Sibirische Dunkelheit
Es war unfaßbar: Wawra Iwanowna Jublonskaja lebte noch immer.
Sie war zwar etwas blasser geworden, die Haut hatte einen gelblichen Ton bekommen, und ab und zu blieben nach dem Kämmen dünne Haarsträhnen in den Borsten der Bürste zurück, aber das schob Wawra auf ihre Tätigkeit im Wiegelabor. Viele Arbeiter im Atomwerk zeigten diese Krankheitssymptome; sie machten sich keine großen Gedanken darüber, verstrahlt waren sie alle, wenn auch nur leicht und nicht akut lebensgefährlich, aber die Lebenserwartung sank natürlich gegenüber einem Bauern, der in frischer Luft seine Felder bestellte. Doch auch das war eine Fehleinschätzung: Über dem gesamten Gebiet von Krasnojarsk-26 lag radioaktive Strahlung. In jedem Baum, jedem Strauch, jeder Blume hing sie, drang in den Boden ein, verseuchte Getreide, Gemüse, Kartoffeln, Pilze und das Vieh. Wer hier lebte, war automatisch belastet … vor der ›großen Erkenntnis‹ hatte sich darum niemand gekümmert. Die Mitarbeiter der Plutoniumproduktionsstätten bekamen ein doppeltes Gehalt, also hundert Prozent über der Norm, und damit war alles abgegolten. Das änderte sich erst nach Gorbatschows Reformen, aber da waren die Landstriche um Krasnojarsk bereits verseuchtes Gebiet.
Nikita Victorowitsch beobachtete Wawra mit Staunen und steigender Ungeduld. Er begriff einfach nicht, wieso der ins Essen oder in den Tee gemischte Plutoniumstaub bei ihr keine Wirkung zeigte. War es etwa auch nur Puderzucker, vielleicht sogar unbestrahlt, was Wawra mitgebracht hatte? Er hütete sich, das nachzuprüfen, aber er zitterte bei dem Gedanken an Sybins Reaktion, wenn er ihm melden würde, daß sie immer noch lebte! Den dann folgenden Befehl kannte er im voraus. Sybin würde sagen: »Erwürge oder ertränke sie, oder schneid ihr den Hals durch … gleichgültig, was du tust, nur tu es!«
»Wie fühlst du dich, Schatz?« fragte Nikita in diesen Tagen öfter. »Blaß siehst du aus.«
»Müde bin ich, Nikita, so müde. Ich weiß nicht, woher die Müdigkeit kommt. Ich könnte dauernd schlafen.«
»Hast du Schmerzen? Tut dir etwas weh? Sag es mir.«
»Nein, keine Schmerzen … nur manchmal fühle ich mich, als hätte ich keine Knochen mehr. Ich bin so schlapp.« Sie versuchte ein Lächeln und blinzelte ihm dabei zu. »Vielleicht ist es deine Schuld?«
»Meine … wieso, mein Schatz?«
»Du strengst mich zu sehr an.« Sie lachte kokett. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß ein Mann mich jede Nacht … beschäftigt. Und auch noch am Tag!« Dann war sie zu ihm gekommen, hatte ihn geküßt und in sein Ohr gehaucht: »Aber mach weiter so, mein Liebling … ich brauche es.«
In solchen Situationen kam sich Nikita Victorowitsch gemein und verachtenswert vor. Und jedesmal, wenn Wawra mit ihm schlief und ihr Steppenblut aufwallte, kam ihm der Gedanke, mit ihr aus Krasnojarsk zu fliehen, irgendwohin. Sibirien war unendlich groß, und man konnte überall leben, wenn man in die Hände spuckte und arbeitete und wenn die Liebe dem Menschen die Kraft schenkt, aus der Not ein neues Leben zu zaubern. Aber das war nur ein Gedanke, geboren in der Wärme von Wawras Körper … Suchanow hatte in Wahrheit Angst, daß – wohin sie auch fliehen würden – Sybins Jäger ihn entdeckten. Er hatte sein Netz über alle GUS-Staaten gespannt, ob in Norilsk oder Wladiwostok, ob an der Grenze zu Polen oder an der Grenze zu China – ihm entging nichts. Und mit Wawra in der Tiefe der Taiga zu leben, in völliger Einsamkeit zusammen mit Bären, Luchsen, Bibern und Rentieren, war gleichbedeutend mit einem verzögerten Selbstmord, denn für schwere körperliche Arbeit war Nikita nicht geschaffen. Er konnte sich nicht vorstellen, Bäume zu fällen und aus den Stämmen eine Blockhütte zu bauen oder aus Flußsteinen einen großen Ofen, auf dem man im Winter schlafen würde.
Das Telefon klingelte, und Suchanow zuckte zusammen, als Sybins Stimme aus dem Hörer tönte.
»Wann hast du Wawra begraben?« fragte er ohne Einleitung. Auf Suchanows Stirn perlte plötzlich der Schweiß.
»Sie lebt noch …«, stotterte er. »Igor Germanowitsch, ich …«
»Sie lebt?« dröhnte Sybins Stimme. »Ich denke, sie schluckt Plutoniumpulver?«
»Ständig. Vor allem im Tee!«
»Das gibt es nicht. Ein Millionstel Gramm genügt, um einen Menschen umzubringen!« Sybins Stimme wurde drohend. »Was machst du wirklich, Nikita Victorowitsch?!«
»Nach dem, was sie geschluckt hat, müßte sie schon zehnmal tot sein! Das würde für hundert Menschen reichen. Ich begreife es nicht.«
»Ich auch nicht!«
»Vielleicht ist sie immun gegen Plutonium?«
»Das gibt es nicht! Dagegen gibt es keine Immunität! Nikita, sie betrügt auch dich! Sie hat dir Puderzucker mitgebracht.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Prüf es nach!«
»Wie?«
»Bist du ein Idiot?« Suchanow hörte Sybin erregt atmen. »Hast du keine Nachbarn, die eine Katze halten oder einen Hund?«
»In meinem Haus wohnt eine Witwe, die einen grauen Kater hat.«
»Und den streichelst du und gibst ihm ein Schälchen Milch, was?«
»Es ist ein liebes Tier und das Herzblatt der Witwe.«
»Dann wirst du dem Kater ein bißchen Plutoniumstaub in die Milch rühren. Fällt er nicht um, haben wir den Beweis, daß dieses Aas von Wawra wieder Puderzucker mitgebracht hat. Dann häng sie auf!«
»Ich will es versuchen, Igor Germanowitsch. Und wenn die Katze stirbt …?«
»Dann ist Wawra ein Rätsel, mit dem ich mich selbst beschäftigen werde! Es gibt keinen Menschen, der Plutoniumstaub überlebt! Das ist bewiesen.«
»Ich berichte weiter.« Suchanow machte am Telefon eine Verbeugung. »Wann kommen Sie?«
»Das wird dir noch mitgeteilt.« Damit war das Gespräch beendet.
Suchanow atmete auf. Sybin hatte keinen eindeutigen Tötungsbefehl erteilt. Häng sie auf … das bewertete er als eine im Gespräch herausgerutschte Redewendung. Er hatte nicht klar gesagt: Du bringst sie heute noch um! Suchanow hätte nicht gewußt, was er dann getan hätte. Aber die Sache mit der Katze war eine gute Idee, die Wawras Tod um einige Tage hinauszögerte, falls das Plutonium nicht doch noch Wirkung zeigte.
Am Abend lockte Nikita den zutraulichen Kater mit einem Stückchen Wurst und einem Schälchen Milch in den Keller. In die Milch hatte er die feuchte Messerspitze getaucht, an der nur wenig Plutoniumstaub haftete, allerdings genug, um nach den Berechnungen der Experten tausend Menschen innerhalb von drei bis vier Tagen zu töten. Auch wenn man sagt, Katzen seien zäh … innerhalb von drei Tagen würde auch sie Blut spucken und ihr Inneres zersetzt sein.
»Mein Katerchen«, lockte Suchanow, als sich die Katze liebevoll schnurrend an seinen Hosenbeinen rieb, »verzeih mir. Aber es geht um Wawra, und Wawra steht meinem Herzen näher als du, mein liebes Tierchen, das mußt du einsehen, mein grauer Schnurrer. Ein Mensch ist nun mal wertvoller als eine Katze, und außerdem dienst du der Wissenschaft. Denk an die tapfere Hündin Laika, die mit dem ersten Satelliten 1957 ins Weltall geschossen wurde. Du wirst nicht so berühmt werden wie Laika, aber ich werde immer an dich denken.«
Er streichelte den Kopf des Katers, ließ die Wurstscheibe in die verseuchte Milch fallen und stellte die Schale auf den Kellerboden. Dann ging er schnell weg; er wollte und konnte nicht mitansehen, wie die Katze die Milch schleckte und die Wurst fraß.
Zum Glück hatte Wawra heute wieder Nachtdienst, und Suchanow war allein. Er blickte auf die Uhr, setzte sich vor den Fernseher, sah sich einen Film über Iwan den Schrecklichen an und dachte: Nicht anders ist Sybin, nur moderner. Er tötet nicht selbst wie Iwan, er nagelt keine Hüte auf dem Kopf fest, wenn man sie nicht schnell genug zieht … er läßt töten.
Als der Film zu Ende war, blickte Suchanow auf seine Uhr. Fast zwei Stunden waren vergangen. Er stand auf und ging in den Keller. Irgend etwas mußte geschehen sein … wer den Tod von tausend Menschen gefressen hat, kann nicht mehr herumspringen.
Die Milchschale war leer, die Wurst gegessen, der Kater verschwunden.
Suchanow begann, alle Kellerräume zu durchsuchen. Man sagt, daß Tiere sich zum Sterben in eine Ecke zurückziehen, sich verkriechen, die Einsamkeit suchen … aber der Keller war kein Sterbelager geworden. Die Katze war weg!
Er nahm die Schale an sich, ging wieder hinauf in seine Wohnung, spülte die Schale in kochendem Wasser aus und stellte sie in den Küchenschrank zurück. Er ahnte nicht, daß kochendes Wasser die Strahlung von Plutonium nicht auflöst.
Am nächsten Morgen – Wawra schlief noch – klopfte es an der Tür von Suchanows Wohnung. Er öffnete und blickte in das tränennasse Gesicht seiner Nachbarin, der zweiundsiebzigjährigen Witwe.
Sie stürzte in die Wohnung, streckte beide Arme in die Höhe und schrie mit heiserer Greisenstimme: »Er ist tot! Er rührt sich nicht! Blut ist aus seinem Schnäuzchen geflossen. Vor meinem Bett liegt er, als habe er um Hilfe gefleht. Aber ich habe geschlafen. Nikita Victorowitsch, er lebt nicht mehr. Mein Glück, meine Liebe, mein einziger Freund – alles ist dahin! Warum lebe ich noch?«
»Ihre Katze ist tot?« fragte Suchanow scheinheilig. Er hatte große Mühe, seiner Stimme einen traurigen Klang zu geben, denn ihm war zum Jubeln zumute. »Wie kann so etwas passieren?«
»Ich weiß es nicht. Gestern sprang er noch herum, lag auf meinem Schoß, leckte mir die Hand. Und heute nacht …« Sie heulte wieder, lehnte sich an die Wand, und Suchanow holte schnell einen Stuhl aus dem Zimmer, damit sie nicht umfiel. Sie setzte sich, drückte ihre Schürze an die Augen und brach in ein wimmerndes Weinen aus. »Er muß sich irgendwo verletzt haben. Das Blut im Maul … wo kommt es her? Hat ihn ein Auto gestreift? Oh, wie ich Autos hasse! Neun Jahre hat er gelebt, mein Kleiner.«
»Bringen Sie ihn zu einem Tierarzt, Eftimia Olegowna«, schlug Suchanow vor. »Nur er kann sagen, woran Ihr Liebling gestorben ist.«
»Kann er ihn mir wieder zum Leben erwecken? Nein! Heimlich werde ich ihn am Rande des Friedhofs vergraben … er war treuer als ein Mensch! O Gott, o Gott, was tust du mir an?«
»Wo liegt er jetzt?« fragte Suchanow. »Ich helfe Ihnen beim Begraben.«
»Er ruht auf einem Handtuch in meinem Bett. Wie oft hat er an meinen Füßen geschlafen. Vor allem im Winter, da wärmte er mich.« Sie holte tief Luft und rief: »Ich habe ihn noch einmal geküßt, mein Katerchen.«
Suchanow schloß für einen Moment die Augen. Sie braucht sich nicht mehr das Leben zu nehmen – sie hat es schon getan! Sie hat einen mit Plutonium verseuchten Leichnam geküßt! Eftimia Olegowna, jetzt kann dir niemand mehr helfen.
Aber Wawra lebte noch … wie kann man dieses Wunder erklären?
Das laute Schreien der Witwe hatte nun auch Wawra geweckt. In einem dünnen Morgenmantel, der sich um ihren nackten Körper schmiegte, kam sie in den Flur gestürzt.
»Was ist hier los?« rief sie und schrak zusammen, als die Witwe bei ihrem Anblick erneut in kreischendes Heulen ausbrach. »Nikita, was …«
»Der Kater ist tot!« unterbrach sie Suchanow. »Ganz plötzlich. Blutet aus dem Maul …«
»O Gott!« rief nun auch Wawra, und echtes Entsetzen klang in ihrem Aufschrei. »Wo war die Katze?«
»Wer weiß das?« kam Nikita der Witwe zuvor. »Der Kater lief immer frei herum. Ich glaube, man hat ihn angefahren, und er konnte sich noch bis nach Hause schleppen und starb dann vor Eftimias Bett. Tragisch.«
»Komm einmal mit, Nikita.« Wawra ging zurück ins Schlafzimmer, und Suchanow folgte ihr. Sie setzte sich auf die Bettkante und zog den Morgenmantel enger um ihren Körper, als fröre sie. Ihr blasses Gesicht war noch bleicher geworden.
»Es war kein Autounfall«, sagte Wawra leise. »Nikita, ich habe schon einige Katzen auf ähnliche Art sterben sehen. Verwilderte Katzen, die sich auf dem Forschungsgelände herumgetrieben und Abfälle gefressen hatten. Die Wissenschaftler haben sie seziert, Ergebnis: Sie waren hochgradig verstrahlt. Ihre Radioaktivität war sensationell. Eftimias Kater muß verseuchte Abfälle gefressen haben. Er muß so schnell wie möglich verbrannt werden!«
»Dagegen wird sich Eftimia wehren wie eine Löwin, der man ihr Junges wegnehmen will. Wir wollen die Katze heute noch vergraben, am Rande des Friedhofs.«
»Verbrennen ist sicherer.«
»Wenn es stimmt, was du sagst. Atomverstrahlt … ich kann's nicht glauben. Dann wäret ihr ja alle bei eurer Arbeit gefährdet.«
»Das weiß ich.« Und jetzt löste Wawra das Rätsel, das ihn und Sybin so unerklärbar bedrängte. »Jeden Tag lasse ich mich nach der Arbeit kontrollieren. Und wenn der Geigerzähler nur ein wenig ausschlägt, gehe ich durch die Entgiftungsschleuse. Da wird alles weggespült.«
»Jeden Tag gehst du da durch?« fragte Suchanow.
»Nur wenn ich radioaktiv bin. In den letzten Tagen ist die Strahlung stärker geworden. Keiner weiß, wodurch. Irgendwo ist eine undichte Stelle … wir suchen sie verzweifelt, aber wir haben sie noch nicht gefunden. Merkwürdig ist, daß ich die einzige bin, die solch hohe Werte hat. Aber mein Arbeitsplatz an der Waage ist in Ordnung.«
»Hilft die Entseuchungsanlage auch, wenn du Plutoniumstaub eingeatmet hast?«
»Wo sollte ich Staub einatmen?«
»Ist das nicht möglich?«
»Ausgeschlossen. Beim Wiegen und Abfüllen ist alles luftdicht abgeschlossen. Da dringt nichts nach draußen.« Wawra schüttelte den Kopf. »Außerdem tragen wir Atemschutzmasken.«
»Aber Eftimias Kater …«
»Schatz, wir essen keine Abfälle.« Sie erhob sich von der Bettkante, küßte ihn auf die Stirn und verließ das Schlafzimmer. Suchanow blieb in großer Verwirrung zurück. Als er sich beruhigt hatte, ging er wieder hinaus in den Flur. Die Witwe hockte noch immer weinend auf ihrem Stuhl und schien kein Wort von dem zu verstehen, was Wawra ihr sagte. Hilflos drehte sich Wawra zu Nikita herum.
»Sie begreift es nicht«, sagte sie.
»Wie kann eine alte Frau das auch begreifen? Der Kater ist tot, nur das versteht sie. Laß sie in Ruhe, Wawra. Bring sie in ihre Wohnung. Nein, bleib hier … sie hat ihren toten Liebling in ihr Bett gelegt …«
»Was hat sie?« Wawra zuckte hoch, ihre Augen weiteten sich voller Entsetzen. »Das Bett, Eftimia, die ganze Wohnung muß entseucht werden. Ich rufe die Rettungswache des Atomkraftwerkes an!«
»Tu es, Wawra …«
Keine zwanzig Minuten später rasten zwei Seuchenwagen durch die Stadt, hielten vor dem Haus, und vier Männer in Schutzanzügen stürmten die Treppe hinauf. Sie sahen wie Mondmenschen aus, ergriffen die schreiende und sich wehrende Eftimia und schleppten sie weg. Auch Suchanow und Wawra mußten das Haus verlassen und kamen in eine Zelle des großen Spezialwagens. Zwei Männer schoben den toten Kater in einen Plastiksack und trugen ihn hinaus. Das Haus wurde weiträumig abgesperrt. Keiner durfte die Straße benutzen, sogar der Verkehr wurde umgeleitet. Wie ausgestorben war alles, als lägen in jedem Haus verstrahlte Leichen.
Welch ein Aufwand!
Suchanow, der in der Isolierzelle Wawra gegenübersaß, starrte sie fasziniert an.
Und sie lebte noch immer!
Doch eines war jetzt bewiesen: Sie hatte keinen Puderzucker geliefert.
Igor Germanowitsch Sybin … dieses Rätsel wird uns noch zu schaffen machen:
Wo kommt der Puderzucker her?
Natalja Petrowna flog nach Paris.
Um standesgemäß auftreten zu können, bezog sie eine Juniorsuite im Hotel Ritz, die Sybin per Fax bestellt hatte, gleichzeitig mit dem Auftrag an eine Schweizer Bank, die Miete für vier Wochen an das Ritz zu überweisen. In der Tasche hatte Natalja einige tausend Dollar mitgenommen und eine goldene Kreditkarte.
»Kauf dir, was dir gefällt«, hatte Sybin noch einmal zu ihr gesagt. »Kleider, Schuhe, Schmuck … wir machen nicht Konkurs dadurch.« Er hatte schallend gelacht und Natalja an sich gedrückt. »Aber ich verlange von dir eine Gegenleistung.«
»Und die wäre?«
»Komm mir nicht zurück ohne Mikrofotos von den Akten des Sonderkommandos der Sûreté. Das ist deine einzige Aufgabe! Und denk immer daran, mein Schweinchen, wenn du mit den Männern in die Kissen steigst: Nie ohne Schutz! Importiere kein Aids oder sonstige Krankheiten aus Frankreich!«
»Ich werde dich, wenn ich zurückkomme, mit allem infizieren, was möglich ist!« antwortete sie wütend. »Für was hältst du mich eigentlich?«
»Müssen wir darüber noch diskutieren?« Sybin grinste breit und beleidigend.
»Und wenn ich in Paris bleibe? Wenn ich mich dort verliebe?«
»Du kannst nicht lieben, du kannst nur vögeln.«
»Vielleicht entdecke ich mein Herz für einen Mann!« schrie sie Sybin an. »Was dann?«
»Dann stell neben dein Brautbett einen Sarg.« Sybin sagte es völlig ruhig, nur seine Augen waren hart und gnadenlos. Und Natalja wußte, daß diese Drohung Wahrheit werden würde.
»Du wirst mich nicht finden!«
»Ich finde dich. Das weißt du.«
»Bin ich denn dein Eigentum?« schrie sie. Sybin nickte.
»Ja. Keiner kann dich mir wegnehmen. Solange ich lebe, gehörst du zu mir.«
»Nur, weil du mich ernährst, weil du mir diese Datscha schenkst, mich mit Kleidern und Schmuck behängst?«
»Es ist etwas anderes. Denk darüber nach.«
»Ich liebe dich nicht, Igor Germanowitsch. Ich werde dich niemals lieben!«
»Man sollte das Wort ›niemals‹ aus der Sprache streichen. Es gibt kein ›niemals‹. Dagegen ist ›Geduld‹ ein gutes Wort.«
Im Ritz fiel sofort ihre aparte Schönheit auf, als Natalja Petrowna die Halle betrat und an die Rezeption ging. Der Taxifahrer schleppte sechs große Koffer einer bekannten Luxusmarke herein, und zwei Pagen rannten sofort zu ihm hin.
Der Chefportier des Ritz warf einen kurzen Blick auf die Reservierung und wußte sofort, wer in das Hotel hereingeschwebt war. Eine der neuen russischen Millionärinnen, die jetzt Paris und die Côte d'Azur als Statussymbol entdeckt hatten und mit Geld um sich warfen, als sei Rußland eine einzige Goldgrube. Das hatte man zu Anfang des Jahrhunderts schon einmal erlebt, als russische Fürsten und Großfürsten in der Spielbank von Monte Carlo Summen verspielten, von denen ein normales Dorf in der Normandie einen Monat lang hätte leben können. Die neuen GUS-Millionäre spielten zwar nicht – das war ihnen noch zu dekadent –, aber sie kauften Schmuck und Modellkleider, bewohnten die teuersten Suiten der Hotels und holten beim Bezahlen dicke Dollarbündel aus der Jackentasche. Was kostet die Welt, Genossen? Und wie ihre verhaßten Vorgänger, die Großfürsten, bestellten nun auch sie die Juweliere und Modeschöpfer in ihre Suiten und wählten nur das Beste aus. Wie man als Kommunist an soviel Geld kommt? Man muß clever sein, die richtige Fährte aufnehmen und die nötigen Verbindungen knüpfen und pflegen und bei der Privatisierung der Betriebe und Geschäfte der erste sein … dann regnet es Goldstücke vom Himmel wie im deutschen Märchen von der Goldmarie. Wir machen Märchen wahr … und bitte keinen Neid, Genossen! Lenin ist schon lange tot, und Marx war ein Theoretiker. Von Theorie aber kann man nicht leben … die Zeiten ändern sich.
Natalja Petrowna bezog eine der schönsten Suiten des Ritz. Ein großer Blumenstrauß stand auf dem Tisch im Wohnzimmer, daneben ein silberner Champagnerkübel mit einer Flasche Dom Pérignon, ein großer Früchtekorb, zwei Gedecke und zwei Sektgläser.
Zwei? Glaubte man in Paris, daß eine alleinreisende Frau sehr bald ein zweites Gedeck brauchte? Sind Hotelmanager Hellseher?
Natalja lachte, zog sich aus, duschte und legte sich – wie üblich nackt – in das breite Bett, über dem aus rosafarbener Seide ein Himmel gespannt war. Müde von dem Flug schlief sie sehr schnell ein und träumte: Sie lag in den Armen eines Mannes, dessen Gesicht sie nicht sah, und sagte: »Ich liebe dich!« Es war merkwürdig – solche Träume hatte sie öfter. Nur im Traum konnte sie einen Mann lieben und in seiner Umarmung glücklich sein. Nur im Traum …
Am Abend, noch im Bett liegend, griff sie zum Telefon und rief Madame de Marchandais an. Eine Mädchenstimme meldete sich.
»Madame, s'il vous plaît«, sagte Natalja. Sie hatte den Satz aus einem französischen Sprachführer gelernt. Es knackte ein paarmal in der Leitung, dann ertönte die Stimme von Madame de Marchandais. Was sie fragte, verstand Natalja nicht, und so antwortete sie wiederum mit einer Frage:
»Sprechen Sie Deutsch, Madame?«
»Ja, ein wenig …«
»Ich bin Natalja Petrowna Victorowa aus Moskau. Ich bin eben in Paris angekommen und soll Ihnen Grüße von Herrn Dr. Sendlinger übermitteln.«
»Oh, Dr. Sendlinger. Sie kennen Monsieur Sendlinger?«
»Er ist ein guter Freund. Er sagte mir: Wenn du in Paris bist, besuche unbedingt den ›Roten Salon‹ von Madame de Marchandais. Mit herzlichen Grüßen von mir. Und seine Freunde Anwar Awjilah und Jean Ducoux soll ich auch grüßen.«
Diese drei Namen genügten. Madame stellte keine Fragen, sondern sagte mit großer Freundlichkeit: »Ich erwarte Sie, Madame … Wie war doch Ihr Name?«
»Natalja Petrowna.«
»Ihr Russen habt schöne, wohlklingende Namen.«
»Nicht so voller Musik wie die der Franzosen.«
»Wann werden Sie kommen?«
»Wenn es Ihnen recht ist – morgen abend?«
»Sie sind jederzeit willkommen, Natalja Petrowna.«
Das hätten wir, dachte Natalja und fuhr mit dem Lift hinunter in den prunkvollen Speiseraum. Dort wies der Chef de Restaurant ihr einen Tisch zu, von dem aus sie den ganzen Raum überblicken konnte und auch von allen Gästen, die eintraten, gesehen wurde. Die meisten Männer reagierten auf sie … Nataljas Schönheit in dem engen, auf Figur gearbeiteten, rot-weiß-gemusterten Kostüm von Laroche ließ die Augen der Männer aufleuchten. Und Natalja bemerkte dies natürlich. Ihr Kerle seid alle gleich, dachte sie wütend. Ein exotisches Gesicht, ein hoher Busen und lange Beine, das zuckt euch durchs Herz. Sie trug eine abwehrende Miene zur Schau und widmete sich ihrem Essen: gebratenem Täubchen mit Rosmarinschaum und Artischockenböden und Prinzessinnenkartoffeln. Als Nachtisch einen Cassiseisbecher mit Schokoladenstreusel und Sahne. Zum Abschluß gönnte sie sich einen Cointreau.
Paris bei Nacht.
Was hatte sie nicht alles darüber gehört und gelesen! Die Basilika Sacré-Cœur, das Panthéon, Notre-Dame, die Oper, der Arc de Triomphe, der Eiffelturm, der Louvre, das Quartier Latin, die Nachtlokale auf dem Montmartre, die Place de la Concorde – all das muß man gesehen haben, um zu verstehen, warum Paris die Herzen öffnet.
Natalja bestellte ein Taxi und ließ sich durch die Stadt fahren. Der Chefportier, der fließend deutsch sprach, übersetzte Nataljas Wunsch.
»Rundherum!« sagte er zu dem Taxifahrer.
Es regnete. Die Lichtreklamen spiegelten sich in dem glänzenden Asphalt wider, die Boulevards waren fast menschenleer, die Pracht der Stadt verschwamm hinter dem Vorhang aus Regen. Über zwei Stunden kutschierte das Taxi Natalja durch die Regennacht … wohl glänzten alle Sehenswürdigkeiten im Licht der Lampen und Scheinwerfer, aber Paris im Regen ist trotz aller Schönheit deprimierend wie jede andere Großstadt auch.
Natalja war enttäuscht, als sie wieder zum Hotel Ritz zurückkehrte. Auch Paris kann das Gefühl von Einsamkeit wecken, wenn der Himmel weint. Paris muß man im Sonnenschein erleben – dann spricht jeder Stein zu dir und erzählt dir von der Liebe.
Sie ging nicht in die Bar, sondern fuhr hinauf in ihre Suite und öffnete die Flasche Dom Pérignon. Der Champagner war noch gut gekühlt, schmeckte vorzüglich.
Morgen abend bei Madame de Marchandais.
Wie sieht dieser Ducoux aus? Wird er auf ihre Verführungskünste hereinfallen und ihr so hörig werden, daß er die Geheimakten für sie fotografiert?
Natalja trank die halbe Flasche leer, blickte auf die Barockuhr, die auf einem Marmorpaneel stand, und entschloß sich trotz der späten Stunde, doch noch Sybin anzurufen. Vielleicht störe ich ihn gerade bei einem Sextänzchen im Bett, dachte sie boshaft. Wer ihn dabei unterbricht, den überschüttet er mit gemeinen Worten.
Aber Sybin war – das wunderte sie – allein und war sogar erfreut, ihre Stimme zu hören.
»Endlich rufst du an!« sagte er. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich dachte, du meldest dich sofort nach deiner Ankunft in Paris.«
»Ich habe mir Paris angesehen.«
»Eine wunderschöne Stadt, nicht wahr?«
»Es regnet, als seien Wolken zerborsten, da ist nichts mehr schön. Morgen abend bin ich bei Madame de Marchandais.«
»Gratulation!«
»Die Namen, die du mir gegeben hast, haben alle Türen geöffnet.«
»Und jetzt öffne dich, mein Schweinchen«, sagte Sybin fröhlich.
»Das weiß ich noch nicht.« Natalja sog vor Wut scharf die Luft ein. »Du verkaufst mich, wo du willst! Was bin ich eigentlich?«
»Das, was du bist! Wir sind ein Team … ich bin das Gehirn, du bist der Körper. Damit ist der Erfolg vorprogrammiert. Enttäusche mich nicht.«
Wütend legte Natalja auf.
Wie ich ihn hasse, dachte sie, und trotzdem muß ich ihm dankbar sein. Was wäre ich heute ohne ihn? Eine tanzende Hure auf der Bühne einer Stripteasebar. Von dort hat er mich rausgeholt, und er hat meinen Eltern eine große Wohnung besorgt und meinem Vater eine Stelle in einer seiner Firmen – als Elektriker. Jetzt haben sie keine Sorgen mehr, und Mamutschka braucht nicht mehr auf dem schwarzen Markt zu stehen und Gegenstände zu verkaufen, die andere auf den Müll geworfen haben. In den schweren Zeiten war Väterchen jeden Morgen in aller Frühe zu den Müllhalden gegangen und hatte die neuen Abfallberge nach etwas Brauchbarem durchwühlt. Das sollte man nicht vergessen. Ihren Hurenlohn hatte er nur mit Mißfallen angenommen … Petr Victorow hatte nie seinen Stolz verloren und grämte sich, wenn Natalja ihm die Scheinchen auf den Tisch legte. Sybin war der Retter, und dafür gebührte ihm Dank.
Am nächsten Abend ließ sich Natalja zu Madame de Marchandais am Bois-de-Boulogne bringen. Die imposante Villa mit den Säulen beeindruckte sie. Und als sie die Eingangshalle betrat und das halbnackte Garderobenmädchen sah, wußte sie plötzlich, daß ihr ein großes Abenteuer bevorstand.
Madame de Marchandais empfing sie mit einem Wangenkuß an der Tür zum ›Roten Salon‹. Sie starrte Natalja begeistert an und musterte sie, als sei sie ein Modell.
»Wie wunderbar schön und jung Sie sind, Natalja«, sagte sie. »Sie werden eine Bereicherung meines Zirkels sein. Die Herren werden Sie umschwärmen. Wie lange bleiben Sie in Paris?«
»Das weiß ich noch nicht.« Madame weckte Nataljas Interesse. Sie war eine imposante Persönlichkeit. Niemand außerhalb der Villa hätte geglaubt, daß sie die Herrin des exklusivsten Edelbordells von Paris war. »Ich lebe zeitlos.«
»Wer kann sich das noch leisten?! Kommen Sie, Sie werden einige der wichtigsten Männer von Paris, ja von Frankreich kennenlernen.«
Im ›Roten Salon‹ war um diese Zeit das gesellschaftliche Leben bereits in vollem Gange. Die Damen und Herren tranken ihren Champagner, die barbusigen Mädchen servierten Gebäck oder Wein, an dem langen Buffet füllte man die Teller mit auserlesenen Köstlichkeiten, von Hummerpastete und Kaviar bis zu Fasanenbrust und Loup de Mer in Aspik.
Madame führte Natalja an einen Tisch, an dem Ducoux und Awjilah gerade über den Terrorismus debattierten und der Iraner in diesem Moment sagte, Terrorismus sei menschenverachtend und man müßte eine internationale Antiterrortruppe zusammenstellen. Beide Herren schnellten sofort von ihren Sesseln hoch, als sie Natalja sahen. Ihre Blicke fraßen sich in Nataljas Körper.
»Darf ich euch Madame Natalja Petrowna vorstellen?« sagte Madame de Marchandais. »Gestern aus Moskau gekommen. Sie spricht nur deutsch.« Dann nannte sie Namen, die Natalja bereits kannte, man küßte ihr die Hand, ein Mädchen brachte Champagner, und Natalja bat um eine Mischung mit Orangensaft, sehr brav und mit einem unschuldigen Lächeln.
»Ich soll Sie von Herrn Dr. Sendlinger aus Berlin grüßen«, sagte sie und setzte sich. Dabei verschob sich der Rock ihres Cocktailkleides und gab ihre langen, schlanken Beine frei – ein Anblick, der jeden Widerstand sinnlos machte.
»Oh, Monsieur le Docteur Sendlinger!« rief Ducoux begeistert. »Er hat uns nicht vergessen! Er schickt uns die schönste Blume Rußlands!« Sein Deutsch war holprig, aber gut verständlich, und Natalja sprach es auch nicht besser. »Sie kennen Dr. Sendlinger gut?«
»Er ist ein Freund meines Freundes.« Nataljas Antwort war wohlüberlegt … sie gab damit zu verstehen, daß sie nicht verheiratet war.
Awjilah schlug die Beine übereinander. Er sprach noch schlechter deutsch, aber seine Augen sprachen um so deutlicher. Wer ist sie, fragte er sich. Natalja, schön und gut, aber was führt sie nach Paris? Eine aus der Clique der neureichen Russen, aber jeder dieser Typen ist mit Vorsicht zu genießen. Wir wissen, wie sie ihren Reichtum zusammengescharrt haben. Gerade ich als iranischer Handelsattaché kenne ihre Methoden. Wir haben ihre Skrupellosigkeit oft genug zu spüren bekommen und schlucken müssen. Die neuen Herren Rußlands tauchen aus der Dunkelheit auf und entfachen Brände, an denen sie sich wärmen. Gehört dieses Zauberwesen auch dazu? Ist sie die Vorhut einer russischen Invasion? Werde ich von ihr erfahren, was ihre Genossen in Frankreich planen? Aber was hat Dr. Sendlinger damit zu tun?
Diese letzte Frage löste bei ihm einen Gedankenblitz aus.
Atomschmuggel. Beschaffung von Plutonium 239. Das Material kann nur aus Rußland stammen, nur aus Rußland! Sendlinger hatte so etwas angedeutet, und wir Iraner wissen davon, seit der sowjetische Staat zusammengebrochen ist. In Sibirien lagern hundertzwanzig Tonnen hochbrisantes Uran und Plutonium. Soll diese Natalja Petrowna Kontakte aufbauen? Meine geheimnisvolle Schöne, an Anwar kommst du nicht vorbei. In Paris bin nur ich deine Bezugsperson. Nur ich!
Er schwieg und wartete ab, daß die Wölfin sich ihm näherte.
Ducoux dagegen, ahnungslos über die Zusammenhänge, die Awjilah durchschaute, bemühte sich, Natalja sein schlechtes Deutsch zu erklären.
»Mein Vater hat mich gezwungen, Deutsch zu lernen«, hörte er Ducoux sagen. »Er selbst hat es mir beigebracht. Von 1940 bis 1945 war er Kriegsgefangener der Deutschen gewesen und hatte in einer Kohlengrube im Ruhrgebiet gearbeitet. Fünf Jahre schuften für den Feind, für seine Rüstungsindustrie. Welch eine Entehrung für einen Franzosen! Und als er zurückkehrte und ich in die Schule ging, hat er zu mir gesagt: ›Jetzt bringe ich dir Deutsch bei, damit du lernst, jedem Deutschen zu mißtrauen.‹ Diesen Satz aus meiner Kindheit habe ich behalten. Aber alles hat sich ja verändert, in Frankreich wie auch bei Ihnen in Rußland. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen, wie nach einer kosmetischen Operation … nur frage ich mich oft: Ist es ein schöneres Gesicht geworden? Warten wir es ab. Die Prioritäten haben sich nur verlagert … Europa wird sich einigen, aber dafür wächst die Gefahr in den Drittweltstaaten.« Er blickte zu Awjilah. »Anwar, verzeih mir, aber eure islamischen Fundamentalisten und Fanatiker sind eine Bedrohung. Wir werden das noch zu spüren kriegen.«
»Mag sein …«, erwiderte Awjilah und lächelte leicht ironisch. »Nationale und religiöse Veränderungen hat es schon immer gegeben. Und es gibt immer wieder wirtschaftliche Verbindungen, die uns helfen.« Dabei sah er Natalja an, aber sie wich seinem Blick aus und trank einen Schluck Champagner. Eines der halbnackten Mädchen servierte Sandwiches. Natalja nahm eines mit Lachs und Kaviargarnitur.
»Der Atomhandel ist eine Teufelei!« rief Ducoux und geriet langsam in Fahrt. »Aber wir werden ihn in den Griff bekommen! Die Zusammenarbeit mit den anderen Polizeidienststellen in ganz Europa wird immer mehr ausgebaut, und unsere V-Männer sickern immer mehr in die russische Mafia ein. Der internationale Zusammenschluß ist die beste Waffe gegen die Dealer.«
Awjilah nickte wortlos. Wenn du wüßtest, dachte er. Wenn du eine Ahnung hättest, was alles über Marseille in die dritte Welt geliefert wird. Keine spektakulären Aktionen, sondern ein ameisenartiger Transport läuft hin und her. Aus Grammen werden Kilo, aus Kilo eine Bombe. Und diese Ameisen seht ihr nicht. Auch Dr. Sendlingers Lieferungen werden nicht als große Masse kommen, sondern in einem unauffälligen Bleihütchen. Wer ein Kilo Plutonium en bloc verschickt, muß ein Idiot sein! Mein lieber Ducoux, sonne dich in deinem Irrglauben … vor dir sitzt die schönste Frau, die ich je gesehen habe, aber was man nicht sieht, sind die Kilo von Plutonium hinter ihrem Rücken. Quatsch nur weiter so … ich würde jetzt nur zu gerne wissen, was die herrliche Natalja Petrowna denkt.
Während Ducoux mit Awjilah – jetzt auf französisch – über eine internationale Polizeikooperation stritt, blickte sich Natalja im ›Roten Salon‹ um. Sie beobachtete zwei Herren, die mit zwei Damen über die breite, mit rotem Teppich ausgelegte Freitreppe in die obere Etage hinaufgingen und sich fröhlich unterhielten – bestimmt zwei Ehepaare beim Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. In wenigen Minuten würden Maßanzüge und Cocktailkleider auf dem Boden liegen. Die alte Masche: Eine andere Frau war immer interessanter als die eigene.
Madame de Marchandais, die sah, daß Natalja im Augenblick einer politischen Diskussion weichen mußte, winkte ihr zu. Natalja erhob sich und ging zu ihr hinüber.
»Kommen Sie«, sagte Madame und faßte Natalja unter, »ich möchte mit Ihnen allein sprechen.«
Sie gingen in ein Nebenzimmer, in dem ein Roulettetisch stand, der heute nicht besetzt war. Madame zeigte auf eine kleine Sesselgruppe an der seidenbespannten Wand und nahm Platz. Natalja setzte sich ihr gegenüber hin.
»Mein Kind«, begann Madame das Gespräch, »ich darf Sie so nennen, denn ich könnte Ihre Mutter sein. Wir wollen allein miteinander sprechen.«
»Bitte –«, antwortete Natalja verblüfft.
»Sofort, als Sie eintraten, wußte ich, wo ich Sie einordnen konnte. Sie haben viel Geld, ein reicher Mann hält Sie aus, und Ihre steile Karriere verdanken Sie Ihren Fähigkeiten im Bett …«
»Madame!« Natalja spielte die Empörte. Sie hat eine verdammt gute Menschenkenntnis, dachte sie, sie hat mich sofort durchschaut. Wie konnte sie das? Haben wir Nutten einen besonderen Geruch? »Wenn ich gewußt hätte, wie Sie über mich denken, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen!«
»Sie wären, Natalja. Bitte, machen wir uns doch nichts vor. Ich habe einen Blick für Damen – und sonstige Frauen.«
»Sind die Damen, die jetzt oben in den Zimmern liegen, keine Huren? Man mag das ein geselliges Zusammensein nennen, ein Gesellschaftsspielchen … aber es ist doch nichts anderes als Sexturnen.«
»Es freut mich, daß ich so mit Ihnen reden kann und Ihre Worte so deutlich sind. Haben Sie einen Termin, wann Sie nach Moskau zurückfliegen werden?«
»Nein. Ich bin in Paris, um mich zu amüsieren.«
»Und da hat Ihnen Dr. Sendlinger unseren Zirkel empfohlen? Sind Sie Sendlingers Geliebte?«
»Nein.«
»Waren Sie es?«
»Ich kann ihn nicht ausstehen.«
»Warum? Er ist ein charmanter Mann. Und sehr klug!« Madame winkte ab. »Aber das ist Geschmackssache. Sie wollen sich amüsieren … dann sind Sie in meinem Haus ein gerngesehener Gast. Nur eines ist zu beachten: In unserem Zirkel bezahlt man nicht. Man kommt zusammen, um sich zu vergnügen. Nur wenn einer der Herren eines meiner Mädchen engagiert, ist das nicht gratis.«
»Ich verstehe.« Natalja zeigte noch immer, daß sie beleidigt war. Sie verhielt sich sehr reserviert. »Ich bin nicht zum Geldverdienen in Paris.«
»Wo wohnen Sie, Natalja?«
»Im Ritz.«
»Viel zu teuer! Sparen Sie Ihr Geld. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wohnen Sie bei mir. Ich habe oben ein prächtiges Zimmer, das Sie beziehen können. Was halten Sie davon?«
»Was muß ich dafür tun?«
»Kindchen, Sie mißverstehen mich!«
»Sie laden mich nicht aus purer Uneigennützigkeit ein, Madame.«
»Aber so ist es, Natalja. Ich mag Sie …«
»Ich bin nicht lesbisch.«
Du auch? wunderte sich Natalja. Das exklusivste Bordell von Paris, geleitet von einer Lesbe? Man lernt nie aus. Madame de Marchandais schüttelte den Kopf.
»Es ist gut, daß du eine so freie Art zu sprechen hast, Natalja«, sagte sie und duzte sie jetzt. »Ich habe die Männer geliebt wie ein Sammler, der Münzen sammelt. Aber im Alter wird man weiser. Du bist noch so jung, und ich sage dir: Genieße das Leben! Du hast niemanden zu fragen, du bist frei …«
»Ich bin nicht frei. Ich bin eine Sklavin.«
»Ein Mann sorgt für dich, ist es so? Er hat das Geld, und du mußt gehorchen.«
»So kann man es nennen, Madame. Igor Germanowitsch bestimmt mein Leben.«
»Ich weiß nicht, wer dieser Igor ist … aber mach dich frei von ihm. Bleibe in Paris, hier bei mir als meine junge Freundin. Wirf die Vergangenheit auf den Müll. Sei eine Frau, die ihr Leben selbst bestimmt. Liebe das Leben, und wenn einmal der richtige Mann kommt …«
»Es wird ihn nie geben, Madame. Mein Körper ist nicht meine Seele … ich hasse die Männer.«
»Weil du für sie nur Körper bist. Das wird sich ändern.«
»Nie! Ich habe in meiner Jugend zuviel erlebt, um an Wunder zu glauben.«
»Die Liebe ist ein Wunder. Und du wirst es einmal erleben.«
»Lassen Sie uns nicht weiter darüber reden, Madame«, sagte Natalja. Ihre Stimme klang abweisend. »Ich weiß, daß man mich nicht mehr ändern kann.«
Sie gingen zurück in den ›Roten Salon‹, und Madame hatte den Arm um Nataljas Schultern gelegt, als sei sie ein Kind, das geführt und getröstet werden mußte. Um einen keuschen, sittsamen Eindruck zu machen, ließ sich Natalja frühzeitig zurück zum Ritz bringen, genau zu dem Zeitpunkt, als die angeheiterten Herren unter den Damen ihre Nachtunterhaltung auswählten.
Am nächsten Tag zog Natalja in die Villa von Madame de Marchandais um. Sie bekam ein prunkvolles Zimmer in der ersten Etage, ausgelegt mit dicken Perserteppichen, Gobelins, Brokatsesseln und einem riesigen Bett mit einem reichverzierten goldenen Baldachin und ringsherum Spitzengardinen … eine kleine Insel der Lust. Nebenan befand sich ein Badezimmer aus rosafarbenem Marmor.
»Es gefällt mir«, sagte Natalja, als sei sie in Schlössern aufgewachsen. »Was soll ich tun?«
»Das, wozu Sie nach Paris gekommen sind.« Madame schüttelte abwehrend den Kopf. »Sie verstehen mich noch immer falsch, Natalja. Sie sollen im ›Roten Salon‹ der strahlendste Brillant sein. Wehren Sie sich gegen den Mann in Moskau, der über Sie befiehlt. Werden Sie frei … dann finden Sie auch Ihr Herz.«
Am Nachmittag ließ sich Natalja von Madames Chauffeur mit einem Cadillac in die Innenstadt fahren. Da sie nicht wußte, ob das Telefon abgehört wurde, setzte sie sich in ein Café auf den Champs und telefonierte von hier aus nach Moskau. Sybin war nicht in seinem Penthouse, aber der Bodyguard wußte, wo er zu erreichen war. Er verband sie weiter.
»Mein Liebling!« hörte sie Sybins Stimme. »Ich bin in der Datscha. Wie war es im ›Roten Salon‹?«
»Das gefällt mir gar nicht!« antwortete sie.
»Was gefällt dir nicht?«
»Daß du deine Stundenweiber mit in meine Datscha nimmst!«
»Ich bin allein! Ich sehnte mich nach der Waldluft. Ich schwöre es dir …«
»Wer glaubt dir deinen Schwur? Ich nicht!«
»Ich vermisse dich, Schweinchen …«
»Verdammt! Nenn mich anders. Ich habe das satt, satt, satt! Ich nenne dich ja auch nicht Drecksau!«
»Warum rufst du an?« Sybin ging auf diese Beleidigung nicht ein. »Hast du Probleme?«
»Ich wohne ab heute bei Madame de Marchandais. Sie hat mich eingeladen.«
»Fabelhaft.« Natalja hörte, wie Sybin begeistert in die Hände klatschte. »Jetzt sitzt du mitten im Honigtopf! Hast du Ducoux kennengelernt?«
»Natürlich. Schon gestern abend.«
»Was ist er für ein Mensch?«
»Ein sehr kluger, höflicher, von seiner Aufgabe begeisterter Mann, der schon allerlei mit Kriminellen erlebt hat und die nötige Erfahrung besitzt, die internationale Kriminalität und das Bandenverbrechen zu bekämpfen. Durch die enge Zusammenarbeit mit Interpol und der Polizei und den Geheimdiensten der anderen Staaten weiß er mehr über die Zusammenhänge, als die Mafia ahnt.«
»Finde heraus, was er im Detail weiß!«
»Das braucht seine Zeit, Igor Germanowitsch.«
»Begeistere ihn mit deinen Titten!«
»Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe!« sagte sie angeekelt. »Ich führe deinen Auftrag aus.«
»Braves Schätzchen. Und wie ist es mit Awjilah? Hast du ihn auch getroffen?«
»Ja. Er ist schwierig. Mißtrauisch, ironisch, immer auf der Lauer, frißt mich mit den Augen auf, ist aber zurückhaltend.«
»Ändere das und zieh deine goldfarbenen Schlüpfer an.«
»Gib mir keine Ratschläge, verdammt!« schrie sie ins Telefon und schlug mit der Faust gegen die holzvertäfelte Wand der Telefonzelle. »Ich rufe dich wieder an, wenn es nötig ist. Mich kannst du nicht anrufen … alle Anrufe gehen zu Madame.«
»Ich kann dich nicht erreichen?«
»Nein.«
»Das gefällt mir gar nicht.«
»Aber mir! Du selbst hast es so gewollt.«
Sie ging zurück zu ihrem Tisch unter der großen Markise. Nach dem Regen tags zuvor, schien jetzt eine warme Sonne und hüllte das herrliche Paris in einen Goldschleier ein. Der Regen hatte allen Schmutz weggespült, die Stadt sah so sauber aus, als hätte ein Heer von Putzleuten die Fassaden und Fenster und Dächer abgeschrubbt. Aus den Blumenkästen strömte der süße Duft der Blüten. Das war das Paris, wie man es sich vorstellt – die Stadt der Lebensfreude, der Verliebten, der Kunst, der Schönheit und des Stolzes.
Natalja blätterte in einem Modemagazin und war so fasziniert von den neuen Kreationen, daß sie aufschrak, als vor ihr auf der Straße ein schwerer, schwarzer Wagen kreischend bremste und ein Mann heraussprang. Dann fuhr der Wagen weiter.
Anwar Awjilah kam auf Natalja zugelaufen. Seine Augen funkelten vor Freude.
»Ist es möglich?« rief er und küßte Natalja die Hand. »Ich fahre zur Botschaft, und zufällig sehe ich Sie im Café sitzen. Da konnte ich nicht vorbeifahren. Also stopp und raus!« Er hielt Nataljas Hand fest und strahlte sie an. »Sie sehen hinreißend aus! Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben – bitte.«
Das klang zwar nicht sehr begeistert, aber auch nicht ablehnend, und so sollte es auch sein … Awjilahs Selbstbewußtsein, der schönste Mann im Pariser diplomatischen Korps zu sein, mußte gestutzt werden.
»Es gibt nichts in Paris, was mich davon abhalten könnte, mit Ihnen, Madame Natalja Petrowna, eine Tasse Kaffee oder einen Cocktail zu trinken.«
»Sie haben meine Vornamen gut behalten … aber ich heiße Victorowa.«
Awjilah setzte sich an den kleinen runden Tisch mit der Marmorplatte, die typisch sind für die Pariser Boulevardcafés. »Erlauben Sie mir, Sie Natalja Petrowna zu nennen. Sie können dann Anwar zu mir sagen.«
»Wenn ich will!«
»Ich bitte Sie darum.«
Er hält sich tatsächlich für unwiderstehlich! Natalja bemühte sich, nicht zu lächeln. Das wird dir zum Verhängnis werden, Anwar. Ich weiß, daß du mit mir spielst, und ich werde mit dir spielen – und wer von uns beiden gewinnen wird, das dürfte schon jetzt keine Frage mehr sein. Die goldfarbenen Höschen – sie werden nicht nötig sein. Es wird nicht schwierig werden, von dir zu erfahren, wer außer Dr. Sendlinger noch Plutonium angeboten hat. Was Ducoux nicht weiß, das weißt du. Warum gehst du in den ›Roten Salon‹? Wegen der willigen Damen? Nein, Anwar … um Ducoux zu beobachten und ihn auszuhorchen, um wachsam zu sein und neue Wege zu erkunden. Sybin ist über alles orientiert, auch über eure heimliche nukleare Aufrüstung. Er weiß auch, daß russische Wissenschaftler in euren geheimen Werken arbeiten für ein Monatsgehalt, das sie früher nicht einmal für ein ganzes Jahr Arbeit bekommen haben.
Sie nahm es hin, daß Awjilah für sich und sie einen Spezialcocktail bestellte und einen Rosenverkäufer – es war ein Algerier – heranwinkte und knapp sagte: »Alles!« Dann lag ein kleiner Rosenberg vor ihr, große, dunkelrote Rosen, und der Kellner rannte los und kam mit einer dickbauchigen Vase zurück, stellte den Strauß ins Wasser und auf einen Extratisch, den er heranschob. Natalja tat, als sei Awjilahs Geschenk völlig alltäglich.
»Danke!« sagte sie etwas blasiert. »Sehr schöne Rosen. Aber in drei Tagen lassen sie die Köpfe hängen, in fünf Tagen sind sie welk. Gestorben. Tot! Ich mag keine Leichen in meinem Zimmer. Man hat den Blumen ihr Leben abgeschnitten. Auch Blumen sind Wesen.«
»Ich habe das so noch nie gesehen!« Awjilah versuchte, zerknirscht dreinzuschauen. »Aber ich werde darüber nachdenken.«
Die Cocktails wurden gebracht, sie prosteten sich zu und blickten dann auf das Menschengewimmel auf den Champs. Die Sonne lockte die Menschen ins Freie und zauberte Zufriedenheit auf ihre Gesichter.
»Haben Sie Pläne für diesen Nachmittag?« fragte Awjilah.
»Ja. Ich werde einkaufen: Kleider, Schuhe, Blusen, Schmuck – was mir gefällt.«
»Darf ich Sie begleiten?«
»Nein!«
Ein klares, hartes Nein. Awjilah sah sie betroffen an. »Ich verstehe etwas von Schmuck«, versuchte er einen erneuten Vorstoß. »Die meisten Preise sind überzogen, gerade hier in Paris. Warum? Eben weil es Paris ist. Die gleichen Schmuckstücke bekommen Sie in Teheran, Istanbul oder Dubai wesentlich billiger.«
»Mag sein. Auch in Rußland ist es billiger. Rußland verfügt über große Vorräte an Diamanten aus eigenen Minen in Sibirien. Wenn wir unsere Diamanten auf den Weltmarkt werfen würden, könnten die Brillanten so billig werden wie heute die Kopien. Der Preis wird ja nur künstlich hochgehalten. Man verknappt sie bewußt – aber die Tresore sind randvoll damit.«
»Wie mit den Atomen.« Awjilah sagte es wie eine beiläufige Bemerkung, als käme ihm kein anderer Vergleich in den Sinn.
»Atome? Wieso?« Natalja gab sich ahnungslos und unwissend, aber innerlich wurde sie hellwach und – vor allem – vorsichtig. Anwar winkte ab.
»Ach! Es ist mir nur so eingefallen. Ich rede dummes Zeug. Ist das ein Wunder? Wenn ich Sie ansehe, Natalja, verwirrt sich mein Geist.«
»Dann sollten sich unsere Wege schnell trennen, Anwar.«
»Danke …«
»Wofür?«
»Sie haben mich gerade Anwar genannt.«
Natalja erhob sich und schob den Stuhl zurück. Der Chauffeur von Madame, der sie keine Minute aus den Augen gelassen hatte, verließ den in der Nähe parkenden Cadillac und ging auf sie zu.
»Sie fahren jetzt zu Ihrer Botschaft, Monsieur Awjilah … und ich lasse mich in die Rue Faubourg du Saint-Honoré bringen.«
»Zu den berühmten Modehäusern.«
»Richtig.« Sie gab ihm nicht die Hand, und Awjilah verbeugte sich vor ihr.
»Sehe ich Sie im ›Roten Salon‹ wieder?« fragte er.
»Vielleicht.«
Sie wandte sich um, aber Awjilahs Stimme hielt sie zurück.
»Ihre Blumen, Natalja Petrowna.«
»Danke. Denken Sie an die Leichen im Zimmer …«
Sie ließ ihn stehen, ging dem Chauffeur entgegen und ließ sich zu dem Cadillac begleiten. Anwar sah ihr mit zusammengekniffenen Augen nach.
»Du Aas!« sagte er leise. »Mich täuschst du nicht. Ich werde erfahren, warum du in Paris aufgetaucht bist. Von dir selbst werde ich es erfahren!«
Er warf ein paar Geldscheine neben den riesigen Rosenstrauß und ging. Ein Kellner war nicht zu sehen, aber der Algerier, der die Blumen verkauft hatte, war noch in der Nähe. Er zuckte die Schultern, schlenderte zum Café, nahm den Strauß aus der Vase und entfernte sich dann schnell. Heute war sein Glückstag.
Bei keinem der großen Couturiers kaufte Natalja ein. Sie bummelte durch die Rue Faubourg, blieb vor den Auslagen stehen, bewunderte die Kühnheit der Modellkleider, die natürlich kein Preisschild trugen, denn wer solch einen Laden betrat, hatte es nicht nötig, das Geld in seinem Portemonnaie zu zählen. Lust, ein solches Geschäft zu betreten und sich die Roben von den hauseigenen Models vorführen zu lassen, hatte sie nicht. Das hat Zeit, dachte sie. Für ein Kleid zehntausend oder mehr Dollar auszugeben, dazu bin ich zu geizig. Trotz Sybins Großzügigkeit. Ich habe gelernt, was ein Rubel, ja eine Kopeke wert sind, ich werfe nicht mit Geld um mich. Zehntausend Dollar für einen Seidenfummel … was könnte Väterchen mit zehntausend Dollar alles anfangen! Dafür bekäme er jetzt eine Datscha in den Wäldern bei Abramzewo. So ist es nun mal – die arme Natalja Petrowna ist nicht vergessen, sie atmet noch in mir.
Am Abend fuhr sie zurück zu der weißen Villa am Bois-de-Boulogne.
Sie duschte, besprühte ihren nackten Körper mit einem auffallenden Parfüm, das wie Sommerblüten duftete, und zog ein hautenges, schwarzes Cocktailkleid an. Tief ausgeschnitten, bis zu den Ansätzen ihrer vollen Brüste, ohne Schmuck um den Hals … nur die weiße Haut in dem schwarzen Futteral sollte wirken.
Als sie auf der Treppe erschien und hinunter in den Salon schritt, sah sie – innerlich triumphierend –, daß die Blicke aller Männer an ihr hingen, als sei sie ein Magnet, der alles auf sich zog. Auch Ducoux und Awjilah waren wieder im ›Roten Salon‹ und sprangen bei Nataljas Erscheinen auf. Sie lächelte so voller Unschuld, daß man meinte, das lautlose Aufseufzen der Herren hören zu können.
Der Sturm auf Ducoux und Awjilah hatte begonnen.
Ihre Festungen waren bereits jetzt bröcklig geworden …
Und Wawra Iwanowna Jublonskaja lebte noch immer!
Sie schien unsterblich.
Nikita hatte mit der langsamen Vergiftung aufgehört – er war von Wawras Unschuld überzeugt. Der Tod der Katze war für ihn der Beweis, daß der von Wawra mitgebrachte Plutoniumstaub wirklich gutes Plutonium war. Es kam zwar nicht zu einer tierärztlichen Untersuchung, wie es Nikita der Witwe vorgeschlagen hatte, denn der Entseuchungstrupp vergrub den Kadaver sofort tief in der Erde innerhalb des abgesperrten Geländes der Plutoniumfabrik, denn erste Anzeichen, vor allem die gemessene Verstrahlung, überzeugte den Leiter der Seuchenabteilung, daß der Kater radioaktiven Abfall gefressen hatte. Er war eines der vielen Tieropfer, die man in Krasnojarsk fand.
Die Witwe Eftimia schrie, sie könne nicht mehr lange leben ohne ihren Kater, und außerdem hatte man alle ihre Möbel samt dem Bett mitgenommen und ebenfalls verbrannt. Nun wohnte sie bei gütigen Nachbarn, bis sie ein neues Bett kaufen konnte, das ein Dreifaches ihrer Pension kostete. Sie verfluchte die gesamte Atomindustrie, aber auch das war nichts Neues. In Krasnojarsk fluchten alle, aber sie lebten vom Werk 26. Hunderttausend Menschen verdienten dort ihre Kascha und ihre Pelmeni und zitterten davor, daß man die Krasnojarsker Atomreaktoren bis auf ein Minimum zurückfahren würde. Dann lieber die Fäuste in den Taschen ballen und innerlich fluchen … die Angst vor der Arbeitslosigkeit war stärker als die Furcht vor der Verstrahlung.
So sehr Nikita Victorowitsch Suchanow von Wawras Unschuld überzeugt war – Sybin war es nicht. Er hörte sich den Bericht über die Katze an, ließ Nikita ausreden, und als dieser nichts mehr zu sagen hatte, brüllte er ihn an.
»Der verdammte Kater ist tot. Gut! Es war reines Plutonium? Ist anzunehmen. Warum aber lebt Wawra noch, wenn du ihr regelmäßig das Pulver in das Essen getan hast? Das habe ich dich immer wieder gefragt! Was Wawra geschluckt hat – falls du mich nicht belügst! –, reicht aus, Hunderte von Menschen zu töten! Erklär mir das!«
»Sie sagt, sie läßt sich jeden Tag nach Arbeitsschluß entgiften.«
»Äußerlich, du Idiot! Aber nicht innerlich, da zersetzen sich die Organe – es gibt keine Rettung! Aber Wawra lebt!«
»Ich habe keine Erklärung dafür, Igor Germanowitsch«, stotterte Nikita. Er war dem Weinen nahe.
»Weil sie dich betrügt, das sage ich dir immer wieder, und du begreifst es nicht! Es ist Puderzucker, was du ihr in den Tee rührst.«
»Die Katze hat dasselbe Pulver …«
»Schluß mit dem Kater! Ich will, daß Wawra endlich stirbt!«
»Sie ist unschuldig! Sie ist rehabilitiert! Sie hat uns nicht betrogen. Sie ist die ehrlichste Frau, die es gibt.«
»Kein Wort mehr! Bring sie um!«
»Ich habe Beweise, daß …«
»Nichts hast du! Ich aber habe den Beweis, daß du ein Arschloch bist!«
»Ohne Wawra gibt es für mich kein Leben mehr. Ohne sie ist um mich sibirische Dunkelheit. Wenn sie sterben muß, gehe ich mit ihr.«
»Das wäre für niemanden ein Verlust. Nikita, ich erwarte deine Vollzugsmeldung. Zum letzten Mal: Ich will …«
»Igor Germanowitsch!« brüllte Nikita dazwischen. Er war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper. »Wenn Wawra tot ist, wer soll dann das Plutonium liefern?«
»In Moskau bekomme ich Puderzucker billiger.«
Sybin beendete das Gespräch, indem er auf den Hörer spuckte. Nikita weinte, legte sich auf das Sofa und dachte heftig zitternd nach, wie er Wawra und sich selbst am schmerzlosesten umbringen könnte. Er war fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu machen, wenn er Sybins Befehl ausführte. Ohne Wawra zu leben, immer mit der Schuld herumzulaufen, sie getötet zu haben – das würde er nicht aushalten. Er war ein williger ›Regionalgeschäftsführer des Konzerns‹, aber kein eiskalter Mörder. Er schlug sich nicht mit Skrupeln herum, wenn es galt, andere Menschen zu betrügen oder ihnen zu drohen … die Ausführung der Drohung überließ er dann den ›Spezialisten‹, die aus Moskau oder Irkutsk anreisten und nach der Ausführung ebenso schnell wieder verschwanden. Spurlos. Nicht einmal ihre Vornamen kannte Nikita.
Wen wundert es, daß in Rußland nur zögernd Statistiken über das Anwachsen der Kriminalität seit Glasnost und Perestroika veröffentlicht werden? Und wenn man Zahlen hört, sind sie geschönt, und sie erfassen auch nur die Verurteilungen, nicht die Straftaten, die bekannt werden. Zuletzt sprach man von zweiundzwanzigtausend Morden, zweihundertsiebzigtausend Diebstählen, über neuntausend Fällen von Schwarzbrennerei, wobei der höllische Samogon hergestellt wurde, bei denen die Täter wegen Verbrechen gegen die Volksgesundheit zum Tode verurteilt wurden, und von zweiunddreißigtausend Rauschgiftdealern. Aber alle diese offiziellen Zahlen stimmen nicht. Man weiß, daß im neuen Rußland über hunderttausend Rauschgifthändler unterwegs sind, daß jährlich über tausendzweihundert Todesurteile ausgesprochen werden, vor allem gegen Mörder, Drogenhändler und Mitglieder der organisierten Kriminalität, die sich, wie die italienische Mafia, zu Familien zusammenschließen. Die russische Polizei hat mittlerweile über zweihundert ›Familien‹ ermittelt, die über eigene, gutausgebildete Schutztruppen verfügen, vor allem aber über Killerkommandos, gegen deren Grausamkeit die italienischen Mafiosi geradezu bescheiden wirken.
Das größte Problem aber ist in Rußland der Alkohol. Registriert sein sollen knapp fünf Millionen suchtkranke Alkoholiker, aber die Wahrheit ist weit schrecklicher: Nach Schätzungen soll es im heutigen Rußland über fünfundfünfzig Millionen chronische Säufer geben, die alles in sich hineinschütten, seit Gorbatschow seinen Krieg gegen den Alkohol ausgerufen hat: vom Selbstgebrannten, dem teuflischen Samogon, bis zu alkoholhaltigen Parfüms und Polituren. Die Fälle von schweren Vergiftungen mit Todesfolge steigen von Monat zu Monat. Und über zweihunderttausend Schwarzbrenner sorgen ständig für Nachschub. Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne zeigte wenig Wirkung. In einem Jahr wurden über zweieinhalb Millionen Liter schwarzgebrannter Wodka von der Polizei beschlagnahmt, und hier jubelten die Statistiker, die ebenfalls unter dem Alkoholverbot litten wie alle Russen, denn dem russischen Staat gingen an Steuern pro Jahr hundertzwanzig Milliarden Mark verloren! Wer kann das verkraften? Auch die Arbeit litt darunter, denn ein altes russisches Sprichwort besagt: »Ohne Wodka findet man sich nicht zurecht!«
Das ist es, dachte auch Nikita Victorowitsch über seinen Entschluß, zusammen mit Wawra zu sterben. Nicht warten, bis Sybin sein Killerkommando nach Krasnojarsk schickte, sondern sich vorher zu Tode saufen. Das wäre ein anständiger Tod für einen aufrechten Russen, denn schon Wladimir der Heilige sagte 988: »Trinken ist Rußlands Freude – wir können nicht ohne es sein.«
Nikita begann noch am selben Tag, Wodka zu sammeln. Er kannte eine Reihe von Schwarzbrennern in Krasnojarsk, die alle unter der Kontrolle des ›Konzerns Nr. II‹ standen und an ihn ihre Abgaben leisteten. Sie empfingen Nikita mit Ehrfurcht … auch wenn er nicht zu Nr. II gehörte, so war er doch ein angesehenes Mitglied der ›Zwölfergruppe‹, also einer der Statthalter, die man lieben und fürchten mußte. Es war für ihn nicht schwierig, im Handumdrehen zwanzig Flaschen Samogon zu bekommen, die zwei Elefanten hätten vergiften können. Er bekam sie sogar geschenkt. Wie kann man einem Herrn Suchanow Rubel abnehmen für ein paar Fläschchen russisches Wässerchen? Es ist doch eine Ehre, daß er die Brennerei überhaupt betritt.
Mit seiner Beute – es waren fünfundzwanzig Flaschen Samogon – kehrte Nikita in seine Wohnung zurück und wartete auf Wawras Rückkehr von der Arbeit. Um sich einzustimmen, trank er vorweg zwei Gläschen und rang nach Luft, als der hochprozentige Wodka durch seine Kehle rann. Dann betrachtete er die Batterie von Flaschen, die er auf dem Deckel einer alten, geschnitzten Truhe aufgereiht hatte.
Das also ist das Ende, dachte er. Sich gegen Sybin zu wehren, ist sinnlos. Noch idiotischer wäre es, vor seinem ›Sonderkommando‹ davonzulaufen. Die Killer kämen völlig unerwartet, würden in die Wohnung eindringen und ihn und Wawra im Bett mit Kugeln durchlöchern. Das ginge zwar schnell und war nur einen Augenblick lang schmerzhaft, aber es wäre für Nikita kein ehrenvoller Tod. Sich im Wodka zu ertränken, das war ein angemessener Abgang.
Und so wartete nun Nikita Victorowitsch auf Wawras Rückkehr aus der Atomfabrik Krasnojarsk-26. Um seine Todesangst – wer hätte sie nicht, auch wenn er sich mit Wodka umbringen will? – etwas zu dämpfen, trank Nikita noch zwei Gläschen und legte eine Schallplatte auf den Plattenspieler: Tschaikowskys ›1812‹, gespielt vom Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung von Kyrill Kondraschin. Die gewaltige vaterländische Musik vom Sieg des Zaren über Napoleon und den Untergang der Grande Armée und der Befreiung Moskaus beruhigte seine angespannten Nerven. Es fiel ihm jetzt leichter, zu sterben, und er überlegte, ob er diese Platte nicht auch während seines Wodkatodes spielen sollte.
Spätabends, viel später als üblich, kam Wawra Iwanowna nach Hause. Sie wirkte fröhlich und umarmte und küßte Nikita und zwang ihn, sich ein paarmal mit ihr im Kreise zu drehen, als tanze man miteinander. Sie warf sich auf das Sofa und breitete die Arme weit aus.
»Sieh mich an, mein Liebling!« rief sie. »Sieh mich an! Was siehst du?«
»Eine wunderschöne Frau, die sehr spät kommt!« antwortete Nikita mit schwerer Zunge. Das Tänzchen hatte den Alkohol in seinem Blut verteilt.
»Du hast schon vorweg getrunken, Nikita! Und du hast allen Grund, das zu tun. Feiern werden wir, richtig feiern …«
»Ja, ich habe einen Grund.« Nikita setzte sich neben sie auf das Sofa. »Wir werden feiern bis zum Umfallen!«
»Mein Schatz, das werden wir!« Sie legte den Arm um seine Schultern und küßte ihn wieder. »Sie haben Lewon Leonidowitsch Kamenjow verhaftet!«
»Wer ist Lewon Leonidowitsch Kamenjow?«
»Der Abteilungsleiter für das Uran- und Plutoniumlager und Chef der Bunkerüberwachung. Man hat entdeckt, daß er mit einer Gruppe von Händlern aus Pakistan Verbindung aufgenommen hat.«
»Auch das noch!« knirschte Nikita. »O Scheiße …«
»Das Geschäft ist geplatzt, Nikita.« Wawra drückte ihn an sich. Ihre Augen glänzten wie in hohem Fieber. »Ich habe heute mittag drei Unterhändler verhaften lassen.«
»Du? Wieso du?«
»Hör zu, mein Liebling. Hast du Champagner im Haus?«
»Nur Wodka …«
»Oh, wie werden wir feiern. Läßt mich der Genosse Direktor rufen und sagt zu mir: ›Meine liebe Wawra Iwanowna …‹ Meine, sagt er, wirklich, meine liebe Wawra … ›Ich habe mich vor Staunen auf einen Stuhl setzen müssen.‹ Und er redet weiter: ›Sie haben gehört, daß man Kamenjow verhaftet hat. Vor einer Stunde! Ein Lump ist er, ein Parasit des Volkes, ein übler Verbrecher, ihm ist die Todesstrafe sicher! Wollte radioaktives Material nach Pakistan verkaufen, damit sie dort eine Atombombe bauen können! Mir bleibt die Luft weg vor Empörung und Entsetzen! Ja, und da dachte ich: Eine der treuesten, besten und vertrauenswürdigsten Mitarbeiterinnen unseres Werkes, ohne Tadel und eine große Patriotin, das ist Wawra Iwanowna! Bei ihr passieren solche Schweinereien nicht. Sie ist unbestechlich! Und so habe ich beschlossen, Sie, meine liebe Wawra, zur Nachfolgerin des Lumpen Kamenjow zu ernennen. Sie sind ab sofort Leiterin der Atomlager. Heben Sie die Hand und schwören Sie: Ich werde nie das Geheimnis meiner Aufgabe verraten! – So, und jetzt übernehmen Sie den Posten. Mein Vertrauen in Sie ist unerschütterlich. Sie bewachen Rußlands größtes Geheimnis.‹ Das hat er gesagt, Nikita! Und ich habe die Bunker übernommen, habe die Pakistanis, die Kamenjow bestellt hatte, sofort verhaften lassen und zwei Bleibehälter mit je einem Kilogramm reinem, waffenfähigem Plutonium 239, Reinheit achtundneunzig Komma fünf, zur Seite gebracht. Man wird es Kamenjow anlasten, und was er auch sagen wird, man wird ihm kein Wort glauben.« Sie fiel Nikita um den Hals und übersäte sein Gesicht mit Küssen. »Ich werde so viel Plutonium beschaffen können, wie Sybin braucht … Ich allein führe die Bestandslisten und kontrolliere sie. Und Sybin wird dich zum Direktor machen!«
Einen Augenblick saß Suchanow wie versteinert auf dem Sofa, starrte auf die Wodkabatterie, die zum gemeinsamen Tod führen sollte, und schloß dann erschüttert die Augen.
»Du hast …«, stotterte er.
»Zwei Kilo reines Plutonium …«
»Du bist …«
»Ja, ich bin es! Die Lager unterstehen mir. Und keiner kontrolliert mich, nur ich mich selbst!«
»Himmel!« seufzte Nikita. »O Himmel! Es fallen doch noch Wunder aus den Wolken! Wir sind gerettet, Wawruschka! Wir werden weiterleben! Wir werden …« Er sprang auf, riß sie vom Sofa hoch, tanzte mit ihr durch das Zimmer und lachte und weinte zugleich und küßte sie und drückte sie an sich, so fest, daß sie nach Luft rang und sich mit den Fäusten gegen seine Brust stemmte. Nur einen Tag später, dachte er, und wir hätten hier gelegen, unrettbar mit Alkohol vergiftet. Nur einen Tag später … Laß dich umarmen, unbekannter Kamenjow … gerade heute mußte deine Schweinerei auffallen, und du machst Platz für uns. Nennt man das nicht Schicksal?
Wawra löste sich aus seiner Umklammerung, nahm die geöffnete Flasche Wodka und trank aus Nikitas Glas einen langen Schluck. Auch sie hustete nach dem scharfen Gesöff und ließ sich zurück auf das Sofa fallen. »Ruf Sybin an!« sagte sie außer Atem. »Ruf ihn sofort an. Sage ihm, daß er zwei Kilo Plutonium haben kann, und wenn er mehr will – ich komme jetzt an jede gewünschte Menge heran. Die Kontrollbücher fülle ich allein aus. Niemand wird merken, daß ein paar Kilogramm fehlen, wenn ich den Lagerbestand unterzeichne. So einfach ist das jetzt!«
»Und das alles tust du für mich?«
»Ja … damit du Direktor wirst … und weil ich dich liebe wie nichts auf dieser Welt.«
Und ich habe sie systematisch vergiftet, schrie es in Nikita. Ich habe ihr Plutoniumpulver in den Tee gerührt. Sie lebt noch, aber wie lange? Wann hat die Strahlung sie innerlich zerfressen? Ich bin ihr Mörder, und sie liebt mich bis zur Selbstaufgabe. Nikita, welch ein Saukerl bist du doch! Welch ein elender Feigling, der vor Sybins Füßen kriecht wie ein blinder Erdwurm. Aber er wird es mir büßen, er wird es schrecklich büßen, wenn Wawra sterben sollte. Igor Germanowitsch, ich habe dann nichts mehr zu verlieren als mein unwertes Leben … und ich ziehe dich mit in die Hölle. Das verspreche ich dir hiermit feierlich!
Zur Beruhigung trank er noch ein Glas des fürchterlichen Samogon und setzte sich dann an das Telefon. Es war kurz vor acht Uhr abends; Sybin mußte noch in seinem Penthouse sein. Sein Leben, so unruhig es sonst auch war, verlief in Moskau nach einem nur selten unterbrochenen Rhythmus: Um einundzwanzig Uhr verließ er seine Festung, um sich in die besten Lokale der Stadt fahren zu lassen. Um Mitternacht erschien er in den Nacht- und Tanzbars, bei den Animiermädchen und den Nackttänzerinnen. Spätestens um zwei Uhr lag er mit einer von ihnen im Bett und warf sie um acht Uhr morgens hinaus. Seine Gesundheit und Potenz waren bewundernswert.
Sybin war wirklich noch zu Hause, als das Telefon klingelte. Er nahm sofort ab, weil er glaubte, Natalja rufe aus Paris an, aber als er Suchanows Stimme hörte, änderte sich sofort seine gute Laune.
»Was ist?« bellte er. »Meldet du Wawras Tod? Wenn nicht, leg sofort auf!«
»Igor Germanowitsch …« Nikita holte tief Atem. Wir werden leben, Sybin, wir bringen uns nicht um. Im Gegenteil: Jetzt wirst du höflich werden müssen, um Wawra und mich nicht zu beleidigen. Wir haben die Macht in den Händen, die du ausüben wirst. Ohne uns wirst du Schwierigkeiten haben – da helfen dir auch Tomsk, Tscheljabinsk und Semipalatinsk nicht. Wir können liefern, jede Menge, bei den anderen mußt du warten. Gramm um Gramm. Sei also höflich, das rate ich dir. »Ich habe eine gute Nachricht für Sie.«
»Es ist also erledigt?!«
»Nein!«
»Leg auf!«
»Halt, Igor Germanowitsch. Halt! Hören Sie zu. Wawra hat es geschafft … sie hat zwei Kilogramm Plutonium, Reinheit achtundneunzigeinhalb, zur Seite geschafft …«
Stille. Es schien, als müsse Sybin diese Nachricht erst verdauen. Zwei Kilogramm waffenfähiges Plutonium, das ist eine halbe Atombombe, so einfach zur Seite geschafft … das muß man erst begreifen und dann verkraften. Endlich, Sybins Schweigen kam Nikita wie eine kleine Ewigkeit vor, reagierte er.
»Was sagst du da, Nikita Victorowitsch?« Das klang schon freundlicher. »Ist das ein Witz? Soll ich das glauben? Willst du Wawra damit retten? Zwei Kilogramm …«
»Fürs erste.«
»Was heißt das?«
»Sie können soviel haben, wie Sie wünschen.«
Wieder Schweigen. Sybin setzte sich in einen Sessel, seine Knie wurden weich. Was er da aus Krasnojarsk hörte, war geradezu unbegreiflich. Soviel, wie ich wünsche? Das gibt es nicht. Das ist geradezu unmöglich.
»Nikita!« sagte Sybin und konnte seine Erregung nicht verbergen. Man hörte sogar noch im fernen Krasnojarsk sein stoßweises Atmen. »Bist du besoffen?«
»Ja, Igor Germanowitsch … vor Freude und Glück. Wann brauchen Sie die zwei Kilogramm?«
»Wann ich sie brauche?« Sybin mußte die Frage wiederholen, so ungeheuerlich war sie. »Wenn ich nun sage: sofort?«
»Geht in Ordnung!« Suchanow hielt den Hörer zu und nickte hinüber zu Wawra. »Kannst du sofort liefern?« fragte er leise.
Sie erwiderte sein Nicken und warf ihm mit gespitzten Lippen einen Kuß zu. »Ja!« sagte sie. »Aber wie kommen die beiden Behälter nach Moskau? Dafür muß Sybin sorgen.«
»Wawra sagt: keine Schwierigkeiten. Aber für den Transport von Krasnojarsk bis Moskau müssen Sie sorgen.«
»Es ist also wirklich wahr?«
»Habe ich es je gewagt, Sie zu belügen, Igor Germanowitsch?«
»Darüber möchte ich mich mit dir jetzt nicht streiten. Ich will auch nicht wissen, wie oft du mich beschissen hast! Zwei Kilogramm?«
»In Lagercontainern. Strahlensicher verpackt.«
»Er glaubt es nicht, ist es so?« rief Wawra und trat zu Suchanow. »Laß mich mit ihm reden.« Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand und meldete sich. »Hier ist Wawra Iwanowna. Herr Sybin, es stimmt, was Nikita Ihnen sagt. Ich habe das Plutonium und kann jederzeit mehr beschaffen. Seit heute unterstehen mir die Lager. Was ich in die Bestandsbücher eintrage, wird geglaubt. Ich habe darauf einen Schwur geleistet. Aber für Nikita tue ich alles.«
Sie gab den Hörer an Suchanow zurück, und der hörte die Antwort Sybins.
»Ich könnte Sie umarmen, Wawra Iwanowna …«
»Umarmen Sie mich, ich bin wieder am Apparat. Und denken Sie daran, was Sie mir befohlen haben.«
»Wer konnte das ahnen, Nikita Victorowitsch! Dein Schätzchen ist wirklich ein Schatz. Hast du daran gedacht, daß sie dich heute zum Dollarmillionär gemacht hat, bei den zehn Prozent Provision?«
»Und wenn sie doch … Sie wissen, was ich meine.«
»Unmöglich!« Sybin zuckte zusammen. Suchanow hat sie mit Plutonium verstrahlt, er hat ihr das Gift in den Tee gerührt, sie wird natürlich sterben, schon sehr bald, und dann sind alle Türen wieder zu. Du lieber Himmel, sie darf nicht sterben! Ein zweites Wunder gibt es nicht, nicht an der selben Stelle. Nikita, rette sie! Wie, das weiß ich nicht, aber rette sie … wenn es noch Rettung gibt! »Sie muß leben!« schrie Sybin ins Telefon.
»Es war Ihr Befehl … und ich habe ihn ausgeführt.«
»Man kann sich doch irren!«
»Das aber war ein tödlicher Irrtum!« Suchanow konnte jetzt so frei sprechen, da Wawra in die Küche gegangen war, um das Abendessen aufzuwärmen. Sie hatte es gestern vorgekocht: ein Kaninchen in Salbeisoße mit eingelegten Waldpilzen. Dazu gab es Pellkartoffeln, die sie jetzt aufsetzte. »Wawra sieht sehr schlecht aus.«
»Bringen Sie Wawra in das beste Krankenhaus, zu dem besten Arzt. In Krasnojarsk soll es die kompetentesten Ärzte für Strahlenschäden geben! Es ist ihr tägliches Brot. Nikita, deine Idee mit dem Plutoniumpulver war idiotisch!«
»Sie waren davon begeistert, Igor Germanowitsch.«
»Wollen wir uns jetzt, in dieser historischen Stunde, streiten?«
»Hätte ich Wawra, wie Sie wollten, erschossen oder erwürgt oder ertränkt, gäbe es diese ›historische Stunde‹ nicht, hätte sie nie gegeben! Ich habe immer an Wawras Ehrlichkeit geglaubt. Ich habe in ihre Augen gesehen und gewußt, daß sie mich nicht belügt. Sie kann gar nicht lügen, ohne daß ihre Augen sie verraten.«
»Und woher kommt die Probe mit dem verstrahlten Puderzucker?«
»Auch das werden wir noch herausfinden. Es kann sein, daß Kamenjow sie schon nach dem Wiegen bei Wawra vertauscht hat, um einwandfreie Proben für seine Interessenten vorzulegen.«
»Interessenten?« Sybin zuckte wieder zusammen. »Wovon redest du, Nikita?«
»Kamenjow hatte Kontakte zu pakistanischen Aufkäufern.«
»Und das sagst du so nebenher«, schrie Sybin, »als handele es sich um einen Kartoffelverkauf? Wir müssen sofort …«
»Ist schon geschehen, Igor Germanowitsch.« Suchanow genoß seinen zweiten Triumph, als schlürfe er einen schweren, armenischen Wein. »Wawras erste Handlung war, heute nachmittag die pakistanische Delegation verhaften zu lassen. Das wird Kamenjow den Kopf kosten.«
»Und was hast du dann getan?«
»Ich habe es ja eben erst erfahren! Ich werde versuchen, morgen oder übermorgen an die Pakistanis heranzukommen und uns als neuen Lieferanten empfehlen. Sie konnten nicht festgehalten werden … sie genießen die diplomatische Immunität. Man wird sie ausweisen, aber nicht vor übermorgen. Bis dahin habe ich mit ihnen gesprochen.«
»Zwei gute Meldungen, Nikita Victorowitsch.« Sybins Zufriedenheit war sogar am Telefon zu hören. »Aber daran verdienst du dir ja eine goldene Nase. Ich begrüße dich im Millionärsclub! Mit Wawra hast du die goldene Gans gewonnen.«
»Wie lange noch?« wiederholte Suchanow. »Sie haben sie geschlachtet!«
»Sie muß gerettet werden! Wenn sie bis jetzt überlebt hat, glaube ich, daß sie auch weiterleben wird.« Und dann sagte Sybin in seiner Verzweiflung etwas ganz Dummes, und er glaubte sogar daran: »Gib ihr Milch. Gib ihr viel, viel Milch zu trinken. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Alle inneren Schmerzen hat sie mit Milch geheilt. Nach den Krankheiten hat sie gar nicht gefragt. Trink Milch, literweise, hat sie immer zu ihren Kindern und auch zu mir gesagt. In der Milch ist die Kraft des Lebens, die Milch vertreibt die Gifte aus dem Körper! Nikita Victorowitsch, warum soll sie nicht bei innerer Verstrahlung helfen?«
»Das hätten die Wissenschaftler schon längst gemerkt.«
»Eben nicht! Wer denkt schon an Milch! Sie experimentieren mit komplizierten chemischen Mitteln, aber über Milch hat noch keiner nachgedacht. Versuche es, Nikita! Verlier nicht den Kopf, gib nicht auf!« Sybin redete sich in eine verzweifelte Hoffnung hinein. »Fahr aufs Land hinaus, hole die beste, reinste Milch direkt von den Bauern, nicht die sterilisierte Jauche, die euch die staatliche Molkerei liefert! Milch direkt von der Kuh, ungefiltert, so wie's aus dem Euter läuft …«
»Ich werde es tun, Igor Germanowitsch. Schaden kann es ja nicht, aber auch nicht helfen. Das weiß ich.«
Suchanow brach das Gespräch ab, denn Wawra kam aus der Küche zurück. Sie brachte die Vorspeise mit, eine Mjasnaja Soljanka, eine würzige Fleischsuppe, und stellte die Terrine auf den Tisch. Aus der Küche zog der Duft des gebratenen Kaninchens in das Zimmer. Es war wie an einem Feiertag, und für Wawra und Nikita war heute wirklich ein besonderer Tag.
»Wann lassen Sie die beiden Container abholen?« fragte Suchanow.
»Ich gebe Nachricht.«
»Wir müssen es zwei Tage vorher wissen, damit Wawra die Container aus der Fabrik herausbringen kann.«
»Und wie will sie das schaffen?«
»Das ist unsere Aufgabe, Igor Germanowitsch.« Suchanows Stimme klang bestimmt und energisch. »Die Hauptsache ist, daß Ihre Leute zuverlässig sind.«
Das war ein guter Satz, dachte Nikita. Jetzt wird er begreifen, daß ohne uns gar nichts geht und daß er auf unsere Arbeit angewiesen ist. Daß er ohne uns draußen steht wie ein Bettler vor einem Restaurant, der darauf wartet, daß die reichen Gäste das Lokal verlassen und ihm ein Rubelchen in die Hand drücken. So kann sich manches sehr schnell ändern, mein lieber großer Sybin. Die Welt ist ein Ball, der hin und her geworfen wird. Einmal wird einer sie fallen lassen, und keiner fängt sie mehr auf. Hoffen wir, daß wir es nicht mehr erleben.
»Noch einen fröhlichen Abend!« sagte Suchanow. »Wir werden diesen Tag feiern … feiern Sie in Gedanken mit uns.«
»Das werde ich, Nikita Victorowitsch.« Sybin meinte es wirklich ehrlich. »Das erste Glas Champagner an diesem Abend trinke ich auf dein und Wawras Wohl.«
Nikita wollte auflegen, aber Wawra winkte ihm zu. Noch nicht, noch nicht.
»Frag ihn, ob er dich nun zum Direktor macht!« rief sie. »Er hat's dir doch versprochen …«
»Was sagt sie?« fragte Sybin. Er hatte Wawras Stimme im Hintergrund gehört. Suchanow fühlte sich wie mit Triumph gemästet.
»Wawra fragt, wann Sie mich zum Direktor machen …«, antwortete er.
»Warum willst du Schwachkopf Direktor werden, wenn du Millionär wirst?«
»Da haben Sie recht. Gute Nacht, Herr Sybin.«
Nikita ließ den Hörer auf die Gabel fallen.
»Was hat er gesagt?« fragte Wawra.
»Einen Millionär macht man nicht zum Direktor, sondern zum Freund.«
»Wieso Millionär?«
»Wawra, Schatz. Hast du nicht daran gedacht?«
»Woran?« fragte sie erstaunt.
»Zwei Kilogramm Plutonium 239 wird Sybin für hundertzwanzig Millionen Dollar verkaufen. Davon bekommst du zehn Prozent … das sind zwölf Millionen Dollar! Du wirst die reichste Frau Rußlands sein!«
»Mein Gott, das hatte ich ganz vergessen.« Wawra sank auf einen Stuhl und legte beide Hände auf die Brust. »Ich habe nur an dich und unsere Liebe gedacht. Zwölf Millionen Dollar … sie gehören bereits uns … Nikita, das muß ich erst begreifen. Im Augenblick ist das noch unfaßbar. O mein Liebling, wie wird jetzt alles werden?«
Es wurde eine wirklich schöne Feier, aber sie dauerte nicht lange.
Nach vier Gläsern Wodka sank Wawra Iwanowna in sich zusammen. Nikita trug sie ins Bett, zog sie aus und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Er streichelte ihren Körper, küßte ihn von der Halsbeuge bis zu den Zehen und preßte dann sein Gesicht zwischen ihre Brüste.
Sie kann nichts mehr vertragen, dachte er mit einem Schaudern. Ihr Körper kapituliert schon nach vier Gläschen Wodka. Er leistet keinen Widerstand mehr. Er ist zerstört, so betörend er auch aussieht. Und ich, Nikita Victorowitsch Suchanow, habe sie auf dem Gewissen. Ich bin ihr Mörder, ihr heimtückischer Mörder, der ihr Inneres zerfressen läßt.
Wawra, Wawra, sollen wir nicht doch zusammen sterben? Jetzt, in dieser Stunde? Du wirst es nicht spüren, wenn ich dich würge. Es ist schnell vorbei, wenn ich dir den Kehlkopf zerdrücke. Ein kaum hörbares Knacken, und es ist vorüber. Wawra … Wawra …
Er kniete vor dem Bett, drückte seinen Kopf zwischen ihre Schenkel und atmete ihren herben Duft ein.
»Bleib bei mir …«, murmelte er. »Wawra, bleib bei mir. Ich flehe dich an. Und wenn du stirbst, das schwöre ich, dann komme ich dir nach, ich komme zu dir, aber vorher werde ich Sybin röten. Ich kann es, ich kann es, denn er vertraut mir. Wawra … bleib bei mir … bitte … bitte …«
So schlief er ein, vor dem Bett kniend, den Kopf zwischen ihren leicht gespreizten Schenkeln, und er träumte, daß er unter Palmen an einem weißen Korallenstrand lag, Wawra neben sich, und der warme Wind strich über sie und streichelte sie, und der Himmel über ihnen war wolkenlos, unendlich und von einem sonnenpolierten Glanz, wie der Himmel über der sommerlichen Taiga. Es gab keine sibirische Dunkelheit mehr, nur noch Wärme und das Rauschen des Meeres und das unbeschreibliche Glück, zu leben.
Dieses Bild blieb in ihm, als er im Laufe der Nacht von Wawras Schenkeln glitt und auf den Holzboden fiel. Dort schlief er weiter, und auf seinem Gesicht lag ein glückliches Lächeln …