Aktives Erforschen der Innenwelt und Selbstführung
Alle Versuche, primär aus östlichen, buddhistischen Traditionen kommende Achtsamkeits-Übungen im westlichen Leben anzuwenden, begegnen einer großen Herausforderung: Der kulturell fast gegensätzlichen Ausrichtung, mit der Innenwelt umzugehen. Dieser Unterschied lässt sich in Begriffen der Gestaltpsychologie erklären: Jede bewusste Wahrnehmung entsteht durch den Kontrast zwischen einer Figur und dem Hintergrund, vor dem sie erscheint. Westlich geprägte Menschen haben eine deutliche Neigung, die Figur, also das, was sich im Vordergrund ihrer Wahrnehmung, z.B. eines Bildes, zeigt, zu erfassen. Personen aus östlichen Kulturkreisen tendieren dazu, den Hintergrund im Verhältnis stärker zu beachten (Chua et al., 2005). Diese Ausrichtung spiegelt sich auch in den meisten Varianten von Achtsamkeits-Übungen wider: Beim Wahrnehmen eines Phänomens wird dieses schnell wieder losgelassen und man wendet sich wieder dem Hintergrund zu, aus dem es entstanden ist.
Nun gibt es für Menschen der westlich geprägten Moderne wohl zwei Hauptgründe, sich mit der eigenen Innenwelt zu beschäftigen: Die Neugier, sich selbst besser kennen zu lernen, oder eine Unzufriedenheit damit, wie man mit sich und seinem Leben zurechtkommt. In beiden Fällen wird das Objekt des Interesses in den Vordergrund genommen. Hinzu kommt, dass der Westen eher handlungsorientiert ist, man will an das, was man sich über den Weg in die Innenwelt verspricht, schneller herankommen, es besser verstehen und oft auch in eine gewünschte, bessere Richtung verändern.
Diese Neigung, mit den Phänomenen, die sich in der Innenwelt zeigen, aktiv umzugehen, wird aber – zumindest von der Tendenz her – bei den meisten östlich geprägten Ansätzen vermieden. Denn gerade für Anfänger ist eine der zentralen Anweisungen, bei Ablenkungen zum Objekt der ursprünglichen Ausrichtung, z.B. dem Atem, zurückzukehren. Zum Training der Qualitäten von Klarheit, Gleichmut, Gelassenheit und Konzentration ist das unbestritten sinnvoll. Gleichzeitig sind aber Aspekte des eigenen Lebens, die man gerne verändern möchte, gerade ein Ausgangspunkt dafür, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen. Warum also nicht aktiv die Neigung nutzen, bei etwas zu verweilen, wenn sich etwas zeigt, das man näher verstehen oder verändern will?
Das Wissen darüber, dass eine regelmäßige Praxis von Achtsamkeit mittelfristig positive Auswirkungen hat, ist oft nicht motivierend genug, damit zu beginnen oder sie beizubehalten. Den damit verbundenen Zeitaufwand in einen vollen Alltag zu integrieren, ist mindestens genauso schwierig wie bei einem regelmäßigen körperlichen Fitnesstraining. Auch wenn viele Menschen sich nach mehr Gelassenheit sehnen, geben sie bald wieder auf, wenn die positiven Auswirkungen des Trainings nicht so schnell oder deutlich eintreten wie erhofft.
Erfahrungen der letzten Jahrzehnte (vgl. Welwood, 2000; Wilber, 2001a, 2001b, 2001c, 2006; Wilber et al., 2008) zeigen außerdem, dass ein alleiniges Achtsamkeitstraining oder ein meditativer Weg für viele »Westler« nicht nur zu lange dauert, um Alltagsherausforderungen in Beruf und Familie besser zu meistern. Dieser Weg wird manchmal auch dahingehend missverstanden, wichtigen sozialen Lebensaufgaben auszuweichen. So scheint zumindest für westlich geprägte Menschen die Verknüpfung von Achtsamkeit mit psychologisch fundierten Vorgehensweisen für spirituelle und weltliche Ziele ein sinnvoller und wirkungsvoller Weg zu sein.
Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass es hilfreich ist, mit jenen Aspekten der eigenen Psyche aktiv in Beziehung zu treten, die man verstehen oder die man weiterentwickeln möchte. Die Bedeutung der Achtsamkeit soll hier nicht auf eine westlich adaptierte Methode zur Persönlichkeitsentwicklung reduziert werden (vgl. Welwood, 2000). Trotzdem soll sie bewusst mit der westlichen Tendenz kombiniert werden, das was man bemerkt, auch »begreifen« und »erfassen« zu wollen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, aus beiden Herangehensweisen, der Achtsamkeit und psychotherapeutisch geprägten Selbsthilfe-Wegen, etwas zu kreieren, das für die persönliche Weiterentwicklung noch effektiver zu sein verspricht als jeder Weg für sich.
Im Folgenden soll daher ein Ansatz vorgestellt werden, der die Qualitäten von Achtsamkeit nutzt und sie mit einem zielorientierten, psychodynamisch geprägten Vorgehen verknüpft.
Selbstführung aus der Beobachterperspektive
Beim Üben von Achtsamkeit stößt man auf wiederkehrende Phänomene seines Geistes, die stören oder die hinderlich erscheinen. Ungeduld zum Beispiel oder das ständige, sorgenvolle Nachdenken über vergangene oder künftige Aktivitäten. Der Versuch, diese Gedanken lediglich wahrzunehmen, zu benennen und dann zum Atem zurückzukehren, ist für manche Menschen so wenig aktiv gestaltend, dass sie die Achtsamkeit wieder aufgeben. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, gehen über ein reines Achtsamkeitstraining hinaus. Mit einer eher aktiven und hinterfragenden Herangehensweise strebt man persönlich wünschenswerte Entwicklungen direkter an. Für diesen zielorientierten Umgang mit der eigenen Innenwelt wird im Folgenden der Begriff »Selbstführung« gewählt. Er soll auf einen Zustand hinweisen, in dem aus einer höheren, integrativen Perspektive ein bedeutsames Maß an Wahrnehmung, Fürsorge und Führung für die unterschiedlichen Anteile der Psyche ausgehen kann. »Selbstführung« spielt neben der leicht nachvollziehbaren Bedeutung »Ich selbst übernehme Verantwortung und Führung für mein Tun« auf wichtige Fragen an: Gibt es überhaupt einen Anteil oder eine Qualität in mir, von der eine solche Führung ausgehen kann? Oder funktioniere ich sowieso weitgehend automatisch? Und in welchem Zustand bin ich in der Lage, die verschiedenen Facetten meiner Persönlichkeit für ein übergeordnetes Wohl sinnvoll zu beeinflussen?
Dabei bekommt die aus der klassischen Achtsamkeit bekannte Perspektive des inneren Beobachters, die dort passiv bleibt, eine zusätzliche Qualität: Jene dem Leben innewohnende ursprüngliche Kraft, nach einer integrierten, ganzheitlich organischen Entwicklung zu streben (Kauffman, 1995). Diese Tendenz entspricht vielleicht auch dem, was Carl Rogers »Aktualisierung« bzw. »Selbstaktualisierung« (1951) genannt hat. »Aktualisierung« betont die Fähigkeit des Organismus, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten durch ständige Neuanpassung an äußere Bedingungen selbstorganisiert entwickeln zu können. Für den Menschen ist als besondere Leistung seines Organismus bedeutsam, ein »Selbst« entwickeln zu können. Diese »Selbstaktualisierung« lässt ihn sich seiner eigenen Erfahrungen, Gefühle und Handlungen bewusst gewahr werden. Auch hier stehen daher psychische Autonomie und Selbstständigkeit im Zentrum. Diese können allerdings immer nur entsprechend den inneren und äußeren Bedingungen realisiert werden.
Wichtige Pioniere systemisch und eher spirituell orientierter Therapieformen, wie Roberto Assagioli (1982, 1992) oder Richard Schwartz (1997), haben dann bemerkt, dass aus dem Mitgefühl, das aus der übergeordnet-beobachtenden Perspektive entsteht, auch ein mitfühlendes Handeln möglich ist und gepflegt werden kann.
Die annehmende Haltung des Beobachters
Zentral ist dabei die mit Achtsamkeit verbundene, annehmende Haltung gegenüber allem, was in der Innenwelt auftaucht. Dieser Gleichmut sich selbst gegenüber ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Gerade wenn man sich mit eigenen Schwierigkeiten, persönlichen Grenzen, unangenehmen Gefühlszuständen oder automatischen Reaktionen auseinandersetzt, neigt man dazu, sich kritisch zu betrachten. Dazu ein Fallbeispiel:
Frau Birgit K. kann nicht gut mit sich allein sein. Wenn sie am Abend nach Hause kommt, spürt sie regelmäßig den Anflug von innerer Leere und Trostlosigkeit. In ihrer Einsamkeit fühlt sie sich dumpf und rastlos zugleich. Sie versucht, sich abzulenken, durch Fernsehen, Essen, Naschen, Trinken. Oft schon in diesem Zustand, spätestens aber am nächsten Morgen, ärgert sie sich darüber, dass sie diesen unangenehmen Gefühlen so ausgeliefert ist. Noch mehr stört es sie aber, dass sie von ihnen so beherrscht wird, dass sie sich nur mit dem ungesunden Ess- und Trinkverhalten betäuben kann. Sie fragt sich dann, wieso sie es in solchen Momenten nicht schafft, sich aufzuraffen und etwas Sinnvolles zu unternehmen.
Diese Selbstkritik führt jedoch zu keiner Veränderung, sondern zum Gegenteil dessen, was sie anstrebt: Sie erhöht die innere Spannung und das Gefühl von Unzulänglichkeit, Frau K. fühlt sich noch unfähiger. Dies wiederum verstärkt die Impulse, sich mit Essen, Trinken und Fernsehen zu betäuben.
Ein häufiger Grund, solche unangenehmen Zustände nicht genauer zu betrachten, ist die Befürchtung, dass sie noch schlimmer werden, wenn man sie bewusster wahrnimmt. Um von schmerzhaften Gefühlen wie z.B. Trauer, Enttäuschung, Einsamkeit nicht noch mehr vereinnahmt oder gar überwältigt zu werden, versucht man, so gut es geht, sie zu verdrängen, zu bekämpfen oder zu kontrollieren. Man will Belastendes meist nicht wahrhaben, wertet Gefühle ab oder lenkt sich ab. Der gegenteilige Weg, sich dem Unangenehmen bewusst zuzuwenden und dafür sogar achtsamer zu werden, ist für die meisten Menschen eher ungewohnt und fremd.
Eine neugierig annehmende Haltung gegenüber schwierigen inneren Zuständen zu finden, ist wohl die größte Hürde auf dem Weg zur Selbstführung. Denn Ausgangspunkte zur Selbstführung sind ja gerade jene Aspekte der eigenen Person, mit denen man nicht zufrieden ist und auf die man eher kritisch blickt. Man will sie verändern. Das ist nicht leicht in Einklang zu bringen mit einer offenen, interessierten Haltung. Oft leidet man so unter bestimmten Gewohnheiten, Eigenschaften, Gefühlszuständen oder Gedanken, dass man bei ihrem Auftauchen sofort versucht, sie zu verändern oder sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Unabhängig davon, ob das gelingt oder nicht, diese Impulse erhöhen fast immer die Intensität des an die Oberfläche drängenden Gefühls, etwa so, wie sich der Auftrieb erhöht, wenn man einen schwimmenden Ball unter Wasser drückt.
Unvoreingenommene Offenheit und Neugier sind jedoch eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Hintergründe und Facetten der eigenen Persönlichkeit feiner wahrzunehmen und zu erforschen. Hier spielt das Training der Achtsamkeit und die Schulung des »Beobachters« eine entscheidende Rolle. Wer geübt ist, auftauchende Gedanken, Impulse oder Körperempfindungen während der Achtsamkeits-Übung aus einer annehmenden, gleichmütigen Haltung wahrzunehmen, kann sie mit etwas Abstand beobachten. Und er tut sich leichter, diese Geisteshaltung auch auf solche eher unangenehmen Zustände im Alltag zu übertragen.
Mit dieser Haltung könnte sich Birgit K., während solche unangenehme Zustände auftauchen, innerlich fragen: »Was für eine Art von Nervosität oder Einsamkeit ist das eigentlich?«, »Was schwingt da noch mit, was kann ich noch wahrnehmen?«
Auch im Anschluss an impulsive Reaktionen zum Beispiel, über die man sich im Nachhinein ärgert, kann man für eine kurze Weile achtsam werden und genauer hinspüren: »Was genau empfinde ich bei diesen Worten? Was ist da in mir getroffen?«
Mit der interessierten, neugierigen Grundhaltung des Beobachters erhöht sich die Chance, Neues über sich zu erfahren. Und mit mehr Informationen über störende Aspekte kann man oft schon besser damit umgehen. Bemerkenswert ist, dass sich Gefühle und aufdrängende Gedanken meist beruhigen, wenn sie auf diese Weise wahr- und ernstgenommen werden.
Persönlichkeitsanteile – ein hilfreiches Modell der Innenwelt
Für das Beobachten und Annehmen dessen, was in der Innenwelt geschieht, stellt die Vielschichtigkeit und Komplexität der menschlichen Psyche eine große Herausforderung dar. Bei einer solchen Erkundung ist es von unschätzbarem Wert, eine brauchbare Orientierungshilfe gleichsam als Landkarte zur Hand zu haben. Dabei haben sich insbesondere Modelle bewährt, die die Kenntnisse moderner Systemtheorien nutzen. Ein wesentliches Merkmal von sich selbst organisierenden Systemen, wie dem Menschen, ist, dass sie aus Komponenten bestehen, die eine gewisse Eigenständigkeit besitzen, aber integriert zusammenarbeiten.
Exkurs:
Der Mensch als ein sich selbst organisierendes lebendiges System
Aus moderner systemischer Sicht wird der Mensch als ein »sich selbst organisierendes lebendiges System« verstanden. Die Theorien dazu machen deutlich, dass sich das ganze Universum sowie seine Subsysteme auf ähnliche Weise organisieren und versuchen, sich fortwährend an ihre jeweilige, sich verändernde Umwelt anzupassen.
Bedeutsame Charakteristika dieser Systeme sind:
• Jedes dieser Systeme – sei es eine Zelle, ein Mensch, eine Gruppe, eine Nationalökonomie oder unser Planet – ist sowohl ein Ganzes (Holon, Agens) als zugleich auch Teil und damit Subsystem eines Netzwerks vieler Holons, die alle zur gleichen Zeit handeln. Jedes Holon handelt einerseits aus sich heraus und reagiert andererseits auf das, was die anderen Teile tun. Das macht verständlich, dass die Zukunft weder für den einzelnen Teil noch für das Ganze festgelegt sein kann.
• So ist die Kontrolle über ein System auf die verschiedenen Subsysteme (Holons) verteilt. Ihr Verhalten erwächst aus ihrer Kooperation und dem Wettbewerb untereinander. Das Verhalten und die interne Organisation eines Systems ist das Ergebnis unendlich vieler »Entscheidungen«, die von allen teilnehmenden Subsystemen laufend getroffen werden. Man kann sich das zum Beispiel beim Wirtschaftssystem eines Landes vorstellen oder bei Evolutionsprozessen. Auf den Menschen bezogen bedeutet das: in Wechselwirkung mit seiner Umwelt, seinen Mitmenschen beeinflussen in jedem Moment alle seine Subsysteme – wie Organe, Nerven- und Immunsystem oder Persönlichkeitsanteile – wie sich das Leben weiter entfaltet.
• Die sogenannten »Komplexen Adaptiven Systeme« haben viele Organisationsebenen, wobei die Agenzien einer tieferen Ebene jeweils als Bausteine für die Agenzien auf einer höheren Ebene dienen. Daraus ergibt sich eine Hierarchie der Ebenen, die Wilber (2001b) »Holarchie« nennt. Ein Zellkern ist Bestandteil einer Zelle, die zusammen mit anderen ein Organ bildet. Dieses wiederum ist Teil eines Menschen, der zu einer Familie gehört, die ein Subsystem einer Gemeinde darstellt.
• Diese Systeme revidieren und ordnen ihre Bausteine aufgrund laufend neuer Erfahrungen ständig um. Es herrschen fortwährend Bewegung und Veränderung, während die Agenzien zueinander in Beziehung treten, sich informieren und lernen. So sterben etwa Zellen ab und werden neu gebildet; Menschen begegnen einander, bilden Paare, Familien und Arbeitsgruppen; Unternehmen lernen, fusionieren oder differenzieren sich.
• Komplexe adaptive Systeme antizipieren die Zukunft. Sie sind so organisiert, dass sie die Umgebung implizit »kennen«, basierend auf meist nicht bewussten internen Modellen, die die Außenwelt »voraussagen«. Diese Modelle werden ebenfalls ständig neu geordnet, getestet und verbessert. So lernen die Systeme aus ihren Erfahrungen.
• Diese Systeme erreichen niemals ein Gleichgewichtsstadium. Stattdessen schaffen unaufhörliche Bewegung, Wechsel, Sterben, Entwicklung und Rearrangieren ständig neue Situationen mit neuen Nischen und neuen Möglichkeiten, aber niemals mit einem »optimalen« Zustand.
Weiterführende Literatur: Jantsch (1982), Bateson (1987), Nicolis & Prigogine (1989), Waldrop (1993), Gell-Mann (1994), Holland (1995), Kauffman (1995), Wilber (2001b), Kriz (1999, 2004).
In diesem Sinne eignen sich zur Selbstführung jene Ansätze, die sich auf abgrenzbare Persönlichkeitsanteile beziehen – eine Perspektive auf die eigene Persönlichkeit, die anschaulich und intuitiv nachvollziehbar ist. Vielen Menschen ist vertraut, im Alltag von inneren Anteilen oder Stimmen zu sprechen, die unterschiedliche, oft auch kontroverse Sichtweisen gegenüber kleinen Alltags- oder größeren Lebensfragen haben. Das drückt sich beispielsweise bei einer Entscheidung aus, wenn man noch hin und her gerissen ist: »Ein Teil von mir würde gerne zusagen, ein anderer zögert noch.« Oder nach einer Provokation: »Da kam mal wieder der Zyniker in mir durch. Aber das ist eine Seite in mir, die ich überhaupt nicht mag!«
Carl Gustav Jung verankerte den Begriff »Komplex« in der Psychologie. Er meinte damit eine Gesamtheit von Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen, etwas, das »die Tendenz hat, eine kleine eigene Persönlichkeit zu bilden … er benimmt sich wie eine Teilpersönlichkeit« (Jung, 1935). Weniger bekannt als Jung, aber für ein modernes Verständnis der menschlichen Psyche ebenso wegweisend ist Roberto Assagioli (1982, 1992) und seine bereits seit 1910 entwickelte Psychosynthese. Er und sein Schüler Ferrucci (2005) haben eine Sichtweise herausgearbeitet, mit der auch psychologische Laien sehr gut umgehen können. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden wieder ähnliche Teilemodelle (vgl. Übersicht bei Hesse, 2003) entwickelt. Bekannt sind unter anderem der »Voice Dialog« (Stone & Stone, 1994), die Transaktionsanalyse (Berne, 1975), das »ego-states«-Modell (Watkins & Watkins, 2003), die »innere Familienkonferenz« (Schmidt, 1989) und die »Internal Family Systems Therapy« (Schwartz, 1997). In der Erwachsenenbildung und in Management-Trainings ist vor allem das Modell des »Inneren Teams« (Schulz von Thun, 1998) verbreitet.
Persönlichkeitsanteile entwickeln sich als Folge der individuellen Lebens- und Lerngeschichte. Schon als Kind lernt man, auf seine ganz persönliche Weise, auf bestimmte Situationen vorbereitet zu sein und das »richtige« Verhalten parat zu haben.
Gerrit L., eine 37-jährige Zahntechnikerin, war in der Umgebung eines ländlichen Hotelbetriebs aufgewachsen, in dem die Eltern von morgens früh bis abends spät tätig waren. Das persönliche Leben war kaum vom beruflichen zu unterscheiden. Auch Frau L. war schon als Kind eingespannt und hatte umfangreiche Verantwortungen. Dazu gehörte, dass sie zu allen Zeiten ansprechbar sein und zur Verfügung stehen musste. In diesem Umfeld entwickelte sie einen Zustand, in dem sie ihre eigenen Bedürfnisse hintan stellt – sie sogar ganz verliert – und nur darauf achtet, was andere brauchen. Diesen Zustand nennt sie die »Dienerin«. Gleichzeitig entwickelte sie damals aber auch ein Geheimleben, einen inneren, vor anderen verborgenen Zustand, den sie die »Revoluzzerin« nennt. Dieser Zustand/Teil möchte sich allem verweigern und kapselt sich gegen echte Begegnungen ab – vertraut niemandem. In ihrer Ehe kommt es aber immer wieder vor, dass sich dieser Persönlichkeitsanteil plötzlich und mit enormer Wucht zeigt. Dies geschieht meist dann, wenn sie wieder einmal zu lange und zu extrem im Zustand der Dienerin gewesen ist.
Persönlichkeitsanteile sind nicht mit sozialen Rollen gleichzusetzen, wie z.B. Ehefrau oder Bruder, Vorgesetzter oder Lehrer. Häufig ist es allerdings so, dass sich bestimmte Teile in gewissen Rollen besonders zuhause fühlen, etwa ein »Welterklärer« in der Rolle des Vaters, des Ehemanns, des Lehrers oder Beraters und eine »Fürsorgliche« in der Rolle der Mutter oder der Krankenschwester. Ein Persönlichkeitsanteil ist auch nicht einfach nur ein Gefühl, Wut ist nicht automatisch ein wütender Teil. Denn Wut kennen viele Teile, deren Aggressivität fühlt sich allerdings jeweils verschieden an: Ein »Trotzkopf« erlebt seine Wut anders als ein »Unbeherrschter« oder ein cholerisches »Teufelchen«. Die Ungeduld, die sich im Ärger eines effektiven »Machers« gegenüber Menschen zeigt, die bis ins letzte Detail noch diskutieren müssen, fällt anders aus als der Zorn eines »Gerechtigkeitskämpfers«.
Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile beinhalten für einen Menschen typische Zustände, die sich selbst organisieren und immer wieder automatisch auftreten. Das klingt theoretisch, wird aber verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der ganze Mensch immer so »ist« wie der Teil, der gerade aktiviert ist. Wenn man sich in einem solchen Teil beziehungsweise Zustand befindet, verknüpfen sich die eigenen Gefühle, Sichtweisen, Gedanken, Erinnerungen, Körperempfindungen und Impulse zu einer ganzen Gestalt.
Karsten P. ist ein junger Manager in Führungsposition, der manchmal oberlehrerhaft und besserwisserisch wird. Er nennt diesen Zustand »Welterklärer«. Wenn er aktiviert ist, wird Herr P. angespannt, spricht lauter und schneller und seine Gedanken drehen sich darum, wie er den anderen sein Wissen vermitteln kann. Er ist dabei manchmal euphorisch, wenn er ganz begeistert bei den Sachinhalten ist, und manchmal gereizt, wenn er etwas zum wiederholten Mal erklären muss. In diesem Zustand erinnert er sich auch an andere Situationen, in denen er besser Bescheid wusste als andere, oder er im Recht war und andere ihm nicht glaubten. Dies ist ein vollkommen anderes Erleben, als wenn er im »Gutmensch«-Zustand ist, in dem er eher entspannt auf andere Menschen schaut und aufmerksam und einfühlsam zuhört.
Jeder Teil ist insofern ein relativ eigenständig lebendiges Wesen, als es seine Grenzen und Interessen schützt. Dieses wird besonders bei Wechselwirkungen mit anderen Menschen deutlich: Reagiert zum Beispiel ein Gesprächspartner auf Herrn P. ablehnend oder abwertend, dann neigt der »Welterklärer« ganz automatisch dazu, noch vehementer zu argumentieren. Dieses Muster tritt in ähnlichen Situationen immer wieder auf. Solche Teile haben oft in jahrelanger Erfahrung gelernt, bei bestimmten Bedingungen oder Umständen auf eine spezifische Weise zu reagieren und sich einzusetzen.
Diese Zustände als eigenständige Persönlichkeitsanteile zu betrachten und nicht einfach nur als Gefühle oder Charaktereigenschaften, macht den Umgang mit ihnen anschaulicher und greifbarer. Dabei ist es hilfreich, den Teilen der Persönlichkeit, die häufig das Verhalten steuern, beschreibende Namen zu geben. Mit einem Teil in Verbindung zu treten ist leichter und konkreter, wenn man ihn wie einen Menschen beim Namen nennt. »Ah ja, da meldet sich wieder mein Zyniker!«, oder: »Mein Antreiber setzt mich gerade unter Spannung.« Einen Zustand, dem man einen Namen gegeben hat, kann man im Alltag besser wiedererkennen. Das kann insbesondere in Situationen hilfreich sein, in denen man unter Druck gerät und Reaktionen sehr rasch und hoch automatisiert ablaufen.
Friederike B. ist Ärztin und mit einem Arzt verheiratet, hat 3 Kinder (17, 14, 12) und mit Praxis und Familie einen sehr ausgefüllten Alltag. Selbst als Kind in einer großen Familie mit offener Tür und ausgeprägter Gastfreundschaft aufgewachsen, fällt es ihr heute oft schwer, sich abzugrenzen. Eine typische Herausforderung stellt ein Telefongespräch dar, in dem ihre Mutter sehr kurzfristig einen Besuch ankündigt. Dabei merkt Frau B., wie ganz spontan mehrere Teile innerlich reagieren. Der »Überforderten« ist das alles zu viel: »Diese Woche ist so schon stressig genug! Es gibt so viel zu organisieren, wie willst Du das auch noch schaffen?« Sofort meldet sich aber die »Fürsorgliche«: »Mami freut sich so sehr, ihre Enkel wiederzusehen. Und seit Papis Tod ist sie so einsam. Du kannst da nicht ›Nein‹ sagen!« Doch sofort reagiert ein weiterer Teil, der das anders sieht: »Du freust Dich doch schon so lange auf diese Tage, auf die Ruhe und Muße. Da möchtest Du Dich nicht schon wieder um Andere kümmern!« Dieser »Abschotter« möchte ganz entschieden »Nein« sagen. Die Fürsorgliche meldet sich dann noch lauter: »Du kannst doch nicht so hartherzig sein. Wer weiß, wie lange Mami noch gesundheitlich in der Lage ist, solche Besuche bei uns zu erleben?« Um diese spontanen Reaktionen zu einer vernünftigen Handlung zusammenzuführen, muss Frau B. etwas Zeit gewinnen. Sie weiß, dass die Fürsorgliche meist die Oberhand behält, sie dann aber – nach vorschnellem Ja-Sagen – solche Besuche oft nicht genießt. Wenn sie nun im Telefonat den anderen Stimmen auch explizit Gehör verschafft, könnte sie sogar zusammen mit ihrer Mutter nach einer Kompromisslösung suchen, bei der ihre eigenen Bedürfnisse besser berücksichtigt werden.
Wie in allen Fallbeispielen hat auch Frau B. ihre Teile aus ihrem individuellen Erleben heraus erkannt und benannt. Sie sind nicht allgemeingültig, auch wenn andere Menschen zu ähnlichen Reaktionen neigen. Moderne Modelle der Multiplizität der Psyche ermutigen jeden Menschen, die jeweils einzigartigen Anteile zu identifizieren und persönlich zu benennen. Damit entsprechen die Teile am ehesten der subjektiven inneren Wirklichkeit.
Innere Führung
Wie lassen sich nun diese Teile weiterentwickeln und in ihrem Zusammenspiel beeinflussen? Gibt es einen Teil, der von allen anderen in einer Führungsrolle akzeptiert werden kann? Die Antwort ist offensichtlich »nein«. Da jeder Mensch innere Spannungen und ungelöste Konflikte in sich hat, ist das nicht möglich. Ein Hauptmerkmal des Menschen besteht ja gerade darin, dass er aufgrund seiner Lerngeschichte nur eine einseitige und parteiliche Sicht auf die Welt hat. Da aber keiner seiner Persönlichkeitsanteile in der Lage ist, die Gesamtheit zu erfassen, gibt es neben Allianzen auch immer Widersprüche zwischen ihnen. Nur eine Instanz auf einer höheren Ebene, von der aus sie alle Teile und deren unterschiedliche Bedürfnisse und Strebungen nebeneinander verstehen und annehmen kann, hätte die Voraussetzung zu einer Führung, die auf das Ganze integrierend wirken kann.
Einen Zustand, dessen Qualitäten in diese Richtung weisen, kann man im Rahmen des Trainings von Achtsamkeit entdecken und entwickeln. Das, was man den inneren Beobachter nennt, wird während der Achtsamkeitsübung allerdings zunächst eher als passiv wahrnehmend erlebt. Die wichtigste Intention ist, nicht wertend, gelassen und möglichst klar zu beobachten. Auch Liebende Güte und Mitgefühl, Qualitäten, die gerade »schwierigeren« Teilen entgegengebracht werden müssen, damit sie einer inneren Führung vertrauen können, bleiben in der Achtsamkeit passiv.
Pionier auf der Suche nach einer aktiveren, aber genauso annehmenden und integrativen Instanz war Roberto Assagioli, ein Schüler Freuds. Er war Arzt, Psychiater und Psychotherapeut und beschäftigte sich auch mit den veränderten Bewusstseinszuständen der Mystiker. Sein Teilemodell war wohl das erste, das eine Art aktivere »höhere« Führung postuliert. Sein Anliegen war es, eine wissenschaftliche Psychologie zu entwickeln, welche die Realität der Seele anerkennt, und die Freude, Sinn, Erfüllung, Kreativität, Liebe und Weisheit, also die höheren Energien und Strebungen des menschlichen Daseins ebenso berücksichtigt wie die Bedürfnisse und Triebe der menschlichen Natur (Assagioli, 1982, 1992).
Bei den neueren psychodynamisch orientierten Modellen dürfte Richard C. Schwartz derjenige sein, der dank seiner Experimentierfreude und Neugier einen Zustand entdeckte, der wie eine aktive Form des inneren Beobachters wirkt, gepaart mit Fürsorge und allparteilicher Führungsqualität. Schwartz war in den 1980er Jahren ein wissenschaftlich anerkannter systemischer Familientherapeut in den USA. Er begann damals etwas, was unter Familientherapeuten ein Tabu war: er wollte herausfinden, was im Inneren der schwierigen Kinder oder Jugendlichen vorging, mit denen er arbeitete, und begann mit Einzelgesprächen. Dabei übertrug er das methodische Vorgehen aus der Familientherapie auf den Umgang mit Persönlichkeitsanteilen: auf die »innere« Familie. Er sprach so lange mit einem Teil, bis dieser sich verstanden fühlte, entspannte und begann, Vertrauen in den Prozess zu haben. Sobald ein Teil kooperativer wurde, bat er ihn, sich beim weiteren Gespräch mit dem nächsten Teil nicht mehr einzumischen und beiseite zu treten, als würde sich dieser, wie früher die Mitglieder einer Patientenfamilie, auf einen passiven Beobachtungsplatz zurückziehen. Den meisten Klienten gelang dies erstaunlich gut (vgl. Schwartz, 1997).
Exkurs:
Internal Family Systems (IFS)
Richard C. Schwartz, ein anerkannter Familientherapeut an der Universität von Chicago, verknüpfte in den 1980er Jahren das Konzept der Multiplizität der Psyche mit familientherapeutischem beziehungsweise systemischem Denken. Mit IFS entwickelte er einen ganzheitlichen psychotherapeutischen Ansatz, der vielfältig anwendbar ist: Bei Krankheitsbildern wie Trauma und sog. frühen Störungen bis hin zu eher alltäglichen Fragen privater oder beruflicher Lebensbewältigung. Die unterschiedlichsten Zielgruppen – Einzelpersonen, Paare und Familien, aber auch noch komplexere soziale Systeme wie Unternehmen mit ihren Bereichen und Abteilungen – können von IFS profitieren. IFS zeichnet sich durch eine praxisorientierte, systematische Methodologie aus und ist ein in den Grundzügen auch für Laien gut verständliches Konzept.
Besonderheiten von IFS sind:
• Die Entdeckung, dass die Reaktionen von Persönlichkeitsanteilen auf die Außenwelt – und im inneren System aufeinander – ähnlichen Prinzipien folgen wie die Mitglieder einer Familie. Demnach finden sich bei den meisten Menschen drei Arten von Teilen, die sich in der Tendenz ihres Erlebens und Verhaltens unterscheiden:
1. »Manager« sorgen für Sicherheit und langfristigen Erfolg. Sie sind vorausschauend, kontrollierend, strategisch und langfristig planend. Es sind die Teile, die man als vernünftig und erwachsen erlebt.
2. »Feuerbekämpfer« reagieren eher impulsiv, unreflektiert und unkontrolliert. Sie werden oft ausgelöst, um bedrohliche oder schmerzhafte innere Zustände zu vermeiden. Ihr Verhalten ähnelt manchmal kämpferischen, rebellischen oder über die Stränge schlagenden Jugendlichen.
3. »Verbannte« sind empfindsame, verletzliche Teile. Sie tragen gefühlsintensive, oft schmerzhafte Erinnerungen und werden häufig im inneren System verbannt. Sie reagieren sensibel und kindlich, suchen Nähe und Zuwendung, fühlen sich oft hilflos, ungeliebt oder allein gelassen.
• Ein systematisches Vorgehen mit einer Abfolge innerer Dialoge, wie sie aus der systemischen Familientherapie bekannt sind. Dabei wird zuerst mit den erwachseneren Teilen, den »Managern«, gesprochen, bis diese genügend Vertrauen in das Vorgehen haben und bereit sind, ihre Kontrolle zurückzunehmen und sich in eine Beobachterposition zurückzuziehen – sich zu separieren. Danach kann man sich den »Feuerbekämpfern« zuwenden und zuletzt den oft nicht bewussten und manchmal früh traumatisierten »Verbannten«.
• Die prinzipielle Selbstermächtigung des Patienten: Er wird von Anfang an ermutigt, zu seinen Teilen eine gute Beziehung aufzubauen und unter Anleitung eines Therapeuten selbst dafür zu sorgen, dass die Teile im inneren System und von der Außenwelt bekommen, was sie auch für eine Nachreifung benötigen.
• Ein signifikantes Merkmal von IFS ist die Annahme eines »Selbst« als Wesenskern. Dieses »Selbst« hat natürliche Führungsqualitäten mit heilender Wirkung, wie Gelassenheit, Klarheit, Mitgefühl – ähnlich dem »Inneren Beobachter« der Achtsamkeit.
• »Selbstführung« (Self-leadership) ist bei IFS ein Hauptziel von Therapie oder Coaching. Der Therapeut oder Coach versteht sich als Begleiter, der dem Klienten hilft, Abstand zu den Teilen zu gewinnen, sich von ihnen zu disidentifizieren und einen selbstnahen Zustand in sich zu finden. Von hier aus kann sich Selbstführung und Selbstheilung mehr »von alleine« entfalten, unabhängiger von den Interventionen des Therapeuten. Diese innere Weisheit gehört zentral zum Konzept von IFS. Hier finden sich im Verständnis und im Vorgehen Ähnlichkeiten sowohl zu praktischen wie spirituellen Dimensionen von Achtsamkeit.
Weiterführende Literatur: Schwartz (1997), Dietz & Dietz (2007, 2008), Schwartz (2008a, 2008b).
Links:
Schwartz, R. C. The Center of Self Leadership.
‣ http://www.selfleadership.org/
IFS Europe e.V. Verein, IFS-Modell, Workshops, Therapeuten.
‣ http://www.ifs-europe.net/
Für Schwartz war damals die größte Überraschung, jenen Zustand zu entdecken, der nach der Identifizierung und Differenzierung verschiedener Teile entstand:
»Wenn die Klienten in diesem ruhigen und mitfühlenden Zustand waren, fragte ich sie, welche Stimme oder welcher Teil jetzt da sei. Sie gaben alle eine Abwandlung der folgenden Antwort: ›Das ist kein Teil wie die anderen Stimmen, das ist eher, wer ich wirklich bin, das ist mein Selbst‹. Ohne es zu ahnen, war ich auf eine neue Art und Weise gestoßen, Menschen zu helfen, Zugang zu dem Selbst zu bekommen, das so viele spirituelle Traditionen beschrieben haben. Aber das wurde mir erst Jahre später klar. Zu jener Zeit war ich einfach fasziniert, dass ich einen Weg gefunden hatte, Therapie so viel müheloser und effektiver zu machen, und zwar sowohl für mich als auch für meine Klienten« (Schwartz, 2008a, S. 32).
»Am erstaunlichsten war, dass die Klienten anscheinend wussten, was sie sagen oder tun mussten, um den einzelnen inneren Persönlichkeiten zu helfen, sobald sie im Selbst waren. Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich ihnen nicht beibringen musste, wie sie sich diesen Gedanken und Emotionen gegenüber, die sie Teile nannten, jeweils in unterschiedlicher Weise verhalten sollten. Denn entweder begannen sie automatisch, das zu tun, was der Teil brauchte, oder sie begannen Fragen zu stellen, die dazu führten, Wege zu finden, dem Teil zu helfen. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, ihnen zu helfen, im Selbst zu bleiben und mich dann herauszuhalten, wenn sie selber zu Therapeuten für ihre innere Familie wurden« (Schwartz, 2008a, S. 37).
Schwartz nannte den Zustand, den er da jenseits der persönlich gefärbten Teile entdeckte, das »Selbst« – so wie es vor ihm bereits Assagioli getan hatte. Wir verzichten hier bewusst auf diese Bezeichnung, da der Begriff »Selbst« sehr unterschiedliche Bedeutungen hat und in der psychologischen Forschung kontrovers diskutiert wird (vgl. Fulton, 2008). Unabhängig vom Begriff ist der Zustand, den Schwartz da (wieder)entdeckt hat, jedoch relevant und ausgesprochen heilsam. Im Weiteren werden wir versuchen, ihn zu umschreiben – in dem Wissen, dass ein Name allenfalls eine Annäherung an etwas wäre, dem unsere Sprache nicht gerecht wird. Es kann sich nicht um einen »normalen« Persönlichkeitsteil handeln, denn die sind an bestimmte Perspektiven aus dem Leben eines Menschen gebunden. Seine Perspektive ähnelt der des inneren Beobachters und liegt auf einer anderen, höheren Ebene – mit einer weiten, allparteilichen Sicht über das Ganze der Person. Ohne Teile zu bevorzugen kann er gleichzeitig sich widersprechende Sichtweisen und Erlebensperspektiven annehmen, verstehen und wohlwollend nachempfinden, ohne in sie verstrickt zu sein. Über den Beobachter hinaus kommt eine Qualität hinzu, die in der klassischen buddhistischen Literatur oft nicht erscheint: nämlich aus dem Mitgefühl für die Teile heraus unterstützend zu handeln. Er kann ihnen zuhören, sie nach ihren Erfahrungen befragen, sie halten, umarmen, ihnen einen Platz im Inneren anbieten. Er kann besorgten Teilen versichern, dass sich die Person verlässlich um verletzte Anteile kümmert, oder dazu verhelfen, dass verschiedene Teile einander verstehen. Und es ist möglich, aus dieser Position steuernd einzugreifen, solange seine Beziehungen zu den Teilen gut sind: Man kann Teile auffordern, beiseite zu treten, um sich einem anderen Teil zuzuwenden, und sie bitten, mit ihrem Reaktionsbedürfnis ein wenig zu warten oder im richtigen Moment das Handeln zu übernehmen.
In diese Richtung weist auch das, was Genpo Merzel, Roshi (2008) »Big Mind Big Heart« nennt. Diese innere Perspektive ermöglicht gute Beziehungen zu allen Teilen der Person: gegenüber jedem Teil, der sich meldet, besteht die Bereitschaft zu guten Beziehungen. Thich Nhat Hanh lädt ein, diese Rolle wie die einer Mutter oder älterer Geschwister zu verstehen, die sich eines leidenden Kindes annehmen: »Die Kraft der Achtsamkeit ist wie ein großer Bruder oder eine große Schwester, die ein kleines Wesen in ihren Armen halten und das leidende Kind gut betreuen, welches unser Ärger ist, unsere Verzweiflung, oder Eifersucht« (Thich Nhat Hanh, 2004, S. 67).
Persönlichkeitsanteile identifizieren und benennen
Persönlichkeitsanteile, die situativ ausgelöst werden, sind natürliche, alltägliche Zustände eines Menschen. Sie ermöglichen uns, sofort und ohne zu überlegen, auf verschiedenste Anforderungen der Umwelt einzugehen. Bewusst reflektiertes Handeln wäre für die meisten Situationen viel zu langwierig. Dazu muss das Alltagshandeln zu schnell erfolgen. Wenn es rasches Handeln erfordert, dann ist es nicht nötig, darüber nachzudenken, wie das gemacht wird: störende Einflüsse werden ausgeschaltet, passende körperliche Aktivierungen eingeschaltet, der entsprechende Fokus eingestellt, das notwendige Wissen aktiviert. Um das alles gut zu organisieren, haben wir in Form unserer »Persönlichkeitsanteile« tief eingeschliffene Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster entwickelt. Sie sind das Ergebnis lebenslanger Vorerfahrungen und Lernprozesse. Ändert sich die Situation, ändert sich oft auch das innere Reaktionsmuster – ein anderer Teil wird aktiv. Die Forschung lässt vermuten, dass dieses Umschalten so schnell passiert, dass man es frühestens eine Viertel Sekunde später bewusst bemerken kann (Libet, 1985). Diese Teile der Persönlichkeit werden völlig automatisch aktiviert. Solange dies wie bei einem »Autopiloten« gut funktioniert und wir mit unserer Wirkung zufrieden sind, machen wir uns meist keine Gedanken über unsere Gewohnheiten und die Persönlichkeitsanteile, die jeweils dahinter stehen.
Die Frage, welcher Teil der Persönlichkeit den Lauf der Gedanken, die Stimmung oder die Reaktionen bestimmt, wird oft erst dann relevant, wenn man sich beeinträchtigt oder eingeengt fühlt. Das kann durch hartnäckige Gewohnheitsmuster geschehen, wie z.B. das vorschnelle Eingehen auf die Wünsche anderer; es können Stimmungen sein, die häufig wiederkehren, wie depressive Zustände. Auslösend für diese Selbsterforschung können auch emotionale Reaktionen auf andere sein, die unangemessen oder unverständlich erscheinen, oder die Verwunderung über bestimmte Facetten der eigenen Persönlichkeit, über die man sich mehr Klarheit wünscht.
Statt nur darüber nachzudenken und zu reflektieren, was einem da zu schaffen macht, kann man sich auf eine wahrnehmende, fühlende, »von Herzen kommende«, innere Begegnung mit jenen Persönlichkeitsanteilen einlassen, welche die entsprechenden Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen verursachen. Dies erfordert ein achtsames Umlenken der Aufmerksamkeit nach Innen. Im Gegensatz zur reinen Achtsamkeitsmeditation wird hier jedoch nicht nur passiv beobachtet, sondern die Wahrnehmung bewusst gelenkt. Zu Beginn holt man sich innerlich die Ausgangssituation oder Gefühlslage her, die man näher erforschen möchte. Da es darum geht, genau jenen Zustand zu untersuchen, der auch im Alltag problematisch ist, vergegenwärtigt man sich die äußeren Umstände ganz genau und so lange, bis das dabei entstehende innere Erleben spürbar wird. Man erlaubt sich dann, es so deutlich wie möglich zu empfinden. Eine spezielle Art der Selbstbefragung vertieft das aktive Hineinspüren und verhindert, dass es beim reinen Nachdenken bleibt. Sie dient nicht primär der Informationsgewinnung, sondern hat vor allem den Zweck, die Achtsamkeit zu vertiefen und ein differenziertes Erforschen im Hier und Jetzt zu erleichtern.
Fragen zur Selbsterforschung
Ebene des Körpers: Wo im Körper machen sich die Empfindung, das Gefühl oder der Impuls bemerkbar? Wie ist das im Körper genau spürbar? Hat das Gefühl einen Ort im Körper? Wie viel Raum nimmt es ein? Was passiert außerdem noch im Körper? Welche Gefühlsqualität schwingt mit?
Ebene der Gedanken: Wo kommt dieser Gedanke her? Welche Qualität geht damit einher? Was löst der Gedanke aus? Was für ein Gefühl taucht mit diesen Gedanken auf? Was passiert außerdem noch z.B. im Körper, wenn dieser Gedanke auftaucht?
Ebene der Gefühle: Was für eine Art von Gefühl, z.B. Ärger, ist das? Welche Qualitäten hat das Gefühl genau? Welche Gefühle tauchen außerdem noch auf? Wie reagiert der Körper auf dieses Gefühl?
Die folgende Situation veranschaulicht, wie diese Fragen zur Selbsterforschung angewandt werden können:
Stefan L., ein 45-jähriger Gymnasiallehrer, ist einer von drei Vereinsvorständen. Mit dem Vorstandsvorsitzenden Uwe P., mit dem er vor einigen Jahren noch enger befreundet war, gestaltet sich die Zusammenarbeit seit ein paar Monaten immer unbefriedigender. Dieser verfolgt nur mehr die eigenen Interessen, die von Herrn L. werden kaum mehr berücksichtigt. Herr P. neigt dazu, die Vorschläge von Herrn L. in Besprechungen abzublocken.
Wenn Sachverhalte ausgehandelt oder Maßnahmen besprochen werden, erlebt sich Herr L. als unterlegen. Immer häufiger nimmt er eine heftige Wut wahr, aber er bemüht sich, ruhig zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen. Am meisten ärgert ihn, dass er sich nicht durchsetzen kann und er nicht in der Lage ist, Herrn P. darauf anzusprechen.
Herr L. hat bereits erwogen, aus dem Vorstand zurückzutreten. Die Inhalte der Arbeit haben für ihn jedoch einen hohen Wert und die Tätigkeit an sich macht ihm viel Spaß. Ein Ausstieg wäre für ihn keine Alternative. Deswegen möchte er für sich einen Weg finden, mit der Situation besser zu Recht zu kommen.
Stefan L. nimmt sich nun Zeit dafür, seine Reaktionen genauer zu untersuchen. Dazu vergegenwärtigt er sich innerlich eine typische Gesprächssituation mit dem Vorsitzenden, in der er sich abgewiesen fühlt. Während er die Szene und die gesprochenen Worte vor seinem inneren Auge ablaufen lässt, spürt er nach, was innerlich auftaucht. Er fokussiert sich auf seine Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Bilder und verweilt bei diesen Wahrnehmungen. Entscheidend für den Einstieg ist, dass er sich erlaubt, sich so weit wie möglich emotional in die Situation hineinzuversetzen, so dass er zumindest einen Anflug der vertrauten Wut spüren kann. Dann beginnt er, mit den Vertiefungs-Fragen aktiv weiter zu forschen.
Herr L. spürt, dass mit der Wut sein Gesicht heiß wird, wie es in seinen Schläfen pocht und er sich wie kurz vor dem Explodieren fühlt. Er nimmt auch wahr, wie stark er sich zurückhält, wie ihn etwas bremst. Es sind diese Empfindungen, für die es gilt, achtsam zu sein, wenn man sich, wie hier Herr L., besser regulieren möchte. Herr L. verweilt nun bei diesem Festhalten und spürt deutlicher als sonst, wie sehr er sich kontrolliert. Diese Kontrolle interessiert ihn, denn er versteht nicht, warum sie so ausgeprägt ist. Er bleibt bei dieser Empfindung und versucht wahrzunehmen, ob es noch weitere Gedanken oder Gefühle gibt, die mit dieser Kontrolle einhergehen. Nach einer Weile tauchen Erinnerungen von der Zeit auf, als er mit Herrn P. noch enger befreundet war. Und jetzt nimmt er die Sorge wahr, zwar diffus aber doch deutlich, dass er mit seiner Wut den »letzten Rest von Freundschaft« unwiederbringlich zerstören könnte. Gefühlsmäßig ergibt das für ihn einen Sinn, denn er merkt deutlicher als sonst, wie stark die Wucht seiner Aggression ist und dass da tatsächlich eine Seite in ihm ist, die ohne Rücksicht auf Verluste um sich schlagen könnte.
Zum Abschluss dieser Erforschung bleibt Herr L. noch eine Weile mit der Aufmerksamkeit nach innen gewandt. Er möchte für diese zwei Seiten – den kontrollierenden Anteil und die starke Wut – noch passende Namen finden. Für das Kontrollierende fällt ihm »Der Harmoniebedürftige« ein. Diese Bezeichnung trifft es zwar noch nicht ganz, aber sie scheint ihm fürs erste gut genug. Für den wütenden Teil taucht der Begriff »Der Explosive« auf, der beinhaltet die Wucht, die Hitze und das Machtvolle seiner Wut.
Der hier beschriebene Prozess, verschiedene Persönlichkeitsanteile über eine achtsame Hinwendung nach Innen zu identifizieren, dauert mehrere Minuten und kann losgelöst von einer Achtsamkeits-Meditation durchgeführt werden. Aber auch während einer Meditation kann man Anteile der Persönlichkeit bemerken und benennen. Wenn sich Gefühle oder Gedanken immer wieder aufdrängen, kann man sich fragen, ob sie von einem Persönlichkeitsteil stammen. Man kann sich dann dazu entschließen, die achtsame Aufmerksamkeit absichtlich auf diesen Teil zu richten.
Bemerkt man etwa, dass sich vorausschauendes Planen, sorgenvolle Gedanken oder eine innere Unruhe immer wieder aufdrängen, könnten diese inneren Vorgänge mit Persönlichkeitsanteilen zusammenhängen. Welcher Name diesen Teil am besten beschreibt, ist individuell unterschiedlich und hängt davon ab, wie man die Qualität des jeweiligen Zustandes erlebt. Namen wie »Der effektive Macher«, »Der Organisator« oder »Die Tüchtige« könnten für einen Teil passen, der über den Tagesablauf nachdenkt. »Die Mütterliche«, »Der Helfer«, »Die Fürsorgliche« oder »Der Verantwortliche«, könnten für einen besorgten Teil stimmig sein. Natürlich haben viele Gedanken und Empfindungen während der Achtsamkeit einen flüchtigen Charakter und sind weniger bedeutsam. Diese kann man auch leichter wieder loslassen. Gleichwohl können auch banale Gefühle wie Ungeduld oder Langweile auf Teile hinweisen: auf einen »Genießer« beispielsweise, der sich lieber anderweitig vergnügen würde, oder auf einen »Anpacker«, der glaubt, sich an die Arbeit machen zu müssen und keine Zeit und Ruhe für die Achtsamkeit hat.
Das Benennen von Teilen hilft, sowohl aufdringliche als auch noch diffuse gedankliche oder gefühlsmäßige Ablenkungen klarer zu fassen und dann im nächsten Schritt mehr Abstand zu ihnen herzustellen. Den nötigen Abstand zu Teilen kann man gewinnen, indem man sie bittet, für eine Weile zurückzutreten. Manchmal ist es hilfreich, für einen Moment bei ihnen zu verweilen und wahrzunehmen, weswegen sie sich so lautstark melden. Wenn man erkennt, was ihre Bedürfnisse oder Interessen sind, kann man ihnen innerlich zusagen, dass man sich nach der Achtsamkeitsübung um sie kümmert. Konkret kann man den Teil innerlich mit einer Bitte ansprechen: »Kannst du etwas beiseite treten?«, oder »Könntest du bitte etwas auf Abstand gehen?« und/oder sich bildlich vorstellen, wie der Teil einen Platz außerhalb des Körpers findet. Die Erfahrung zeigt, dass gerade das Benennen und Separieren von Teilen die Konzentration während der Achtsamkeit schnell und deutlich erhöhen kann und sich die Qualitäten von Klarheit, Weite, Gleichmut und vor allem auch Konzentration leichter einstellen.
Die Frage, wo und wie sich Teile voneinander abgrenzen lassen, lässt sich am besten so beantworten: So, wie es sich stimmig anfühlt und für die Selbstführung im Alltag nützlich ist. Es finden sich so viele Teile in einem Menschen, wie sie für sein Leben in irgendeiner Weise nützlich waren. Die meisten, die anfangen, sich damit zu beschäftigen, benennen etwa 10 bis 30 Zustände (siehe Übung »Teile-Landkarte«, S. 181). Allerdings merkt man vielleicht im Laufe der Zeit, dass einige davon immer gemeinsam auftreten und letztlich verschiedene Aspekte des gleichen Teils sind.
Der achtsame innere Dialog
Auch wenn Modelle von Persönlichkeitsanteilen nur theoretische Konstrukte darstellen, so helfen sie doch, besser mit sich selbst und den Beziehungen zu anderen Menschen zurechtzukommen. Entscheidend für einen guten Kontakt zu sich und seinen Teilen ist, diese als lebendige Wesen wahrzunehmen. Und mit lebendigen Wesen lässt sich am besten umgehen, wenn man respektvoll und freundlich mit ihnen in Verbindung tritt.
Über das achtsame Verweilen und Erforschen von Persönlichkeitsanteilen hinaus gibt es auch die Möglichkeit, noch gezielter und strukturierter mit einem Teil Kontakt aufzunehmen. Erkundet man ein Gefühl oder eine Seite von sich näher, mit dem Ziel herauszufinden, warum man so fühlt oder so reagiert, tauchen bei den meisten Menschen nach einer Weile Antworten in Form von Worten oder Bildern auf. Bei längerem Verweilen kann sich so etwas wie ein inneres Selbstgespräch entwickeln. Ähnlich wie ein gutes Gespräch mit einem Menschen zu mehr Verständnis führt, als wenn man diesen nur beobachtet oder über ihn nachdenkt, kann auch der bewusste und achtsame Dialog mit einem Teil zu einer besseren inneren Beziehung führen.
Beim achtsamen Dialog mit den Teilen geht es vor allem darum, Gefühle oder mögliche Anliegen von Teilen besser zu verstehen. Manchmal kann man auch frühere Erfahrungen und die daraus abgeleiteten Überzeugungen tiefer nachempfinden. Es braucht – ebenso wie im Umgang mit realen Menschen – Zeit, Geduld und die Bereitschaft, wirklich zuzuhören. Man kann sich diesen inneren Dialog wie ein 4-Augen Gespräch mit einem Menschen vorstellen. Ähnlich, wie man einen Bekannten beispielsweise fragen würde, was ihn so gestresst und angespannt sein lässt, kann man einen Zustand des Getriebenseins mit gezielten Fragen näher untersuchen. Facetten, die dabei entdeckt werden, etwa Sorgen, Zeitdruck, Frustration oder Ungeduld, lassen sich immer weiter und immer genauer erkunden. Mit den differenzierteren Informationen, die so zugänglich werden, kann sich ein Teil der Persönlichkeit, wie zum Beispiel ein »Innerer Antreiber«, deutlicher zeigen und konkretere Form annehmen.
Im achtsamen Dialog bleibt die Aufmerksamkeit konstant auf jenen Teil ausgerichtet, mit dem man sich gerade beschäftigt. Die nötige Offenheit und gleichzeitige Fokussierung lässt sich für viele allerdings erst durch ein Achtsamkeitstraining leichter aufrechterhalten. Die absichtlich passive Haltung hilft dabei, klar, annehmend und konzentriert auf Antworten zu warten. Die können sich als Gefühl, innere Bilder oder Worte zeigen. Manche Menschen sehen sich selbst bildlich vor sich, beispielsweise im gehetzten und angespannten Zustand, wie in dem Beispiel eines »Inneren Antreibers«. Einige können den Teil tatsächlich als konkrete Gestalt oder Form sehen. Andere nehmen körperlich wahr, wie sich der Zustand des Teils anfühlt und konzentrieren sich auf die entsprechende Empfindung. Häufig erlebt man es auch so, als würde ein Teil sprechen.
Die auftauchenden Empfindungen, Bilder, Erinnerungen oder Gedanken, manchmal mit klaren Sätzen oder Botschaften, andere Male eher flüchtig oder diffus, haben oft eine emotional gefärbte Qualität und einen überraschend anderen Inhalt als rationale Erklärungen. Es braucht etwas Geduld und eine entspannte, abwartende innere Haltung, denn die Antworten entstehen meist langsamer als im Alltagsbewusstsein. Obwohl sie tendenziell zögerlicher auftauchen, sind sie oft emotional eindrücklicher. So, als würde man von einem Freund etwas Neues erfahren, etwas, was man vorher so noch nicht wusste oder zumindest nicht in diesem Lichte gesehen hat. Oft stellt sich das Gefühl ein, etwas tiefer zu verstehen. Im Dialog mit dem »Inneren Antreiber« könnte sich etwa zeigen, dass der Teil so hart arbeitet, damit möglichst schnell alles geschafft ist und man dann Zeit für sich selbst hat. Er hat so viel Druck, weil er in kurzer Zeit viel wegarbeiten will, damit man möglichst bald die ersehnte Ruhe und Zeit zum Genießen hat. Bei genauerem Hinspüren könnte unter Umständen deutlich werden, dass er sich so einsetzt, weil sich dahinter ein Gefühl von Überforderung und eine alte Angst vor Versagen verbergen.
Der innere Dialog bewirkt, dass man verborgene Befürchtungen, Wünsche oder Interessen eines Teils im Alltag bewusster berücksichtigen und Zustände besser regulieren kann. Es könnte beispielsweise schneller klar werden, wann das Tun eines »Inneren Antreibers« blinder Aktionismus ist oder wo er sinnvoll ist und gut so bleiben kann. Man hat selbst im Blick, worum es eigentlich geht, in diesem Fall um mehr Ruhe oder auch um das Vermeiden von bestimmten schlechten Erfahrungen. Mit dieser Einsicht lässt es sich dann etwas entspannter und selbstbestimmter mit dem Gefühl von Überlastung umgehen.
Die Perspektiven der Teile verstehen
Ein Modell von Persönlichkeitsanteilen macht deutlich, wie uns einerseits frühe Lebenserfahrungen prägen und wie andererseits auch der psychotherapeutische Laie zu tieferen Schichten seiner Persönlichkeit vordringen kann. Und gerade für einen Menschen, der sich für einen Weg der Achtsamkeit entscheidet, ist es sehr hilfreich, zu wissen, was ihm in der eigenen Psyche begegnen kann, welchen Dingen er sich stellen sollte und welche Möglichkeiten es gibt, damit umzugehen.
Viele Ansätze in der Psychotherapie beruhen auf der Annahme, dass die Persönlichkeit von grundlegenden Sichtweisen geformt und gesteuert wird, die sich oft aufgrund von eindringlichen Erfahrungen in der Kindheit gebildet haben. Besonders prägend ist das emotionale Klima, in dem ein kleines Kind aufwächst.
Gerrit L., die oben erwähnte Zahntechnikerin, aufgewachsen im Hotel-Familienbetrieb ihrer Eltern, neigt dazu, in Familie, Partnerschaft oder im Beruf die eigenen Interessen zurückzustellen. Bei Entscheidungen und vielen alltäglichen Handlungen ist ihr Verhalten eher darauf ausgerichtet, es den Anderen recht zu machen. Das fühlt sich für sie so normal an, dass sie ihre Haltung gar nicht wahrnimmt oder in Frage stellt. Unbewusste Anschauungen, die in ihr vor langer Zeit entstanden waren, lauten: »Es ist nicht okay zu tun und zu sagen, was ich will!«, und »Ich bin nicht wichtig!«. Mit achtsamer Erforschung gelingt es ihr, zu entdecken, dass einer ihrer Persönlichkeitsanteile, nämlich die »Dienerin«, von der Angst beherrscht wird, die Zuneigung anderer zu verlieren, wenn sie sich nicht ganz zur Verfügung stellt.
In der Regel haben Menschen kaum Zugang zu den grundlegenden Anschauungen, von denen sie gesteuert werden, da diese sehr früh im Leben und ohne bewusste Reflexion entstanden sind. Diese Grundüberzeugungen sind ausgesprochen machtvoll und bestimmen weitgehend, wie die gegenwärtige Wirklichkeit interpretiert wird. Wie sie unser Denken und Handeln beeinflussen, geschieht so automatisch, dass diese Interpretationen unbewusst bleiben. Das ist für den Großteil des täglichen Handelns auch sinnvoll, zumindest nicht von Nachteil. Problematisch wird dies, wenn sie in der gegenwärtigen Lebenssituation nicht mehr angemessen sind und die Handlungsmöglichkeiten zu sehr einschränken. Oft erzeugt dann ein gewisser Leidensdruck oder eine Unzufriedenheit den Wunsch, das eigene Handeln zu hinterfragen und zu verändern, wie in dem folgendem Beispiel.
Herr Manfred R. ist ein durchsetzungsstarker Mann mittleren Alters, der beruflich wie privat eher hart und unnahbar auftritt. Anderen gegenüber Einfühlungsvermögen zu zeigen und eigene Gefühle auszudrücken ist ihm fremd. Schaut er auf seine Kindheit, dann erinnert er sich, wie seine Angst, Vorsicht oder Trauer nur belächelt wurden. Oft fühlte er sich, insbesondere von seinem Vater, beim Ausdruck von zarteren Gefühlen gedemütigt. Diese frühen Demütigungen wirken als tiefe Überzeugung in zumindest einem Persönlichkeitsanteil deutlich weiter: Sein »Cooler« war sich ganz sicher: »Gefühle sind lächerlich.« Spätestens seit Beginn der Pubertät war es für ihn vollkommen selbstverständlich, unverwundbar und emotional kontrolliert in der Welt zu sein. Die Hintergründe seiner Gefühlskälte wurden ihm erst anlässlich einer Beratung bewusst, die er wegen einer Ehekrise aufgesucht hatte.
Herr R. hatte, bevor er sich entschloss, professionelle Unterstützung zu nutzen, immer wieder versucht, auf seine Ehefrau einfühlsamer einzugehen. Dies war ihm jedoch so fremd, dass er über rational-kühles Hinterfragen oder Ratschläge Geben nicht hinauskam. Das führte bei seiner Frau zu noch mehr Unzufriedenheit mit seinem »abgebrühten Besserwissen«.
Dass man sich nicht so einfach ändern kann, liegt vor allem daran, dass Persönlichkeitsanteile eine lange Geschichte, vielfältige Erfahrungen und gute Gründe haben, zu empfinden und zu reagieren, wie sie es tun. Erst wenn man die Hintergründe besser versteht, warum ein Teil auf eine bestimmte Art und Weise denkt und handelt, und sich seiner Perspektive bewusster wird, kann man damit verständnisvoller und bewusster umgehen. Man schafft damit die Basis, um Neues ausprobieren und erleben zu können und damit für Veränderung.
In Achtsamkeit einen Teil zu befragen ist deswegen so wirkungsvoll, weil es differenzierteres Sehen und Verstehen von Gefühlen, Erfahrungen und den dazu gehörigen Anschauungen von Persönlichkeitsanteilen ermöglicht. Auch wenn man im Alltag von unangenehmen Zuständen oder Reaktionen vereinnahmt wird, kann man für einen Moment innehalten und hinspüren, was der Hintergrund des Teils ist, der gerade reagiert.
Wenn man die Erfahrungen und Überzeugungen eines Teils versteht und entdeckt, dass er von konstruktiven Absichten gesteuert ist, kann man diesen besser annehmen und würdigen. Fühlt sich der Teil in seinen Interessen gesehen und grundsätzlich geschätzt, entspannt er sich und drängt nicht mehr so.
Das Auftreten des »Coolen« von Herrn R. ist in einigen konfrontativen Gesprächen mit dem Chef möglicherweise angemessen, jedoch selten im Zusammensein mit Frau und Kindern. Als Herr R. zuhause anfing, weniger von seinem »Coolen« gesteuert zu sein, fingen auch seine Frau und die Kinder an, anders zu reagieren. Sie zeigten ihm gegenüber mehr Interesse, nahmen mehr Anteil an seinem Leben und er spürte deutlich mehr Nähe zu ihnen.
Durch bewusstes und achtsames Wahrnehmen von solchen neuen, positiven Erfahrungen bilden sich mit der Zeit neue Sichtweisen, insbesondere durch die Momente, die emotional intensiv sind. Achtsamkeit im Alltag hilft gerade auch hier, neue Erfahrungen wirklich an sich heran und in sich hinein zu lassen.
Innere Ökologie
Angesichts der Komplexität der inneren Zustände stellt sich die Frage, wie sie miteinander zusammenhängen und wie man sich selbst gut steuern kann. Als Beispiel kann die alltägliche Situation dienen, in der man jemanden angegriffen hat. Da kann es passieren, dass man sich sofort oder auch einige Zeit später innerlich dafür kritisiert. Wenn man sich dann vornimmt, in Achtsamkeit den angreifenden Teil zu erforschen, ist es zumeist nicht so leicht, sich diesem innerlich annehmend und offen zuzuwenden. Stattdessen bemerkt man vielleicht eher kritische Gedanken und Ungeduld. Dann wird deutlich, dass es nicht der Beobachter ist, der auf den Angreifer schaut, sondern ein »innerer Kritiker«, vielleicht auch ein »Anspruchsvoller« oder ein »Perfektionist«.
Betrachtet man die Dynamik zwischen Teilen der Persönlichkeit, kann man sie in zwei Kategorien einordnen (vgl. Weiss, 2007): (1) Die Teile, die dafür sorgen, dass es der Person als lebendiges System gut geht und sie nach außen geschützt wird, sogenannte »Beschützer«, und (2) »Beschützte«, die sensibel und verletzlich sind und diesen Schutz brauchen. Im obigen Beispiel haben sowohl der Angreifer wie auch der kritische Teil eine beschützende Rolle. Beide wollen, wenn auch mit unterschiedlichen Strategien, dass die eigenen Interessen gut vertreten werden. Der Angreifer agiert dabei impulsiv und ungeduldig, der kritische Teil hat eine andere Perspektive und sieht die Notwendigkeit, sich in Diskussionen »vernünftiger« zu verhalten. Er will die eigenen Ideen weniger aggressiv, dafür aber langfristig geschickter verfolgen. Zwischen Teilen mit so konträren Impulsen lassen sich nicht so leicht Arbeitsbündnisse schließen. Sie sind untereinander polarisiert und »mögen« sich gegenseitig nicht. Dem Angreifer ist der Kritiker vielleicht viel zu angepasst und der Kritiker findet den Angreifer richtig peinlich. Interessanterweise können polarisierte Teile sehr ähnliche Interessen verfolgen – in diesem Beispiel, den anderen im eigenen Sinne zu überzeugen. Wenn es gelingt, zu jedem dieser Teile nacheinander achtsam hinzuspüren und hinzuhorchen, können diese Gemeinsamkeiten bewusster werden und sich innere Spannungen lösen.
Den Beschützten auf die Spur zu kommen ist wesentlich schwieriger, insbesondere, wenn man sie selbst nicht wahrhaben möchte. Ein Weg, sie zu erkennen, wäre, im inneren Dialog einen starken Beschützer, wie oben den Angreifer, zu fragen, was er denn befürchte, wenn er nicht so stark aufträte. Im ersten Anlauf können die Hinweise noch diffus sein, mit etwas Geduld kommt dann fast immer die Befürchtung zum Vorschein, dass etwas nicht genügend geschützt wäre. Hier in diesem Beispiel vielleicht: »Dann würdest Du untergebuttert werden!«, und »Dann kämst Du ja nie zu etwas.«, oder »Dann hättest Du gar keine Chance, Deine Interessen zu vertreten.« Und wenn man dann nachfragt: »Was wäre in diesem Fall daran so schlimm?«, dann kommen oft Antworten, die auf einen verletzlichen Teil hindeuten: »Dann verlierst Du Dein Gesicht!«, oder »Dann nimmt Dich keiner mehr ernst!« Der innere Zustand, der das Gefühl kennt, nicht anerkannt und wertvoll zu sein, ist ein verletzlicher Teil. Er wird im inneren System oft so stark abgepuffert und in Sicherheit gebracht, dass man ihn, zumindest über lange Strecken, gar nicht wahrnimmt.
Diesen Zusammenhang von Beschützern und beschützten Teilen zu verstehen, hat für die Selbstführung einen hohen praktischen Wert: Wenn Zustände wie Ärger, Abwehr- oder Verteidigungshaltungen, Dominanz oder Rückzug einen Menschen vereinnahmen und beeinträchtigen, werden die dahinter liegenden Empfindsamkeiten meistens nicht bewusst erlebt. Die Wahrnehmungsfähigkeit für die feineren Signale im Inneren ist in solchen Momenten eher eingeschränkt und man ist auf das Reagieren nach Außen fokussiert. Im Wissen, dass heftige Beschützer-Reaktionen eigentlich immer durch die starken Gefühle von verletzlichen Teilen ausgelöst werden – oder dem Versuch sie zu vermeiden – kann man sich jedoch fragen, was im Inneren gerade bedroht zu sein scheint. Man kann darüber Aufschluss bekommen, wenn man sich mit der Frage nach Innen wendet, was genau emotional getroffen ist oder empfindsam reagiert.
Das folgende Beispiel stammt aus einem Coaching-Prozess mit einer jungen Frau und veranschaulicht das Zusammenwirken der Teile.
Frau Beate B., eine 32-jährige Programmiererin, ist seit ein paar Monaten Team-Leiterin. Mit ihrer Chefin, die zwei Jahre älter ist, gibt es Situationen, die Frau B. regelrecht »auf die Palme bringen«. Wenn die beiden über anstehende fachliche Entscheidungen sprechen, hat die Vorgesetzte etwas sehr Bestimmendes, manchmal auch Autoritäres. Obwohl Frau B. in ihrem Bereich sehr erfahren ist und einiges beizutragen hätte, entscheidet ihre Chefin, ohne sie zu befragen, und setzt sich mit ihren Ideen nicht wirklich auseinander. Letztlich fließt kaum etwas von Frau B. in den Entscheidungsprozess mit ein. In solchen Momenten reagiert Frau B. vorwurfsvoll. Die Kommentare gegenüber ihrer Vorgesetzten werden schnippisch und leicht abwertend. In ihrem Tonfall schwingt mit, dass sie nicht einverstanden ist und sich ärgert, nach dem Motto: »Sie sind ja die Chefin, Sie werden schon wissen, was dieses Vorgehen bringen soll.« Andererseits vertritt sie auch nicht klar und deutlich, was sie eigentlich will. Obwohl Frau B. weiß, dass ihre trotzig-abwertende Haltung nicht hilfreich ist, schafft sie es nicht, anders zu reagieren. In solchen Momenten hat dieser Gefühlszustand sie vollkommen im Griff.
Im Coaching entdeckt Frau B., dass es eine Seite gibt, die sich von ihrer Chefin in solchen Situationen abgewertet fühlt. Es ist ein Zustand, in dem sie sich wertlos fühlt und der einem Teil entspricht (von ihr als »Die Versagerin« benannt), gegen den sie sowieso immer ankämpft. Dieses verletzliche Gefühl ist jedoch so subtil, dass sie es im Gespräch mit der Vorgesetzten kaum wahrnehmen kann. Viel stärker ist jener Teil, der darum kämpft, gesehen zu werden: Eine Kämpferin, die sie »Amazone« nennt, weil diese sich der Chefin gegenüber überlegen fühlt und auf einem »hohen Ross« reitet.
Beim näheren Erforschen ihrer Reaktionen zeigte sich für Frau B. eine weitere Persönlichkeitsfacette, die entscheidenden Einfluss ausübt. Es gab in solchen Situationen mit der Chefin eine Stimme, die ihr innerlich sagte, dass das Ganze doch nicht so wichtig sei, sie nicht so unbequem sein solle und sie sich nicht so aufregen möge. Tatsächlich wurde der direkte Ausdruck von Ärger und Enttäuschung durch diese Aufforderungen verhindert. Frau B. gab diesem Anteil, der sich hier zu Wort meldete, den Namen »Die Nette«. Es wurde deutlich, dass die »Nette« Auseinandersetzungen und starke Gefühle scheut. Sie hat einfach Angst, dass ihre Chefin sie dann noch weniger mag und schätzt. Diese »Nette« dämpfte in den Situationen den starken Ärger und zügelte die abwertende »Amazone«. Da die Unterdrückung jedoch nur teilweise gelang, wehte in das Gespräch einiges von dem Ärger und der Abwertung mit hinein. Das mündete dann in dem trotzig-vorwurfsvoll-schnippischen Ausdruck, gepaart mit dem nachgiebigen, sich unterordnenden Verhalten gegenüber ihrer Chefin.
Als Frau B. auch noch den verletzlichen Zustand der »Versagerin« klarer zu fassen bekam, nannte sie diesen »Die Ungeliebte«, was einem noch tieferen Verständnis dieses Teils entsprach. Das Wissen um diesen empfindsamen Teil und ihr Verständnis dafür, wann und wie dieser durch ihre Vorgesetzte ausgelöst wird, half Frau B., in künftigen Situationen darauf noch mehr zu achten. Sie konnte nun leichter den Zustand der »Amazone« daran erkennen, dass sie sich kämpferisch-abwertend fühlte. Die mit diesem Zustand einhergehenden körperlichen Signale – der einseitig heruntergezogene Mundwinkel, hochgezogene Schultern und Luftanhalten – wurden für sie zu einem Frühwarnsystem. Das Wissen, für welche Interessen der kämpferische Anteil sich einsetzen möchte, half ihr dabei, ihre Wünsche und Erwartungen klarer auszudrücken. Sie konnte auch die »Ungeliebte« deutlicher wahrnehmen und das damit einhergehende Bedürfnis, ernst genommen und anerkannt zu werden. Achtsames Innehalten in solchen entscheidenden Momenten half ihr, nicht nur die sachlichen Inhalte, sondern vor allem auch ihre Bedürfnisse stärker zu vertreten. Auch »Die Nette« war zufriedener, weil Frau B.’s Haltung und Tonfall freundlich und nicht mehr vorwurfsvoll und abwertend waren.
Gute Absichten – extreme Rollen
Beschützer haben gute Absichten, auch wenn ihr Verhalten manchmal übertrieben oder gar extrem ist. Die heftigen, unkontrollierten Reaktionen von Beschützerteilen können auf die Außenwelt abweisend, kämpferisch, verletzend oder bedrohlich wirken. Das veranlasst später wiederum andere Teile wie den »Kritiker«, den »Anspruchsvollen« oder den »Gutmensch«, sie innerlich abzuwerten. Und das vertieft, ohne beabsichtigt zu sein, unglücklicherweise oft das Leid von Verletzlichen oder auch von anderen Teilen, die sich abgelehnt fühlen. Diese Dynamik kann dann dazu beitragen, dass die innere Abspaltung von Verletzlichen stärker vollzogen und im System noch stärker verankert wird, z.B. indem andere Teile zur Alltagsbewältigung immer starrer werden. Das kann, neben äußeren Anforderungen, einer der Hintergründe dafür sein, wie Beschützer in immer extremere Rollen hineingeraten. Manchmal übertreiben sie ihre sonst sinnvollen Tätigkeiten: Sie können beispielsweise ständig im Einsatz sein, ohne Unterlass arbeiten, sich keine Pause oder Auszeit gönnen, auf Hochtouren laufen und schließlich Gefahr laufen, an Burnout zu erkranken. Wenn man sich ihnen mit Neugier und Offenheit zuwendet, wird man immer wieder entdecken, wie sie sich bemühen, vor etwas Unangenehmen zu bewahren und verletzliche Teile zu beschützen. Diese Teile können sich entspannen und die Kontrolle aufgeben, wenn die eigene Sensibilität und Verletzlichkeit erlebt und berücksichtigt wird und sich Wege auftun, um heikle Situationen zufriedenstellend zu meistern.
Persönlichkeitsanteile von Frau Beate B., die in Auseinandersetzungen mit Ihrer Chefin in den Vordergrund treten
Selbstführung in der Beziehung zu anderen Menschen
Wie die bisherigen Beispiele zeigen, wird Selbstführung ganz besonders in Beziehungen und im Kontakt mit Menschen wichtig. Das spiegelt sich auch in den vielen, weit verbreiteten Methoden wider, die eine verbesserte Kommunikation in den Mittelpunkt stellen – wie etwa Eric Bernes Transaktionsanalyse (1975), Marshall Rosenbergs gewaltfreie Kommunikation (2007) oder Friedemann Schulz von Thuns Modell (2005) der vier Seiten einer Nachricht.
Auch Menschen, die für lange Zeit auf Meditationskursen gewesen sind und dort manchmal erstaunliche bewusstseinserweiternde Erfahrungen gemacht haben, berichten, dass es im Alltag und besonders im Zusammensein mit den Nächsten, unmöglich ist, diese Geistesklarheit aufrechtzuerhalten. Autoren wie John Welwood (2000) gehen sogar so weit, dass sie das Leben in einer Beziehung als einen der wesentlichsten Faktoren eines spirituellen Wachstumsweges beschreiben. Gerade die liebsten und wichtigsten Menschen, der Partner, die Kinder, die Eltern, berühren und verletzen unwillentlich immer wieder die wunden Punkte der eigenen Persönlichkeit, die noch nicht geheilt oder integriert sind.
Wenn Spannungen und immer wiederkehrende Verhaltensmuster das Zusammensein und das Zusammenleben belasten, ist alleinige Achtsamkeitspraxis unter Umständen zu langwierig und eine aktive Zuwendung zu den Teilen sinnvoll. Auch kann der Rückzug zur regelmäßigen Achtsamkeitsübung oder der Besuch von vom übrigen Leben abgetrennten Meditationskursen zum Vermeiden von Schwierigkeiten genutzt werden, die im täglichen Leben auftauchen. Spätestens dann sind vertiefende Selbsterkundung, Selbstführung oder sogar therapeutische Unterstützung eine große Hilfe. Abgesehen von dieser Gefahr der Lebensflucht wird sich ein regelmäßiges Training der Achtsamkeit für die meisten Menschen immer positiv auswirken und die Selbstführung verbessern: Wer im Gespräch präsenter, konzentrierter und gelassener ist, kann besser zuhören, besser verstehen, worum es geht, und ist weniger abgelenkt durch seine eigenen Gefühle und Gedanken.
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie Prinzipien der Selbstführung und Achtsamkeit für die positive Gestaltung von Beziehungen wirksam angewandt werden können.
Innehalten und Kontakt
Im Alltag innehalten zu können ist eine der wichtigsten Auswirkungen von Achtsamkeit. Innehalten ist auch einer der bedeutsamsten Schritte in der Selbstführung. Der Moment, in dem man sich und die Situation für Bruchteile von Sekunden wie von außen wahrnimmt, wenn man innerlich kurz aus dem Geschehen heraustritt und beobachtet, was passiert – dieser Moment schafft den Abstand und den Raum, den man braucht, um bewusster zu reagieren. Durch das Innehalten entsteht die Lücke, die für besonnenes Handeln und vorher geplante Verhaltensänderungen nötig ist. Ohne Innehalten laufen viele Muster, trotz guter Vorsätze, weiterhin unkontrolliert ab. Gerade im Kontakt mit Menschen, die starke Reaktionen auslösen und mit denen Streitsituationen häufig zu eskalieren drohen, ist dieser Augenblick von Achtsamkeit der wichtigste Ansatzpunkt. Wenn man aber schon erregt und angespannt ist, fällt es deutlich schwerer, sich innerlich zu stoppen und eine Beobachterposition einzunehmen. Je früher die Gefahr einer Eskalation erkannt wird, desto besser und leichter lässt sie sich verhindern. Gelingt es, die ersten Signale sich anbahnender Impulse wahrzunehmen, zum Beispiel den Impuls, sich zu verteidigen oder anzugreifen, dann lassen sich automatisierte Reaktionen leichter unterbrechen. Da körperliche Veränderungen die ersten Signale sind, lohnt es sich besonders, die für spezifische Reaktionen typischen körperlichen Empfindungen zu kennen. Eine der besten Vorbereitungen für solche Momente wäre, sich das Innehalten anzugewöhnen und es möglichst zu automatisieren. Vielleicht ist es auch wichtig, sich Formulierungen zu überlegen, mit denen man nach außen, jeweils für die entsprechende Situationen passend, dieses kurze Umschalten zu mehr Achtsamkeit begründen könnte. In den meisten Fällen sind Worte wie: »Da muss ich mal kurz nachdenken«, oder »Gib mir einen Augenblick Zeit, das zu verdauen« ohne Nachteil oder Gesichtsverlust möglich.
Dieses achtsame Innehalten ist auch förderlich für die Fähigkeit, sich in einen Menschen einzufühlen. In spannungsgeladenen Gesprächen, bei Meinungsverschiedenheiten, bei Verhandlungen mit konträren Interessen oder im Streit, ist das Einfühlungsvermögen häufig eingeschränkt. Verständnis zu empfinden oder gar zu vermitteln, auch wenn es wichtig und hilfreich wäre, ist ohne Innehalten selten möglich. Gelingt es jedoch, etwas Abstand zu bekommen zu den eigenen Gefühlen, Sichtweisen und Interessen, ist man eher in der Lage, sich in das Erleben und die Situation des Anderen hineinzuversetzen. Diese kurze Achtsamkeit kann den inneren Raum schaffen, der notwendig ist, um sich für den Anderen zu öffnen und zu versuchen, ihn zu verstehen. Empathische Aussagen können darüber hinaus hilfreich sein, wie z.B.: »Wenn ich mich in Deine Lage hineinversetze, dann …«, oder: »Ich würde gerne versuchen, Sie besser zu verstehen. Lassen Sie mich mal überlegen, wie es mir an Ihrer Stelle ginge …«.
Eine große Hilfe ist es auch, sich von vornherein achtsam auf Gespräche vorzubereiten, wenn man vermutet, dass sie schwierig werden könnten. Auch bei solchen Vor- und Nachbereitungen von Situationen ist der Blickwinkel weiter und offener als beim üblichen Nachdenken oder Reflektieren. Beim Reflektieren verläuft der innere Dialog zumeist in den automatisierten Bahnen eingeschliffener Denkgewohnheiten. Durch den Abstand des »Inneren Beobachters« bei der achtsamen Erforschung wird der Blickwinkel weiter und differenzierter. Der offene Geisteszustand fördert kreative Einfälle. Und Achtsamkeit hilft, deutlicher zu unterscheiden, ob man wieder einmal in den gewohnten Denk- und Einstellungsmustern über eine Situation nachdenkt oder man sich wirklich neuen Erlebensebenen öffnet.
Es gibt viele Gesprächssituationen, bei denen man schon im Vorfeld ahnt, was schwierig werden könnte, was typische Reaktionen des Anderen und mögliche »Minenfelder« sein könnten. Eine achtsamkeitszentrierte Vorbereitung auf herausfordernde Gespräche kann eine immense Hilfe sein. Der Zeitaufwand dafür ist überschaubar. Wenige Minuten können reichen, um sich den Gesprächsablauf im Vorfeld zu vergegenwärtigen und sich besser einzustimmen (siehe Übung »Vor- und Nachbereitung eines Gesprächs«, S. 184).
Wahrnehmen von Persönlichkeitsanteilen im Gespräch
Es hilft außerordentlich, die eigenen Teile so gut zu kennen, dass man weiß, wer sich innerlich wann, wie und vielleicht auch warum meldet. Mit einem Grundverständnis der Dynamik seiner Persönlichkeitsanteile kann man schwierige Reaktionen – sowohl bei sich als auch bei anderen – besser einschätzen und alternative Wege suchen. Anstatt sich beispielsweise über eine unangemessen schroffe, aggressive Reaktion zu ärgern, ahnt man, dass damit vermutlich gerade etwas Empfindsames beschützt wird, und man kann sich diesem tiefer liegenden Gefühl zuwenden. Speziell in Konfliktgesprächen, wenn das Verhalten von impulsiven Beschützern gesteuert wird und die Verletzlichkeiten nicht sichtbar sind, ist es wichtig, die Teile und ihre oft zunächst nicht klar fassbaren Bedürfnisse möglichst früh wahrzunehmen.
Ein typisches Streitgespräch bei einem Paar, Erwin und Susanne E., soll dies illustrieren:
Wenn Herr E. angespannt oder schlecht gelaunt ist, passiert es immer wieder, dass er sich seiner Frau gegenüber abweisend, überheblich oder zynisch äußert. Wenn Frau E. »gut drauf« ist, dann ärgert sie das zwar schon, aber sie kann trotzdem liebevoll und aufmunternd auf die Laune ihres Mannes einwirken. Wenn Herr E. jedoch in Momenten so reagiert, in denen sie über etwas berichtet, was ihr am Herzen liegt, oder sie von einem Vorfall erzählt, der sie aufwühlt, dann fühlt sie sich nicht ernst genommen und wird lauter und gereizter. Herr E.’s »Zyniker« reagiert daraufhin noch schärfer. Seine bissigen Kommentare verletzen und provozieren sie dann dermaßen, dass sie in eine Wut gerät, in der sich ihre Stimme überschlägt und sie ihre »Furie« nicht mehr im Griff hat. Je unkontrollierter und wütender sie wird, desto kälter und zynischer wird Herr E. Dass er sich von ihr überrollt und in die Enge gedrängt fühlt, nimmt er allerdings nicht bewusst wahr, weil er sofort »dicht macht«.
Angenommen, dieser zynische Charakterzug von Herrn E. hätte sich auch im Geschäftsleben schon negativ ausgewirkt und er würde ernsthaft etwas daran ändern wollen, dann wäre es wichtig, den »Zyniker« früher zu erkennen und besser zu steuern. Nun erkennt man innere Zustände und Teile der Persönlichkeit zwar am klarsten an ihren spezifischen Handlungsmustern, aber dann ist es oft schon ziemlich spät, um gegenzusteuern. Die früheste Möglichkeit, zu bemerken, dass sich so ein innerer Teil meldet, sind wiederum die körperlichen Signale. Herr E. könnte beispielsweise den »Zyniker« daran erkennen, dass sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln verziehen, sein Blick scharf und das Gesichtsfeld eng wird. Wenn der »Zyniker« spricht, ist sein Kiefer angespannt und die Stimme klingt kühl. Durch eine große Vertrautheit mit seinem Zyniker und mit einer erhöhten Wahrnehmung in den Momenten, in denen jemand emotional engagiert oder wütend auf ihn einredet, hätte er eine bessere Chance, zu erkennen, was durch diesen Beschützer in Sicherheit gebracht werden soll und im Hintergrund bereits empfindlich reagiert hat. Vielleicht gibt es eine Seite, die sich bedroht oder überrollt fühlt und bei so starken Emotionen schnell überfordert ist. Frau E. ihrerseits könnte den Zustand, den sie »Die Furie« nennt, am Druck in der Brust, der angespannten, nach vorne geneigten Körperhaltung sowie am lauten, schnellen Sprechen erkennen. Solche Muster, als körperlicher Ausdruck von Persönlichkeitsanteilen, können bei Eskalationsgefahr wie Warnsignale dienen und daran erinnern, innezuhalten und achtsamer zu werden.
Führen von Teilen
Erst wenn man sich gewahr ist, welche automatischen Reaktionen (von Teilen) sich auf Gespräche hinderlich auswirken, kann man in der jeweiligen Situation bewusster auf sie achten. Ähnlich wie es während Achtsamkeits-Übungen hilfreich ist, Empfindungen, Gedanken, Gefühle oder auch Teile der Persönlichkeit zu benennen, um sich dann wieder auf den Atem zu konzentrieren, ist es auch bei den eigenen Reaktionen auf andere wirksam, sie zu benennen. Dieses Benennen der Phänomene führt dazu, sie einerseits klarer zu fassen und andererseits etwas Abstand zu ihnen zu gewinnen. Man beschreibt dabei kurz innerlich das, was gerade bemerkt wird, etwa: »ich werte ab«, oder »ich versuche zu überzeugen«, »ich höre nicht zu«, »ich gerate unter Druck«. Hat man Zugang zu dem Teil, der gerade so reagiert, dann hilft es, ihn beim Namen zu nennen, zum Beispiel: »mein Abblocker wehrt ab«, »der Zyniker spricht«, oder »der Verletzliche ist traurig«.
Als nächstes kann man versuchen, noch mehr Abstand zu dem jeweiligen Gefühl oder Verhaltensimpuls herzustellen, indem man sich ihm direkt zuwendet. Oft redet man sich spontan innerlich gut zu, wenn man sich beruhigen, besänftigen oder auch anspornen will, zum Beispiel: »ganz langsam«, »immer mit der Ruhe«, »Du schaffst das …«. So eine persönliche Selbst-Ansprache kann auch in schwierigen Gesprächen bewusst eingesetzt werden. Sie hilft beim Regulieren von emotionalen Reaktionen und beim Sich-Ablösen von vereinnahmenden Teilen der Persönlichkeit. So kann man beispielsweise einen »Kämpfer«, der auf eine Provokation reagiert, bitten, etwas auf Abstand zu gehen: »Ich weiß, was Dich aufregt, gib mir den Raum, darauf zu antworten und gehe Du etwas auf Abstand.« Einem »Abblocker«, der sich zu impulsiv und schroff abgrenzen würde, kann man innerlich sagen: »Ich weiß, was Dir wichtig ist, ich kümmere mich darum, bitte trete Du erstmal etwas beiseite«. Teile, die stark reagieren, beruhigen sich manchmal schon allein dadurch, dass man ihnen innerlich zeigt, dass man sie erkennt und wahrnimmt.
Ähnlich wie die Ausrichtung auf den Atem hilft, mit Ablenkungen bei Achtsamkeitsübungen umzugehen, kann man sich auch im Kontakt mit einer Person auf Gemütszustände ausrichten, die hilfreich sind, etwa Gelassenheit, Verständnis, Mitgefühl, Interesse, Verbundenheit, Klarheit. Man kann sich auf diesen positiven Zustand konzentrieren und sich diesem wieder bewusst zuwenden, sobald man bemerkt, dass sich alte, bekannte Verhaltensweisen anbahnen. Die innere Ausrichtung auf eine Qualität wie Verständnis oder Gelassenheit kann wie ein Leitfaden wirken und immer wieder daran erinnern, was einem im Gespräch mit der Person am Herzen liegt.
Diese beiden Aspekte, sich auf hilfreiche Qualitäten auszurichten und destruktiv wirkende Zustände oder Anteile zu bitten, zurück zu treten, genügen jedoch nicht immer. Gerade in wichtigen Beziehungen wiederholen sich oft unglückliche Eskalationen und die Beschützer-Teile, die daran beteiligt sind, sind nicht bereit, beiseite zu treten. Oft hängt das auch damit zusammen, dass sie sich »nicht schon wieder« oder »diesmal gerade nicht« mit ihren Bedürfnissen oder Interessen zurückweisen lassen wollen. Dann brauchen sie neben der grundsätzlichen Anerkennung ihrer Wünsche oder Intentionen vor allem das Gefühl, verstanden und ernst genommen zu werden, und die Gewissheit, dass man sich um ihre Belange wirklich kümmern wird.
Damit sich nachhaltig etwas entspannen und verändern kann, ist neben dem bewussten Annehmen eines verletzlichen Zustandes eben auch eine konstruktive Fürsorge für diesen Teil notwendig, z.B. mit der Übung »Achtsamer Dialog mit Teilen« (S. 176).
Verletzliche Teile haben oft eine lange Geschichte. Solange sie diese »Altlasten« tragen, und sie nicht gut integriert sind, bleibt die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie überempfindlich reagieren und automatische Reaktionen auslösen. Sie können immer wieder durch das Verhalten von Gesprächs- oder Beziehungspartnern ausgelöst werden. Damit sich etwas verändert, kann es entscheidend sein, die Erfahrungen, Gefühle und Anschauungen, die viel früher in der Biografie entstanden sind, aufzudecken und tiefer zu verstehen. Das ist ohne tiefenpsychologisch geschulte Unterstützung oft nicht so leicht möglich.
In Auseinandersetzungen oder schwierigen Situationen mit anderen ist die akzeptierende Haltung gegenüber der eigenen Verletzlichkeit deshalb meist der entscheidende Ansatzpunkt für eine gelungene Selbstführung. Denn das Gewahrsein und Annehmen eines verletzlichen Teils in einer akuten Situation geht immer einher mit etwas mehr Abstand zu den impulsiven Beschützeranteilen der Persönlichkeit. Wenn deren Aufgabe, die unangenehmen Gefühle zu verhindern, unnötig wird, treten sie mehr in den Hintergrund. Haben die verletzlichen Teile der Persönlichkeit einen Platz und eine Daseinsberechtigung, müssen sie von den Beschützern nicht mehr verdrängt oder »verbannt« werden. Die Beschützer können sich entspannen und die destruktiven Aspekte ihrer Rolle loslassen.
Zurück zur Wechselwirkung zwischen Erwin und Susanne E.: Frau E. fühlt sich von der abweisenden, schroffen Art ihres Mannes verletzt. Seine zynischen Bemerkungen provozieren sie dann noch mehr und eine wütende »Furie« geht mit Anschuldigungen auf ihren Partner los. Frau E. wird so schlagartig von der »Furie« überwältigt, dass sie nicht mehr den Abstand hat, auszusprechen, was gerade passiert. Die Verletzung, sich abgewiesen zu fühlen, ist überlagert vom Verteidigungskampf. Gleichzeitig gibt es einen kritischen Anteil, der mit Widerwillen und Entsetzen auf die »Furie« blickt. Ihre eigentlichen Bedürfnisse kann sie in diesem Zustand nicht wahrnehmen und sie ist deshalb auch nicht in der Lage, sie ihrem Mann mitzuteilen. Um nicht mit Gegenangriff oder Abwehr zu reagieren, müsste Frau E. früher den Teil wahrnehmen, der auf den abweisenden Tonfall ihres Partners so verletzt reagiert. Bei ihr ist es die »graue Maus«, die sich nicht gesehen fühlt, so als wäre sie ganz unwichtig. Wenn sich Frau E. diesem Teil wohlwollend zuwenden würde, könnte sie deutlicher spüren, was dessen Bedürfnis ist: nämlich ernst genommen und gehört zu werden. Die Beschuldigungen der »Furie« sind der verzweifelte Versuch, auf sich aufmerksam zu machen und Kontakt herzustellen. Längerfristig könnte es für Frau E. hilfreich sein, sich in den Situationen, in denen ihre »graue Maus« empfindsam reagiert, dieser empathisch zuzuwenden, ihr gut zuzureden und sie so zu beruhigen. Damit wird das eigentliche Bedürfnis, das hinter dem Verhalten der »Furie« liegt, wahr- und ernst genommen. Und erst damit kann Frau E. ihre Wünsche auf eine Weise mitteilen, auf die ihr Partner eingehen kann, indem er sich ihr zuwendet und sie anhört. Denn die »Furie« bewirkt genau das Gegenteil.
Weg und Unterstützung
Achtsamkeit vertieft und erweitert die Bewusstheit in allen Lebensbereichen. Erst dieses Bewusstwerden eröffnet die Chance, mit sich selbst und anderen auf gewünschte Weise umzugehen. Achtsamkeit eröffnet in Kombination mit einem differenzierten Persönlichkeits-Modell und einem vertieften Verständnis von Innenwelten eine Vielfalt von Alternativen zu den sonst üblichen, mehr oder weniger bewährten Automatismen, die das Leben begleiten. Dabei ist es aber entscheidend, dass Achtsamkeit geübt werden muss. So sind alle vorgeschlagenen Wege oft erst dann möglich oder nachhaltig wirksam, wenn sie von einem regelmäßigen Achtsamkeits-Training begleitet werden. Dann können sie sich auch zunehmend auf struktureller und funktioneller Ebene im Gehirn auswirken.
Unterstützend bei diesem Vorhaben kann sein, sich einen Coach oder Therapeuten zu suchen, der gemeinsam mit dem Übenden die ersten Schritte unternimmt, die Ansatzpunkte sichtbar macht und die Motivation nährt, ein achtsames Leben zu führen. Wie das gehen kann, soll im nächsten Abschnitt deutlich werden.
Übungen
Ein Geschmack vom übergeordneten Beobachten
Zeitbedarf: 20–30 Minuten.
Zweck: Sich dem übergeordneten Beobachten nähern.
Grobstruktur: In Achtsamkeit Teile bemerken und nacheinander bitten, zurückzutreten. Papier und Stift in Reichweite.
Quelle: »Selbst in Führung« (Dietz & Dietz, 2007, S. 100–101).
• Setzen Sie sich bequem hin, Rücken aufrecht, Füße auf dem Boden.
• Schließen Sie die Augen oder richten Sie den gesenkten Blick entspannt auf einen Punkt vor sich.
• Beginnen Sie dann wie bei der Übung der Achtsamkeit mit dem konzentrierten Beobachten des Atems.
• Wenn Sie abgelenkt werden – durch einen Gedanken, eine Körperempfindung, ein Geräusch oder ein Gefühl – wenden Sie sich den jeweiligen Gedanken, Körperempfindungen oder Gefühlen zu und fragen Sie sich: Welcher Teil könnte das jetzt sein, der das denkt oder fühlt?
• Unabhängig davon, ob Sie den Teil gleich identifizieren können, oder es unklar bleibt, welcher Teil es ist – wenden Sie sich ihm (Gefühl oder Gedanken) für einen Moment interessiert und offen zu.
• Wenn Sie möchten, können Sie dabei verweilen und nachspüren, ob es etwas gibt, was der Teil von sich zeigen oder sagen möchte.
• Sie können den Teil dann fragen, ob er bereit wäre, sich für ein paar Minuten etwas von Ihnen abzulösen, sich etwas mehr auf eine Beobachterposition im Hintergrund zurückzuziehen und Ihnen selbst mehr Raum zu geben.
• Wenn ein Teil beiseite getreten ist, nehmen Sie den inneren Zustand wahr, der dadurch entsteht.
• Wenn Teile (Gedanken oder Gefühle) nicht so leicht auf Abstand gehen, können Sie sie fragen, was sie brauchen oder was sie befürchten, und noch etwas bei ihnen verweilen.
• Manchmal drängen sich auch nur wichtige Alltagsfragen oder anstehende Erledigungen in den Sinn. Das können Sie zur Erinnerung einfach auf einen Zettel schreiben. Nach ein paar Minuten können Sie den Teil dann noch mal fragen, ob er jetzt, wo er gehört worden ist, bereit wäre, in den Hintergrund zu treten.
• Wenn Sie etwas mehr Abstand zu einem oder zu mehreren Teilen haben, bleiben Sie, so lange Sie wollen, in dem sich nun einstellenden beobachtenden Zustand. Dieser kann sich innerlich leer, weit oder leicht anfühlen. Je weniger Sie mit Persönlichkeitsanteilen identifiziert sind, desto deutlicher werden Sie Qualitäten von Klarheit, Konzentration und Gelassenheit empfinden – vielleicht auch verbunden mit einem Gefühl »Liebender Güte«.
Herzensqualität
Zeitbedarf: 20–30 Minuten.
Zweck: Die Herzensqualität und Liebende Güte eines beobachtenden Zustands erfahren.
Grobstruktur: Sich in Achtsamkeit auf das eigene Herz und die liebevolle Herzensqualität ausrichten. Mit dieser liebenden Güte den verletzlichen oder leidenden Teilen begegnen und sie damit einhüllen.
Quelle: Ausbildung IFS (http://www.ifs-europe.net).
Empfehlung: Die Übung können Sie nach dem Durchlesen selbst ausprobieren. Sie können dabei auch zwischendurch auf die Anleitung schauen.
• Setzen Sie sich bequem hin, Rücken aufrecht, Füße auf dem Boden.
• Schließen Sie die Augen und nehmen Sie einige bewusste, tiefere Atemzüge.
• Gehen Sie innerlich zu Ihrem Herzen und stellen Sie sich vor, Sie würden mit diesem Herzensraum ein- und ausatmen.
• Beobachten Sie achtsam und von Moment zu Moment, welche Qualitäten Sie hier wahrnehmen, wie offen oder verschlossen sich das Herz anfühlt, wie zart, fest oder eingekapselt, wie viel Raum es sich nehmen kann und wie viel hindurchfließen mag.
• Es ist vollkommen in Ordnung, alles wahrzunehmen, was sich da zeigt – ohne es zu bewerten oder ohne bei Bewertungen zu lange zu verweilen. Der Atem und der Fluss der Energie entstehen immer wieder neu – und diesem Fluss können Sie folgen.
• Sie können die Grenzen des Herzensraumes untersuchen – oben und unten, vorn und hinten und die Seiten. Wie offen oder verschlossen, wie dick, dünn oder durchlässig sind sie? Und Sie können sich vorstellen, wie es wäre, wenn sich diese Räume ausdehnen.
• Wenn sich etwas dichter oder verschlossener anfühlt, können Sie hinspüren, welcher Teil da beteiligt ist. Vielleicht entdecken Sie Teile, die Ihr Herz schützen möchten. Diese Teile können Sie fragen, ob sie bereit wären, sich Ihrer Herzensqualität zu öffnen … und zu erleben, wie diese Liebe allem Schwierigen oder Bedrohlichen mit Gleichmut und Güte begegnet.
• Sie können von hier aus auch andere Teile einladen, diese tiefe Liebe wahrzunehmen und sich davon einhüllen zu lassen.
• Sie können bei einem Teil, der leidet, der feststeckt in der Vergangenheit oder Zukunftssorgen hat, auch länger verweilen. Und Sie können ihn einladen, alle Lasten, die er spürt oder von denen er sich eingeengt fühlt, mit dem Ausatmen an die große Liebe abzugeben, die alles aufnehmen kann.
• Fühlen Sie, wie diese Liebe Ihr Herz umgibt und wie sie Sie und Ihre Teile bergen und beschützen kann.
• Und wenn sich die Zeit dafür passend anfühlt, dann können Sie beginnen, sich wieder auf die Außenwelt auszurichten.
Achtsamer Dialog mit Teilen
Zeitbedarf: 20–30 Minuten.
Zweck: Mehr über die Hintergründe und die Intention eines Beschützers bei einer automatischen Reaktion kennen lernen. Besser verstehen, welche Teile versuchen, einen verletzlichen Teil zu beschützen.
Grobstruktur: Eine automatische Reaktion in der Phantasie nachempfinden. Teile der Persönlichkeit identifizieren, die dabei ausgelöst werden. Zu einem Teil, den man näher kennen lernen möchte, Kontakt herstellen und damit in inneren Dialog treten. Papier und Stift in Reichweite.
Quelle: »Selbst in Führung« (Dietz & Dietz, 2007, S. 135–136).
Empfehlung: Wir empfehlen, zu Beginn den achtsamen inneren Dialog mit Beschützern zu üben und noch nicht mit verletzlichen Teilen. Verletzliche Teile sind bei einem solchen Dialog die ersten Male in Begleitung eines erfahrenen Coaches oder Therapeuten besser aufgehoben.
• Wählen Sie eine automatische Reaktion aus, mit der Sie unzufrieden sind. Am besten eine, die Ihnen schon etwas vertraut ist.
• Beginnen Sie, mit der Aufmerksamkeit nach innen zu gehen, und werden Sie achtsamer für Ihre Innenwelt. Nehmen Sie Ihren Körper wahr und beobachten Sie für eine Weile den Atemfluss.
• Lassen Sie dann das Geschehen – all das, was in der auslösenden Situation typischerweise passiert – möglichst plastisch vor Ihrem inneren Auge in Zeitlupe ablaufen. Sammeln Sie konkrete Eindrücke, zum Beispiel von der Umgebung, der Atmosphäre, weiteren relevanten Aspekten dieses Momentes: etwa Wortwechsel, Ausdrucksweise und Gesichtsausdruck anderer beteiligter Personen.
• Beobachten Sie möglichst genau und differenziert, in welchen Zustand Sie hineingeraten? Was reagiert innerlich in Ihnen? Welche Teile melden sich da? Wer oder was in Ihnen ist empfindlich getroffen?
• Welcher Teil versucht, die Situation gut zu bewältigen oder in den Griff zu bekommen? Welcher Teil herrscht besonders stark vor, wer tritt da in Aktion?
• Wenn Sie den Teil identifiziert haben, der hier die Führung übernimmt, dann wenden Sie sich ihm zu. Machen Sie sich dabei Ihre Absicht klar: Sie wollen diesen Teil besser verstehen und mit ihm nach Ansätzen suchen, seine Intention und Wünsche besser zu berücksichtigen. Stellen Sie sicher, dass Sie dabei in einer offenen und neugierigen Haltung sind.
• Wie genau reagiert der Teil, was tut er? Beobachten Sie sein Verhalten. Wird er etwa laut, unterbricht er andere, wird er kämpferisch, hört er nicht mehr zu oder versucht er zu überzeugen?
• Wenn Sie diesem Teil einen Namen geben oder ihn umschreiben würden, was könnte passen? Vielleicht regt Sie sein Verhalten zu einem Namen an oder auch wie er nach außen wirkt.
• Konzentrieren Sie sich auf diesen Teil und versuchen Sie, ihn noch deutlicher wahrzunehmen. Achten Sie dabei auf Ihren Körper, Teile sind über die Körperwahrnehmung oft am besten zugänglich. Möglicherweise bleibt die Verbindung zu dem Teil eher diffus. Auch das ist für das weitere Vorgehen vollkommen in Ordnung. Es kann sein, dass Sie manche seiner Merkmale oder Gefühle deutlich wahrnehmen können – wie zum Beispiel Druck oder Unruhe, besonders in bestimmten Körperregionen. Möglich ist auch, dass Sie ein Bild von ihm bekommen, dass er eine sichtbare Form annimmt, die Sie mit Ihrem »inneren Auge« sehen können.
• Sobald Sie Verbindung zum Teil haben, können Sie ihn befragen. Was immer Sie besser verstehen wollen, kann Ausgangspunkt dafür werden. Mögliche Fragen zu Beginn könnten sein: »Was lässt dich so reagieren, denken, fühlen?«, »Wofür setzt du dich ein?«, »Was befürchtest du, könnte passieren, wenn du das, was du tust, nicht tätest?«
• Warten Sie ab, was der Teil Ihnen daraufhin zeigt. Die Antwort, die von innen entsteht, kann ein Bild, ein Gefühl, ein Satz sein. Wenn die Reaktionen eher diffus und nicht greifbar sind, dann bleiben Sie einfach noch länger bei der Frage.
• Sie können auch fragen: »Was möchtest du mir zeigen?« »Was soll ich von dir verstehen?« Weitere wichtige Fragen wären: »Was beschützt du in mir?« »Was versuchst du zu vermeiden, zu verhindern?« »Was befürchtest du, würde passieren, wenn du das, was du tust, nicht mehr tätest?« »Was lässt dich so sicher sein, dass das passieren würde?«
• Wenn der Persönlichkeitsanteil Ihnen zeigt, was seine Befürchtungen sind, könnten Sie ihn auch noch fragen, woher er diese Überzeugungen oder Gefühle hat.
• Vielleicht zeigt er Ihnen, was dahinter steckt, was seine Erfahrungen sind oder auch, was er beschützt.
• Sie können diesem Anteil Ihrer Persönlichkeit innerlich antworten und ihm zeigen, dass Sie ihn verstehen oder auch wertschätzen. Sie können ihm sagen, wie wichtig er ist oder was Sie – aus dem neu gewonnenen Verständnis heraus – in Zukunft bewusster beachten wollen.
Anmerkung: Diesen inneren Dialog können Sie auch durchführen, wenn Sie eine ausgeprägte Charaktereigenschaft näher unter die Lupe nehmen wollen, beispielsweise Starrsinn, Perfektionismus, Zynismus oder Ungeduld.
Es kann sein, dass während der Übung ein anderer Teil »dazwischenfunkt«, der nicht bereit ist, beiseite zu treten. Innere Kritiker oder rational-vernünftige Teile sind solche häufigen »Kommentatoren«, die unter Umständen erst beruhigt werden müssen. Damit man mit dem Teil, den man eigentlich kennen lernen will, den Dialog fortsetzen kann, ist es manchmal nötig, zuerst mit dem Teil »zu sprechen«, der sich eingemischt hat – bis dieser bereit ist, wieder beiseite zu treten.
Die Konzentration kann zwischendurch nachlassen, man wird müde oder abgelenkt. Wenn dies geschieht, kann man eine Pause machen oder sich die letzten Wahrnehmungen oder Erkenntnisse wieder herholen, sich erneut auf den Teil konzentrieren und den Dialog fortsetzen. Ein Wechsel zwischen Achtsamkeit für den Teil und schriftlichen Notizen über die Erfahrungen sind auch eine Möglichkeit, konzentriert zu bleiben.
Persönlichkeitsanteile identifizieren und benennen
Zeitbedarf: 20–30 Minuten.
Zweck: Einen Überblick über die verschiedenen Anteile der eigenen Persönlichkeit gewinnen.
Grobstruktur: In Achtsamkeit verschiedene Situationen des Lebens durchgehen und die dabei jeweils auftretenden Teile identifizieren. Papier und Stift für Notizen.
Quelle: »Selbst in Führung« (Dietz & Dietz, 2007, S. 70–71).
• Setzen Sie sich bequem hin und schließen Sie für eine Weile Ihre Augen. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um umzuschalten, die Außenwelt loszulassen und sich auf sich selbst und Ihr Inneres zu besinnen. Um sich besser auf die eigene Innenwelt konzentrieren zu können, kann es hilfreich sein, wenn Sie für ein paar Minuten bei Ihrem Atem verweilen.
• Lassen Sie dann nacheinander einige der unten aufgeführten Situationen aus Ihrem Leben auftauchen. Versuchen Sie, sich diese Momente möglichst plastisch und lebendig zu vergegenwärtigen. Sobald Sie bei einer dieser Erfahrungen etwas verweilt haben, fahren Sie mit den Reflexionsfragen weiter unten fort.
– Bei vertrauten automatischen Reaktionen.
– Im Streit oder bei Auseinandersetzungen.
– Jemand will etwas von Ihnen, bittet Sie um einen Gefallen.
– Bei einer Rede, Präsentation oder einem Auftritt vor einer größeren Gruppe.
– Im Spiel mit Kindern.
– Sie wollen jemanden von etwas überzeugen.
– Im Gespräch mit einer Autoritätsperson, z.B. einem Vorgesetzten.
– In schwierigen Verhandlungen.
– Im Urlaub oder in der Freizeit.
– Ein typisches Dilemma oder ein schwieriger Entscheidungsprozess.
– Sie werden kritisiert, jemand ist mit Ihnen unzufrieden.
– Im Umgang mit einer dominanten Person.
– Im Kontakt mit Ihren Eltern.
• Während Sie die jeweilige Situation und das Geschehen auf sich wirken lassen, nehmen Sie wahr, was innerlich auftaucht und was sich dann verändert. In was für einen Zustand geraten Sie? Was für Gefühle herrschen vor? Was denken Sie? Welche Impulse entstehen? Verändert sich Ihre Stimme, Ihr Atem, die Muskelspannung im Körper? Und wenn ja, wie? Lassen Sie das alles auf sich wirken, ohne es verändern zu wollen.
• Wenn Sie diesen Zustand – die Körperempfindungen, die Gefühle, Gedanken und Impulse – jeweils noch etwas genauer erforschen, welche Seite von Ihnen tritt da in den Vordergrund? Versuchen Sie zu erfassen, welcher Anteil oder welche Anteile Ihrer Persönlichkeit aktiviert und lebendig werden. Und auch: Was wird vielleicht unterdrückt oder tritt in den Hintergrund?
• Versuchen Sie, für jeden Zustand, für jeden abgrenzbaren Teil Ihrer Persönlichkeit eine Beschreibung oder einen passenden Namen zu finden. Das hilft Ihnen später, Teile schneller zu identifizieren.
• Fahren Sie fort, indem Sie sich mehrere der aufgeführten Situationen auf diese Weise vergegenwärtigen und erforschen. Listen Sie alle Teile Ihrer Persönlichkeit auf, die Ihnen dabei begegnen.
• Darüber hinaus können besonders auch wiederkehrende Stimmungen oder Zustände – zum Beispiel Melancholie, innere Unruhe, Ängste, Eifersuchtsattacken – auf Teile hinweisen. Und Sie können zusätzlich noch reflektieren, ob Rückmeldungen, die andere Menschen Ihnen in der Vergangenheit gegeben haben, noch weitere Teile zum Vorschein bringen. Zum Beispiel die Rückmeldung: »Du bist manchmal so stur!«, könnte auf einen unflexiblen, uneinsichtigen oder trotzigen Teil hinweisen.
Teile-Landkarte
Zeitbedarf: 20–30 Minuten.
Zweck: Ein Bild über die eigenen Persönlichkeitsanteile bekommen und darüber, wie sie zueinander stehen.
Grobstruktur: Aufbauend auf der Liste aus der Übung »Persönlichkeitsanteile identifizieren und benennen« wird intuitiv ein Bild entworfen, in dem die Teile symbolisch, grafisch oder illustrativ dargestellt werden. Benötigt werden Papier und Buntstifte.
Quelle: »Selbst in Führung« (Dietz & Dietz, 2007, S. 86–87).
Empfehlung: Wenn Sie sich die Liste der Persönlichkeitsanteile anschauen, dann werden Ihnen vermutlich einige auffallen, die in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen, und andere, die nur selten auftreten. Sie können nun ein Bild anfertigen, das ausdrückt, welche Teile sich in Ihrem Leben oder auch bezogen auf eine bestimmte Situation besonders auswirken. In diesem Bild können Sie darstellen, welche Polarisierungen und welche Allianzen zwischen den Teilen bestehen, welche in Führung und welche eher beschützt sind. Diese intuitive Darstellung lässt die »innere Familie« oder das »innere Team«, die Bedeutung der einzelnen Teile und deren Beziehung zueinander noch anschaulicher und greifbarer werden.
Dazu können Sie mit Papier und Farbstiften intuitiv eine symbolische »Draufsicht«, eine Art »Landkarte« entwerfen, die für Sie stimmig erscheint. Es sind keinerlei künstlerischen Talente nötig, eher ein bisschen Experimentierfreude und Neugier.
Anmerkung: Die Landkarte kann für längere Zeit ein wichtiges Hilfsmittel zur Selbstführung sein. Sie wächst und verändert sich mit zunehmender Bewusstheit über die eigene Innenwelt. Es wird dann immer leichter und vertrauter, im Alltag Persönlichkeitsanteile frühzeitig zu bemerken und zu identifizieren.
• Sie können ein Bild davon zeichnen, wie Ihre Teile insgesamt in den letzten Monaten verteilt waren, oder jeweils ein Bild, das die Konstellation der Teile in einem bestimmten Lebensfeld darstellt, zum Beispiel die berufliche oder die private »Person«. Es kann auch eine Darstellung von Teilen sein, die in einer ganz bestimmten Situation oder in einem gegenwärtigen Entscheidungsprozess vorherrschen.
• Für Ihre individuelle »Landkarte« empfehlen wir, sich von Kategorisierungen zu lösen. Entscheidend ist Ihr Gefühl intuitiver Richtigkeit, denn jede Innenwelt ist einzigartig.
• Erlauben Sie sich, Ihre ganz eigene Form zu finden. Dabei sind Ihrer Phantasie keine Grenzen gesetzt. Einige Möglichkeiten könnten sein:
– Verschieden große Kreise, die wichtigsten größer in der Mitte, die anderen kleiner drum herum,
– verschiedene symbolische Flächen, rund, eckig, gezackt, wolkig – und in verschiedenen Farben, die am besten zu der jeweiligen Qualität des Teils passen,
– verschiedene Figuren, Gestalten und/oder Symbole,
– ein Torten- oder Balkendiagramm, das die anteilig unterschiedlichen Größen oder die Wichtigkeit der einzelnen Teile ausdrückt,
– die Form einer Mind-Map oder die eines Baumes mit verschiedenen Ästen oder einer Blume mit unterschiedlichen Blüten.
• Sinnvoll ist es, dabei zu berücksichtigen, wie viel Raum einzelne Teile in der Persönlichkeit einnehmen, welche Teile näher beieinander und welche weiter auseinander stehen, welche oft zusammenwirken oder sich in ihren Intentionen widersprechen.
• Empfehlenswert für die Übersicht ist es auch, die Namen jeweils dazuzuschreiben.
• Wenn Sie eine »Landkarte« gezeichnet haben, dann können Sie auch mit Ihrem Partner oder einer guten Freundin darüber sprechen und ihn oder sie nach deren Sicht fragen – ob sie Ihre Vorstellungen so nachvollziehen können, ob sie andere Eindrücke haben oder vielleicht sogar noch ganz andere Anteile sehen. Auch über die Wirkungen und Wechselwirkungen Ihrer Persönlichkeitsanteile können Sie Interessantes erfahren.
Vor- und Nachbereitung eines Gesprächs
Zeitbedarf: 2–10 Minuten.
Zweck: Sich auf ein schwieriges Gespräch vorbereiten, um nicht in die üblichen Fallen zu tappen.
Grobstruktur: In Achtsamkeit die Situation vorwegnehmen, untersuchen und Alternativen explorieren; unter Umständen eine gedankliche »Bühnenprobe«.
• Setzen Sie sich bequem hin, Rücken aufrecht, Füße auf dem Boden.
• Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge und beobachten Sie dann Ihren natürlichen Atem.
• Lassen Sie die voraussichtlich kritischen Momente des bevorstehenden Gesprächs in der Vorstellung auftauchen. Wichtig ist, einerseits innerlich nah genug beim Geschehen zu sein, um Gefühle und Reaktionen wahrzunehmen, und andererseits genug Abstand zu haben, um sich darin nicht zu verlieren.
• Dann kann man gefühlsmäßig in die Situation eintauchen, zu sich und dem Gegenüber hinspüren und sich fragen:
– Welche Einstellung oder innere Haltung unterstützt mich in diesem Gespräch?
– Welcher Teil meiner Persönlichkeit könnte dazu neigen, negativ zu reagieren?
– Wie kann ich automatisierte Reaktionen unterbinden? Welche körperlichen Frühwarnsymptome würden solche Automatismen ankündigen?
– Was könnte mir helfen, dieses Gespräch so zu führen, dass ich mit mir, meiner Haltung und meinem Verhalten zufrieden bin?
• Ähnlich kann man sich nach einem belastenden Gespräch das Geschehen noch einmal vergegenwärtigen:
– Wie geht es mir nach dem Gespräch?
– Was schwingt nach? Was wollen mir diese Gefühle und Gedanken oder Teile noch sagen?
– Und wenn wieder eine vertraute automatische Reaktion ablief, kann man sich fragen: Welcher Teil hat versucht, mich zu beschützen? Was in mir reagiert in einem solchen Moment so empfindlich und worauf genau?
• Die Erforschung im Anschluss an ein Gespräch kann die beste Vorbereitung für zukünftige, ähnlich gelagerte Situationen sein. Man erkennt noch genauer, wie und wodurch bestimmte Reaktionen ausgelöst wurden und wo man beim nächsten Mal achtsamer sein möchte. Sowohl in der Vor- als auch in der Nachbereitung kann man versuchen nachzuempfinden, wie sich ein achtsames Innehalten an der einen oder anderen Stelle im Gespräch anfühlen würde:
– Was wäre anders, wenn ich an bestimmten Punkten etwas achtsamer wäre, wie würde ich mich fühlen, wie würde ich auf den Anderen reagieren?
– Was könnte mich darin unterstützen, in den heiklen, entscheidenden Momenten achtsamer zu sein?