Mut tut gut!
Der mutige Geist folgt seinem »eigenen, unabhängigen, langen Willen«
Eine Geschichte der Menschheit
Friedrich Nietzsche hatte die Vision vom tatsächlichen Menschen, vom Übermenschen und freien Geist, der mutig seinem eigenen Willen folgt. Nietzsche stellt sich dazu vor, dass die Geschichte der Menschheit in drei Phasen verläuft: In der ersten Phase ist der Mensch eine Art »Menschen-Tier«. Dieses »Menschen-Tier« sieht lediglich den Augenblick. Weder Vergangenheit noch Zukunft spielen eine Rolle. Der Mensch geht ganz auf in seinen augenblicklichen Situationen und muss sich weder Gedanken um seine Vergangenheit noch Sorgen um seine Zukunft machen. Diese »Menschen-Tiere« leben so eine Art unbewusstes Glück.
Aber in dieser Phase bleibt die Menschheit nicht stehen. Es folgt eine zweite Phase, in der die Menschen ein Gedächtnis ausbilden. Das Gedächtnis befähigt die Menschen, anderen Menschen etwas versprechen zu können. Sofern wir nämlich, wie in der ersten Phase, keinerlei Erinnerung an die Vergangenheit haben, können wir natürlich auch keine Versprechen abgeben. Damit wir aber Versprechen nicht nur geben, sondern auch den Versprechen anderer Menschen vertrauen können, müssen andere Menschen für uns in irgendeiner Art und Weise berechenbar sein. Diese Berechenbarkeit der Menschen hat jetzt mit Sitte und Moral zu tun. Es sind die Sitten und Bräuche, Regeln und Normen, die es in jeder Art von Gemeinschaft gibt, die, nach Nietzsche, wie eine Art soziale Zwangsjacke auf den einzelnen Menschen wirken und den Menschen berechenbar machen. Die natürlichen Instinkte und Triebe, die ein jeder hat, werden durch diese Art soziale Zwangsjacke zurückgedrängt.
Aber dadurch, dass sie nicht ausgelebt werden können, sind sie nicht einfach weg. Nein, viel schlimmer! Können diese natürlichen Instinkte nicht nach außen, wenden sie sich nach innen, gegen den Menschen selbst. Dadurch bildet sich jetzt im Menschen eine Art Gewissen und Moral, was Sigmund Freud ein paar Jahre später »Über-Ich« nennt. Die Etablierung des Gewissens und der Moral ist dafür verantwortlich, dass die Seele des Menschen jetzt geformt wird und nicht mehr ihren ursprünglichen, natürlichen Zustand bewahren kann.
Nietzsche hofft auf Phase drei der Menschheitsgeschichte: die Phase des tatsächlichen Menschen. Ist der tatsächliche Mensch, der Übermensch und freie Geist, geboren, löst er sich von Sitte und Moral, um seinem »eigenen, unabhängigen, langen Willen« zu folgen. Dieser Mensch wird aber nicht einfach so geboren, sondern er muss sich, um zu einem freien Menschen zu werden, mit viel Mut selbst überwinden.
Wenn wir Nietzsche heute fragen würden, in welcher Phase der Menschheit wir uns befinden, würde er vermutlich mit »Phase zwei« antworten. Schon 1879 und 1882 sprach er von der Menschheit als »Herden-Menschheit« mit entsprechendem »Herden-Instinkt« und »Herden-Gewissensbiss«.36
Auch wir wissen heute mehr denn je, dass biografische und gesellschaftliche Erfahrungen und Bedingungen die genetischen Anlagen modifizieren können. Die angeborenen Instinkte können verkümmern oder sogar ins Zerstörerische umschlagen. Es ist die Umwelt, die das Gehirn knetet und ihm damit Gestalt verleiht. Aber was heißt das jetzt für uns? Befinden wir uns wirklich immer lediglich in der zweiten Phase der Menschheit und laufen wie Schafe der Masse hinterher? Wie schaffen wir den Sprung vom »Herdentier« zum mutigen, selbstbestimmten und damit auch glücklicheren Menschen?
Trau dich!
Mut gehörte lange Zeit neben Weisheit, Gerechtigkeit und Besonnenheit zu den Kardinaltugenden. In der Antike wurde Mut eher Tapferkeit, Standfestigkeit oder Unerschrockenheit genannt. Tapferkeit war dann gefragt, wenn es galt, Gefahren richtig zu begegnen: Eine gefährliche Situation kann uns entweder in Angst und Schrecken versetzen, sodass wir sofort weglaufen oder gar vor lauter Furcht erstarren. Oder aber wir stellen uns draufgängerisch und ohne innezuhalten der Gefahr entgegen.
Was das eine zu viel ist, ist das andere zu wenig. Die sachgerechte Reaktion besteht wohl eher in einer Art von Mitte. Dieser Begriff der Mitte stammt von Aristoteles; was er wirklich bedeutet, wird aber heute noch oft missverstanden. Diese Mitte ist nämlich kein Kompromiss zwischen zwei Extremen. Nein, die Mitte ist das Beste, die Höchstform aller möglichen Arten und Weisen der Lebensführung. Die beste Art und Weise, wie wir mit unseren Affekten und Leidenschaften umgehen können. Am besten stellt man sich diese Mitte nicht als einen Punkt auf einer Strecke, sondern als einen Kreis vor: Die Kreismitte nimmt eine herausragende Stellung ein.
Tapfer ist also, wer weder alle Gefahren auf sich nimmt, noch vor allen Gefahren zurückweicht. Die richtige Einstellung gewinnt der Tapfere dadurch, dass er sich zu seinen Affekten in das richtige Verhältnis setzt: Natürlich verspürt der Tapfere in Gefahrsituationen Furcht, aber er überlässt der Furcht nicht das letzte Wort. Er hat die Fähigkeit, sich von der reinen Furcht zu distanzieren, um dann richtig zu handeln. Weder der Feige noch der Draufgänger hat diese Fähigkeit. Sie geben unüberlegt ihren Trieben nach. Beiden fehlt das reflektierte Verhältnis zu den ihnen angeborenen Emotionen.
In Zeiten Aristoteles’ war die Tapferkeit, die Courage eine unabdingbare Tugend für die Verteidigung des Gemeinwesens gegen äußere Gefahren und auch gegen innere Erstarrung. Nietzsche greift diese Forderung nach Tapferkeit oder Mut in seinen Theorien auf. Mehr noch: Er macht sie zum Fundament seiner Philosophie. Es ist der Mutige, der seiner Angst trotzt, dem Konformismus und der Gesellschaft widersteht. Mutig denken ist dabei nicht genug: Wichtig sind vor allem die darauf aufbauenden mutigen Handlungen, die letztendlich dem Menschen zeigen, wer er ist. Denn der Mensch ist, was er tut.
Ohne Mut werden die Menschen zu reinen Herdentieren ohne eigene Ideale und eigene Ziele – sie werden zu »letzten Menschen«. In Also sprach Zarathustra schreibt Nietzsche: »Sie (die letzten Menschen) haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm: Denn man braucht Wärme. … Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.«37
Das sind harte Worte. Doch wie steht es heute um den Mut? Sind wir die »letzten Menschen« oder Übermenschen? Ist es uns zu beschwerlich, mutig zu sein?
Couragiert handeln
Zürcher Motivationspsychologen haben erforscht, dass die meisten Menschen wegschauen, wenn jemand angepöbelt oder gar verprügelt wird.
Denn stellen Sie sich vor, auf einmal sind sie da. Es sind zwei Schlägertypen mit Bomberjacken und Springerstiefel, die sich breitbeinig vor einen dunkelhäutigen Fahrgast stellen. »Niggerschwein«, tönt es lauthals durch die U-Bahn. Ihre großen Stiefel drücken sie dem dunkelhäutigen Fahrgast ins Gesicht. Die anderen Fahrgäste schauen verlegen weg oder suchen das Weite.
Was würden Sie tun? Könnten Sie sich vorstellen, zu helfen? Niemand hat bei dieser Fahrt in der U-Bahn die Courage, einzugreifen. Aber das ist nichts Besonderes. Nur jede dritte Person, die einen fremdenfeindlichen Übergriff beobachtet, greift ein – so die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2002. In etwa gleich verhält es sich, wenn es um häusliche Gewalt, Mobbing am Arbeitsplatz oder Übergriffe auf Behinderte geht. Meist schweigen die Zuschauer eines solchen Gewaltverbrechens. Aber gerade dieses Schweigen ist es oft, das den Tätern die stillschweigende Rechtfertigung liefert.
Die spannende Frage ist jetzt: Warum schauen Menschen weg? Prof. Veronika Brandstätter vom Psychologischen Institut der Universität Zürich und ihr Team erforschten die Gründe, warum Menschen in solchen Situationen einfach wegschauen: Sie wollen sich nicht in die Privatsphäre anderer Menschen einmischen. Außerdem wissen sie nicht, was sie tun können. Es ist ihnen unangenehm, sich in den Vordergrund zu stellen, oder sie sind zu aufgeregt und nervös, um überhaupt handeln zu können.
Zivilcourage ist hier gefragt. Bei der Zivilcourage als sozialem Mut treten wir öffentlich für die Wahrung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Grundrechte ein. Hier geht es nicht darum, etwas für einen wohltätigen Verein zu spenden, sondern wir müssen aktiv vorgehen. Dafür brauchen wir Mut. Denn jegliches Einschreiten in solchen Situationen bringt ein gewisses Risiko mit sich.
Ein weiteres, sehr wichtiges Forschungsergebnis zeigt, dass auch hier Übung eine zentrale Rolle spielt.38 Haben wir nämlich schon öfter in solchen Situationen eingegriffen und diese kompetent bewältigt, ist es wahrscheinlicher, dass mit der Zunahme des Selbstvertrauens auch die Handlungsentschlossenheit und vor allem Handlungsroutine zunehmen. Hier geht es nicht darum, Angstgefühle wegzutrainieren, sondern darum, Verhaltensweisen zu entwickeln, die trotz unserer Angst ausgeführt werden können.
Damit ist, wie so vieles, auch Zivilcourage lernbar. So gibt es beispielsweise ein Züricher Zivilcourage-Training, das vor allem auf relevantem Wissen und dem Aufbau von Handlungskompetenz beruht. Dabei werden die aktuellen Resultate der psychologischen Forschung präsentiert und im Gespräch mit den Erfahrungen der Teilnehmer verknüpft. In Rollenspielen erleben Teilnehmer typische Situationen, in denen sie nicht zivilcouragiert gehandelt haben. Gewaltsituationen werden nicht nachgespielt, sondern die Teilnehmer stellen sich hier entsprechende gewaltvolle Situationen vor. Dann geht es vor allem darum, praktikable, individuelle Handlungspläne zu erarbeiten. Nach dem Training gaben 62 Prozent an, in realen Situationen zivilcouragiert gehandelt zu haben. In der Kontrollgruppe ohne Training waren es nur 40 Prozent.
Aber oftmals sind es in unserem alltäglichen Leben nicht nur diese besonderen Situationen, die Mut erfordern. Es fängt schon damit an, dass wir Anrufer nicht abwimmeln können, weil wir uns nicht trauen, ihnen zu sagen, dass wir wirklich keinen neuen Handyvertrag brauchen. Oder wir stehen am Eincheckschalter einer Fluggesellschaft in der Warteschlange. Plötzlich macht die Airline noch einen Eincheckschalter auf. Ein Fluggast vom Ende der Schlange sprintet vor und ist der Erste, der am neu aufgemachten Schalter einchecken möchte. Wir trauen uns oft nicht, diesen Mann auf seinen Platz ganz hinten zu verweisen. Hier brauchen wir doch eigentlich nur »Nein« zu sagen, ohne dass dadurch ein Risiko für unsere Gesundheit oder gar unser Leben entsteht. Warum ist selbst das so schwer? Wahrscheinlich sind wir zu wenig in Übung. Deshalb versuchen Sie, in Situationen Ihres alltäglichen Lebens mutig zu sein. Wenn Sie beispielsweise das nächste Mal auf dem Wochenmarkt sind und sich jemand vordrängelt, trauen Sie sich, etwas zu sagen. Sorgen Sie für Gerechtigkeit. Das lässt Sie mutiger werden und stützt außerdem Ihr Selbstvertrauen.
Wenn wir Mut hören, geht es aber nicht nur um Zivilcourage, um Mut gegenüber anderen. Denn mutig sein muss ich auch gegenüber mir selbst. Erst dann, wenn ich mir selbst vertraue, wenn ich mir zutraue, Risiken auf mich zu nehmen, kann ich sozial mutig sein. Nietzsche hat vor allem diese Art Selbstvertrauen im Blick, die mich dazu befähigt, Gefahren, Risiken und damit auch Leiden auf mich zu nehmen, um mich selbst immer wieder zu übertreffen. Nietzsche träumt vom »Stern der übenden Menschen«.
Der Stern der übenden Menschen
Friedrich Nietzsche war ein Anhänger der Antike. Dem Christentum hat er in seinen Schriften den Garaus gemacht, um sich in punkto Lebensform vor allem der griechischen Antike zuzuwenden. Der »modus vivendi«, die Art, wie wir unser Leben führen, ist bestimmend dafür, ob wir gut oder eben schlecht leben. Nietzsches Lebensform ist vielleicht sogar eher eine Lebensreform, da er versucht, das Wertesystem der Antike wieder aufleben zu lassen. Vielleicht können wir, in Anlehnung an Peter Sloterdijk, von einer »Neo-Antike« sprechen. Jedoch handelt es sich hierbei um keine reine Wiederholung der antiken Zeit in einer modernen oder eher postmodernen Welt, sondern es ist die Idee, dass die Antike aus eigener Kraft immer wiederkehrt. Damit wird eine Zeit nicht einfach von einer anderen Zeit abgelöst, sondern ist als eine Art dauernde Gegenwart, Tiefenzeit oder Naturzeit immer präsent.39
Nietzsche ist der Überzeugung, dass sich durch Lebensformen, die immer wieder eingeübt werden, so etwas wie »Kulturen« ergeben. Es gibt dabei gute Übungslebensformen, die gute Kulturen hervorbringen, aber auch schlechte Übungslebensformen, die respektive schlechte Kulturen hervorbringen. Er verwendet den Begriff der Askese, der im klassischen Griechischen einfach »Training« oder »Übung« bedeutet. Maßgeblich für gute Kulturen sind »gesunde« Menschen, die sich mit guten Askesen steigern wollen. Im Gegensatz dazu gibt es die »kranken« Menschen:
Dies sind für Nietzsche vor allem die Priester, die unter enormer Anstrengung Dinge einüben, die das Leben auf Erden leugnen. Es ist eine Art pathologische Askese. Die »gesunden« Menschen bilden einen Planet von Übenden im aufstrebenden, lebensbejahenden Sinn. Die Einwohner dieses Sterns sind Menschen, die das Gewicht der Welt ohne Wehleidigkeit tragen. Ohne ständiges Jammern nehmen diese Menschen auch den Lastcharakters des Daseins auf sich. Es sind kreative, schöpferische Menschen, die aber ganz selbstverständlich auch nicht ohne Disziplin und Regeln auskommen. Ganz im Gegenteil: Sie selbst legen sich Reglementierungen auf, weil sie darin die Mittel sehen, um als Denker und Schöpfer in ihr persönliches Optimum zu gelangen.
Es steht also in der Macht der Menschen, viel oder wenig aus sich zu machen. Damit sind die Menschen nicht gleich, sondern ungleich. Diese Ungleichheit ist aber nicht genetisch oder sozial bedingt, vielleicht sogar gottgewollt, sondern diese Ungleichheit liegt in den unterschiedlichen Übungen. Die »gesunden« Menschen sind bei Nietzsche die guten, authentischen, selbstbewussten Menschen, die das Leben lieben, nicht mit Neid und Missgunst auf andere schauen, sondern ihr eigenes Leben nach ihrem Willen gestalten. Auf dem Weg zu einem selbstbestimmten und damit glücklicheren Leben werden wir immer wieder auf Widerstände sowohl von außen als auch von innen stoßen. Äußere Widerstände können bedeuten, dass das, was wir tun wollen, nicht »üblich« ist, nicht sozial anerkannt ist oder dass es sich finanziell gesehen nicht lohnt. Aber wahrscheinlich sind es eher die inneren Widerstände, unsere emotionalen Bremsen, die uns hemmen. Nicht selten fahren wir mit angezogener Handbremse durchs Leben und versuchen immer mehr Gas zu geben. Nur leider nützt das gar nichts, wenn wir die Handbremse nicht lösen.
Überlegen wir gemeinsam. Was sind unsere emotionalen Bremsen? Sind wir oft unentschlossen? Zweifeln wir an uns selbst? Haben wir gar Angst? Sind wir einfach oft zu bequem? Oder haben wir Gewohnheiten, die uns hemmen? Wenn wir genauer hinschauen, haben alle emotionalen Bremsen etwas mit Gewohnheit zu tun. Unentschlossenheit, Zweifel, Angst, Bequemlichkeit oder auch Minderwertigkeitsgefühle haben auch damit zu tun, wie ich es eingeübt habe, wie ich gewohnt bin, mit Dingen oder Herausforderungen umzugehen. Wir können uns beispielsweise ganz leicht daran gewöhnen, uns immer weniger zuzutrauen. Ein einfaches Beispiel ist das Autofahren: Früher war es beispielsweise nicht üblich, dass Frauen den Führerschein machten. Doch selbst bei Frauen, die ihren ganzen Mut zusammennahmen, um im Alter von 30 Jahren, mit Familie und zwei Kindern, doch noch den Führerschein zu machen, scheiterte das Projekt »Auto fahren« nicht selten an der fehlenden Übung und den inneren Widerständen. Die Angst vor neuen Situationen war größer als der Wunsch nach Unabhängigkeit: »Heute fahre ich nicht, denn es könnte glatt sein.« – »In die Stadt mit dem Auto? Nein, dem Verkehr dort bin ich noch nicht gewachsen.« Zweifel setzen sich fest: »Ich glaube, das Autofahren liegt mir nicht.«
Wenn wir uns immer wieder zögerlich, unentschlossen, bequem oder gar ängstlich verhalten, kann dieses Verhalten für uns zur Gewohnheit werden. Wir trauen uns nichts mehr zu. Diese Haltung hindert uns daran, uns künftigen Herausforderungen zu stellen. Deshalb gilt: Selbst wenn wir bei unserer ersten Autofahrt einen kleinen Crash haben – weiterfahren. Denn es funktioniert ja auch andersherum. Indem wir Krisen bewältigen, Niederlagen meistern, lernen wir dazu. Wir sammeln Erfahrungen, wie wir auch mit schwierigen Situationen umgehen können. Wir können uns selbst vertrauen, indem wir zu uns sagen: »Du hast schon so viel überstanden. Warum soll sich daran etwas ändern?« Wir können mutig und angstfrei der Zukunft begegnen.
Machen Sie es sich zur Gewohnheit, sich den Herausforderungen Ihres Lebens zu stellen. Tun Sie das, was Sie wollen. Grenzen Sie nicht Ihre Möglichkeiten selbst ein, indem Sie sich sagen »Das schaffe ich nie.« Oder: »Das ist unmöglich.« In der Natur gibt es wunderbare Beispiele dafür, dass das Unmögliche oft möglich ist. Zum Beispiel die Hummel: Sie hat nur eine Tragfläche von 1,45 Quadratzentimeter, wiegt aber 4,8 Gramm mit einem Flächenwinkel von 6 Grad. Aufgrund naturwissenschaftlicher Gesetze ist es schlichtweg nicht möglich, dass die Hummel fliegt. Ihr ist das egal, denn sie weiß gar nichts davon und fliegt trotzdem. Oftmals ist es besser, nicht so viel nachzudenken, sondern zu handeln. Denn aus dem Handeln entwickeln sich die Gewohnheiten, die uns letztlich bestimmen. Das ist nicht einfach. Misserfolge, Krisen, Angst und Furcht werden uns auf unserem Weg begleiten. Aber sie dürfen uns nicht davon abhalten, unseren eigenen Weg zu gehen. Denn glücklich fühlen wir uns doch eigentlich nur dann, wenn wir unseren eigenen Weg, nach unserem Willen und unseren Vorstellungen, gehen. Wer will schon das Leben der anderen leben?
Jetzt können wir uns fragen: Aber woher weiß ich, dass das nicht der Weg der anderen, sondern mein Weg ist? Wann folge ich meinem Willen und wann dem Weg der anderen? Es ist sicherlich schwierig, hier eine Grenze zu ziehen. Denn wie wir wissen, ist auch unser Wille bedingt durch unsere Genetik, unsere Erfahrungen, unsere Empfindungen und unsere Sozialisation. Aber ich denke, wir spüren es, wenn wir unserem Willen entsprechen. Je mehr wir unserem Willen entsprechen können, desto wohler fühlen wir uns und desto mehr sind wir bei uns.
Wenn wir wissen wollen, was wir, und nicht andere, wollen, müssen wir mit uns alleine sein können. Auch dazu gehört Mut!
Mut zum Alleinsein
Endlich mal zur Ruhe kommen. Alle Reize um sich herum abschalten. Keine Menschen und vor allem keinerlei Anforderungen um sich herum haben. Das wünschen wir uns doch alle. Oder etwa nicht? Gibt es da Menschen, die ganz nervös werden, wenn nicht ständig andere Menschen um sie herum sind? Geraten diese Menschen fast außer sich, wenn nichts sie ablenkt? Wenn nichts und niemand sie anerkennt? Diese Fragen können wir wohl beruhigt mit »Ja« beantworten. Obwohl wir uns wohl alle wünschen, unser Leben so zu führen, dass wir ganz bei uns sind, brauchen wir dazu eine gehörige Portion Mut.
Für den Existenzphilosophen Martin Heidegger, der von Nietzsches Gedankengut beeinflusst war, steht der Mensch, in Heideggers Wortschatz »das Dasein«, nicht der Welt gegenüber, sondern ist ein Teil von ihr. Wir werden ungefragt in die Welt »geworfen« und sind, von Anfang an, eine Art Einheit von Mensch und Welt. Damit ist das menschliche Dasein ein »In-der-Welt-Sein«. Auch andere Menschen gehören zum eigenen Menschsein. Wir Menschen kennen es gar nicht anders. Heidegger spricht also nicht von einem Individuum, sondern von einem »Man«, das unsere Lebensweise, unsere Kultur und letztlich unseren Willen bestimmt:
»Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.«40 So Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit.
Aber dieses Leben im »Man« ist für ihn kein eigentliches Leben. Denn wenn wir ausschließlich im »Man« sind, fliehen wir vor uns selbst in die Betriebsamkeit der Welt und suchen dabei eine Art Entlastung, um die Bürde des Daseins nicht auf uns nehmen zu müssen. Aber so bleiben wir immer hinter unseren Möglichkeiten zurück, denn wir schöpfen nur aus dem, was »Man« für reizvoll, machbar und notwendig hält.
Um unseren eigenen Entwurf leben zu können, müssen wir erst mal einen eigenen Lebensentwurf haben. Doch wenn wir es nicht aushalten, allein und bei uns selbst zu sein, woher soll der eigene Entwurf des Lebens dann kommen? Das Alleinsein ist im Grunde eine Fähigkeit oder vielleicht auch eine Tugend. Meist tritt das Alleinsein mit anderen Tugenden auf: den Tugenden der Gelassenheit und der Geduld. Denn wenn wir Geduld haben, können wir auch warten. Wenn wir gelassen sind, müssen wir nicht sofort auf jeden Reiz reagieren. Wir nehmen uns Zeit, uns zu besinnen. Denn wir sind zuversichtlich, soziale Anerkennung zu erhalten und nicht zu verlieren, auch wenn wir nicht auf alle Anfragen von außen sofort reagieren. Wir können oft dann schlecht alleine sein, wenn wir Angst haben, die Anerkennung anderer zu verlieren. Haben wir diese Angst, sind wir innerlich unruhig, fühlen uns einsam, aber nicht allein, sind »außer uns«, aber nicht »bei uns«. Das ist der Unterschied von Alleinsein und Einsamsein. In Momenten der Einsamkeit vergessen wir nicht uns selbst, sondern wir schenken uns selbst schmerzlich unsere ganze Aufmerksamkeit. Auch wenn kein anderer da ist, fühlen wir uns beobachtet und missachtet.
Es ist wohl so, dass wir dann, wenn unsere sozialen Beziehungen stimmen, wenn wir uns in der Gemeinschaft, in der wir leben, wohlfühlen, auch allein sein können. Dann können wir uns auch auf uns beziehen und bei uns sein. Stimmen unsere sozialen Beziehungen nicht, fühlen wir uns nicht wohl. Wir fühlen uns emotional einsam, selbst dann, wenn andere Menschen anwesend sind. Um diese fast unerträgliche Einsamkeit nicht spüren zu müssen, stürzen wir uns in die Arbeit, in die Außenwelt. Bei Heidegger in das »Man«.
Fast süchtig und zwanghaft nach Arbeit suchend, verhindern wir, dass wir uns mit unserer Innenwelt auseinandersetzen müssen. In unserer Arbeitsgesellschaft ist das kein Problem. »Arbeiten bis zum Umfallen« ist hoch angesehen und wird als Leistung auch noch honoriert. Bei Heidegger ist es beispielsweise die Angst, die die Flucht in die Außenwelt unterbrechen kann: Denn wenn wir existentiell bedroht, vielleicht sogar schwer krank werden, ist uns das Außen, das wir materiell geschaffen haben, unser Beruf, für den wir Tag und Nacht geschuftet haben, nichts mehr wert. Wir werden in der Angst auf uns selbst zurückgeworfen, was eine Chance ist, uns selbst näherzukommen.
Nach Professor Rolf Haubl, dem Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, können wir aus dem Hamsterrad der Außenwelt aber auch aussteigen, wenn wir mutig sind. Und mutig sein heißt hier, dass wir fähig sind, allein sein zu können. Denn nur wenn wir allein sind, können wir auf uns selbst hören. Aber Alleinsein bedeutet auch, sich zurückzuziehen, den bestehenden Handlungsdruck zu reduzieren, ohne die Angst haben zu müssen, dadurch zu vereinsamen, keine Anerkennung mehr zu bekommen, da wir die vermeintlichen sozialen Erwartungen nicht erfüllen.
Auch das ist Mut im Sinne von Friedrich Nietzsche. Für Nietzsche geht es im Leben darum, der zu werden, der man ist. Nur, wer bin ich? Leider kann ich das nicht ohne Weiteres erkennen. Selbst dann, wenn ich mich wissenschaftlich und medizinisch komplett analysieren und sezieren könnte, wüsste ich dann, wer ich bin? In der Vorrede der Genealogie der Moral schreibt Nietzsche: »Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst.«41
Wir sind uns unbekannt, weil wir uns nicht erkennen können. Wir sind keine Maschinen, die wir analytisch und wissenschaftlich analysieren können. Wir Menschen sind mehr. Wir können erleben, wir haben Gefühle und Verstand. Wir sind rational und emotional. Eine Mischung eben. Ein Mehr als die Summe seiner Teile. Und dann auch noch eine Mischung, die sowohl ihre Zutaten als auch ihre Mischungsverhältnisse im Laufe eines Lebens ändert. Deshalb werden wir wohl zu keinen Zeitpunkt unseres Lebens wissen, wer wir sind. Trotzdem wollen wir unser Leben lang uns selbst nahekommen: Wir wollen das tun, was uns entspricht. Wir wollen unser Leben erleben. Wir wollen authentisch sein. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, uns selbst immer wieder zu suchen, um das Gefühl zu bekommen, uns selbst gefunden zu haben. Zumindest für eine gewisse Zeit. Wir werden uns vermutlich unser ganzes Leben lang suchen und finden müssen. Und genau dafür müssen wir mutig sein.
Manchmal sehen die Mutproben, die unser Leben von uns fordert, ganz anders aus als das, was wir gemeinhin unter Mutproben verstehen. Eine meiner Mutproben bestand beispielsweise darin, Friedrich Nietzsche zu lesen. Jahre vorher hatte ich viele Glücksratgeber gelesen, in der Hoffnung, persönliche Krisen so zu meistern. Oft habe ich mich gefragt, warum mich das nicht weiterbringt. Heute glaube ich, es zu wissen: Wahrscheinlich hat mich diese Art von Ratgeberliteratur mir selbst nicht nähergebracht. Nietzsche hat das geschafft. Obwohl es mir anfangs sehr schwer fiel, ihn zu verstehen. Aber ich habe nicht aufgegeben: Auch das bedeutet Mut.
Überprüfen Sie anhand von ein paar Fragen, wie mutig Sie sind.
• Welche emotionalen Bremsen haben Sie? Selbstzweifel, Vorsicht, Besorgtheit? Wo steckt Ihre Angst?
• Wie begegnen Sie Ihren Ängsten?
• Erinnern Sie sich an Situationen, in denen Sie Ängste überwunden haben? Wie haben Sie das gemacht? Suchen Sie sich Situationen, in denen Sie Mut beweisen! Gehen Sie den Situationen, die Ihnen Angst machen, nicht aus dem Weg. Nähern Sie sich. Wenn Sie Angst vor Hunden haben, kehren Sie nicht gleich um, sondern laufen Sie zuerst mit großem Sicherheitsabstand vorbei. Verringern Sie die Abstände!
• Können Sie etwas mit sich anfangen? Können Sie allein sein? Oder fühlen Sie sich dann gleich einsam, nervös und unwohl?
• Suchen Sie Momente, in denen Sie allein sein können. Vielleicht erst einmal mit einem guten Buch, aber ohne Handy, Internet oder Fernseher. Haben Sie mit sich Geduld. Üben Sie in kleinen Schritten und kleinen Zeiteinheiten. Halten Sie inne und besinnen Sie sich auf sich selbst. Tun Sie auch mal nichts!
• Haben Sie Zivilcourage? Wann haben Sie das letzte Mal für eine Person oder Sache Partei ergriffen? Üben Sie sich darin, Ihre Meinung zu vertreten. Vielleicht trauen sie sich, Ihrer Mutter zu sagen, dass sie keine selbst gestrickten Pullover tragen, selbst dann nicht, wenn sie diese seit zehn Jahren zu Weihnachten bekommen.