Das Rätsel
Es war ein sonniger, milder Nachmittag im Mai 1991. Auf den Wiesen am Moskwa-Ufer leuchteten die Blumenrabatten, die ersten weißen Ausflugsschiffe lagen tief im blauschimmernden Wasser des Flusses. Sie waren überfüllt mit frühlingssehnsüchtigen Menschen, denn erst Ende April hatte sich der Winter zurückgezogen, um dann plötzlich, buchstäblich über Nacht, zu weichen und einer strahlenden Sonne die Erde zu überlassen. Alles stürzte an die Moskwa, in die Parks, stürmte die Schiffe, und im riesigen Gorkipark begann die Vergnügungssaison – es war, als hole ganz Moskau tief Atem, werfe sich in luftige Kleidung und recke sich der Sonne entgegen, so, wie man sich unter einer wohltuenden Dusche dehnt und streckt. Auch Natalja Petrowna Victorowa war hinunter zum Fluß gegangen, saß auf einer Bank, hatte den weiten Rock über ihre Beine und die Schenkel hochgezogen, was manchen Vorbeiflanierenden zu einem langen Blick animierte. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt, die geblümte Bluse spannte über ihrem Körper … so muß der Frühling aussehen! So und nicht anders. Leben! Pralles Leben! Sehnsucht im Sonnengold. Himmel, was lockst du da hervor aus dem Wintergrau!
Natalja war neunzehn Jahre alt, aber mit der Erfahrung einer Dreißigjährigen belastet. Ihr Vater, ein strammer Kommunist, war nach Glasnost arbeitslos geworden; die Fabrik, in der er als Heizer an den Steinkohleöfen gearbeitet hatte, war die erste gewesen, die 1987 auf Ölfeuerung umstellte, alles automatisch, was einen Heizer überflüssig machte. Der neue Direktor, in Boston ausgebildet, ein eleganter, noch junger Mensch mit besten Manieren, schickte ihm nicht einfach einen Entlassungsbrief, sondern er ließ ihn in sein Chefbüro kommen. Mit Blick auf ein großes Foto von Gorbatschow stand Petr Nikolajewitsch Victorow nichtsahnend vor dem freundlichen Direktor, ja sogar in der Hoffnung, zum Vorarbeiter befördert zu werden. Verdient hatte er es.
»Wie lange sind Sie schon bei uns?« fragte der Direktor jovial. Victorow straffte sich unwillkürlich.
»Fast vierundzwanzig Jahre, Genosse Direktor.« 1987 sprach man sich noch so an.
»Und keine Klagen. Wir sind stolz auf Sie, Genosse.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan.«
»Das sehen wir auch so. Vierundzwanzig Jahre an den Öfen, in der heißen Unterwelt – das nagt die Kräfte aus dem Körper.«
»Ich fühle mich gesund, Genosse Direktor. Man gewöhnt sich an alles. Ich liebe meine Öfen. Aber nun ist ja alles anders geworden. Jetzt verbrennt man Öl, ein Mann sitzt an einer großen Kontrolltafel, alles läuft automatisch, und ich und vier Kollegen – einer ist schon dreißig Jahre bei uns – müssen jetzt die Lagerhallen leerräumen. Alles nur Gerümpel.«
»Sehen Sie, Victorow, das ist es!« Der junge Direktor lächelte gütig. »Sie haben es verdient, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen.«
»Ich bin erst vierundvierzig Jahre alt, Genosse Direktor.«
»Vierundvierzig! Und davon vierundzwanzig in der glühenden Unterwelt. Gehen Sie nach Hause, Genosse, und genießen Sie das Leben. Ich entlasse Sie hiermit in die verdiente Ruhe …«
Victorow verstand zunächst nichts. Wie sollte er auch eine Ahnung von dem kühlen Humor moderner, junger Manager haben? Aber als er den letzten Satz endlich begriff, stöhnte er leise auf.
»Genosse … ich bin entlassen?« stotterte er.
»Sie gehen in den Ruhestand.«
»Und wovon soll ich leben?«
»Das Kombinat zahlt Ihnen eine Pension.«
»Wieviel? Darf man das fragen?«
»Das rechnet unser Betriebsbüro aus.«
»Man wirft mich nach vierundzwanzig Jahren raus?! Das geht doch nicht!«
»Der neue Trend heißt: Rationalisierung, Kostensenkung, Angleichung an den Weltmarkt. Der alte staatliche Schlendrian hört auf.«
»Und das ist nun das neue Rußland, Genosse Direktor?!« Victorow holte tief Atem. »Das ist Perestroika?«
»Sie bekommen Ihre Urkunde per Post.« Der junge Direktor verlor ein wenig von seiner Freundlichkeit. »Sie können gehen, Genosse. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Ruhestand. Genießen Sie die kommenden Jahre.«
Victorow erwiderte nichts mehr. Er bedankte sich auch nicht für seine ›Freiheit‹, sondern ließ hinter sich die Tür zuknallen. Im Vorraum aber sagte er laut: »Man sollte ihn mit Scheiße beschmieren!« Die Sekretärin blickte kurz von ihrer Schreibmaschine auf.
»Meinen Sie den neuen Chef?« Sie lächelte etwas bläßlich. »Es wird noch schlimm werden mit unserem Rußland.«
Zu Hause – Victorow bewohnte mit seiner Frau und seiner Tochter Natalja eine schmale Dreizimmerwohnung in einem Wohnblock – trank Petr Nikolajewitsch zunächst hundertfünfzig Gramm Wodka pur und nicht wie üblich mit Limonade vermischt, was ihm besonders gut schmeckte, legte sich dann auf das mit rotem Plüsch bezogene Sofa, auf dem schon sein Vater geschnarcht hatte, schlug die Beine übereinander und sagte mit etwas schwerer Zunge:
»Ihr Lieben, hier seht ihr einen Menschen, den man in den Arsch getreten hat.«
Sonja, Victorows Frau, sah hinüber zu ihrer Tochter Natalja und nickte bedächtig. »Dein Vater ist besoffen«, sagte sie. »Keiner tritt ihm in den Hintern, ohne nachher im Krankenhaus Nummer I aufzuwachen.«
»Ich hätte ihn erwürgen können!« Victorow drehte sich auf die Seite und mußte dabei rülpsen. »Ich bin entlassen! Gefeuert. Hinausgeschmissen. Wie eine lästige Fliege weggejagt.«
»O Gott, ist er besoffen!« Sonja winkte begütigend zu Natalja hinüber. Diese war entsetzt aufgesprungen. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie bereits vollentwickelt … sie war nicht nur die Hübscheste der ganzen Mädchenoberschule Stanislawski; sie nahm sehr wohl die begehrlichen Blicke der Lehrer auf ihren Busen und ihre Schenkel wahr. Ganz schlimm war der Hausmeister Kyrill Stepanowitsch, der sogar einmal zu ihr gesagt hatte: »Nataljascha, ein ganzes Pfund bestes Rindfleisch bekommst du von mir, wenn du deinen Rock ganz hochhebst. Aber ohne Höschen – das ist Bedingung.« Da hatte sie laut gelacht, hatte sich umgedreht, ihm den Hintern hingestreckt und war dann schnell davongelaufen. Es wurde zu einem geheimen Spaß für sie: die Männer und die Jungen nebenan von der Oberschule Puschkin so zu reizen, daß sie Glubschaugen bekamen … dann lief sie mit hellem Lachen davon. Ein gemeines, kleines, wunderhübsches Luder, das in der Schule zu Wetten animierte: Wann wird sie vergewaltigt? Wer legt sich als erster auf sie?
Es war Jurij Wladimirowitsch Krepkin, ein flotter Student, aber das wußte keiner. Alle glaubten noch an ihre Jungfräulichkeit, am hartnäckigsten ihre Eltern. Und mit Jurij kam Natalja nach dieser einen Abendstunde im Park auch nicht mehr zusammen. Sie war enttäuscht … sie hatte nichts, aber auch gar nichts dabei empfunden, und sein Aufstöhnen am Ende hatte sie sogar angeekelt. So kam es, daß Natalja sich wieder in die Unberührtheit zurückzog.
»Du bist wirklich arbeitslos, Väterchen?« rief sie jetzt.
»So ist es, Töchterchen. Ich kann Daumen drehen und in die Ecke spucken. Wer nimmt jetzt, wo alles modernisiert wird, einen vierundvierzigjährigen Heizer? Eine andere Arbeit? Nehme ich sofort an … aber wo gibt es Arbeit? Ihr Lieben, ein gebrochener Mann bin ich.«
Jetzt begriff auch Sonja den Ernst der Lage und die düstere Zukunft. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und brach in ein solches Jammern aus, wie es bei einem Begräbnis die Klageweiber hinter dem offenen Sarg anstimmen. »Was nun?« schrie sie. »Was nun? Verhungern werden wir, verschrumpeln wie ein alter Apfel. Müll werden wir sein, den sie einfach wegkehren. Betteln müssen wir, in den Müllkippen nach Nahrung suchen, und jeder darf uns wegjagen wie räudige Hunde! O Gott, o Gott … wir haben doch nicht gesündigt, daß er uns so hart bestraft.«
Victorow hörte das Wort Gott, drehte sich auf die andere Seite, furzte vernehmlich, sagte: »Das ist Gott wert!« und schlief dann schnell ein.
An diesem Tag fällte Natalja eine lebensbestimmende Entscheidung.
Während Väterchen Petr in Moskau herumstrolchte, bei unzähligen Firmen vorsprach und sich als Arbeiter anbot, natürlich vergebens, dabei eine Gruppe anderer Unzufriedener und Arbeitsloser fand, die Gorbatschow verdammten und von einer neuen Revolution faselten, und Mutter Sonja bei den großen Betrieben um eine Stelle als Putzfrau bettelte, was auch umsonst war, denn die zum Putzen bereits angestellten Frauen jagten sie mit Besenstielen aus den Büros, während dieses Kampfes um das nackte Überleben entdeckte Natalja das so oft zitierte Licht am Ende des Tunnels.
Sofort nach dem Schulunterricht fuhr sie hinaus zur Garnison des Ersten Garderegimentes. Mit wiegendem Gang und schwingenden Hüften ging sie die Straßen entlang, an denen die Offizierswohnungen lagen. Ein einfacher Soldat sollte nicht an ihren Körper herankommen … wenn es schon sein mußte, wollte sie diese Gunst einem höheren Offizier zukommen lassen, selbst ein junger Leutnant stand bei den Huren an letzter Stelle.
Es war der Kapitän Tschutscharin, ein Sibirier, der als erster Natalja ansprach und in seine Wohnung führte. Er war ein rotgesichtiger, schwerer Mann mit einem deutlichen Bauchansatz, der, als er von der Uniform befreit und nackt war, sich noch mehr vorwölbte. Natalja sah ihn mit zusammengepreßten Lippen an. Nie, nie hätte sie einen solchen Mann an sich herangelassen, aber jetzt ging es um Väterchen und um die Mutter, sie sollten nicht hungern, sie sollten nicht in Verzweiflung versinken … und überhaupt – ob Bauch oder nicht Bauch, sie würde wie bei dem Studenten Jurij nichts empfinden, nicht das geringste Gefühl … man lag da, spürte einen immer wiederkehrenden Druck, hörte den schweren Atem, den letzten Seufzer … und das war dann alles. Aufstehen, waschen, anziehen und gehen.
Tschutscharin saß in seiner quellenden Nacktheit auf der Bettkante und sah mit flackernden Augen zu, wie sich Natalja auszog. Als sie den Slip abgestreift hatte und sich, vor ihm stehend, um sich selbst drehte, sagte er mit heiserer Stimme:
»Verdammt, bist du schön …«
»Das weiß ich, Genosse.«
»Komm her, du Engel.«
»Das Paradies kostet Eintritt. Wieviel zahlst du?«
»Zweihundert Rubel …«
»Dafür darfst du noch nicht mal meine Löckchen berühren.«
Es wurde fürchterlich, aber es dauerte zum Glück nur zwanzig Minuten – der sibirische Bär kapitulierte, lag ächzend und schwitzend auf dem Rücken und richtete sich erst auf, als Natalja angezogen aus dem Badezimmer zurückkam.
»Du warst wunderbar«, sagte er und strich sich mit beiden Händen über den schweißnassen Bauch. »Kommst du wieder?«
»Wenn du bezahlst, warum nicht?«
»Treffen wir eine Abmachung: alle zwei Wochen.«
»Ich werde es mir merken.«
In der U-Bahn während der Heimfahrt wunderte sich Natalja, daß dieser Einstieg in das Hurenleben sie so wenig berührte. In ihrer Jackentasche knisterten vierhundert Rubel … das allein war wichtig und bemerkenswert. Verdammt, du bist ein kalter Typ, dachte sie und begann, sich selbst zu analysieren. Deinen Körper hinzugeben, das berührt dich nicht … du mußt nur lernen, deinen Ekel zu unterdrücken. Denk an ein wogendes Kornfeld im Sommerwind, wenn er auf dir liegt und sich in dir bewegt, und denk an den Schrei der Wildgänse, die unter dem leuchtenden Himmel dahinziehen, wenn er dich umklammert und sich zum Höhepunkt stöhnt. Denk an alles, nur nicht an das, was du gerade tust. Steh immer außerhalb deines Körpers. Bleibe kühl bis ins Herz.
Natalja, du wirst eine Frau werden, die nur sich selbst liebt. Eine Frau aus Eis, an der die Männer verglühen, denn Eis brennt auf der Haut …
Einige Wochen lang glaubte Väterchen Victorow seiner Tochter, daß sie das Geld, das sie täglich bei ihm ablieferte, in einem Krankenhaus verdiente, nachmittags, als Hilfe auf der Station für Frauenkrankheiten. Eine Schulfreundin, deren Vater Arzt sei, habe ihr die Stelle vermittelt, erklärte sie, und Victorow hatte keinen Grund, ihr das nicht zu glauben. Er umarmte seine Tochter, küßte sie mehrmals und sagte gerührt:
»Welch ein Opfer bringst du uns, mein Schwänchen. Die Schule und danach die schwere Arbeit im Krankenhaus … ich bin stolz auf dich. Aber so soll es nicht bleiben. Irgendwo werde ich schon eine Arbeit bekommen; es kann ja in Rußland nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Gorbatschow wird es schon schaffen … alles braucht seine Zeit … ein neues Rußland kann man nicht aus der leeren Hand zaubern. Nach siebenundsechzig Jahren Sowjetunion muß man erst Atem holen und sich daran gewöhnen, was freie Marktwirtschaft und Demokratie überhaupt bedeuten.«
Das war ein kluger Satz. Victorow hatte ihn bei einer Diskussion auf der Straße aufgeschnappt, als eine Gruppe unzufriedener Arbeitsloser sich nicht einig wurde, ob Gorbatschows Reformen wirklich ein Segen für Rußland waren, denn die Kritiker wurden immer lauter, und die Zahl der Verbrechen stieg an, je mehr die staatlichen Zügel durch die persönliche Freiheit gelockert wurden.
Bis zu jenem Tag, an dem ein Bekannter den ahnungslosen Victorow zur Seite nahm und diskret fragte:
»Hast bald einen Schwiegersohn, Petr Nikolajewitsch? Gratuliere. Natalja ist zwar noch jung, aber ihr Körperchen … Wie kann ein Mensch wie du nur eine so schöne Tochter haben?!«
»Wieso Schwiegersohn?« fragte Victorow erstaunt. »Was faselst du da? Es gibt keinen Schwiegersohn!«
»Leugne es nicht. Hat einen guten Fang gemacht, dein Herzblättchen. Einen Major – gut sieht er aus, ein strammes Männchen. Wenn er erst einmal General geworden ist, sitzt du im Buttertopf. Gratuliere, Freundchen.«
Victorow blickte seinen Freund nachdenklich an. Nein, betrunken ist er nicht, dachte er, und geistesgestört ist er nie gewesen. »Du mußt dich geirrt haben«, sagte er nach einigem Nachdenken laut. »Ganz sicher hast du dich geirrt.«
»Unmöglich. Gestern war's: Natalja kam mir entgegen, ging an mir vorbei, so nah, wie wir uns jetzt gegenüberstehen. Und eingehakt hatte sie sich bei diesem schönen Major, und gezwitschert hat sie wie ein Vögelchen und die Augen gerollt und mit dem Hintern gewackelt, daß mir ganz trocken im Hals wurde. Und dann habe ich gesehen, daß sie in ein Hotel gingen … das Hotel Dunja … ein kleines Hotel. Na, was machen Verliebte wohl in einem Hotel, he? Petr Nikolajewitsch, spiel nicht den Ahnungslosen. Ein hoher Offizier ist eine gute Lebensversicherung.«
Victorow schnaufte. Er erinnerte sich: Gestern abend hatte Natalja aus dem Krankenhaus mehr Rubel nach Hause gebracht als an anderen Tagen. »Eine Prämie, Papa!« hatte sie gerufen. »Stell dir vor … ich habe eine Prämie bekommen, weil ich so fleißig bin!« Und er war fast geplatzt vor väterlichem Stolz.
An diesem Abend wurde Natalja nicht wie sonst mit einer Umarmung empfangen. Als sie die Wohnung betrat, fröhlich wie immer, und fünfhundert Rubel auf den Tisch legte, fegte Victorow die Scheine mit einer wilden Handbewegung zu Boden. Erst jetzt sah Natalja, daß Mutter Sonja unter dem in Gold gerahmten Bild der schwarzen Madonna saß und in die Schürze weinte. Und als sie ihren Vater fragend anblickte, sah sie sein gerötetes Gesicht und seine hervorquellenden Augen, deren Blick wie ein Dolchstoß war.
»Wer war es diesmal?« brüllte Victorow und zitterte vor Wut am ganzen Körper. »Ein Oberleutnant oder gar ein Oberst? Fünfhundert Rubel – welch ein geiziger Schwanz!« Er holte tief Atem, sein Herz zuckte krampfhaft … und jetzt, jetzt falle ich um und sterbe an zerbrochenem Herzen, dachte er, getötet von meiner Tochter … und er ballte die Fäuste und schüttelte sie vor Nataljas Gesicht.
»Hure!« schrie er, und seine Stimme überschlug sich. »Meine Tochter ist eine Hure! Wälzt sich in Hotelbetten herum und steckt mir ihren Hurenlohn zu. Mit fünfzehn Jahren das Flittchen der Offiziere! Ich spucke vor dir aus, ich spucke …«
Natalja senkte den Kopf. Auf diese Stunde hatte sie sich vorbereitet, sie mußte ja einmal kommen.
»Väterchen …«, sagte sie mit klarer, kühler und doch kindlicher Stimme.
»Nenn mich nicht so!« Victorow drehte ihr den Rücken zu. »Ich bin nicht mehr dein Vater!«
»Ich tue es für euch.«
Natalja bückte sich, hob die Rubelscheine vom Boden auf und legte sie auf den Tisch zurück. »Nur für euch! Ihr sollt nicht hungern und unglücklich sein. Eine gute Tochter bin ich, die für euch sorgt. Wenn du wieder eine Arbeit findest, Väterchen, höre ich sofort auf. Aber wovon wollt ihr jetzt leben? Von der winzigen Pension, mit der ihr euch nicht mal auf dem Schwarzmarkt eine Scheibe Speck kaufen könnt? Ihr solltet dankbar sein, aber mich nicht verfluchen. Wir wollen überleben – mit welchen Mitteln, danach fragt man nicht.«
Es dauerte drei Wochen, bis sich Victorow damit abgefunden hatte, daß seine schöne Natalja ihnen ein sorgloses Leben bescherte. Zu seiner Frau Sonja sagte er nachdenklich, als er die zwei Pfund Fleisch betrachtete, die sie hatte kaufen können:
»Die heutige Zeit lebt nicht von der Moral, alles hat sich geändert. Leben wir schlecht? Nein! So betrachtet, ist Natalja eine gute Tochter. Jeden Rubel gibt sie uns, diese wirklich schwer verdienten Rubel! Na gut, sie ist eine Hure … aber sie verdient Geld. Sieht man einem Rubel an, ob er in einer Fabrik oder in einem Bett verdient wurde? Wir müssen umdenken, Mütterchen. Und es ist ja auch nur vorübergehend. Ich werde mich weiter bemühen, eine Arbeit zu finden.«
Natürlich fand Victorow keine Arbeit. Die ›untere Klasse‹ wuchs von Woche zu Woche, Natalja nahm Tanzunterricht, nicht bei einem Ballettmeister des Bolschoi-Theaters, sondern bei einer Lehrerin für Striptease, die sie lehrte, sich bei sinnlicher Musik so aufreizend auszuziehen, daß die neuen Reichen mit Rubeln und sogar mit Dollars um sich warfen, um mit der Tänzerin in einem der Hinterzimmer weiterzuspielen.
Als Natalja nach Meinung ihrer Lehrerin reif für die neue Karriere war, verließ sie die Oberschule und nahm ein Engagement in der Bar Tropical an. Es war ein ›In-Lokal‹, wie man so etwas jetzt nannte, besucht von einer neuen Gesellschaftsschicht, die – wer weiß, was sie tagsüber trieb – mit Geld um sich warf und alles kaufte, was käuflich war. Und käuflich war in Rußland jetzt alles, je mehr dieses Land sich dem Westen öffnete. Eine Tänzerin für eine Nacht zu kaufen, gehörte zu den geringfügigen Ausgaben eines angenehmen Lebens.
Das war nun bereits vier Jahre her. Jetzt, im Mai 1991, war Natalja der Star vom Tropical, nahm mehr Rubel ein als der Präsident Rußlands, und Vater Victorow, noch immer arbeitslos, lebte wie ein wohlgenährter Natschalnik, besuchte ab und zu die Bar und sah seiner wunderschönen Tochter zu, wie sie sich aus dem Kostüm schälte und schließlich nackt von der Bühne tänzelte. Und wenn ihn jemand fragte, wie es Natalja gehe, antwortete er stolz:
»Sie ist Tänzerin, Ausdruckstänzerin. Eine wahre Künstlerin. Keine Pawlowa, die ist unerreicht … aber ein Star ist sie trotzdem. Wir sind mit ihr zufrieden.«
An diesem sonnigen Nachmittag im Mai saß Natalja also auf der Bank am Moskwa-Ufer, nahm die Wärme der Sonne in sich auf und dachte über eine neue Tanznummer nach, die sie einstudieren wollte. Eine ziemlich geile Nummer, in der ein Teddybär seine Spielchen zwischen ihren Beinen trieb. Und das war noch die harmloseste Szene der Choreographie.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein auf der Bank zu sitzen. Sie senkte ihren Kopf und öffnete die Augen. Kein Irrtum, neben ihr saß ein Mann mittleren Alters, elegant gekleidet, nach einem herben Herrenparfüm duftend. Durch die tiefbraunen Haare zogen sich einige weiße Fäden, aber das bemerkenswerteste waren seine blaugrünen Augen, eine Farbmischung, die Natalja noch nie gesehen hatte. Diese fordernden Augen blickten sie an, als strichen seine Hände bereits liebkosend über ihren Körper.
Die Hände! Natalja warf einen Blick auf sie. Seine Hände lagen auf seinem linken Oberschenkel, geschmückt von vier dicken Ringen mit Brillanten und blauen Saphiren, die aber nicht davon ablenken konnten, daß die linke Hand nur vier Finger besaß. Es mußte ein Geburtsfehler sein, denn keine Narbe zeigte, daß er den fünften Finger durch einen Unfall verloren hatte.
Der Mann machte im Sitzen eine kleine Verbeugung. Als er zu sprechen begann, wirkte seine tiefe, warme Stimme sympathisch.
»Ein herrlicher Tag«, sagte er. »Man kann richtig aufatmen nach dem langen Winter. Und wer Sie ansieht, Natalja, weiß, was Frühling bedeutet.«
»Sie kennen mich?« Natalja errichtete eine Glaswand zwischen sich und dem Mann. Nachts, da war sie ein anderer Mensch als am Tag. »Ich nehme an, aus dem Tropical.«
»Ich bin Stammgast, seitdem Sie dort tanzen. Wie Sie sich ausziehen … das ist Klasse und hat Rasse.«
»Was wollen Sie?« Ihre Zurückweisung war deutlich genug, um nicht mißverstanden zu werden. Aber der elegante Herr überhörte den abwehrenden Ton und lächelte Natalja an, als sei man sich für eine Nacht einig geworden.
»Ich bin Igor Germanowitsch Sybin«, sagte er. Er sprach den Namen so aus, als erwarte er ein lautes Händeklatschen. Aber Natalja zeigte sich völlig unbeeindruckt.
»Na und?« fragte sie zurück.
»Sie kennen mich nicht?«
»Wie kann man jeden Gast kennen, der in der Bar sitzt, auch wenn er Stammgast ist.«
»Bis auf die, welche das Glück haben, mit tausend Rubel die Tür Ihrer Garderobe zu öffnen.«
»Sie verwechseln Ort und Zeit, Igor Germanowitsch. In der Nacht – das ist mein Beruf, jetzt haben wir Tag, ich sitze auf einer Bank an der Moskwa, lasse mich von der Sonne bescheinen und möchte allein sein. Wenn Sie meinen, ich sei die Tänzerin, dann irren Sie sich. Ich bin die Ihnen fremde Natalja Petrowna Victorowa.« Sie legte den Kopf wieder in den Nacken, schloß die Augen und genoß weiter ungerührt die sie umhüllende Wärme der Maisonne.
Sybin sah sie eine Weile schweigend an und dachte daran, wie betörend dieser Körper auf der Bühne war. Ein Bildhauer aus der Blütezeit Griechenlands hätte ihn nicht besser in weißen Marmor meißeln können. Vollkommene Schönheit.
»Warum sind Sie so kalt, Natalja?« fragte er.
»Am Tag bin ich kalt. Wir sollten uns vielleicht am Abend unterhalten. Wenn Sie in das Tropical kommen …«
»Nicht in der Bar! Auch nicht in Ihrer Garderobe! Ich bin nicht von der Sorte, die mit einem Bündel Rubel eine schöne Frau auf den Rücken zwingen. Ich möchte nicht einer Ihrer Stundenkunden sein.«
Natalja veränderte ihre Haltung nicht. Sie hielt die Augen geschlossen und sonnte sich weiter. Geradezu beleidigend sagte sie nur:
»Und warum sitzen Sie dann da und reden so dumm?«
»Ich möchte Sie nach Ihrem letzten Tanz einladen.«
»Also doch. Sagen Sie das der Tänzerin in der Bar!«
»Nein, nicht in der Bar, Natalja. Ich lade Sie ein zu einem Essen im Kasan.«
Natalja öffnete die Augen, aber sie sah ihn nicht an. Sie blickte in den blauen Himmel und auf eine fast runde, weiße Wolke, die träge in der Unendlichkeit schwamm.
»Ins Kasan kommt man nur mit einer tagelangen Vorbestellung. Und außerdem ist es längst geschlossen, wenn ich meinen Auftritt beendet habe.«
»Ich komme zu jeder Zeit hinein. Wenn Sie sagen: Ja, ich komme … die Köche werden auf uns warten, die Kellner, der Pianist. Auf uns ganz allein.«
Nun änderte Natalja doch ihre Haltung. Sie wandte sich wieder Sybin zu, warf einen Blick auf seine brillantenblitzenden Finger und sah ihm dann ins Gesicht.
»Sie lieben Umwege?«
»Nein! Ich habe nicht die Absicht, in Ihr Bett zu steigen … wenn Sie das meinen.«
»Was sonst?«
»Ich möchte mit Ihnen reden. Nur reden. Vernünftig reden. Ich glaube, das sagte ich schon. Ist dieser Wunsch so schwer zu erfüllen?«
»Sie wären der erste Mann, der in meiner Gegenwart anders denken und mich nicht als eine Ware behandeln würde.«
»Ich bin nicht wie jeder andere Mann.«
»Sind Sie pervers?«
»Manchmal ja – auch das kann ich sein.« Sybins Lächeln veränderte sich nicht. »Aber ich will nur reden! Ist Reden pervers?«
»Jeder Mensch hat seine Eigenheiten. Was weiß ich?« Sie nickte. »Also reden wir …«
»Sie sagen zu, Natalja?«
»Aus Neugier – ja. Und nun lasen Sie mich allein, Igor Germanowitsch. Die Sonne versinkt schneller, als wir es uns wünschen … und ich will die Zeit genießen.«
»Die Zeit genießen – das ist ein gutes Wort.« Sybin erhob sich von der Bank, ergriff Nataljas rechte Hand, hob sie an die Lippen und küßte sie. »Bis heute abend, Natalja Petrowna.«
Er ging schnell und mit kräftigen Schritten davon und verschwand in der Menschenmenge, die auf der Promenade am Fluß den warmen Maitag genoß.
Ein merkwürdiger Mensch, dachte Natalja und schloß erneut die Augen. Man lernt nie aus. Da will einer nur reden und könnte für tausend Rubel den schönsten Körper von Moskau in den Armen halten. Sybin. Igor Germanowitsch Sybin. Sybin? Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? Plötzlich wußte sie, daß er kein Unbekannter war … Sybin, das war ein Klang, der sich in ihr versteckt hatte. Irgendwo war das Wort Sybin schon in ihr Ohr gedrungen.
Sie suchte in ihren Erinnerungen, marterte ihr Gedächtnis, doch Sybin kam nicht zum Vorschein. Als die Sonne blasser wurde, stand sie von der Bank auf, ging hinüber zu dem Taxistand und ließ sich nach Hause bringen. Jetzt gehörte sie zu den Privilegierten, die sich ein Taxi leisten konnten. Unterwegs ließ sie anhalten, kaufte für Mutter Sonja einen Blumenstrauß und für Väterchen Petr zweihundert Gramm Wodka und versank dann bis zur Haustür in tiefes Grübeln.
Sybin. Sybin! Wer ist dieser Sybin? Ein Mann mit vier Fingern an der linken Hand. Ein Mann, der nur reden will – mit dem schönsten käuflichen Körper.
Igor Germanowitsch, Sie werden mir unheimlich, aber Sie wecken auch meine Neugier. Ein interessanter Abend wird es werden …
Der letzte Bühnenauftritt war zu Ende.
Die Gäste in der Bar klatschten begeistert Beifall, auf dem Tisch der Garderobe lagen vier Kuverts mit Rubelscheinen, aber Natalja hatte gleich bei ihrem Kommen zu Semjon, dem Geschäftsführer, gesagt: »Heute nicht! Geh hin und sage den Kerlen, bei mir ist zugesperrt. Nichts … und wenn sie zehntausend Rubel bieten.« Und Semjon hatte sie ungläubig angestarrt und begriff es erst, als sie ihm die Kuverts in die Hand drückte.
Sie hatte Sybin bereits bei ihrem ersten Auftritt an einem runden Tisch in der ersten Reihe sitzen sehen. Er trug einen maßgeschneiderten, dunkelblauen Anzug und dazu eine wildgemusterte Krawatte, und wenn die Scheinwerfer die Bühne erhellten, erzeugte ihr Strahlen ein Funkeln an seinen Fingern. Die Brillanten – zur Schau gestellter Reichtum. Die Protzerei der neuen, russischen Gesellschaft, die an dem seit 1990 gewählten radikalen Reformer Jelzin vorbei regierte, war eine im Verborgenen herrschende Macht, die in allen Bereichen, die Geld brachten, mitmischte. Die Kluft zwischen Arm und Reich war größer denn je geworden, und die Erinnerung an das alte Zarenreich tauchte wieder auf, als es die Adeligen und die Bojaren gab, und dann nur noch das gemeine Volk, die Kulaken, Tagelöhner und Bettler. Nur die Leibeigenen gab es nicht mehr … oder sie hießen jetzt anders. Wer abhängig war vom Wohlwollen seines Arbeitgebers, fühlte sich jetzt zwar frei, weil er alles glaubte, was dieser ihm einredete, aber in Wahrheit hatte sich am Sklaventum nichts verändert … es war nur nicht mehr so offensichtlich.
Im letzten Tanz steigerte sich Natalja noch um einige Nuancen. Sie stellte sich am Schluß Sybin gegenüber an den Rand der Bühne, zum Greifen nahe saß er da mit seinen Brillanten, und – jetzt kommt es, Sybin, dachte sie – spreizte die Beine und schob mit rhythmischen Stößen ihre Hüften nach vorn.
Sieh es dir an, Sybin, dachte sie. Sieh nur hin, du Brillanten-Igor! Nur reden willst du mit mir?! Reden! Läßt dich das völlig kalt, was du jetzt siehst? So bin ich. So und nicht anders. Das Mädchen auf der Bank am Fluß ist ein anderer Mensch, der nichts gemein hat mit dem, der dir jetzt entgegentritt!
Unter lautem Gejohle und Klatschen verließ Natalja die Bühne. Die Gäste waren außer Rand und Band, so etwas hatte man von Natalja noch nicht gesehen. Welch ein geiles Luderchen … bestimmt erhöhte sie ab heute den Preis.
Sybin wartete draußen auf der Straße, bis sich die Gäste zerstreut hatten und Natalja allein durch einen Seiteneingang die Bar verließ. Er kam ihr entgegen und begrüßte sie wie eine Schwester mit einer geradezu keuschen Umarmung.
»Du warst fabelhaft«, sagte er. Das Du war jetzt selbstverständlich. »Komm, steig ein. Im Kasan warten alle auf uns.«
Sybin zeigte auf einen großen, schwarzen Wagen, der einige Meter neben dem Eingang zur Bar parkte. Ein 600er Mercedes, blitzend vor Sauberkeit. Natalja blieb stehen und starrte Sybin an.
»Der da?« fragte sie.
»Ja.«
Ein Chauffeur stieg aus dem Wagen und riß die Türen auf. Wie bei den westlichen Kapitalisten nahm er sogar seine Mütze vom Kopf.
»Du hast einen Fahrer?« Natalja wurde es langsam unheimlich.
»Wie du siehst. Es ist Wladimir, genannt Wladi. Ein treuer, ergebener Mensch. Durchs Feuer geht er für mich. Ein starker Mensch … kann Karate und Kung-Fu und zerteilt mit seiner Handkante drei Ziegelsteine.«
Natalja rührte sich nicht vom Fleck. Der teure Wagen, ein Chauffeur, der Kung-Fu beherrschte, Finger voller Brillantringe, das Restaurant Kasan, das weit nach Mitternacht nur für ihn offenhielt, mit dem gesamten Personal …
»Wer bist du?« fragte sie.
»Sybin …«
»Und weiter?«
»Igor Germanowitsch.«
»Red keinen Unsinn! Ich will wissen, was du bist.«
»Darüber will ich mit dir im Kasan reden.«
»Bist du Besitzer eines geheimen Herrenclubs?«
»Nein.«
»Kontrollierst du die Moskauer Huren?«
»Laß uns fahren.« Etwas in Sybins Stimme hielt Natalja davon ab, weiterzufragen. Sie ließ sich am Arm nehmen und zu dem großen schwarzen Wagen führen. Sie nickte Wladi zu, ehe sie einstieg und sich in die dicken Lederpolster fallen ließ. Sybin setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern.
Gleich wird er zu fummeln anfangen, dachte Natalja. Er ist doch nicht anders als die anderen Kerle. Aber ich werde ihm auf die Finger schlagen. Ja, das werde ich.
Doch Sybin benahm sich anständig. Er erzählte auf der Fahrt von einer Reise nach Bukarest, und als sie vor dem Portal des Kasan hielten, half er ihr vorbildlich, aus dem Wagen zu steigen.
Kasan, der Luxusgourmettempel Moskaus, empfing sie wie ein Zarenpaar. Der Pianist spielte an einem Flügel, die Kellner standen aufgereiht wie bei einer Parade, der Geschäftsführer überschlug sich fast mit: »Es ist uns eine Ehre. Bitte dort der Tisch mit dem Rosenstrauß«, und der Chefkoch wartete am Eingang zur Küche mit einem Blatt Papier in der Hand, auf das er die Vorschläge für ein exklusives Dinner geschrieben hatte.
Während des Essens, zu dem es einen milden, dunkelroten Wein aus Grusinien gab, plauderte Sybin über alles und Unwichtiges, aber als nach dem Kaffee und einem milden Kognak von der Krim der Tisch abgeräumt war und eine Flasche Krimsekt serviert wurde, sagte er plötzlich:
»Natalja, du bist zu schade, deinen Körper allen zu zeigen. Du bist zu schade, eine Mitternachtshure zu sein. Du bist zu schade für das Leben, das du jetzt führst. Auf dich wartet eine andere Welt.«
»Willst du mich zu deiner Dauergeliebten machen?« Sie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Ich eigne mich nicht dafür, meine Freiheit mit einem einzigen Bett zu vertauschen.« Und plötzlich wurde sie sehr ernst und blickte Sybin mit einem harten Schimmer in den Augen an. »Ich hasse Männer!«
»Und nimmst sie doch mit in dein Hinterzimmer …«
»Das ist ein Beruf, sonst nichts. Ob ich auf dem Markt Kartoffeln verkaufe oder in einem Geschäft Strümpfe und Schuhe – oder meinen Körper, wo ist da ein Unterschied? Wer bezahlt, bekommt seine Ware. Was danach übrigbleibt, sind Ekel und Haß.«
»Du hast dich noch nie verliebt?«
»Nein!«
»Wie alt bist du? Ehrlich.«
»Neunzehn – aber meine Seele hat Falten wie eine Siebzigjährige.«
»Sie lassen sich ausbügeln.«
»Bist du das Bügeleisen? Da muß ich aber lachen, Igor Germanowitsch.«
Sybin schaute in das leere Lokal und hob dann die Hand. Er winkte damit, als wehre er eine Biene ab, und rief in herrischem Ton:
»Ich will allein sein. Alles raus … sofort raus … Alle!«
Die Wirkung seiner Worte war so, als habe er eine Peitsche geschwungen. Sofort verschwanden die Kellner durch die Tür zur Küche, der Geschäftsführer eilte hinaus in die Garderobe, und der kleine, grauhaarige Pianist in seinem schwarzen Anzug raffte seine Noten zusammen, machte zu Sybin hin eine Verbeugung und verschwand ebenfalls durch eine Seitentür. Natalja beobachtete das alles mit maßlosem Erstaunen.
»Verdammt, wer bist du?« fragte sie wieder. »Sie gehorchen deinem Befehl. Bist du ein neuer Zar?«
»Das möchte ich nie sein. Die Herrschenden stehen im kalten Licht … die wirklich Herrschenden regieren aus dem Hintergrund.«
»Und einer von ihnen bist du?«
»Wer ist Gorbatschow?«
»Hältst du mich für dumm? Der Präsident der UdSSR.«
»Und wer ist Jelzin?«
»Der Vorsitzende des Obersten Sowjets.« Natalja schob ihr Sektglas zur Seite. »Ist das die Unterhaltung, wegen der wir hier sitzen? Ein dämliches Quiz?«
»Ich will dir etwas von der Zukunft erzählen.« Sybin ergriff ihre Hand, küßte sie wieder und hielt sie danach fest zwischen seinen geschmückten Fingern. »Glasnost und Perestroika – Gorbatschow sei geküßt – haben Rußland verwandelt. Öffnung heißt Freiheit … aber was bedeutet die Freiheit für ein Volk, das siebenundsechzig Jahre lang von Partei, KGB, Funktionären, Kommissaren und verrückten Jahresplänen, die nie jemand einhielt, regiert wurde? Du stehst plötzlich vor einem weiten Land, und man sagt zu dir: Das gehört jetzt dir. Aber was willst du mit dem Land? Wo sind die Maschinen, die es bearbeiten sollen? Wo ist die Kraft, die eine neue Zeit emporträgt? Wo sitzt die Intelligenz, das neue Rußland zu führen? Die früheren Natschalniks hat man hinausgeworfen, die neuen irren noch in ihren Aufgabenbereichen umher, die Reformen erfolgen Schlag auf Schlag – in der Theorie bedeuten sie eine Veränderung der Gewohnheiten, aber in der Praxis eine lähmende Unsicherheit. Also wurde es notwendig, neue Strukturen zu schaffen.« Sybin trank einen Schluck Sekt. »Verstehst du?«
»Nein. Ich verstehe nur, daß es immer mehr Arbeitslose gibt, immer mehr Elend, eine Masse von enttäuschten und belogenen Menschen. Ich brauche nur meinen Vater anzusehen. Man hat ihm außer der Arbeit auch noch den Wodka genommen.«
»Das Alkoholverbot war ein großer Fehler Gorbatschows. Er hätte gewarnt sein müssen bei einem Blick auf Amerika. Die dortige Prohibition in den zwanziger Jahren wurde zum Fundament des Gangstertums. Die Mafia entstand, die Cosa Nostra, Al Capone, Bugsy Siegel, Lucky Luciano, all die großen Namen der Unterwelt regierten Städte wie New York, Chicago und Los Angeles und darüber hinaus ganz Amerika … ja, und nicht anders sieht es jetzt im neuen Rußland aus. Auf der Tribüne stehen die Volkshelden, die großen Reformer im Licht der Popularität … aber hinter ihnen, stark und mächtig, stehen unsichtbar die Männer, die an den Fäden ziehen.«
Natalja starrte Sybin mit so ungläubig geweiteten Augen an, daß dieser lachen mußte.
»Begreifst du jetzt, meine Schöne?« fragte er und küßte erneut ihre Hand.
»Du … du bist einer von ihnen?« fragte Natalja stockend. »Wieso? Was bist du?«
»Wir sind eine Organisation von Spezialisten. Es gibt bisher zwölf Gruppen, die nicht nur in Rußland, sondern weltweit arbeiten. Wir haben Zweigstellen in Deutschland und Österreich, in Frankreich und Polen, in Ungarn und im Iran, in den USA und sogar in Italien.«
»Und du … du bist der Oberste dieser Zwölf …«
»Nein. Jede Gruppe hat ihren eigenen … Direktor, nennen wir ihn. Ich kontrolliere die Gruppe III, aber viele Drähte, an denen die wichtigsten Wirtschaftszweige hängen, laufen durch meine Hände.«
»Jetzt verstehe ich.« Natalja straffte sich. Die Erkenntnis, wer Sybin war, ließ sie versteinern, und gleichzeitig spürte sie, wie Angst durch ihren Körper rann, sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. »Du bist einer der Führer der Mafia, von der jetzt alle reden. Du bist ein Verbrecher!«
»Ich bin ein Geschäftsmann. Nein, starre mich nicht so an, Natalja, ich will das böse Wort Verbrecher überhört haben. Unserem Konzern – das ist ein gutes Wort – gehören bis heute siebenundzwanzigtausend Betriebe aller Sparten, neunhundert Banken und etwa siebzigtausend Wohnungen. Die großen Baugesellschaften in Rußland gehören größtenteils uns, und wer uns noch nicht gehört, zahlt eine Gebühr dafür, daß er bauen darf. Siebzig Prozent aller Betriebe, Läden, Fabriken und Unternehmer zahlen ein Schutzgeld, das sie davor bewahrt, in die Luft gesprengt oder liquidiert zu werden. Zuerst gab es Unwillige, und die Popen hatten Hochkonjunktur bei den Beerdigungen … das läßt sich nicht vermeiden, der Aufbau eines Geschäfts erfordert Härte und Konsequenzen. Es ist ein altes Naturgesetz, seit es Leben auf der Erde gibt: Nur der Stärkere überlebt.«
»Du … du hast Menschen getötet?«
»Nein. Das macht die Gruppe I.« Sybin tätschelte Nataljas Hand. Sie ließ es über sich ergehen; sie war wie gefroren, ein Eisklotz, der sich nicht bewegen konnte. »Ich habe mit meiner Gruppe den Rauschgifthandel organisiert und dann später – da es eine Ergänzung ist und zusammenpaßt – den Mädchenhandel. Die westlichen kapitalistischen Staaten sind gierig auf russische Mädchen. Waren vorher Huren aus Thailand, den Philippinen, China und Malaysia die Favoriten, so sind es jetzt die Huren aus dem Osten. Die asiatische Welle ist vorbei … Russinnen, Polinnen, Frauen aus Tschechien und Ungarn mit ihren wohlgeformten Rundungen sind gefragt. Für die Bordelle sind die Asiatinnen zu klein und zu mager … man will wieder Fleisch in den Händen haben.«
Sybin lehnte sich zurück. Er las das Entsetzen in Nataljas Augen und bedauerte, das alles sagen zu müssen. Aber es war notwendig für den Plan, den er mit Nataljas Hilfe verwirklichen wollte. »Seit einem Jahr«, fuhr Sybin fort, »habe ich auch den Autodiebstahl und den Autoschmuggel über die polnische Grenze übernommen. Ein gutes Geschäft, aber im großen gesehen, doch nur ein Nebengeschäft. Mir kam es eigentlich nur darauf an, Kontakte zu kriminellen Kreisen in Deutschland zu bekommen, um eine neue, noch geheime und weltumspannende Gruppe zu gründen. Ein Milliardengeschäft … keine Rubel, sondern Dollars, deutsche Mark, französische Franc, österreichische Schillinge und Schweizer Franken. Milliarden, sage ich dir. Und ein bisher völlig unbekannter Markt, weil die Moralisten der westlichen Welt sich so etwas noch gar nicht vorstellen können. Aber mit Moral wird man nicht reich, bekommt man keine Macht, kann man die Welt nicht regieren. Wir, Natalja, wir werden es bald können. Wir werden reich sein und die Macht über diese Erde in den Händen halten.«
Er hielt inne, trank sein Sektglas leer und goß sich und Natalja erneut ein. Dann hob er sein Glas, prostete ihr zu und wartete, daß auch sie ihm ihr Glas entgegenhielt. Aber sie saß steif und unbeweglich vor ihm und starrte ihn nur an.
»Begreifst du, was ich sage?« fragte er und trank sein Glas Sekt zur Hälfte leer.
»Ja und nein.« Dies waren die ersten Worte, die sie hervorbrachte, gepreßt, mit zugeschnürtem Hals. »Warum erzählst du mir das alles? Du solltest Angst haben, daß ich heute nacht noch den KGB anrufe.«
»Meine Schöne –« Sybin lächelte wie nach einer Liebeserklärung. »Du wirst nicht ein Wort sagen von dem, was nur wir zwei gehört haben. Da bin ich sicher. Einen Sybin verrät man nicht. Das erste Gebot unseres Ehrenkodexes heißt: Schweigen. Wer es verletzt …«
Sybin zuckte die Achseln, und Natalja verstand ihn sofort. Sie nickte kurz, und es war schmerzhaft, den Kopf überhaupt zu bewegen.
»Willst du mich auch an ein Bordell in Deutschland verkaufen?« fragte sie ungläubig.
»Natalja, welch ein Gedanke! Wenn ich das wollte, wärst du jetzt schon unterwegs zur Grenze.«
»Was willst du dann?«
»Ich werde aus dir eine der reichsten und schönsten Frauen der Welt machen. Die Männer werden dir zu Füßen liegen … auch wenn du sie haßt.«
»Und meine Gegenleistung?«
»Du sollst meine Sonne sein, die in jeden Winkel strahlt.«
»Wie poetisch. Eine Sonne des Verbrechens!«
»Laß mich weiter erzählen, damit du deine Aufgabe begreifst.« Sybin legte die Hände übereinander. Die linke Hand lag jetzt auf der rechten … die linke Hand mit den vier Fingern. Er hat wirklich keine Narbe, dachte sie. Es ist ein Geburtsfehler. Welch ein eitler Mensch er ist. Er sucht nach Vollkommenheit und ist selbst eine Mißgeburt. Wie muß ihn das erschüttern.
»Wir haben unser Machtimperium in Rußland aufgebaut. Unsere Vertrauten sitzen in allen wichtigen Positionen des Staates: in den Ministerien, im KGB, im Obersten Sowjet, beim Militär, in allen staatlichen Betrieben, bei der Energieforschung, im diplomatischen Corps. Sie alle, diese Freunde, halten die Hand auf, und wir legen die Scheinchen hinein. Es war nie anders in Rußland, nur ist jetzt unser Konzern der Geldgeber. Das bedeutet: Wir wissen alles. Der Informationsfluß gleicht einem strömenden unterirdischen Gewässer. Natalja, was weißt du von Gorbatschow?«
»Was wir alle wissen – er hat es schwer mit seinen Reformen.«
»Er wird bald in aller Ruhe in seiner Datscha leben können.« Sybin blickte an die Decke, als wolle er dort seine weiteren Worte ablesen. »Man plant, Gorbatschow mit einem schnellen, schmerzlosen Putsch zu entmachten. Im August soll er stattfinden, und Boris Jelzin soll an seine Stelle treten. Der KGB-Vorsitzende Wladimir Krjutschkow ist einer der Köpfe der Putschisten. Es wird sich nach dem Putsch vieles ändern … in der Partei, in der Wirtschaft, im militärischen Bereich, in der Außenpolitik. Wir wissen, daß Jelzins Pläne darauf hinauslaufen, mit den USA einen Atomsperrvertrag zu unterzeichnen, der alle Atomtests verbieten soll, die weitere Herstellung von waffenfähigem Uran und Plutonium soll eingestellt werden, die vorhandenen Atomraketen sollen vernichtet werden. Einen Atomkrieg soll es nicht mehr geben. Die Welt soll sicher und angstfrei werden.«
»Das weißt du alles im voraus?«
»Ich sagte schon: Unsere Informanten sitzen überall. Das versetzt uns in die Lage, weit voraus zu planen. Wenn Rußland diesen Atomsperrvertrag unterschreibt, wird es eine dramatische Entwicklung geben: Die Atomforschungsinstitute werden geschlossen, von heute auf morgen werden Tausende von qualifizierten Forschern arbeitslos, die Atomstädte wie Semipalatinsk, Krasnojarsk, Tomsk, Tscheljabinsk und die anderen geheimen Forschungsstätten in Sibirien und Kasachstan werden tote Städte werden, in denen die Arbeitslosen in den Parks herumsitzen und jede Arbeit annehmen, um ihren Hunger zu stillen. Auf sie können wir zurückgreifen … und auf die arbeitslosen Atomforscher und ihre Teams. Und dort, in den Forschungszentren und den Atomkombinaten liegen unsere Milliarden. Sie liegen herum wie in einem Selbstbedienungsladen … man braucht sie nur einzusammeln!«
»Was willst du dort einsammeln?«
»Waffenfähiges Plutonium 239, Uran 235, Plutoniumbrennstäbe, Lithium 6, zündungsfähige Atombomben und Atomraketen …«
»Und was soll man damit anfangen?«
»Aus Plutonium – aus nur fünf Kilogramm – kann man eine Bombe bauen, gegen die die Bombe von Hiroshima nur ein Windhauch war. Mit Lithium 6 baute man die Wasserstoffbombe, mit Uran die Uranbombe.«
»Bomben! Bomben! Bomben! Wer will sie denn?«
»O Natalja. Es gibt viele Staaten, die eine Atommacht werden wollen: der Iran, Pakistan, Libyen, Korea, Herrscher in Schwarzafrika … es wimmelt nur so von Interessenten.«
»Igor Germanowitsch … es ist ein Geschäft mit millionenfachem Tod. Willst du die Menschheit auslöschen?«
»Ich bin ein Händler, weiter nichts. Ich liefere, wonach Nachfrage besteht. Was der Käufer damit macht … ist es meine Schuld? Es ist wie mit der Kartoffel: Man kann sie kochen und essen, oder man kann aus ihr verbotenen Schnaps brennen. Soll man deswegen jeden Kartoffelverkäufer anklagen? Natalja, in Kürze werden ungefähr sechstausend Arbeiter der Atomindustrie auf der Straße stehen, und in den Lagern befinden sich jetzt hundertachtzig Tonnen Plutonium, hat man uns verraten. Hundertachtzig Tonnen … das reicht für sechsunddreißigtausend Atombomben!« Sybin atmete tief durch. »Ich habe die Preise erkundet. Für ein Kilo Plutonium 239 zahlen die Interessierten zweiundsechzigeinhalb Millionen Dollar. Das heißt: Für fünf Kilo zum Herstellen einer Bombe sind es dreihundertzwölfeinhalb Millionen Dollar! Für fünf Kilo! Und wir haben hundertachtzig Tonnen in Rußland herumliegen! Das ist das größte Geschäft, seit diese Welt besteht.«
Natalja war beeindruckt von diesen Zahlen, aber es waren für sie eben nur Zahlen, mit denen sie nichts anfangen konnte.
»Und was habe ich damit zu tun?« fragte sie.
»Du wirst die Türen öffnen, hinter denen die Millionen liegen.«
»Ich? Was habe ich mit Plutonium zu tun?«
»Das Plutonium bin ich … du wirst die Kunden betreuen. Eine so wunderschöne Frau wie du kennt keine verschlossenen Türen. Du wirst den Markt öffnen, so wie du deine Schenkel öffnest. Deine Arbeit bekommt jetzt einen höheren Sinn.«
Sybins Lächeln war durchaus nicht sarkastisch oder ironisch … es war ein Lächeln, als habe er ihr eine Liebeserklärung gemacht. Aber Natalja fror plötzlich, als ob eine eisige Hand über ihren Rücken striche.
»Ich soll die Hure der Mafia werden …«, stieß sie hervor.
»Du sollst unsere verführerischste Vermittlerin sein. Du arbeitest als Repräsentantin eines Konzerns … ist das gegen deine Ehre? Es gibt keine lächerliche Tausendrubelnacht mehr … dazu bist du zu schade. Die Männer, die du beglücken wirst, sind internationale Größen. Und bei jeder Nummer mußt du denken: eine Million … und wieder eine Million … und noch eine Million … Mach nicht schlapp, Mustafa oder wie du heißt …«
»Igor Germanowitsch, du bist ein Schwein. Eine sich im Dreck wälzende Sau! Und du denkst wirklich, ich spiele da mit?«
Sybin nickte mehrmals. »Ja. Du wirst eine reiche Frau sein. Jetzt denke nicht, daß die Hunderte von Millionen Dollar mir allein gehören. Sie gehören dem Konzern. Die Idee stammt zwar von mir, aber unsere Firma ist auf Freundschaft und Brüderlichkeit aufgebaut. Nur ein Rubel in die eigene Tasche, und ein Ehrengericht deiner Freunde beschließt, daß du nicht mehr würdig bist, zu leben.«
»Du bekommst nichts von den Millionen?«
»Zwanzig Prozent von jedem bezahlten Verkauf.«
»Das heißt …« Natalja hielt kurz den Atem an, »für fünf Kilo Plutonium, das für eine Bombe reicht, wie du sagst, bekommst du für dich allein einunddreißigeinhalb Millionen Dollar?«
»Du kannst gut rechnen, Natalja. Fünf Kilo … es liegen Tonnen von Plutonium und Uran herum. Man muß nur an sie herankommen.«
»Und das ist schwer!«
»Aber nicht aussichtslos. Unsere gesamte Organisation arbeitet daran: mit Bestechung, Erpressung, mit Drohungen und körperlicher ›Überzeugungsarbeit‹ und mit moralischem Druck im Bett. Das wird deine Abteilung sein, meine Schöne. Auch der charakterfesteste Atomwissenschaftler wird letztlich von seinen Hormonen geleitet. Wem die Lenden glühen, dem verbrennt der Verstand. Die Schaltzentrale jeden Mannes ist sein Schwanz. – und wer diesen beherrscht, beherrscht den ganzen Menschen.«
»Ich liebe solche ordinären Sprüche nicht, Sybin!« Natalja griff nach ihrem Sektglas und trank es in einem Zug leer. Sie entzog ihre Hand Sybins Finger, die sie immer noch umklammert hielten.
»Zehn Prozent«, sagte sie mit plötzlich harter Stimme.
»Was heißt zehn Prozent?« fragte Sybin überrascht zurück.
»Wenn ich als Oberhure der Mafia mitspiele … zehn Prozent von jedem Geschäft.«
»Natalja, du bist verrückt!« Sybin verzog seine Lippen, sein schönes, männliches Gesicht wurde schief. »Wir dachten an ein gutes Gehalt. Ein Direktorengehalt, wie es kein Industriemanager bekommt. Ein Gehalt, das deutsche oder amerikanische Vorstände erbleichen läßt.«
»Eine große Aufgabe erfordert eine große Investition. Ich ficke nicht für ein Monatsgehalt.«
»Jetzt bist du ordinär!«
»In dieser Sprache werden wir uns vielleicht besser verstehen.«
Sybin schwieg und sah sie lange wortlos an. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, über ihren Hals, hinunter zu dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides und über ihre nur halb verdeckten Brüste. Ein Blick, gefährlich und rätselhaft.
Was denkt er jetzt, dachte Natalja und atmete flacher. Ist das der Blick eines Killers, der sein Opfer abschätzt, um sich zu entscheiden: Ziele ich auf die Stirn, zwischen die Augen oder aufs Herz? Natalja, sind das deine letzten Minuten? Du bist zu weit gegangen, du hast die Grundregel der Mafia – Stell niemals Forderungen! – verletzt. Erpressung ist das letzte, was die Mafia ertragen kann … Erpressung kommt sofort nach dem Verrat.
»Was ist?« fragte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Denkst du nach?«
»Ich denke an eine bestimmte Möglichkeit.« Sybin legte die Arme auf den Tisch und stützte sein Kinn auf die gefalteten Hände. Sein Blick aber blieb an Natalja haften. »Es wäre möglich zu sagen: Gut! Laß sie laufen. Vergiß alles. Zieh einen Strich. Mach die Rechnung auf: Sie weiß zuviel, sie ist eine Gefahr geworden, und Gefahren muß man beseitigen. Begleite sie aus dem Kasan hinaus, gehe mit ihr zu deinem Wagen, gib Wladi ein Zeichen, und er übernimmt es, sie mit einem Stahldraht zu erwürgen. Lautlos und schnell. Die Polizei, die irgend jemand am Morgen rufen wird, läßt einen Wagen kommen und schafft sie weg. Wieder eine, wird es heißen. In dieser Nacht der vierte Mord. Und, wie es aufgrund ihrer Kleidung scheint, eine Hure. Es lohnt sich kaum, ein Protokoll anzulegen. Ein paar Tote pro Nacht gehören zum Moskauer Alltag. Ja, so könnte man denken und Probleme lösen.«
»Das wirst du nie tun, Igor Germanowitsch«, sagte Natalja. Ihre Stimme klang heiser vor Angst. »Du kannst mich nicht töten.«
»Nein, ich kann dich nicht töten.« Er hob den Kopf von seinen Händen. »Auch mich hast du zu einem Idioten gemacht … Ich liebe dich.«
»Wir kennen uns kaum! Willst du mit mir schlafen? Willst du mit einem Eiszapfen schlafen?«
»Ich biete dir drei Prozent.«
»Fünf!«
»Vier.«
»Fünf … oder vergiß es.« Einen Moment preßte sie die Lippen aufeinander und sagte dann mit fester Stimme: »Oder bring mich um, wenn du es kannst. Hast du überhaupt eine Waffe bei dir?«
»Immer. Eine Makarow. Willst du sie sehen?«
»Wenn du willst! Ich habe Angst davor, zusehen zu müssen, wie du abdrückst. Es war meine Dummheit, hierherzukommen. Dummheit hat Folgen … also bitte, hol die Pistole heraus.«
»Einverstanden.« Sybin lehnte sich wieder zurück und – lächelte. »Fünf Prozent! Wie könnte ich dich jemals töten? Aber ich verfluche den ersten Abend im Tropical, an dem ich dich gesehen habe. Igor Germanowitsch, habe ich damals zu mir gesagt, das ist die Frau deines Lebens. Leugne nicht, es hat keinen Zweck.«
»Ich werde nie die Frau deines Lebens sein.«
»Jeden Abend habe ich dann an der Bar gesessen und auf die Bühne gestarrt, auf der du dich auszogst und den Körper einer Göttin zeigtest, allen diesen geilen Böcken, die dir mit den Rubelscheinen oder mit Dollar zuwinkten. Diese ›neue Gesellschaft‹, diese Sumpfblasen, dieser stinkende Abfall, der plötzlich golden glänzt, diese Jüngelchen und die alten Faltensäcke, die als skrupellose Geschäftemacher ihr Volk betrügen …«
»Moment!« Natalja hob die Hand. »Bist du etwas anderes, du Mafiafürst?«
»Ich vergleiche mich nicht mit diesem Abschaum!« Sybin sah sich um. Die Sektflasche war leer. Er stand auf, ging zu dem großen Tisch, auf dem als Dekoration einige Flaschen besten Weines standen, nahm eine Flasche Bordeaux und kehrte zu Natalja zurück. Da er keinen Korkenzieher hatte, aber auch keinen Kellner rufen wollte, köpfte er mit einem Hieb seines Messers den Flaschenhals und goß den tiefroten Wein unbekümmert in die Sektgläser. Erst dann probierte er, schnalzte mit der Zunge und trank genüßlich einen langen Schluck.
»Weißt du, daß ich jeden hätte ermorden können, der nach der Vorstellung in deine Garderobe kommen durfte? Diese schmierigen Ratten! Doch dann habe ich zu mir gesagt: Igor, du wirst sie da herausholen. Es soll keinen Tausendrubelfick mehr geben …«
»Aber für eine Million … das ist etwas anderes?«
»Ja.«
»Ihr lieben Leute … vernehmet die neue Moral! Auch hier gibt es Reformen!«
»Wir werden ein Team sein, eine Gemeinschaft, die engste Gemeinschaft, die es gibt. Alles, was wir tun werden, geschieht zu unserem Besten. Es ist für uns.«
»Das klingt, als wären wir ein Ehepaar.«
»Im Bett nicht, aber beim Erfolg.«
»Ich hasse dich, Igor Germanowitsch!« sagte Natalja. Sie ballte die Fäuste und preßte sie gegen ihre Brust. »Mein Gott, wie hasse ich dich!«
»So soll es sein!« Sybin lachte schallend. »Das ist die beste Voraussetzung für die Liebe.«
Kurz danach verließen sie das Kasan, stiegen in den Wagen, und Wladi fuhr Natalja nach Hause. Als sie vor dem Wohnblock hielten – ein seelenloser, häßlicher Betonsilo in Plattenbauweise –, half Sybin Natalja wieder mit aller Höflichkeit auf die Straße und blickte die glatte, scheußliche Fassade hinauf.
»Hier wohnst du?«
»Ja. Bei meinen Eltern.«
»Sie wissen, was du treibst?«
»Sie leben davon … darum tu ich es ja.«
»Das brave Töchterchen.«
»Du weißt nicht, was Hunger und Elend sind, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und innere Leere. Du bist die Made im fetten Speck.«
»Ich bin aufgewachsen in einer Blechhütte in der Nähe von Kysilmow. Du kennst Kysilmow nicht? Wer kennt es schon! Ein Dorf am Rande des Moores. Im Winter vereist, im Sommer unter einer Wolke von Stechmücken. Mein Vater war Wurstmacher, er war beliebt wegen seiner Gewürzmischungen, die er keinem verriet. Und meine Mutter … sie war damit beschäftigt, immer schwanger zu sein. Nach dem zwölften Kind sagte sie mutig: ›Stepan, wenn noch eines kommt, schneide ich dir den Schwanz ab!‹ Das half. Mein Vater wurde wachsam, er wußte, daß sie es wahrmachen würde. Mit zwölf Jahren bin ich ausgerissen. Nach Moskau. Bin mit Güterzügen gefahren und habe mir mein Essen zusammengestohlen. Das war der Anfang. Und was bin ich jetzt?« Er zeigte auf den Mercedes und auf den wartenden Wladimir mit seinen weißen Handschuhen. »Man muß nur Mut haben und keine Seele.«
Er griff wieder nach Nataljas Hand, drückte sie an seine Lippen und zeigte dann die Hausfassade hinauf.
»Sag deinen Eltern, sie werden bald in einer schönen Datscha wohnen und im Sommer am Strand von Sotschi in der Sonne liegen. Und das alles, weil ihr Töchterchen bei jeder Nummer zählt … eine Million, noch eine Million … zehn Millionen … Wir sehen uns morgen wieder.«
Er ging zurück zu seinem Wagen, Wladi riß die Tür auf, und sie fuhren schnell davon. Natalja blickte ihnen nach, bis sie um die Ecke bogen.
»Und ich hasse dich doch!« sagte sie und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Igor Germanowitsch, du wirst noch viel mit mir erleben …«
Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer verließ General Alexander Nikolajewitsch Petschin seine schöne Wohnung in Karlshorst und kehrte nach Moskau zurück.
Er bedauerte das sehr. Im Laufe der Jahre hatte er viele Freunde gewonnen, verkehrte im Hause von Mielke, dem Chef der Staatssicherheit der DDR, kannte eine Menge wichtiger Leute aus der Regierung, wurde bei Spionagechef Wolf zum Kaffee eingeladen und war ein gern gesehener Gast bei den Wirtschaftsbossen, mit denen er in dem feudalen Grand Hotel, dem Vorzeigehotel der deutschen Genossen, rauschende Feste feierte. Eine abgelegene Suite war immer für ihn reserviert … hier empfing der adrette General seine Gespielinnen, aber auch äußerlich unscheinbare Herren, die in diskreten Geschäftsbeziehungen zu ihm standen.
Bei solchen Treffen trug Petschin natürlich keine Uniform, sondern einen unauffälligen mittelblauen Anzug. Wenn er das Prachtstück des Grand Hotels, die riesige, breite, mit rotem Teppich bespannte Freitreppe, hinunter in die runde Halle schritt, hätte niemand geglaubt, daß er einer der wichtigsten Männer der sowjetischen Besatzungsmacht war. Er war verantwortlich für die gesamte Logistik der Berlintruppe, und das war eine Position, die Macht bedeutete. Ohne General Petschin passierte in Berlin nichts.
Über seinen Schreibtisch wurde die gesamte Versorgung der sowjetischen Garnison abgewickelt, einschließlich der Waffenkontrolle, obwohl es dafür eine eigene Abteilung gab, die sein Freund Kusma befehligte. Aber Kusma war nicht nur ein Freund, sondern so etwas wie ein illegales Familienmitglied – er war der Liebhaber von Petschins Schwägerin Olga, der Schwester der Frau Generalin. Eine so enge Verbindung ist zugleich auch eine Verpflichtung. Für Petschin gab es also nichts, was er nicht beschaffen konnte … für eine Gehaltsaufbesserung die beste Voraussetzung.
Also war es verständlich, daß General Petschin nicht nur im Grand Hotel mit den Spitzen der DDR-Regierung dinierte, sondern auch Kontakte zu den ›untergeordneten Kreisen‹ pflegte. Hier – vor allem in der Stasi, dem Staatssicherheitsbüro – fand er die Männer, die über beste Beziehungen im westlichen Ausland verfügten und manche lukrativen Geschäfte vermittelten. Natürlich gegen eine prozentuale Beteiligung – das ist so selbstverständlich im Geschäftsleben, daß man darüber nicht zu sprechen braucht, denn aus einem großen Trog können mehrere Pferde trinken.
Zwei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer traf General Petschin als harmloser Zivilist in Moabit, in der beliebten Kneipe Zum dicken Adolf, zwei sehr seriös aussehende Herren: den Rechtsanwalt Dr. Paul Sendlinger und den Major der Stasi Ludwig Waldhaas. Zu ihnen gesellte sich auch der Wirt, Adolf Hässler, ein ziemlich fülliger Mann, der dem Namen seiner Kneipe alle Ehre machte.
Aber das war ein Zufall. Die typische Moabiter Gastwirtschaft existierte schon seit über zweiundsiebzig Jahren und war weithin bekannt geworden, als 1934 das Gewerbeamt unter seinem neuen NSDAP-Direktor verlangte, den Namen zu ändern. Weg mit dem Adolf und erst recht mit dem ›dicken‹, man schlug statt dessen, im Hinblick auf die lange Tradition der Kneipe, den Namen Deutsche Eiche vor. Aber Adolf Hässlers Vater Julius lehnte es ab, sich wegen des schlanken Adolfs umzubenennen. Und als Julius Hässler 1943 an der Rollbahn Richtung Moskau fiel und sein Sohn Adolf die Kneipe übernahm, dachte keiner mehr daran, im Dicken Adolf einen Spottnamen zu sehen.
Wie immer brachte Hässler zuerst einen Doppelkorn und ein Pilsener Bier an den Stammtisch. Er wußte, was der General liebte. Nur Major Waldhaas bekam einen Schoppen Rotwein. Bier machte ihm Sodbrennen – sehr ungewöhnlich, zugegeben.
»Nun sitzen wir also in der Scheiße!« sagte General Petschin volkstümlich. Er sprach ein gutes Deutsch. Erstens hatte er deutsch in der Schule seiner Heimatstadt Minsk gelernt, und zweitens sind fünf Jahre als Besatzungsoffizier in Karlshorst eine gute Lehrzeit. »Gorbatschow, der Wiedervereiniger Deutschlands! Man soll es nicht für möglich halten. Denn das eine kann ich Ihnen prophezeien, meine Herren: Bei dem Mauerfall bleibt es nicht! Es wird ein neues Gesamtdeutschland entstehen. Und das ist der Beginn einer neuen europäischen Zeit, der wir uns anpassen müssen. Vor allem für Sie, Waldhaas, wird es kritisch. Als Stasi-Offizier …«
»Ich hoffe, ich kann allen Untiefen ausweichen.« Waldhaas, ein mittelgroßer, schmächtiger Mann, der in Uniform wesentlich besser aussah als in Zivil, winkte selbstsicher ab. Er war bei der Stasi Führungsoffizier für vier Agenten in der Bundesrepublik und über viele andere lange vorher informiert gewesen, bevor sie entdeckt wurden. »Ich habe mich durch die Vermittlung unseres Freundes Dr. Sendlinger schon vor einer Woche an einen Oberstaatsanwalt in West-Berlin gewandt, mich als Informant zur Verfügung gestellt und glaube, daß man dies auch honoriert.«
»Sie wollen die Seiten wechseln?« fragte Petschin. Es klang etwas konsterniert.
»Nee!« Adolf Hässler lachte, noch bevor Waldhaas antworten konnte. »Wenn er nicht mehr auf der Liste steht, wird er in den Baustoffhandel meines Schwagers einsteigen. Das ist das Geschäft der Zukunft. Die Wessis werden bauen wie die Irren, aus Ruinen machen die Paläste, da werden Milliarden hierher in den Osten fließen, nicht wahr, Ludwig?«
»Warten wir es ab.« Waldhaas war sehr zurückhaltend. »Es ist zu früh zum Jubeln. Mir geht es zunächst darum, nicht auf einer Anklagebank zu sitzen.«
»Aber wir sollten Vorsorgen«, sagte Dr. Sendlinger, ein etwas dicklicher, rotgesichtiger Mann mit breiten Schultern und einem Schnauzbart, der elegant gestutzt war. »Gorbatschows Weisheit: ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹, sollte man nicht als schönes Zitat ansehen … hinter diesen Worten verbirgt sich Ungeahntes. Neuerungen, die wir nicht erahnen können. Umwälzungen, die das Gesicht Europas verändern. Wir müssen auf vieles gefaßt sein.«
»Das waren auch meine Überlegungen, als ich vorschlug, daß wir uns treffen.« General Petschin schlürfte sein Pilsener Bier. »Ich werde zurückkommandiert nach Moskau.«
»Keine gute Nachricht!« Dr. Sendlinger zündete sich eine Zigarre an und blies den ersten Rauch gegen die Decke.
»Was soll man machen? Ein Offizier gehorcht! Ehrlich, ich weine Berlin schon eine Träne nach … andererseits komme ich in den Generalstab der Westarmee und übernehme dort die zentrale Versorgung.«
»Das wiederum ist gut zu hören.« Waldhaas grinste ungeniert. »Vor allem wird es unsere Beziehungen vertiefen und erweitern.«
»Darüber wollen wir heute abend sprechen.« Petschin schob sein Glas über den Tisch. Hässler sprang auf und holte ein neues Glas. »Ich habe aus Moskau streng vertraulich gehört, daß nach einer Wiedervereinigung beider Deutschlands unsere Truppen in der DDR ausgedünnt werden sollen. Von einem völligen Abzug ist allerdings keine Rede, ich könnte mir das auch nicht vorstellen. Ausdünnen aber heißt: Es werden Waffen und Geräte frei.«
»Aha!« sagte Waldhaas.
»Muß ich deutlicher werden?«
»Keinesfalls, Genosse General.« Waldhaas machte den Eindruck, als sei er soeben reich beschenkt worden. »Was können Sie liefern?«
»Das kann ich erst dann sagen, wenn ich einen Überblick habe. Meine grundsätzliche Frage: Was können Sie gebrauchen.«
»Alles.« Dr. Sendlinger paffte den Zigarrenqualm wieder gegen die Decke. »An Waffen und Munition – alles. Gut wären Granatwerfer, Raketengeschütze, leichte Artillerie … aber da werden Sie nicht herankommen, Herr General.«
»Mit Pessimismus kann man kein Geschäft machen. Warten Sie es ab. Haben Sie Abnehmer?«
»Ich habe Verbindungen.« Dr. Sendlinger war sehr vorsichtig. Auch vor Freunden muß man die Wahrheit verbergen. Zuviel Wissen belastet nur.
»Es müssen, wie bisher, sichere Geschäfte sein.« Petschin wurde zurückhaltender. Die neue Lage, die sich abzeichnete, würde die staatlichen Kontrollen verschärfen, oder auch nicht … Es war möglich, daß bei einem Zusammenschluß der beiden Teile Deutschlands die Behörden heillos überfordert waren und den Überblick verloren. Euphorie macht blind, und danach kommt die große Leere, die man mit neuen Ideen auffüllen muß. Es ist nicht einfach, ein ehemals selbständiges Land zu schlucken und dann zu verändern. Dabei verliert man vieles aus den Augen, und das war die große Chance, die sowohl Petschin als auch Waldhaas und Dr. Sendlinger erkannten. Aber noch hieß es, die weiteren Entwicklungen abzuwarten und Vorsicht walten zu lassen. »Es wird auch nicht einfach sein, von Moskau aus mit Ihnen den engen Kontakt zu behalten. Wer weiß, was sich alles ändern wird? Ich habe deshalb einen Kontaktmann in West-Berlin etabliert. In der Wilmersdorfer Straße, einen Pelzhändler. Jurij Nikolajewitsch Spasski. Man kann zu ihm Vertrauen haben. Im Großen Vaterländischen Krieg war er Unteroffizier in meinem Bataillon und wurde viermal verwundet. Ein guter Mann! Über ihn sollen Ihre Bestellungen laufen.«
»Ein Mitspieler mehr ist immer ein Risiko, General.«
Dr. Sendlinger gab sich keine Mühe, seine Bedenken zu verbergen. Aber Petschin wehrte mit einer weitausholenden Handbewegung ab.
»Ich vertraue Spasski wie mir selbst.«
»Wenn Sie es sagen.« Waldhaas warf einen schnellen Blick zu Dr. Sendlinger. Wie immer waren sie sich einig. »Wir haben Interesse an hochangereichertem Uran.«
»Unmöglich!« Petschin starrte Waldhaas geradezu entsetzt an. »Da kommt niemand dran! Uran! Was wollen Sie denn damit?«
»Wir haben Interessenten …«
»In Deutschland?«
»Nein.«
»In arabischen Staaten?«
»General …« Dr. Sendlinger wurde wieder zurückhaltender. »Sie liefern uns – wenn möglich – Uran 235, wir bezahlen … und dann vergessen Sie es!«
»Das ist ein höllisches Geschäft!« General Petschin schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie es!«
»Waffenfähiges Material wird die Handelsware der Zukunft sein. Nichts anderes wird so teuer verkauft wie hochangereichertes Uran 235, Plutonium 239, Lithium 6, Cäsium 137, Uranoxid U 305 und das neue Californium. Um Ihnen nur ein Beispiel zu geben, General: Wir können das Californium für zwei Millionen Dollar pro Gramm verkaufen!«
»Wahnsinn!« Petschin stand plötzlich Schweiß auf der Stirn. »Das ist doch irre!«
»Das große Geschäft aber wird Plutonium 239 sein. Und das stellt Rußland her! Sie sollten sich bemühen, General, Verbindungen zu den Atomwerken und Atomforschungszentren aufzunehmen. Es lohnt sich: Für ein Kilo Plutonium, waffenfähig, zahlen die Käufer heute ungefähr fünfzig Millionen Dollar! Und die Preise werden steigen. Die Gewinnspanne ist geradezu märchenhaft. Sagen wir: Sie kaufen bei den Atomexperten ein Kilo Plutonium 239 für ein bis eineinhalb Millionen Dollar und verkaufen es für fünfzig Millionen, dann ist das ein Bruttogewinn von achtundvierzigeinhalb Millionen. Davon zehn Prozent für Sie, General … das sind vier Komma fünfundachtzig Millionen Dollar bei nur einem Geschäft!«
»Und wer soll Ihnen die verrückten fünfzig Millionen Dollar zahlen?«
»Kein Kommentar.« Dr. Sendlinger lachte auf. »Wer vier Komma acht Millionen auf ein Schweizer Konto überwiesen bekommt, sollte sich freuen, aber nicht fragen.«
»Es bleibt dennoch eine Utopie. Unsere Atomanlagen, die radioaktives Material für die Atomwaffen der Roten Armee liefern, gehören zu den bestbewachten Fabriken der Welt. Da huscht nicht eine Maus ungesehen herum! Liebe Freunde … über das Waffengeschäft läßt sich reden … Über Atomwaffen nicht! Plutonium im illegalen Handel … ein unmöglicher Gedanke!«
An diesem Abend im Lokal Zum dicken Adolf verabschiedete sich General Petschin mit einer kleinen Feier von seinen deutschen Freunden. Zu später Stunde dachte er mit Wehmut an seine Berliner Zeit zurück, und es traten ihm Tränen in die Augen. Die russische Seele … Abschied nehmen ist wie ein halber Tod. Vor allem, wenn man nicht weiß, was einen in Moskau erwartet und wie die Zukunft im neuen Rußland Gorbatschows aussehen wird.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Gütiger Himmel, wie viele werden zu spät kommen? Kann man über ein halbes Jahrhundert Sowjetdenken so einfach auslöschen? Und was kommt dann?
Es wurde ein trauriger Abschied. Petschin umarmte seine deutschen Freunde, küßte sie nach alter Tradition dreimal auf die Wangen und fuhr dann nach Karlshorst zurück. Dr. Sendlinger, Waldhaas und Hässler standen vor der Kneipe und winkten ihm nach.
»Glauben Sie, daß das Geschäft mit ihm klappt?« fragte Hässler. »Er macht sich schon jetzt in die Hosen.«
»Aber er ist geldgierig … das beruhigt seinen Darm.« Dr. Sendlinger lachte laut.
Am 31.8.1990 gab es nach Unterzeichnung des Wiedervereinigungsvertrages nur noch ein Deutschland. Petschins Ahnungen hatten sich erfüllt.
Stasi-Major Ludwig Waldhaas kam dank Dr. Sendlingers Beziehungen nicht in die Fahndungsakten und wurde Baustoffhändler bei Adolf Hässlers Schwager in Berlin-Tegel. Dr. Sendlingers Rechtsanwaltspraxis wurde von ›Ossis‹ überschwemmt, die Rat suchten gegen die gewieften westdeutschen Geschäftemacher, die modernen Goldgräber, die auf allen Gebieten versuchten, die ostdeutschen Brüder über den Tisch zu ziehen. Adolf Hässler ließ seine Kneipe renovieren und gliederte ihr ein Bistro an. Zum dicken Adolf wurde ein In-Lokal. Es schien, als würde allein der Name jede Menge neuer Gäste anziehen. Eine ›Vereinigung deutscher Nationalisten‹ erwählte es zum Stammlokal, was Hässler gar nicht recht war. Aber die Kerle hatten Geld und wurden von unbekannten Gruppen unterstützt. Und wo Hässler Geld witterte, bekam er eine Nase wie ein Spürhund. Ab und zu ließ er in Gesprächen einfließen, daß russische Offiziere, die mit ihrer Truppe zurück nach Rußland versetzt wurden, gerne eine Rakete stehenließen und dafür eine Waschmaschine mit nach Hause nahmen.
Von General Petschin hörten die drei nur wenig, aber der Kontakt mit dem Pelzhändler Spasski klappte vorzüglich. Über geheimgehaltene Wege schafften sie Waffen aller Kaliber nach Jugoslawien, Ghana und Nigeria, Somalia und Angola, und von manchen afrikanischen Diktaturen wurde der Wunsch an sie herangetragen, das Arsenal auch mit einigen einsatzfähigen Atombomben zu füllen.
Aber General Petschin reagierte nicht auf die Anfragen nach Plutonium, Uran oder Lithium.
»Ein Scheißkerl!« schimpfte Waldhaas enttäuscht. »Wir müssen uns um eine andere Quelle bemühen. Dabei soll es jetzt so leicht sein, an radioaktive Stoffe heranzukommen. Wir dürfen die aktuelle Entwicklung nicht verschlafen. Petschin begreift nicht, daß man investieren muß, ehe man Gewinne macht. Er sitzt auf seinem Geld in der Schweiz, aber statt goldene Eier brütet er nur heiße Luft aus! Er ist zu geizig mit den ›Vermittlergebühren‹. Irgendeiner der ›Atomschtschiki‹ an den Reaktoren von Tomsk-7 und Krasnojarsk-26 wird doch weichzukneten sein, wenn man ihm eine Million Dollar auf die Hand zählt. Jeder Mensch ist käuflich, es kommt nur auf die Summe an – das ist eine uralte Weisheit. Dr. Sendlinger, als der Beauftragte dieses afrikanischen Präsidenten …«
»Ich kann nicht etwas anbieten, was ich nicht habe. Aber ich werde in den nächsten Tagen nach Moskau fliegen und neue Wege erforschen.«
»Genau das wollte ich vorschlagen. Sie werden auch Petschin treffen?«
»Natürlich.«
»Dann machen Sie ihm klar, daß Dollars nicht ein Sitzkissen sind, sondern ein Geschäftskapital. Er nutzt seine Stellung als oberster Waffenkontrolleur der Roten Armee nicht richtig aus. Wenn nicht er Verbindungen zu den Rüstungsbetrieben herstellen kann – wer sonst? Und auch an die völlig abgeschirmten und geheimen Atomzentren müßte er über Kreuz- und-Quer-Verbindungen herankommen. Es ist alles nur eine Frage des Geldes. Schlitzen Sie ihm die Taschen auf, Doktor.«
Drei Tage, bevor Dr. Sendlinger seine Reise nach Rußland antrat, rief Pelzhändler Spasski in der Baustoffgroßhandlung in Tegel an und sagte, als sich Waldhaas meldete:
»Können Sie kommen zu mir?«
»Warum?«
»Großes Projekt von General Petschin!« antwortete Spasski mit verschwörerischer Stimme.
»Hat er fünf Panzer T 52 für den afrikanischen Staat auftreiben können?«
»Nein … kleiner. Kann man in Hosentasche wegtragen.«
Waldhaas wurde aufmerksam. In Hosentasche wegtragen? Großes Projekt? Himmel noch mal – sollte Petschin wirklich einen Tunnel zu einem Atomkraftwerk gefunden haben?
»Wann?« fragte er laut.
»Heute abend bei mir.«
»In Ordnung. Wir sind gegen zwanzig Uhr bei Ihnen.«
Pünktlich um acht Uhr abends fuhren Dr. Sendlinger, Waldhaas und Adolf Hässler zum Pelzgeschäft in der Wilmersdorfer Straße und parkten zwanzig Meter von der Ladentür entfernt. Sie hatten Hässlers Wagen benutzt, einen VW-Transporter, auf dessen Seitenwänden mit großen Buchstaben der Slogan gemalt war: ›ZUM DICKEN ADOLF komm herein – und wenn Du gehst, bist Du sein Freund‹. Solch einen Spruch merkt sich jeder Berliner.
Sie blieben vor den beiden hellerleuchteten Schaufenstern stehen, ehe sie klingelten. Hässler, der selten zu Spasski kam, schnalzte mit der Zunge.
»Das sind ja tolle Modelle. Ich versteh nichts von Pelzen, aber das da müssen Dinger sein, die 'ne Stange Geld kosten. Wer kauft denn so was?«
»Von seinen Pelzen kann Spasski nicht leben.« Dr. Sendlinger lachte kurz auf. »Der liebe Jurij Nikolajewitsch hält seine Hände woanders auf. Wir wissen noch lange nicht alles, was sich um uns herum tut … und ich will es auch gar nicht wissen. Wichtig ist nur, daß niemand unsere Pfade kreuzt.«
Spasski war so fröhlich, Petschins Freunde zu sehen, daß Waldhaas zurückhaltend wurde. Sie setzten sich in Spasskis protziger Wohnung in die Couchecke, beobachteten schweigend, wie Spasski an der Hausbar Drinks aus Wodka, Cassis und einem Hauch von Pfefferminzlikör mixte, eine eigene Kreation, die er ›Abendröte‹ nannte und von der er behauptete, daß sich die schönsten Frauen nach drei Gläschen auf der Couch ausstreckten.
»Was ist mit General Petschin?« fragte Dr. Sendlinger, nachdem sie an dem Cocktail genippt hatten. »Spasski, machen Sie es nicht so spannend.«
»Der General kann Ihnen eine Probe schicken.«
»Eine Probe wovon?«
»Lithium 6«, antwortete Spasski leichthin.
Dr. Sendlinger und Waldhaas sahen sich überrascht an. Adolf Hässler mußte sich die Nase putzen … ein nervöser Juckreiz ließ ihn plötzlich niesen.
»Wirklich Lithium 6?« fragte Waldhaas.
»Ja.« Spasskis Gesicht glänzte, wie mit Speck eingerieben. »Ich habe es mir genau notiert. General Petschin hat es am Telefon dreimal wiederholt.«
»Am Telefon!« Waldhaas seufzte auf. »Am Telefon! Er ist wirklich ein Scheißer! Wer da alles mithören kann! Auch wenn er über eine Armeeleitung spricht – gerade die werden überwacht.«
»Was nennt der General eine Probe?« fragte Dr. Sendlinger. Er hielt das Telefonat für nicht so gefährlich.
»Hundertzwanzig bis zweihundert Gramm. Nicht genug für eine Wasserstoffbombe.« Spasski grinste. Ihn für dumm zu verkaufen, war ein Irrtum: Er wußte genau, was man mit Lithium 6 anfangen konnte. Und er wußte auch, daß die Atombombe, die 1945 über der südjapanischen Stadt Nagasaki explodiert war, eine Plutoniumbombe gewesen war. Damals starben Zehntausende – eine genaue Zahl war nie bekannt geworden –, und ebenso viele Menschen starben an den Spätschäden, an Leukämie oder Knochenkrebs, Lungen- oder Leberkrebs. Selbst Jahre später war die Anzahl der Mißgeburten alarmierend hoch.
»Und was sollen wir mit dieser Probe?« fragte Waldhaas.
»Sie als Beweis den Kunden vorlegen.« Dr. Sendlinger ärgerte sich über die dumme Frage seines Kompagnons. »Wieviel kann der General liefern?«
»Er sagt, genug, um eine Wasserstoff- oder Neutronenbombe zu bauen.«
»Der Preis?«
»Der General vertraut auf Ihre Kenntnis der Marktlage.«
»Und was bekommen Sie, Spasski?«
»Im Vergleich zu Ihnen ein Butterbrot.«
»Von uns?«
»Vom General.«
Dr. Sendlinger war mit dieser Auskunft noch nicht zufrieden. Wenn das Geschäft mit Lithium 6 anlief, wenn Petschin wirklich, wo auch immer, eine Lücke in das angeblich streng bewachte und geheime Atomkombinat geschlagen hatte … wer garantierte, daß nicht doch der ganze Handel in der Überwachung hängenblieb? Je mehr Mitwisser, um so größer war die Gefahr der Aufdeckung des Deals. Das vielzitierte ›schwache Glied der Kette‹ konnte in diesem Falle vernichtend sein.
»Wer hat noch Kenntnis von dem Lithium?« fragte Dr. Sendlinger. Spasski hob bedauernd beide Hände.
»Das weiß nur der General.«
»Und was wissen Sie?«
»Nur das, was ich Ihnen weitergeben soll.« Spasski trank seinen Cocktail aus. Er hatte das Gefühl, daß sein Hals austrocknete. Auch ihm war bewußt, auf welch unbekannten und gefährlichen Weg er eingebogen war. »Ich bin nur die Zwischenstation Ihrer Verbindung zu Moskau. Ich soll Ihre Antwort schon morgen weiterleiten. General Petschin hat mir eine Geheimnummer mitgeteilt, eine Militärtelefonnummer, unter der ich ihn direkt, ohne Vermittlung, erreichen kann.« Spasski hüstelte. Sein Rachen schien angeschwollen zu sein. »Was soll ich antworten?«
»Wir möchten die Probe sehen. Erst dann, wenn es wirklich Lithium 6 ist, können wir Kontakt zu einem Interessenten aufnehmen.«
»Natürlich.«
»Und wie soll der Stoff nach Berlin kommen?«
»Darüber hat der General nicht gesprochen. Aber ich nehme an: mit einem Kurier.«
»Wieder zwei Augen mehr!« sagte Waldhaas.
»Anders geht es nicht.« Spasski stand auf, ging zur Hausbar und goß sich aus dem Mixbecher einen Cocktail ein, den er in einem Zug austrank.
»Und wann?«
»Das teilt der General noch mit. Es gibt, glaube ich, keinen anderen Weg als den über Polen oder Tschechien. Warten wir es ab. Es ist so besprochen, daß sich der Kurier bei mir meldet.«
»Sie stecken also tief mit drin, Spasski!« stellte Dr. Sendlinger fest. Die Zusammenarbeit mit Spasski beim Waffenhandel hatte bisher nie Ärger gebracht, trotzdem war Sendlinger immer auf Abstand geblieben. Er mochte Spasski einfach nicht. Begründen konnte er es allerdings nicht. Es war ein unerklärliches Gefühl, das ihn immer dann überfiel, wenn er Spasski gegenübersaß. »Er ist mir zu glatt, zu schleimig«, sagte er einmal zu Waldhaas. »Und seine Augen signalisieren etwas anderes, als sein Mund spricht. Achten Sie mal darauf: Er macht einen Witz, aber sein Blick ist drohend. Ich werde nicht klug aus ihm. In meinen Augen ist er eine Ratte mit einem Kaninchengesicht.« Auch jetzt hatte Dr. Sendlinger das Empfinden, Spasski spiele auf zwei Klavieren gleichzeitig.
Spasski zuckte die Schultern. Welch eine Frage, dachte er. Was heißt das: Sie stecken tief mit drin?
»Petschin war mein General, ich war sein Unteroffizier. Ich gehorche ihm noch immer. Ich bin ein treuer, traditionsbewußter Mensch. Ich verehre ihn.«
Eine Antwort, so russisch, daß Dr. Sendlinger auf weitere Fragen verzichtete.
Später, auf der Rückfahrt zum Dicken Adolf, wandte sich Dr. Sendlinger an Waldhaas. »Was halten Sie von der ganzen Sache?«
»Wenn es wirklich Lithium 6 ist, kann das ein Bombengeschäft werden … im wahrsten Sinne des Wortes.« Waldhaas lachte über das Wortspiel. »Vorausgesetzt, daß Petschin mehr liefern kann als nur eine Probe. Dann wäre es ein Jonglieren mit Millionen Dollar.«
»Und wenn die Probe stimmt, aber später die bestellte Menge untauglich ist?« Hässler saß am Steuer seines VW-Transporters, er hatte während der Verhandlung mit Spasski bis auf ein paar Bemerkungen geschwiegen. »Was dann?«
»Wir werden bei unseren Kunden Vertrauen verlieren.« Dr. Sendlinger war sich vollkommen klar darüber, was dann passieren würde. Das Risiko war ungeahnt groß.
»Oder unser Leben.« Hässler umklammerte das Lenkrad. »Bei einem solchen Geschäft kennt man keine Entschuldigungen. Da stehen wir im Visier, und irgendeiner drückt ab. Wir lassen uns auf einen lebensgefährlichen Job ein.«
»Da wir das wissen, werden wir das Risiko so gering wie möglich halten«, erwiderte Waldhaas.
»Und wie?« Hässler hupte wütend, ein Auto kam von links, schnitt ihn und sauste in eine Nebenstraße. »Haben Sie diesen Idioten gesehen?«
»Ein gutes Beispiel. Man kann eher auf der Straße umkommen als in unserem Geschäft. Wir werden dem Kunden sagen, daß das Risiko sehr hoch ist. Wir werden ihm erklären, daß wir nur vermitteln, was uns angeboten wurde. Er wird sowieso erst zahlen, wenn die Expertise vorliegt: reines Lithium 6, dann die Dollars.«
»Und wenn der Kunde uns bescheißt?«
»Das kann er nicht. Er bekommt den Stoff häppchenweise. So viele Dollars, soviel Lithium.«
»Und wo lagern wir das Teufelszeug?« Hässler hielt an einer Kreuzung an. Die Ampel stand auf Rot.
»Bei Ihnen im Keller.«
»Unmöglich!« rief Hässler entsetzt. »Völlig indiskutabel!«
»Und warum?«
»Sollen der Dicke Adolf und alle Gäste verstrahlt werden? Und ich auch?«
»Hässler … Lithium strahlt nicht.« Dr. Sendlinger lehnte sich zurück. Seine Stimme nahm einen dozierenden Tonfall an. »Lithium ist ein sehr weiches, silberweißes Leichtmetall aus der Gruppe der Alkalimetalle. Es strahlt nicht, sondern geht meistens eine Verbindung mit einem Hydridmolekül ein, was es zu einem festen Stoff macht. Der in ihm gebundene Wasserstoff ist leicht wieder herauszuziehen und wirkt als starkes Reduktionsmittel. Seine Reaktionsfähigkeit ist großartig … das Lithiumhydrid ist zur Erzeugung von Wasserstoff hervorragend geeignet und wird als Raketentreibmittel verwendet. Eine andere chemische Verbindung mit einem Deuterium, das Lithiumdeuterid, ist der Hauptbestandteil der Wasserstoffbombe.«
»Das beruhigt mich nicht!« sagte Hässler und fuhr weiter. »Ich will das Zeug nicht in meinem Keller haben!«
»Die Hauptsache – es strahlt nicht. Es ist nicht radioaktiv. Es ist, wenn es so rumliegt, ein harmloses Metall. Aber es wird durch Atomspaltung ein unverzichtbarer Grundstoff zur Herstellung der Wasserstoffbombe. Durch eine Verringerung der Druckwelle – die technischen Details möchte ich jetzt nicht erläutern – entsteht die alles vernichtende Neutronenbombe. Am gefährlichsten aber ist die Plutoniumbombe. Da genügen nur fünf Kilogramm Plutonium 239, um Hunderttausende von Menschen zu vernichten.«
»In welcher Scheißwelt leben wir nur!« sagte Hässler dumpf. »Und wir mischen da auch noch mit!«
»Auch auf Plutonium werden wir noch Zugriff bekommen, Hässler. Die Politik arbeitet für uns. Je mehr man abrüstet, um so leichter wird man an dieses Material herankommen. Wir werden den Handel an uns reißen …«
»Und uns damit den Arsch vergolden!«
»So ist es, Hässler.« Dr. Sendlinger wandte sich zur Seite und stieß mit seinem Ellenbogen Waldhaas in die Rippen. »Sie hatten 1989 die beste Idee, die es je gab. Jetzt wird Wirklichkeit daraus.«
»Ich habe damals nur vage Informationen ausgewertet. Ich befürchte allerdings, daß Petschin – trotz Lithiumproben – nicht der richtige Mann ist. Nicht, weil er zu geizig für vernünftige Provisionen ist, sondern weil er, trotz Generalsuniform und drei Reihen Orden, im Grunde ein Feigling ist. Für dieses Geschäft darf man keine Skrupel haben, aber Petschin geht auf Nummer Sicher und scheut jedes Risiko. Da läuft nicht mehr viel.« Waldhaas blickte hinaus auf die Straße. Es hatte zu regnen begonnen, die Lichtreklamen zuckten über den nassen Asphalt, ein paar späte Spaziergänger huschten unter Regenschirmen oder mit hochgeschlagenen Kragen an den Häuserwänden entlang. »Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, Doktor.«
»Worüber?« fragte Dr. Sendlinger erstaunt.
»Wen Sie in Moskau besuchen wollen.«
»Das weiß ich selbst noch nicht.«
»Es gibt keine Kontaktadresse?«
»Nein. Zumindest habe ich keine … aber wir alle wissen, daß es in Rußland seit der ›Erneuerung‹ eine Art Mafia gibt. Nicht nach italienischem Muster … das ist für einen Russen nicht effektiv genug. Die wie ein Pilz wachsende russische Mafia soll – so sagt man – neben den chinesischen Triaden die gnadenloseste und grausamste Organisation sein, die je in der Unterwelt entstanden ist. Und da will ich rein!«
»Verrückt, Doktor!« Waldhaas sah ihn entsetzt an. »Hängen Sie nicht am Leben?«
»Ich lebe mit Begeisterung.«
»Und wie wollen Sie an die Mafia herankommen? Glauben Sie, die umarmt Sie, wenn Sie in irgendeinem Hotel sitzen?«
»So ähnlich.« Dr. Sendlinger lächelte verschmitzt. »Auch da sind Dollars der beste Schlüssel, um geheime Türen zu öffnen. Wie bei uns gibt es auch in Moskau Orte, wo man die richtigen Männer treffen kann. Die junge russische Mafiageneration besteht aus fixen Jungs mit intelligenten Köpfen, denen kann man nichts vormachen. Da gelten nur Fakten, und die bringe ich mit.«
»Meine lieben Mafiosi … ich will Plutonium …«
»So ähnlich.« Dr. Sendlinger lachte. »Wenn ich zurückkomme, habe ich etwas dabei.«
»Im Handköfferchen …«
»Nicht doch. Ich meine das Wort des russischen Syndikats, daß wir zusammenarbeiten.«
»Gott sei mit Ihnen.« Waldhaas klopfte Dr. Sendlinger auf die Knie. »Auch wenn wir einen gottverdammten Job haben.«
»Sie sind Baustoffhändler, ich bin Rechtsanwalt … was ist daran ehrenrührig? Und Hässler zapft Berliner Weiße … lauter integre Männer.«
Es folgte eine Sekunde Schweigen, dann platzten sie los und lachten dröhnend.
Nur selten machte Dr. Sendlinger Witze, aber wenn, dann saßen sie!
So kam es, daß drei fröhliche Männer des Nachts in der bereits geschlossenen Kneipe Zum dicken Adolf saßen und Buletten futterten und dazu roten französischen Landwein tranken.
Am übernächsten Tag flog Dr. Sendlinger nach Moskau, in das Nest der ehrenwerten Gesellschaft ›Roter Falke‹.
Falke … das Synonym für Freiheit ohne Grenzen.
Es war wie immer langweilig und doch spannend – diese nächtliche Streife an der polnischen Grenze. Hunderte Male hatte Bundesgrenzschutz-Oberfeldwebel Lukas im Laufe der Jahre dieses Gebiet durchstreift: in einem Mercedesgeländewagen, Allradantrieb, bulliger Motor, dicke Stollenreifen, sechs Scheinwerfer und ein starker Handscheinwerfer, vor dem Kühler ein stählerner Rammschutz, auf dem Dach ein Lautsprecher und ein sich drehendes Blaulicht mit einer Sirene, die jaulte, wenn sie eingeschaltet wurde. Neben ihm hockte sein Kamerad, der BGS-Unteroffizier Heiner Pflaume, der unter seinem Namen litt und sich schon oft überlegt hatte, ob er nicht eine Namensänderung beantragen sollte. Seine Kameraden, die ihn Pfläumchen oder gar Muschi riefen, oder Fremde, die grinsten, wenn er sich vorstellte, erzeugten bei ihm Aggressionen, die er dank seiner guten Erziehung aber unterdrücken konnte.
Ganz schlimm war es gewesen, als er und Lukas – den man natürlich Prophet nannte – bei einer nächtlichen Kontrollfahrt einen polnischen Schlepper stellten, der gerade dabei war, in Begleitung von sechs wirklich hübschen und wohlgeformten russischen Prostituierten über die deutsche Grenze zu schleichen.
»Unser Pfläumchen sammelt Mösen!« jubelte die ganze BGS-Station. Es war eine Nacht, in der Pflaume zum Massenmord fähig gewesen wäre.
In dieser Nacht nun fuhren sie durch ein Gebiet, das aus lichten Wäldern und Buschland bestand, durchzogen von Feldwegen und unbefestigten schmalen Straßen, auf denen die Bauern das Holz aus den Wäldern transportierten oder zu ihren Äckern fuhren. Im Sprachgebrauch der Zöllner war es so etwas wie eine ›offene Grenze‹ … zwar gab es einen Grenzzaun aus verrottetem Draht, aber dessen Funktion war eher symbolisch. Vor dem Zaun endeten die Wege. Ein Übergang nach Deutschland war hier nur zu Fuß möglich. Daß diese Möglichkeit genutzt wurde, zeigten die Löcher im Zaun, die immer wieder hineingeschnitten und immer wieder geflickt wurden. Die ›Grüne Grenze‹ ständig zu überwachen, war unmöglich. So kam den Streifenbeamten also beim Aufspüren von illegalen Grenzgängern nur der Zufall zu Hilfe.
Dennoch hatte das BGS-Kommando in Frankfurt/Oder genug zu tun. Vor allem an den offiziellen Grenzübergängen stieß man immer wieder auf gestohlene Autos, irgendwo in der BRD geklaut, schnell umgespritzt, mit gefälschten Papieren versehen und mit nicht registrierten Zulassungsnummern bestückt … das große Geschäft polnischer Autoschieber, die, bestens organisiert, als harmlose Deutschlandbesucher nun in die Heimat zurückkehrten. Wie vielen es gelang, durchzuschlüpfen – man kann ja nicht jeden Wagen gründlich kontrollieren, ohne daß der gesamte Verkehr zusammenbricht –, wußte man nicht. Man war sich nur sicher, daß es eine polnische Mafia gab, die sich auf Autodiebstahl im großen Maßstab spezialisiert hatte. Meistens waren es die teuren Wagen wie Mercedes, BMW, Volvo, Jaguar oder Saab, die in Polen sofort weitergeleitet wurden und dann in den Oststaaten wieder auftauchten, aber auch in Afrika und in den arabischen Wüstenländern. Die Autodiebe konnten gut davon leben, vor allem wegen eines perfekt eingespielten Tauschgeschäfts: Mädchen gegen BMW-Kabriolett. Auf dem Dirnenmarkt erzielten Osthuren die besten Preise, ihnen eilte der Ruf voraus, im Bett viel Phantasie zu haben.
Ungefähr zwei Stunden waren Lukas und Pflaume bereits unterwegs, als Lukas sagte:
»Halt mal an, Heiner … ich muß pinkeln.«
Pflaume stellte den Motor ab und schaltete, warum, das wußte er später nicht zu erklären, auch die beiden normalen Scheinwerfer aus. Dann stieg auch er aus, stellte sich neben Lukas und wollte ebenfalls pinkeln, als er plötzlich stutzte. Lukas erging es ebenso, und beide hoben lauschend die Köpfe.
»Da ist doch was!« sagte Pflaume leise. »Hörst du's?«
»Klingt wie 'n Motorengeräusch …« Lukas knöpfte seine Hose zu.
»Es ist ein Motor. Verdammt, da kommt einer durch den Wald über die Grenze.«
»Hier? Mit 'nem Auto?« Lukas hielt den Atem an, um sich völlig auf das Lauschen zu konzentrieren. »Da ist es! Ganz deutlich. Kommt von drüben rüber. Junge, Junge …«
»Haben wir noch nie gehabt.« Pflaume blickte zurück auf ihren Geländewagen. Rein und los, dachte er, genau wie Lukas. Wenn jemand in diesem unwegsamen Gelände nachts mit einem Auto herumstrolcht, ist das mehr als verdächtig. »Das muß ein ausgekochter Fahrer sein! Ohne Licht durch diese Gegend.«
»Ein Spezialist, würden die da drüben sagen.« Lukas nickte. »Den sehen wir uns mal an.«
Sie rannten zu ihrem Wagen zurück, sprangen auf die Sitze, und Pflaume ließ den Motor aufheulen. Ohne Licht glitten sie leise in das Gelände; hier kannten sie jede Senke, jede niedrige Baumgruppe, hinter der man sich verbergen konnte, jede Reifenspur der Bauerntraktoren, die sich durch den Boden gewühlt hatten.
Ab und zu hielt Pflaume an und stellte den Motor ab, um zum Wald hinüberzuhorchen.
»Man müßte geländegängige Elektroautos erfinden«, sagte er. »Unser Motor macht einen Heidenlärm. Den hört der da drüben doch auch!«
Sie fuhren weiter, und vor einer Buschgruppe hielten sie an, wie Jäger, die sich an das Wild heranpirschen. Lukas nahm sein Schnellfeuergewehr aus der Halterung und entsicherte es.
»Glaubst du, das brauchen wir?« fragte Pflaume.
»Vorsicht ist die kugelsichere Weste der Polizisten.« Lukas hob wieder den Kopf. »Da ist er! Fährt direkt auf uns zu. Muß ein eiskalter Bursche sein. Heiner, hol deinen Puffer aus dem Halfter.«
Sie starrten in die fahle Dunkelheit. Es war abnehmender Mond, die Mondscheibe hatte sich um zwei Drittel verkleinert, aber sie gab noch genug Licht, um Gegenstände wie ein Auto erkennen zu lassen. Und dann sahen sie ihn … einen für polnische Autodiebe kleinen Wagen, keinen Mercedes oder BMW, sondern einen Japaner der unteren Mittelklasse. Im Mondlicht waren deutlich die Scheinwerfer zu sehen.
»Der kann keine große Fracht haben«, flüsterte Lukas. »Höchstens vier Mädchen, mehr quetscht der nicht hinein. Müssen Klasseweiber sein … die meisten kommen doch als Touristen per Bus.«
Der dunkle Schatten kam langsam näher, tastend wie ein witterndes Tier, blieb plötzlich stehen und verharrte.
»Nun komm schon, Junge«, knurrte Pflaume. »Komm näher. Gleich haben wir dich im vollen Licht.«
»Er kennt das Gelände nicht. Er ist zum ersten Mal hier. Wetten?« Lukas stemmte sein Gewehr auf die Knie. »Das sind die gefährlichsten.«
»Komm, komm, Junge …« Pflaume beugte sich über das Lenkrad. »Papi wartet auf dich. Du läufst ihm direkt in die ausgebreiteten Arme.«
Der Wagen aus Polen fuhr wieder an. Lukas tastete nach dem Schalter, mit dem er Blaulicht, Sirene und Lautsprecher auf dem Dach einschalten konnte. Pflaumes Hand umklammerte den Zündschlüssel. Ihnen gegenüber verschwand das Auto kurz in einer Senke, tauchte dann wieder auf der Kuppe auf und stand dort wie eine Schießscheibe.
»Los!« sagte Lukas hart. »Ran an ihn!«
Gleichzeitig mit dem Aufblitzen der sechs Scheinwerfer heulte die Sirene auf und blinkte das Blaulicht. Mit der linken Hand drehte Lukas den Suchscheinwerfer und richtete ihn voll auf das ›Objekt‹, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt. Über den starken Lautsprecher dröhnte seine Stimme durch die Nacht.
»Halten Sie an! Grenzkontrolle! Halten Sie sofort an!«
Der polnische Wagen – natürlich trug er ein gefälschtes deutsches Nummernschild – stockte einen Augenblick, dann heulte sein Motor auf, er schoß vorwärts, fuhr schleudernd im Kreis und raste zurück zum Waldrand.
»Der Kerl türmt!« rief Lukas.
»Den haben wir gleich.« Der schwere Mercedesmotor heulte auf, der Geländewagen schoß mit einem Satz nach vorn und fuhr dem flüchtenden Polen nach. Und immer wieder ließ Lukas den Lautsprecher dröhnen:
»Halt! Bleiben Sie stehen! Stoj! Stoj!« Das verstand auch ein Pole, der nicht deutsch sprach. »Anhalten – oder wir schießen …«
Der Fahrer des kleinen Wagens dachte gar nicht daran, dem Befehl nachzukommen. Er hüpfte über die Furchen des Feldes, durch Pfützen und um Buschgruppen herum, zurück zur Grenze. Jetzt hatte auch er seine Scheinwerfer eingeschaltet, sah, wohin er fuhr, und nutzte den Vorsprung aus. Pflaume gab Vollgas und schaltete in den Allradantrieb um. Für ihn gab es jetzt nur noch freie Fahrt … er raste durch die Büsche, riß sie mit dem Rammschutz um, und die Stollenräder walzten alles nieder.
»Fahren kann der Kerl!« sagte Lukas und kurbelte sein Fenster herunter. Er legte das Gewehr an und schrie noch einmal in den Lautsprecher. »Halten Sie an, oder wir schießen.«
»Der scheißt uns was!« Pflaume stellte die Sirene ab. Vor seinen Scheinwerfern tanzte der kleine Wagen über die Unebenheiten, als spränge ein klobiger Kobold durch die Nacht. »Ich sage dir, das ist ein eiskalter Bursche!«
Lukas schoß. Zuerst auf die Reifen, dann, als der Pole noch immer nicht hielt, auf das Rückfenster. Das war eine schwierige Entscheidung: Traf er den Fahrer tödlich in den Kopf, gab es eine lange Untersuchung des Vorfalls. War der Schuß nötig gewesen? War es Notwehr? Nein? Was sonst? Wie rechtfertigen Sie den Gebrauch der Waffe? Erklären Sie uns die Notlage. Gab es nicht? Wieso haben Sie dann geschossen? In Ihrer Dienstvorschrift steht …
Nach dem vierten Schuß blieb der Pole stehen. Ein Reifen war geplatzt, die Rückscheibe zersplittert. Die Tür sprang auf, und ein Mann schob sich in das grelle Licht der Scheinwerfer. Er hielt sich an der Wagentür fest und krümmte sich.
»Den haste erwischt«, sagte Pflaume und drosselte den Motor. Langsam fuhren sie an den Mann heran. »Hoffentlich haste nicht auch ein Mädchen getroffen.«
Sie bremsten hinter dem japanischen Wagen und sprangen aus ihrem Auto heraus. Lukas drückte sein Gewehr in die Hüfte, bereit, sofort zu schießen, wenn der Mann eine verdächtige Bewegung machen sollte. Fast wünschte er sich das … dann wäre es Notwehr.
Als erster warf Pflaume einen Blick in das Innere des Wagens. Er war leer. Keine Mädchen, kein Gepäck, nur eine polnische Tageszeitung, und der Rücksitz war übersät mit den Splittern des Rückfensters.
»O Mist!« sagte Pflaume laut. Lukas, der abseits stand und nicht wußte, was Pflaume gesehen hatte, sträubten sich die Nackenhaare. Also doch ein Mädchen getroffen. Es ist zum Kotzen!
»Was ist los, Heiner?« rief er heiser vor Aufregung. Der Verwundete an der Tür krampfte die Finger in den Türrahmen. Er hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.
»Nichts.«
»Was heißt nichts?«
»Nichts heißt: Der Wagen ist leer.«
»Wieso leer?«
»Unser Gangster fährt eine Zeitung spazieren.«
»Das gibt es doch nicht.« Lukas ließ das Gewehr sinken und trat an das Auto heran. Pflaume machte keine Witze, die Rücksitze waren leer. »Das ist ja 'n Ding!«
»Kann man sagen. Das kann sogar ins Auge gehen.«
»Abwarten. Ich wette gegen alles, daß das deutsche Nummernschild gefälscht ist.«
»Kein polnischer Autoschieber klaut einen kleinen japanischen Wagen.«
»Der hier fährt auf eigene Rechnung.« Lukas trat an den sich krümmenden Polen heran. »Sprechen Sie deutsch?«
»Ganz klein …«, keuchte der Verletzte.
»Wer sind Sie?«
»Armer Tourist …«
»Dachte ich mir.« Pflaume klopfte die Taschen und Hosenbeine des Polen ab. »War ja klar. Keine Waffen.«
»Ich machen Fahrt zum Vergnügen.« Der Pole röchelte kurz auf und schwankte. »Weiß nachher Weg nicht … bin in Wald … weiß nicht, daß Grenze hier … plötzlich du da, machst bumbum … ich blute … sieh nach … rechte Schulter …«
»Der verarscht uns!« sagte Lukas ungerührt. »Verwundet ist er, aber die Spazierfahrt glaubt ihm keine Sau.« Und zu dem Polen gewandt: »Du hast eine gefälschte Nummer.«
»Nix falsch. Ich arbeiten in Deutschland. In Köln. Bei Ford.«
»Das stimmt.« Pflaume nickte. »Es ist eine Kölner Nummer. Aber das haben wir schnell überprüft.«
»Aus Köln also?« Lukas ließ nicht locker. »Und was machen Sie dann an der deutsch-polnischen Grenze?«
»Urlaub. Mama wohnt in Dorf. Dort hinten.«
»Und da willst du dich verfahren haben? Wenn du hier aufgewachsen bist, kennst du jeden Kuhschiß!« Pflaume schob seine Hand unter das Kinn des Polen und hob sein Gesicht hoch. »Und warum flüchtest du dann?«
»Angst …«
»Wer keinen Dreck am Stecken hat, braucht keine Angst zu haben.«
»Ich muß Arzt haben …«
»Bekommst du. Warum wolltest du abhauen?«
»Ich nix mehr reden bis Arzt.« Der Pole sank an der Tür zusammen und lehnte den Kopf an den Türrahmen. »Bitte … Arzt …« Und dann, wie ein Aufbäumen: »Ich nix mehr sprechen …«
»Dann ab durch die Mitte!«
Lukas und Pflaume schleppten den kaum noch gehfähigen Polen zu ihrem Mercedes, legten ihn auf den Rücksitz, und während Lukas zu dem kleinen Wagen zurückging, den Schlüssel an sich nahm und ihn abschloß, rief Pflaume die BGS-Wache an.
»Bestellt 'nen Krankenwagen! Wir haben einen Verletzten hier. Sind in zehn Minuten da.«
»O Pfläumchen!« Der Kamerad am Telefon gluckste vor Vergnügen. »Bist du in 'ner russischen Muschi explodiert?«
»Arschloch!« Pflaume ballte die Faust. »Darüber unterhalten wir uns noch! Ein Notarzt mit Einsatzwagen muß her. Es ist dringend! Ende.«
Lukas kam zurück, warf einen Blick auf den stöhnenden Polen und stellte sein Gewehr wieder in die Halterung zurück. »Alles klar?« fragte er.
»Bei mir, ja. Aber bei dir? Wenn das wirklich stimmt, was der Kerl sagt … dann stehst du schön im Regen.«
»Er ist geflüchtet. Hat auf mehrmaligen Zuruf nicht reagiert. Ist einfach geflüchtet. Das ist ein Tatbestand, der sofortiges Eingreifen rechtfertigt. Er könnte ja auch ein schwerer Junge sein, der auf der Fahndungsliste steht. Das muß doch jeder einsehen.«
Lukas beugte sich nach hinten, suchte in den Taschen des Verletzten und fand endlich einen polnischen Paß. Der Pole rührte sich nicht, er stöhnte nur laut auf, als Lukas seine rechte Schulter berührte.
»Wie heißt er?« fragte Pflaume, während Lukas in dem Paß blätterte.
»Angeblich Karel Londricky. Aber das heißt noch lange nicht, daß der Paß echt ist. Auch die eingetragene Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung kann gefälscht sein. Aber damit sollen sich andere herumschlagen. Nicht unser Bier.«
Nach zehn Minuten erreichten sie das BGS-Quartier. Pflaume hatte gewaltig auf das Gaspedal gedrückt. Vier Beamte erwarteten ihn schon und trugen den vor Schmerzen wimmernden Londricky ins Haus.
»Wo ist Ewald?« brüllte Pflaume. »Mit dem habe ich vorhin telefoniert. Ewald, du Drecksau, versteck dich nicht! Komm her!«
Aber Ewald kam nicht heraus. Er war kurz nach dem Telefonat auf Streife gefahren.
Pflaume beruhigte sich wieder, trank ein Bier und war froh, daß diese Nacht für ihn zu Ende war.
So einfach gab sich Lukas jedoch nicht geschlagen. Falls man ihm einen Verweis anhängte, wollte er wenigstens wissen, warum Londricky geflüchtet war und Schutz hinter der polnischen Grenze suchte. Ich hatte Angst, hatte er gesagt, aber das war eine Ausrede. Wovor Angst, wenn man nichts zu verbergen hat? Niemand flüchtet, weil er sich an der Grenze verlaufen hat und in einem fremden Staat steht. Und niemand rast mit einem Auto weiter, wenn er von der Polizei aufgefordert wird, anzuhalten, es sei denn, er hat ein schlechtes Gewissen.
»Irgend etwas stimmt hier nicht!« sagte Lukas zu seinen Kollegen. »Den harmlosen Touristen nehme ich ihm nicht ab.«
»Das ist jetzt Sache der Kripo, Prophet.« Die Grenzpolizisten schüttelten den Kopf. »Es genügt, daß ihr ihn eingefangen habt.«
»Ich habe ihn angeschossen, das kann ein Verfahren geben. Aber ich lasse mich nicht in die Pfanne hauen. Ich will beweisen, daß der Waffeneinsatz notwendig war.«
»Und wenn's nichts zu beweisen gibt? Rühr nicht im Schlamm, Prophet.«
Lukas ließ sich nicht beirren. Noch in der Nacht begann er im Licht zweier Halogenscheinwerfer den japanischen Wagen auseinanderzunehmen. Sitze raus, Reserverad aus dem Kofferraum, sämtliche Räder runter, Armaturenbrett abgeschraubt, Türverkleidungen entfernt … darin hatte er Übung und wußte, wo Schmuggler ihre Waren versteckten. Wie viele Wagen hatte er schon auseinandergenommen, und immer war er fündig geworden. An den unmöglichsten Stellen hatte er Kokain oder Heroin gefunden, einmal sogar Rohdiamanten aus Sibirien in einem unauffälligen Stahlkästchen oberhalb des Auspufftopfes.
Aber dieses Mal fand Lukas nichts. Er saß auf einem Sitz des ausgeschlachteten Wagens und starrte auf die Tür vor sich. Was nun? Ein Verfahren wegen Waffenmißbrauchs war ihm fast sicher. Da hatten die Offiziere in den Kommandostellen kein Verständnis … gerade an der neuen Grenze zu Polen war man allergisch gegen Vorfälle, bei denen Menschen verletzt wurden. Die Medien stürzten sich darauf, und es gab Schlagzeilen wie: »Ist unsere Polizei zu schießwütig?«
Für Lukas gab es nur noch eine Chance: den Ausbau des Motors. Aber dazu mußte der Wagen in eine Werkstatt abgeschleppt werden. Auch einen kleinen Motorblock kann man nicht in der hohlen Hand schaukeln. Und wenn auch das nichts brachte?
Lukas brauchte das Auto nicht in die Werkstatt bringen zu lassen.
Er öffnete die Kühlerhaube, starrte auf den Motor mit seinen vielen Kabeln und Klemmen und Behältern, leuchtete mit einem der starken Halogenhandscheinwerfer in jede Ecke und fand keinen ›Fremdkörper‹ in der für einen Laien verwirrenden Maschine. Aber Lukas war kein Laie … noch einmal leuchtete er den Motor ab und entdeckte einen kleinen Kasten aus Metall. Er war zwischen dem Wasserbehälter für die Scheibenwaschanlage und dem Behälter für die Bremsflüssigkeit befestigt. Lukas leuchtete ihn an … kein Kabel führte irgendwohin, er hatte keinerlei Verbindung zum Motor oder zu anderen Teilen, aber er war fest verlötet.
Verlötet? Im Motorblock Lötstellen? Das war neu. Und welche Funktion hatte ein Kasten, der keinerlei Verbindung besaß? Ein kleiner, schwarzlackierter Kasten, unauffällig und bei einem flüchtigen Blick zu übersehen.
Lukas spürte ein Kribbeln unter der Kopfhaut. Er nahm einen Hammer und schlug vorsichtig auf die Breitseite des stählernen Behälters. Es gab einen dumpfen Laut, und dann brach der Kasten ab … seine Lötstellen waren nur punktförmig angebracht, und es war nur ein leichter Schlag nötig, um ihn abzutrennen. Und jetzt zeigte sich auch, daß er nicht zum Motor gehörte und keinerlei Funktion hatte.
Lukas atmete ein paarmal tief durch, holte den Kasten aus dem Motorraum und trug ihn in das Haus.
»Hier!« sagte er. »Das habe ich gefunden. Nun sagt noch einmal, daß dieser Londricky ein harmloser Verirrter ist.«
»Und was ist drin?« Der wachhabende Offizier, ein junger Leutnant, wog den Kasten in seinen Händen. »Das Ding ist schwer wie Blei. Was kann das sein? Wer fährt heute morgen in die Stadt?«
»Ich.« Ein junger Beamter hob die Hand.
»Du nimmst den Kasten mit und lieferst ihn bei der Kripo ab. Prophet, vielleicht hast du Glück, und es gibt keine Meldung.« Der Leutnant stellte den kleinen Kasten auf den Tisch. »Ob das wieder russische Diamanten sind? Dann ist der Weg falsch: So was kommt aus dem Osten nach Westen und nicht umgekehrt. Na, morgen werden wir wissen, was da am Motorblock gehangen hat.«
Am Morgen fuhr der Zollbeamte Richard Hemmer nach Frankfurt/Oder und gab den Kasten bei der Kripo im Polizeipräsidium ab.
»Sagt ihr uns, was wir gefunden haben?« fragte er.
»Na klar. Auch wenn's nur heiße Luft ist …«
»Dafür ist es zu schwer.«
»Lassen wir uns überraschen.«
Und es wurde eine Überraschung.
Nachdem man den Kasten mühsam mit einer Stahlsäge aufgeschnitten hatte, hob einer der Kriminalbeamten eine Bleiröhre heraus, die genau in das Transportgefäß paßte. Das Rohr war an beiden Enden mit einem Bleistopfen verschlossen. Der Kriminaloberrat Jürgen Plötze, Leiter des Kommissariats XII für Wirtschaftsverbrechen, schüttelte den Kopf.
»Die Bleiröhre machen wir nicht auf!« sagte er unsicher. »Das sollen Spezialisten entscheiden. Ab mit dem Ding zum Landeskriminalamt! Das LKA ist dafür zuständig. Ich will mit dem Zeug nichts zu tun haben.«
Und so wurde der Kasten mit dem Bleirohr weitertransportiert zum LKA und landete dort im Labor, das bestens ausgerüstet war. Unter größten Sicherheitsvorkehrungen wurde die Bleiröhre geöffnet.
Es war eine Stunde, die keiner der Laboranten jemals vergessen würde. Und die erste Analyse des Inhaltes wurde sofort an den Chef des LKA durchgegeben.
Von da an liefen die Telefondrähte heiß: nach Bonn zum Verteidigungsministerium, nach Köln zum Bundesamt für Verfassungsschutz, zum Bundeskriminalamt nach Wiesbaden, zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe, zum Bundesnachrichtendienst nach München-Pullach und sogar zum Bundeskanzleramt.
Höchste Alarmstufe.
Gefahrenstufe EINS.
Absolute Geheimhaltung.
Benachrichtigung aller Zollstationen: Ähnliche Behälter wie den an der Grenze nach Polen nicht öffnen! Sofort an die LKAs schicken! Mit Kurier. Strengstes Stillschweigen!
Eine Welle des Entsetzens breitete sich bei den benachrichtigten Behörden aus. Im BND in München-Pullach und beim BKA, dem Bundeskriminalamt, reagierte man schnell: Experten flogen nach Frankfurt/Oder.
Nur keine Panik. Nicht ein Wort an die Öffentlichkeit! Absolute Geheimhaltung!
Es gibt keinen Karel Londricky …
Die Operation war ohne Komplikationen verlaufen.
Die Ärzte hatten aus der rechten Schulter die Gewehrkugel herausgeholt; es war ein glatter Muskelschuß, der Knochen war nicht gesplittert. Das Projektil mußte durch die Rückenlehne des Sitzes gebremst worden sein, denn sonst hätte es das Schulterblatt durchschlagen. Londricky hatte großes Glück gehabt.
Nun lag er in einem Einzelzimmer, hatte eine Tetanusspritze und Antibiotika injiziert bekommen und war sehr schwach. Der hohe Blutverlust, denn es war viel Zeit vergangen, bis Lukas und Pflaume ihn zum Revier gebracht hatten. Die Kripo hatte auf Anraten des Chefarztes von einem Verhör abgesehen. »Morgen«, schlug der Arzt vor. »Jetzt befindet er sich in einer Art Dämmerzustand. Und dann die Narkose … Morgen früh ist er wieder klar.«
Ein Polizist wurde zur Bewachung vor dem Krankenzimmer postiert. Er saß auf einem Stuhl, las Illustrierte und wurde alle zwei Stunden abgelöst.
Am nächsten Tag war Londricky etwas munterer. Zwei Infusionen hatten ihn gestärkt, er hatte sogar am Morgen zwei Tassen Kaffee und ein Brötchen mit gekochtem Schinken zu sich genommen; als der wachhabende Polizist einmal ins Zimmer schaute, hatte er ihn sogar angegrinst.
Allerdings änderte sich seine Laune am Nachmittag.
Aus Wiesbaden und München waren die Sonderermittler angereist, hatten beim LKA noch einmal die Berichte der Grenzpolizisten durchgesprochen und kamen nun, sechs Männer, zu Londricky ins Zimmer. Ein Fachmann vom Bundesnachrichtendienst (BND), Kriminaloberrat Egon Wallner vom BKA, wo man in Anbetracht der ›heißen Sache‹ sofort eine Sonderkommission gebildet hatte, Kriminalobermeister Julius Berger, auch vom BKA, zwei Kommissare vom Dezernat XII in Frankfurt/Oder und der Chef des Landeskriminalamtes. Hinzu kamen noch der Chirurg, der Londricky operiert hatte, und die zuständige Krankenschwester. Sie wurde sofort hinausgeschickt.
»Keine Störungen!« sagte der Mann vom BND. »Vergessen Sie, daß hier ein Patient liegt.«
»Aber … es gibt gleich Abendessen.«
»Er wird schon nicht verhungern.«
»Vorher muß Fieber gemessen werden.«
»Auch platzen vor Hitze wird er nicht.«
Die Krankenschwester sah den Arzt fragend an. Er nickte kurz … alles in Ordnung, ich bin ja da. Sie verließ schnell das Zimmer und atmete auf dem Flur tief durch. Sechs Kriminaler auf einmal, war der Verwundete wirklich so ein gefährlicher Verbrecher?
Die Herren stellten sich rund um das Bett auf. Das Verhör leitete Oberrat Wallner als Chef der Sonderkommission des BKA. Er hatte sich als einziger auf die Bettkante gesetzt und blickte Londricky eine Weile wortlos an. Londricky hielt diesem Blick nicht lange stand … er drehte den Kopf zur Seite.
»Spielen wir jetzt kein Theater mehr«, sagte Wallner mit fast gütiger Stimme. »Die Sache ist für Sie gelaufen. Sie wissen, was Sie am Motor kleben hatten? Woher kommen Sie?«
»Köln. Fordwerke.« Londricky starrte auf die Knie des BND-Beamten, der neben ihm stand.
»Glauben Sie, wir haben geschlafen?« Einer der Kommissare vom Dezernat XII mischte sich ein. »In Köln ist kein Londricky gemeldet, bei Ford gibt es keinen Arbeiter dieses Namens …«
»Illegal ich.«
»Und ausgerechnet bei Ford! Die beschäftigen keine Schwarzarbeiter. Auch Ihr Paß ist gefälscht. Wer sind Sie?«
»Ich nix sagen …« Londricky schloß die Augen, als sei er wieder sehr schwach. Aber der Arzt schüttelte den Kopf, als Wallner ihn anblickte. Alles Theater, der Kerl ist munter. Die Infusionen haben den Blutverlust ausgeglichen, und ein Kreislaufmittel wurde auch injiziert.
»Wir haben Ihren Metallkasten gefunden und aufgemacht. Sie wissen, was Sie im Motorblock transportiert haben?«
»Ich nix reden.«
»Reines Lithium 6, zweihundertsiebzig Gramm!«
»Nix verstehen.«
»Wo sollten Sie das Lithium abgeben?«
Schweigen. Londricky streckte sich im Bett aus. Laßt mich in Ruhe, Bullen, glaubt ihr wirklich, ich singe? Eher kriegt ihr einen Grabstein dazu, die Biographie des Toten unter ihm zu erzählen.
»Nun mach keinen Ärger, Junge.« Oberrat Wallner beugte sich etwas nach vorn. Seine jovial-väterliche Art hatte manchmal Erfolg gezeigt; nun versuchte er es auch hier. »Jemand hat dich beauftragt, das Lithium 6 zu einem Abnehmer zu transportieren. Dafür bekommst du höchstens fünf Jahre Gefängnis; wenn du die Wahrheit sagst, kann man auch darüber verhandeln. Man könnte das so hindrehen, daß nur eine Geldstrafe drin ist … wegen Ordnungswidrigkeit. So idiotisch sind unsere Gesetze, wer denkt denn schon daran, daß jemand in Deutschland mit Atomschmuggel auffällt? Unsere Politiker verschlafen die aktuelle Lage, ein paar Gramm Lithium oder Uran, na, was soll's!« Wallner setzte sich wieder gerade hin. »Dabei hat bereits im Januar 1988 der damalige Ministerpräsident von Hessen, Walter Wallmann, die Bundesregierung vor einem Handel mit atombombenfähigem Material gewarnt.« Wallner blickte rauf zu dem BND-Mann, der gerade seinen Schlips lockerte. Es war sehr warm in dem kleinen Zimmer. »Aber das weiß der BND ja am besten.«
»Nur war der Weg umgekehrt.« Der Geheimdienstmann fühlte sich nicht wohl dabei, diese alte Geschichte wieder aufzuwärmen. »Damals wurden deutsche Nuklearbetriebe beschuldigt, technisches Know-how und Nuklearmaterial nach Pakistan geliefert zu haben, um das veraltete Atomzentrum Pinstech bei Karatschi auf den neuesten Stand zu bringen. Über den Umweg Hongkong wurden neunundfünfzig ›Dokumentensendungen‹ verschickt, der vollkommene Bauplan für eine eigene Produktion von Brennelementen, dazu Blaupausen von Reaktortechnik, Urananreicherung und Kernfusion. Achtundsechzig Einzellieferungen für Fertigungsanlagen von Brennelementen wurden auf Umwegen exportiert. Sinteröfen, Elektronenstrahl-Schweißgeräte, Spezialstahl zur Herstellung von Brennelementen, Rohmaterial für den Bau von Uranzentrifugen, Hüllrohre und Spezialbehälter für den Stoff, den man zur Urananreicherung braucht – das Uranhexafluorid. Der dickste Hund aber war die Lieferung des Know-how für eine rein militärischen Zwecken dienende Anlage zur Rückgewinnung und Bereitstellung von reinem Tritium. Tritium ist ein radioaktives Gas, das in kleinsten Mengen als Beimischung zur Sprengkraftverstärkung von Atombomben eingebracht wird. Und – wie üblich – schickte man sogar ein Pröbchen von Tritium mit … Null Komma acht Gramm. Nicht viel? Diese Null Komma acht Gramm Tritium entsprechen einer Strahlung von zweihundertsechsundneunzigtausend Giga-Becquerel!«
»Du lieber Himmel!« sagte der Chef des LKA erschüttert. »Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Es gab auch nur einen kurzen Rummel in Bonn, im Bundestag, in den Medien und auf dein diplomatischen Parkett. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verstoßes gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz. Höchststrafe: zehn Jahre! Alle, meine Herrn, kennen die Gesetze. Zehn Jahre für die Mithilfe an einer Vernichtungsmaschine, die Millionen Menschenleben kosten kann! So sind wir hier in Deutschland: zehn Jahre – eine Vollmilchschokolade für Völkermord.« Der Geheimdienstler holte tief Luft. »Wir hatten damals beim BND genaue Kenntnis davon, was in Pakistan passierte. Die amerikanische CIA hatte uns Geheimberichte zukommen lassen: Im Atomzentrum Pinstech, umgeben von zwei Meter hohen Mauern und mit Stacheldraht bewehrt, von Militär bewacht und alle Gebäude zur Tarnung grün gestrichen … hier bastelt man nach CIA-Informationen an einer Atombombe. In der Tritiumanlage sollen nach den Non-Papers – so nennt man drüben die Geheimberichte – in einem tiefen Stollen sechzig Gramm reines Tritium lagern. Wir haben alle maßgebenden Stellen gewarnt, es gab viel Aufregung in Bonn, im Bundestag wurden flammende Reden gehalten, man sprach voller Empörung von ›unglaublichen Vorwürfen‹ bis zum ›Sumpf ohne Ende‹, ja man warf im Ausland der BRD vor, sie habe Pakistan zum atomaren Selbstversorger gemacht. Das war 1988. Und seitdem breitet sich wieder Schläfrigkeit in Bonn aus.« Oberrat Wallner blickte auf Londricky, der meisterhaft den Erschöpften zu spielen versuchte.
»Bei uns im BKA wurden später noch zwei Fälle bekannt. Kleine Fische … mal ein halbes Gramm Uran, mal hundert Gramm Cäsium 137. Das Uran war minderwertig, das Cäsium war ein Abfallprodukt aus Kernkraftwerken. Beides also Betrug. Jetzt haben wir 1991 … und es scheint so, als hätten wir hier mit dem Lithium 6 einen neuen Markt aufgetan. Das Lithium ist absolut hochwertig!«
»Aber wer kauft denn so was?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wer sind die Abnehmer?«
»Das wissen wir nicht.« Wallner wandte sich wieder Londricky zu. »Diese zweihundertsiebzig Gramm Lithium 6 sind meiner Ansicht nach nur eine Probesendung, zum Beweis, daß es rein ist und man mehr liefern kann.«
»Da braut sich was zusammen.« Der Chef des Dezernats XII sprach aus, was alle dachten. »Das kann einen Skandal größten Ausmaßes geben!«
»Die Geheimstufe eins wird das verhindern. Noch. Aber wenn noch mehr radioaktive Ware auftaucht, bekommen die Medien früher oder später Wind davon. Dann gnade uns Gott!« Wallner beugte sich wieder über Londricky. »Junge, spiel mir nicht den Schlappen vor. Bei mir zieht das nicht. Wo kommt das Lithium her?«
»Ich nix sagen.« Londricky hielt die Augen geschlossen.
»Wohin sollte es geliefert werden?«
»Ich nix sagen.«
»Und überhaupt … du hast den verkehrten Weg genommen. Du sollst das Zeug in den Westen bringen, aber du wolltest abhauen in den Osten! Da stimmt doch was nicht! Die Richtung stimmt nicht!«
»Ich nix sagen und nicht mehr hören …«
»Wie du willst. Ich nehme dich mit nach Wiesbaden, und dort kochen wir dich weich.«
»Nix foltern … darfst du nicht …«
»Da hast du recht. Ich möchte dir am liebsten die Wahrheit aus dem Hintern prügeln.« Wallner blickte auf. »Meine Herren, das haben Sie nicht gehört. Wir sind unter uns, und ich weiß, was jeder von Ihnen denkt. Noch mal, Londricky – oder wie Sie heißen mögen: Sie können durch ein Geständnis Ihre Lage nur verbessern.«
»Ich nix sagen.«
»Wie Sie wollen.« Wallner sprach ihn wieder mit ›Sie‹ an. »Wir haben legale Mittel, Sie zum Reden zu bringen.«
Er erhob sich von der Bettkante. Jeder in diesem Krankenzimmer wußte, daß es eine leere Drohung war … wer nicht sprechen wollte, konnte nicht dazu gezwungen werden. Verhörmethoden wie in anderen Staaten, vor allem die einiger Länder in Asien, Afrika und Südamerika, verbot die Achtung vor den Menschenrechten. Man war auf freiwillige Aussagen oder auf erdrückende Beweise angewiesen … aber wo sollte man hier Beweise suchen?
»Ist er transportfähig?« fragte Wallner den Arzt.
»Ja. Die Verwundung war ein undramatischer Steckschuß. Nur der hohe Blutverlust mußte aufgefangen werden.«
»Und das haben Sie?«
»Ja. Aber wir können zur Sicherheit noch eine Infusion geben.«
»Ich bitte darum. Morgen früh nehmen wir ihn mit nach Wiesbaden.«
»Aber er muß noch klinisch behandelt werden.« Der Arzt hob wie bedauernd die Schultern. »Noch wenigstens eine Woche. Dann wissen wir sicher, daß es keine Wundinfektion oder andere Komplikationen gibt. Schließlich ist die Kugel durch die Lehne des Sitzes in den Rücken eingedrungen, es gab Polsterfasern in der Wunde, und niemand kann sagen, ob wir wirklich alle Rückstände oder Staubteilchen herausgeholt haben. Eine Entzündung ist bei einer solchen Verletzung immer drin.«
»Keine Sorge. Wir bringen ihn in das Krankenhaus.« Wallner wandte sich dem Chef des LKA zu. »Das Lithium nehmen wir auch mit. Es gibt ja keine Strahlungsgefahr.« Er warf noch einmal einen Blick auf Londricky. Der spielte immer noch den Erschöpften und versuchte sogar zu röcheln. »Er ist ein begabter Schauspieler!« sagte Wallner trocken. »Junge, bei mir nicht. Ich bin kein Theaterfreund, ich liebe die Musik. Deshalb werde ich dich zum Singen bringen.«
Am nächsten Morgen flogen Wallner und sein Assistent Berger zurück nach Wiesbaden. Londricky wurde in einem Rollstuhl transportiert. Er versuchte immer wieder, aus dem Sitz zu rutschen, und täuschte Schwächeanfälle vor, bis Berger ihn einfach im Rollstuhl so anband, daß er sich nicht mehr rühren konnte.
»Das Folter!« schrie Londricky empört. »Ich Presse erzählen!«
»Die wirst du nie zu Gesicht bekommen, Junge«, sagte Wallner mit einem Grinsen. »Der Bundesanwalt wird dich aus der Öffentlichkeit wegzaubern.«
In Wiesbaden warteten ein Krankenwagen und drei Kriminalbeamte des BKA auf sie. Sie übernahmen Londricky und fuhren mit ihm zum Krankenhaus. Dort bekam er ein Zimmer am hintersten Ende des Flures auf der ersten Etage und wieder einen Polizisten, der auf einem Stuhl vor der Tür Wache hielt.
Zwei Tage später, noch vor dem Beginn der Verhöre, war Londricky tot.
Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Ein lautloser Tod.
Das Fenster zum Garten war aufgebrochen. Der Täter – so wurde rekonstruiert – war über ein Rosenspalier hinauf in die erste Etage geklettert. Ein ganz einfacher Weg.
»Und das beweist«, sagte Wallner ziemlich schockiert, »daß wir es hier mit einer ganz dicken Sache zu tun haben …«