5

Es war halb sieben. Ich verließ die Eingangshalle und schlurfte über den nassen Kies zum Auto. Gelbe Neonröhren beleuchteten den Weg. Fünfzig Meter weiter links stand der Firmenkiosk. Die rote Lottoreklame flackerte unruhig. Ich ging hin und klopfte an die Scheibe. Durch das verregnete Glas sah ich undeutlich eine kleine Gestalt heranhinken, wie ein alter Kahn bei Wellengang. Sie blinzelte zögernd durchs Fenster, bevor sie es zur Seite schob.

»Wassen?«

Die Glöcknerin von Notre-Dame war kaum größer als die Theke. Ich hätte bequem mein Bier auf ihrem Kopf abstellen können. Aus ihrer Nase lief Wasser, und über Kinn und Oberlippe wuchs ein zerzauster Ziegenbart. Es kostete sie Mühe, zu mir aufzuschauen. Ich legte einen Zwanzigmarkschein in das Tellerchen.

»Zwei Packungen Lucky und einen Nulldrei-Asbach.« Ihre krummen Finger nahmen das Geld und schoben es unter die Theke. Dann hangelte sie sich zum Zigarettenregal und danach zu Keksen und Alkohol. Es dauerte seine Zeit, aber sie fand alles. Sie kramte in der Kasse und schob das Wechselgeld über die Theke. Durch die offene Hintertür sah ich ein altes, eisernes Bettgestell.

»Wohnen Sie auch hier?«

»Geht Sie das was an?«

»Frage nur. Vielleicht haben Sie in der Nacht des Anschlags was gehört.«

»Den Knall hab ich gehört. Wie jeder.« Während sie sprach, hielt sie den Kopf gesenkt.

»Keine Schüsse?«

»Doch.«

»Wann?«

»Vorher.«

»Vorher?«

»Na und?«

»Wieviel Zeit verging zwischen den Schüssen und dem großen Knall?«

»Weiß nicht. Hab keine Uhr.«

»Fünf Minuten, halbe Stunde, Stunde?«

»Zehn Minuten.«

»Sind Sie sicher?«

»Haben Sie, was Sie wollen? Ist schon lange Feierabend.«

Langsam schob sie die Scheibe zu.

»Kannten Sie Herrn Böllig?«

Ein paar Zentimeter fehlten noch. Sie stockte. »Das kann man wohl sagen.«

Das Fenster war zu. Ihr Schatten kroch durch die Hintertür hinaus. Ich zündete mir eine Zigarette an, schlürfte vom Asbach und trottete zu Riebls Golf. Direkt dahinter stand ein Renault fünf. Ich stieg in den Golf und fuhr den Weg hinunter zur Hauptstraße. Kurz vor der Autobahnauffahrt war der Renault hinter mir. Ich bremste und ließ ihn herankommen. Außer dem Fahrer war keiner im Wagen. Auf der Autobahn überholte ich vier Laster, lenkte scharf zurück auf die rechte Spur und ging runter auf achtzig. Der Renault sauste links vorbei. Ich beschleunigte, und zwei Minuten später hatte ich ihn wieder. Mit knappen siebzig kroch er über die Straße. Ich war kaum vorbei, als er wieder anzog und mir hinterher jagte. Ich veränderte die Taktik und testete, wieviel aus einem Golf rauszuholen ist. Bei hundertsiebzig dachte ich an Riebls Gesicht, wenn ich ihm sein Auto ohne Türen zurückbringen würde. Ich drosselte auf hundertdreißig und gewöhnte mich an die Scheinwerfer des Renaults. Bei der Ausfahrt Frankfurt-West steuerte ich den Wagen Richtung Messe, dort gab es eine Sackgasse. Der Renault beschattete mich weiter so unauffällig wie eine Polizeieskorte. Entweder war es ein Profi, der mir angst machen wollte, oder ein Anfänger. Ich raste mit siebzig die Straße hinunter, bremste an der Ecke ab und riß das Steuer nach links. Als ich den Renault ebenso gewagt um die Ecke kommen sah, beschleunigte ich nochmal kurz und machte eine Vollbremsung. Der Teer war naß und mit glitschigem Laub bedeckt. Ich rutschte nach rechts weg und stand quer zur Fahrbahn. Mein Beschatter knallte mir mit quietschenden Reifen auf die Fahrertür. Ich sprang über den Beifahrersitz auf die Straße, rannte um den Renault herum und riß die Tür auf.

»Na, so eine Überraschung!«

Carla Reedermann starrte auf ihre Knie. Ich nahm ihren Arm und zerrte sie aus dem Wagen.

»Jetzt mal raus mit der Sprache!«

Sie versuchte meine Hände abzuschütteln, und als ich nicht losließ, fing sie an zu krakeelen.

»Laß mich los, verdammt noch mal! Nimm deine Pfoten weg, du…«

Ich scheuerte ihr eine.

»Immer ruhig bleiben. Detektivspielen ist nicht jedermanns Sache. Schon heute morgen im Gerichtssaal. Du wußtest, Anastas wollte mich engagieren. Und dann die Komödie in der Weinklitsche. Kam sich mächtig gerissen vor, der Vollmond, mit seinem ›Was, Sie kennen sich schon?‹. Wenn es irgendjemand Spaß macht, den Idioten zu spielen, mich stört das nicht. Aber ständig die gleichen Scheinwerfer im Rückspiegel, das stört mich.«

Ich ließ sie los und zündete mir eine Zigarette an. Sie rieb sich die Handgelenke. Nach einer Weile machte sie den Mund auf.

»Ich… also gut, Sie haben recht, aber…«

»Aber?!«

Sie reckte den Kopf.

»Sie haben keine Ahnung, um wieviel es bei diesem Fall geht!«

»Ach ja. Hab ich nicht?«

»Nein! Sonst wären Sie heute morgen nicht so kühl gewesen. Was meinen Sie, wie vielen Leuten es gelegen kam, daß Böllig von Grünen umgelegt wurde. Nicht, weil er eine Konkurrenz darstellte, sein kleiner Betrieb war völlig unbedeutend, sondern, weil die Chemieindustrie so ihren Märtyrer hatte. Und den brauchte sie. Die Menschen interessieren sich in letzter Zeit zu sehr für ihre Umwelt. Naturschützende Maßnahmen wurden immer massiver gefordert. Seit dem Tod von Böllig hat sich das geändert. Denken Sie nur mal an die Rheinmainfarbenwerke. Alle waren gegen das Werk im Vogelsberg. Jetzt, nach Böllig, darf es gebaut werden. Und wissen Sie, wer Aktien von Rheinmainfarben besitzt? Der Frankfurter Oberbürgermeister. Jetzt staunen Sie, was?«

»Und wie. Sowas schreiben die ja nicht im Sportteil.« Einen Moment schaute sie verwirrt.

»Sie sehen also, wer alles Interesse daran hat, daß die vier ohne Wenn und Aber verurteilt werden. Wir wollten wissen, ob wir Ihnen vertrauen können. Ich habe keine Erfahrung mit Privatdetektiven. Wir brauchen jemand, der auf unserer Seite ist. Sie hätten ja mit der Polizei zusammenstecken können. Sozusagen von ihr beauftragt, uns auszuhorchen. Dann wäre alles vorbei gewesen. Was wissen wir von Ihnen? Sie haben drei Polizisten ins Gefängnis gebracht. Das allein muß nicht soviel heißen. Ich helfe Anastas in diesem Prozeß, und es war meine Idee, Sie erst einmal zu testen.«

»Indem du mir das Auto zu Schrott fährst?«

»Tut mir leid. Ist meine erste Verfolgung. Außerdem hätten Sie nicht bremsen müssen.«

»Ach so. Und was habt ihr euch davon erhofft?«

»Wenn Sie zum Beispiel direkt zur Polizei gefahren wären, oder so. Außerdem…«

»Ja?«

»Na, ja, ich wollte wissen, wie Sie leben. Wir kennen uns kaum und wollen schließlich in so einer wichtigen Sache zusammenarbeiten. Sie haben von sich aus nichts erzählt. Mich interessiert, wo Sie wohnen, was Sie sonst so machen. Und Sie sind Türke. Das ist eine andere Kultur, und möglicherweise verstehen wir uns gar nicht… Vielleicht ist das dumm, aber ich wollte keine Überraschung erleben. Zum Beispiel, ob Sie eine Frau als Mitarbeiterin akzeptieren. Ich meine, bei Ihnen ist das nicht üblich, nicht wahr? Verstehen sie, was ich meine?«

Ich blickte auf die nasse Straße und überlegte, ob ich den Auftrag hinschmeißen sollte.

»Keinen Schimmer.«

Sie schaute hilflos drein. Langsam ging ich zum Wagen.

»Ich soll vier Leute aus dem Gefängnis holen. Wenn der Mörder noch frei rumläuft, werde ich ihn finden. Vielleicht werde ich Sie irgendwann bitten, mir einen Kaffee zu kochen, oder auch nicht. Ich mache meine Arbeit. Bis um acht bei Anastas.«

Ich rutschte über den Beifahrersitz ans Steuer, ließ den Motor an und lenkte den Wagen vorsichtig um den Renault herum. Neben Carla Reedermann blieb ich kurz stehen und lehnte mich aus dem Fenster.

»Übrigens, nicht der Oberbürgermeister besitzt die Aktien, sondern seine Frau.« Ich fuhr los. Im Rückspiegel sah ich sie noch. Ihre schwarzen Haare glänzten im Laternenlicht.

Riebl schaute traurig auf die Beule.

»Tut mir leid, Herr Riebl. War glatt. Da ist mir einer reingerutscht.«

Ich schrieb ihm Anastas’ Adresse auf. Dort sollte er sich den Schaden bezahlen lassen.

»Da leiht man mal was…«

Sanft strichen seine Finger über das zerkratzte Blech. Ich ging zu meinem Opel. Riebl hatte ihn wieder hingekriegt. Zwei Ecken weiter parkte ich den Kadett und ging in eine Wirtschaft. Es war zehn vor acht. In der Ecke saßen drei breite Männer und klopften Skat.

Der Wirt schob das Rippchen mit Kraut auf den Tisch.

Einer der Skatspieler ging an die Musikbox und drückte ›Neunundneunzig Luftballons‹. Ich habe den Text nie kapiert. Hustend begann der Wirt mitzusummen.

Wenig später zahlte ich und stand auf.

»Sach mal, Fritz, seit wann kimmt dann so ebbes in dei Wertschaft?«

Einer der Besoffenen schaute mich herausfordernd an.

»Keine Politik«, brummte der Wirt.

Ich drehte mich um und ging. Vielleicht hätte ich ihm seinen Korn ins Gesicht kippen sollen.