sehen.