Der Weg der Bewusstseinsentwicklung
Wenn man es im menschlichen Leben als Aufgabe betrachtet, das Bewusstsein zu entwickeln und den Geist zu schulen, kann Achtsamkeit ganz wesentlich zu diesen Entwicklungs- und Reifungsprozessen beitragen. Wohin ein solcher Weg führt, hängt von individuellen und sozialen Gegebenheiten, aber auch vom kulturellen Hintergrund ab. Die in verschiedensten spirituellen Traditionen beschriebenen Entwicklungsstufen weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Wenn auch nur wenige westliche Menschen die höchsten Stufen erreichen, sollen zwei beispielhafte Darstellungen doch eine Idee davon geben, wohin jahrzehntelange, intensive Praxis führen kann:
Alan Wallace (2006) schildert in »Die Achtsamkeits-Revolution« einen tibetisch-buddhistischen Übungsweg, den Shamatha-Pfad. Die Shamatha-Praxis legt den Schwerpunkt auf Konzentration und das Verweilen der Aufmerksamkeit bei einem Objekt. Auf diesem Weg werden zehn Stufen unterschieden, die sich auf verschiedene »Zustände« beziehen.
Zur Bewältigung der ersten vier Stufen empfiehlt Wallace die Praxis der Atem-Achtsamkeit. Das Gewahrsein ruht dabei auf den mit der Atmung einhergehenden Empfindungen. Wenn der Geist auf Wanderschaft geht, wird er immer wieder zurückgeholt. Ab der fünften Stufe empfiehlt er die Methode »Den-Geist-in-seinem-natürlichen-Zustand-zur-Ruhe-bringen«. Dabei wird durch Innenfokussierung die Aufmerksamkeit auf Gedanken, Bilder und Emotionen gerichtet.
Ab der achten Stufe wird »Shamatha ohne ein Objekt« geübt, was bedeutet, sich seines Gewahrseins bewusst zu sein. Hier geht es nicht mehr um Stabilität und Schärfung der Achtsamkeit, sondern um die Entdeckung der dem Gewahrsein innewohnenden unbewegten Stille und lichtvollen Klarheit. Parallel zur Schulung der Konzentration werden die »Vier Qualitäten des Herzens« kultiviert: Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Durch diese Arbeit mit den Emotionen können Hindernisse vermieden werden, die das Streben nach konzentrierter Achtsamkeit behindern. Ab der fünften Stufe werden luzides Träumen und Traum-Yoga geübt, um Achtsamkeit auch in der Nacht aufrecht zu erhalten.
Exkurs:
Die Stufen auf dem Shamatha-Weg
Shamata ist ein (tibetisch) buddhistischer Weg zur Schulung von Konzentration und Achtsamkeit. Beispielhaft sollen die Stufen der Entwicklung der geistigen Fähigkeiten auf diesem Weg dargestellt werden, wie Alan Wallace (2006) sie in seinem Buch »Die Achtsamkeits-Revolution« beschreibt.
Auf der ersten Stufe erlernt man die Anweisungen zu Achtsamkeit und ist in der Lage, die Aufmerksamkeit bewusst auf ein inneres Objekt – wie den Atem – zu lenken. Normalerweise ist es jedoch nicht möglich, mit der Aufmerksamkeit auch nur einige Sekunden lang ohne Ablenkung darauf zu verweilen.
Auf der zweiten Stufe hat die Stabilität der Konzentration so weit zugenommen, dass man sich eine Weile – bis zu etwa einer Minute – auf ein Objekt konzentrieren kann. Wallace meint, dass die meisten Menschen ihr Leben schon als gewaltig verbessert ansehen würden, wenn sie so weit kommen. Diese Stufe kann auch von Personen erreicht werden, die ein geschäftiges Leben mit beruflichen und familiären Verpflichtungen führen, wenn sie dazu bereit sind, eine gewisse Zeit für eine tägliche Praxis zu reservieren. Sie kommen auf dieser Stufe schon mit Stress besser zurecht und die Qualität der Handlungen verbessert sich.
Auf Stufe drei wird das gewählte Objekt zwar noch immer kurzzeitig völlig vergessen, die Aufmerksamkeit kann aber schon längere Zeit darauf verweilen. Nach Ablenkungen wird die Konzentration schnell wieder hergestellt. Um diese Stufe zu erreichen, ist ein größeres Engagement notwendig. Wallace gibt dafür – inmitten eines aktiven Lebens – Zeiten von ein bis zwei Stunden täglich an.
Die fortgeschrittenen Entwicklungsstufen des Shamatha-Weges sind jenen Menschen zugänglich, die sich in einer förderlichen Umgebung Wochen oder Monate einer intensiven Praxis widmen. Jenseits der vierten Stufe ist ein Training in beruflichen Ausmaßen erforderlich, mit vollzeitlichem Praktizieren über Monate bis Jahre. Ab der neunten Stufe ist es dann allerdings mühelos möglich, mindestens 4 Stunden auf ein gewähltes Objekt fokussiert zu bleiben. Die Übungszeiten werden schrittweise gesteigert: zu Beginn des Trainings werden zuerst eine und später vier Sitzungen von 24 Minuten empfohlen – symbolisch jeweils eine Minute für jede Stunde des Tages. Eine solche Intensität des Trainings mag zunächst erschreckend und unvorstellbar wirken. Vielleicht relativiert sich dies, wenn man sich klarmacht, dass es auch Menschen gibt, die im sportlichen Bereich auf dem Weg zu Olympischen Spielen viele Jahre ihres Lebens intensivstem Training widmen.
Auf der vierten Stufe passiert es nicht mehr, dass man das gewählte Objekt vollkommen vergisst. Es gibt keinen Widerstand mehr gegen das Achtsamkeitstraining. Auf einer metaphorischen Ebene gleichen unfreiwillige Gedanken auf den ersten drei Stufen einem tosenden Wasserfall. Auf der vierten und fünften Stufe gleichen sie einem durch eine Felsenschlucht strömenden Fluss. Auf der sechsten Stufe ähneln sie einem gemächlich durch ein Tal fließenden Fluss. Auf der siebten Stufe ist der begrifflich denkende Geist still wie ein unbewegter Ozean ohne die kleinste Welle. Auf der achtenund neunten Stufe ist der begrifflich denkende Geist still und unbewegt wie der Berg Meru, der König der Berge. Auf der neunten Stufe wird dies mühelos.
In der Beschreibung fortgeschrittener Stufen gibt es eine grundsätzliche Schwierigkeit. Der Bedeutungsinhalt vieler Begriffe kann immer nur auf dem Hintergrund jener individuellen Erfahrungen verstanden werden, die ein Mensch schon selbst gemacht hat. Vieles wird erst wirklich nachvollziehbar, wenn man selbst auf dieser Stufe angelangt ist. Dies ist auch der Grund, warum viele Meister auf die Frage nach der Natur ihrer Praxis sinngemäß geantwortet haben: »Komm und sieh selbst!«
Die amerikanische Zen-Meisterin Charlotte Joko Beck (1993) unterscheidet auf dem Zen-Weg sechs Stufen. Diese Stufen gehen über die Entwicklung spezieller Zustände hinaus. Sie beziehen sich mehr auf die Art und Weise in der Welt zu sein und in ihr zu leben. Dieser Pfad beginnt damit, zu bemerken, wie sehr man von seinen Gefühlen und Gedanken beherrscht wird.
Auf der ersten Stufe der Praxis wird man sich immer mehr seiner Gefühle und inneren Reaktionen bewusst. Die ersten Monate können schmerzhaft werden, wenn einem zunehmend klar wird, was man wirklich macht. Das erschreckt, führt aber auch zum Wunsch, diese Mechanismen zu unterbrechen und den Weg weiter zu gehen.
Die zweite Stufe beginnt meist im zweiten bis fünften Jahr der Praxis, wenn es möglich wird, speziell auch die emotionalen Erfahrungen in ihre einzelnen körperlichen und mentalen Komponenten zu zerlegen. Es entwickeln sich der Wunsch und die Fähigkeit, genauer hinzuschauen. Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe ist nach Joko Beck der schwierigste. Therapie kann dabei helfen, wenn sie das Gewahrsein stärkt.
Auf der dritten Stufe tauchen Momente ohne selbstzentrierte Gedanken auf, Augenblicke des reinen Gewahrseins. Nach vielen Jahren der Praxis wird es auf der vierten Stufe immer selbstverständlicher, in einem Zustand des »reinen Gewahrseins« zu leben, statt von Gedanken und Konzepten dominiert zu werden. Auf Stufe fünf lebt man 80 bis 90 Prozent seines Lebens in diesem Zustand. Mitgefühl und Wertschätzung des Lebens sind erstarkt. Theoretisch, meint Joko Beck, gebe es noch eine sechste Stufe: Die Stufe der Buddhaschaft.
Woran erkennt man Fortschritte in der Praxis?
Es gibt verschiedene Fragebögen (Abkürzungen siehe anschließenden Exkurs) zur Messung von Achtsamkeit. Baer und Kollegen (2006) haben fünf Facetten von Achtsamkeit herausgearbeitet, im Folgenden einige beispielhafte Fragen (übersetzt von den Autoren).
1. Nicht-Reagieren auf innere Erfahrung.
– Ich nehme meine Gefühle wahr, ohne auf sie reagieren zu müssen (FFA 18).
– In schwierigen Situationen kann ich innehalten (FFA 26).
– Normalerweise, wenn ich belastende Gedanken habe, beobachte ich sie einfach und lasse sie wieder los (MQ 10).
2. Beobachten, Bemerken, Aufmerksamkeit gegenüber Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen.
– Ich spüre in meinen Körper hinein, sei es beim Essen, Kochen, Putzen, Reden (FFA 3).
– Ich nehme wahr, wie sich meine Gefühle im Körper ausdrücken (FFA 6).
– Ich beobachte, wie sich meine Gefühle auf meine Gedanken und mein Verhalten auswirken (KIMS 37).
3. Handeln mit Bewusstheit bzw. automatisch, Konzentration, Nicht-Ablenkbarkeit.
– Ich lasse mich von meinen Gedanken und Gefühlen leicht wegtragen (FFA 9).
– Ich bin oft mit der Zukunft oder mit der Vergangenheit beschäftigt (MAAS 13).
– Ich mache oft Dinge, ohne mit der Aufmerksamkeit dabei zu sein (MAAS 14).
4. Benennen, beschreiben, etikettieren mit Worten.
– Ich kann normalerweise gut beschreiben, wie ich mich im Moment fühle (CAMS 5).
– Es fällt mir leicht, Worte zu finden, um meine Gefühle zu beschreiben (KIMS 2).
– Körperempfindungen kann ich schwer beschreiben, weil ich nicht die richtigen Worte finde (KIMS 22).
5. Nicht-Bewerten von Erfahrungen.
– Ich kritisiere mich, wenn ich irrationale oder unangemessene Gefühle habe (KIMS 4).
– Ich denke, einige meiner Gefühle sind schlecht oder unangemessen und ich sollte sie nicht haben (KIMS 32).
– Ich bewerte, ob meine Gedanken gut oder schlecht sind (KIMS 20).
Exkurs:
Messung von Achtsamkeit mittels Fragebögen
Zur Messung von Achtsamkeit wurden verschiedene Selbsteinschätzungs-Fragebögen entwickelt. Diese beziehen sich auf unterschiedliche, einander überlappende Konstrukte von Achtsamkeit.
Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FFA): Der Selbsteinschätzungsfragebogen bezieht sich in seinen 30 Fragen auf das Achtsamkeits-Konstrukt der Vipassana-Meditation mit den Charakteristika Aufmerksamkeit, Urteilslosigkeit, Gegenwärtigkeit, Nicht-Identifikation, Prozesshaftigkeit, Neutralität, Akzeptanz, Ganzheitlichkeit, Nicht-Oberflächlichkeit, Absichtslosigkeit, einsichtsvolles Verstehen, Anfängergeist und abnehmende Reaktivität.
Literatur: Buchheld (2000), Walach et al. (2004), Heidenreich et al. (2006). Englischsprachig: FMI: Freiburg Mindfulness Inventory (Buchheld et al., 2001).
Mindfulness Attention Awareness Scale (MAAS): Selbsteinschätzung der Tendenz, im Alltag aufmerksam und sich der gegenwärtigen Erfahrung gewahr zu sein. Die 15 Fragen beziehen sich auf ein Ein-Faktoren-Konstrukt von Achtsamkeit.
Literatur: Brown & Ryan (2003); eine deutsche Adaptation liegt vor (Kobarg, 2007).
Kentucky Inventory of Mindfulness Skills (KIMS): 39 Fragen zur Selbsteinschätzung von vier Elementen: Beobachten, Beschreiben, bewusstes Handeln, Akzeptieren ohne zu beurteilen. Das Instrument basiert im Wesentlichen auf dem Achtsamkeits-Konzept der DBT und bezieht sich auf Achtsamkeit im Alltag und auf Menschen ohne Meditationserfahrung.
Literatur: Baer et al. (2004).
Toronto Mindfulness Scale (TMS): Eindimensionales Konstrukt, das Achtsamkeit in 10 Fragen als »state« nach Meditationen erfasst.
Literatur: Lau et al. (2006).
Mindfulness Questionnaire (MQ): Selbsteinschätzung des achtsamen Umgangs mit belastenden Gedanken und Bildern in 16 Fragen.
Literatur: Chadwick et al. (2005).
Cognitive and Affective Mindfulness Scale-Revisted (CAMS-R): Die ursprüngliche Form (CAMS) bezieht sich auf ein eindimensionales Konstrukt von Achtsamkeit und erhebt in 12 Fragen Aufmerksamkeit, Gewahrsein, Fokus auf die Gegenwart, Akzeptanz/Nicht-Bewerten.
Literatur: Feldman et al. (2007).
Five Facet Mindfulness Questionnaire (FFMQ): Aus fünf anderen Fragebögen (MAAS, FMI, KIMS, CAMS, MQ) wurden fünf Facetten von Achtsamkeit erarbeitet: (1) Nicht-Reagieren auf innere Erfahrung. (2) Beobachten, Bemerken,
Aufmerksamkeit gegenüber Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen. (3) Automatisches Handeln vs. bewusstes Handeln, Konzentration, Nicht-Ablenkbarkeit. (4) Benennen, Beschreiben, Etikettieren mit Worten. (5) Nicht-Bewerten von Erfahrungen. Beispiele von Fragen siehe oben.
Literatur: Baer et al. (2006), Baer et al. (2008).
Philadelphia Mindfulness Scale (PHLMS): Zweidimensionales Konstrukt: Gewahrsein des gegenwärtigen Moments und Akzeptanz.
Literatur: Cardaciotto et al. (2008).
Paul Grossman (2008) setzt sich kritisch mit der Frage auseinander, inwieweit die westlichen Versuche, Achtsamkeit zu konzeptualisieren, zu operationalisieren und zu messen überhaupt dem buddhistischen Konzept von Achtsamkeit gerecht werden können bzw. die Gefahr besteht, Achtsamkeit zu trivialisieren.
Im Alltag könnte Erfahrung in der Praxis der Achtsamkeit zu folgenden Aussagen führen (Wengenroth, 2008, S. 155–156):
• »Ich bemerke Veränderungen in meinem Körper, wenn sie eintreten.«
• »Ich kann gut in Worte fassen, was ich fühle.«
• »Ich verliere mich nicht oft in Grübeleien oder Tagträumen. Ich kritisiere mich nicht, wenn ich unsinnige oder unangemessene Gedanken habe.«
• »Ich knabbere nur selten irgendwelches Zeug, ohne mir bewusst zu sein, was ich da gerade esse.«
• »Es kommt nicht oder nur selten vor, dass ich irgendwo bin und nicht mehr weiß, wie ich da hingekommen bin oder was ich dort wollte.«
• »Ich bin nur selten so gedankenverloren, dass ich nicht bemerke, was um mich herum geschieht.«
• »Ich nehme den Geruch und den Geschmack von Lebensmitteln sehr deutlich wahr.«
• »Ich gehe gut mit mir um, auch wenn ich Fehler mache oder etwas schief geht.«
• »Auch in schwierigen Zeiten erlebe ich Augenblicke inneren Friedens.«
• »Ich habe Geduld mit mir und anderen.«
• »Manchmal merke ich, wie ich mir selbst das Leben schwer mache, und dann kann ich darüber schmunzeln.«
• »Ich merke es schnell, wenn meine Stimmung sich verändert.«
• »Ich kann mir meine Gefühle anschauen, ohne mich in ihnen zu verlieren.«
• »Es kommt nicht oft vor, dass die Zeit einfach so verrinnt, ohne dass ich bei der Sache bin.«
• »Wenn ich etwas tu, bin ich meist mit vollem Herzen dabei.«