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Wir sahen uns in die Augen. »Damit kommen Sie nicht durch, Kessler. Ich habe immer noch Ihr verdammtes Kalenderbuch.«

Seine Augen wichen aus.

»Eine bedauerliche Geschichte, das stimmt…«, er strich sich über Stirn und Kopf, »… aber das reicht nicht, nicht bei mir!«

Plötzlich stand Slibulsky neben mir und sah ratlos in die Runde.

»Darf ich vorstellen, Kommissar Kessler, Ernst…« Slibulsky blaffte: »Halt’s Maul! Willst du, daß er mir Postkarten schreibt?« Kessler schmunzelte. Ich zog die Schlüssel zu Meyers Büro aus der Tasche und drückte sie Slibulsky in die Hand.

»Befrei den kleinen Mann da unten. Sag ihm, er sei vorläufig die Nummer Eins bei Chemie Böllig. Das wird ihm Spaß machen.«

Slibulsky nickte und verzog sich. In der Hausbar war eine mittelprächtige Flasche Bourbon. Mit einem vollen Glas ließ ich mich ins Sofa fallen und forderte Kessler auf, mir gegenüber Platz zu nehmen. Aber er blieb stehen, steckte die Hände in die Manteltaschen und fragte wie die Ruhe selbst: »Auf was warten wir?«

Ich stellte das Glas ab und zündete mir eine Zigarette an.

»Ich will Ihnen etwas über Kollek erzählen.«

»Und wenn mich das gar nicht interessiert?«

»Dann hören Sie verdammt nochmal trotzdem zu, oder ich mach Schnipsel aus Ihnen!«

Ich legte die Beine auf den Cocktailtisch und erzählte. Kessler tat gelangweilt, säuberte sich die Fingernägel und seufzte in regelmäßigen Abständen. Nur seine Augen waren hellwach.

»Am siebzehnten November neunzehnhundertneunundsechzig bekommt Barbara Böllig, neun Monate nach ihrer Heirat mit Friedrich Böllig, einen Sohn, Oliver Böllig. Man sollte meinen, ein rührender Umstand, wurde das Kind doch sozusagen in der Hochzeitsnacht gezeugt. Am zehnten Dezember, einen Monat später, wird Herbert Kollek, Leiter der Werbeabteilung der Chemie Böllig und Studienfreund Friedrich Bölligs, fristlos gefeuert. Wenig später zieht er nach Frankfurt. Oliver Böllig wiederum kommt ziemlich bald nach seiner Geburt in die Privatklinik Ruhenbrunn zu Doktor Kliensmann, wo er bis heute Wäscheklammern zusammenbaut.

Ich habe den Jungen heute besucht, er sieht seinem offiziellen Vater, soweit ich das nach Fotos beurteilen kann, nicht besonders ähnlich. Und Kliensmann bezieht seit Jahren ein überaus großzügiges Gehalt bei der Firma Böllig, obwohl er, offensichtlich, nicht einen Finger dafür rühren muß.«

»Na, da hat er’s aber gut.«

Kessler, wieder ganz Luftballonverkäufer, lächelte.

»Ich stelle mir das Ganze folgendermaßen vor: Barbara Böllig hat ihren frisch geangelten Fabrikchef noch in der besagten Hochzeitsnacht betrogen, und zwar mit Kollek. Als das Kind auf die Welt kam, wurde augenscheinlich, daß Friedrich Böllig nicht der Vater sein konnte. Und es dauerte nicht lange, da kriegte er spitz, auf wessen Konto der Junge ging. Er schmiß Kollek raus und ließ den Sohn, der ihm jeden Tag von neuem Hörner aufsetzte, verschwinden. Mit Kollek arrangierte er sich und zahlte monatlich einen Haufen Geld, damit der Doktor das Kind als schwachsinnig erklärte und es in seiner Klapsmühle behielt. Daß ich Kollek bei meinem ersten Besuch hier als Hausfreund Henry antraf, war Zufall. Erst heute, durch eine Bemerkung vom Geschäftsführer, kam ich drauf, daß Kollek mit Henry identisch sein muß. Die Beziehung zwischen Barbara Böllig und ihm hatte über all die Jahre gehalten, und das Problem Friedrich Böllig war jetzt, dank Ihrer Hilfe, gelöst.«

Kessler hob die Augenbrauen.

»Dank meiner Hilfe?«

Ich steckte mir die nächste Zigarette an.

»Kollek nahm den Platz ein, auf den er seit siebzehn Jahren scharf war. Er hatte die Frau, er hatte die Fabrik, er hatte es geschafft.«

Ich lächelte ihn an.

»Und Sie dachten die ganze Zeit, er hätte Böllig für die paar Mäuse umgelegt, die Sie, oder Ihr mysteriöser Freund OB, dafür gezahlt haben. Bis heute nachmittag jedenfalls, bis zu meinem Anruf.«

Bei OB hatte Kessler aufgehorcht. Seine Augen waren klein und wachsam.

»Nicht daß ich die Ergebnisse Ihrer mehr oder weniger…«, er hüstelte, »exakten Nachforschungen nicht zu würdigen wüßte, aber was geht es mich an?«

Er stand auf und ging bedächtig durch den Raum. Bei Henrys Leiche hob er den Zeigefinger.

»Für mich ist allein von Bedeutung, daß dieser Mann«, er berührte mit dem Schuh die Leiche, »der fünfte Mann ist, nach dem gefahndet wurde.«

Wie ein kleiner Ganove, der nichts gesehen haben will, breitete er die Arme aus. »Ich habe heute einen Tip bekommen, und so bin ich hierher gefahren. Aber die verdächtige Person wollte sich der Festnahme entziehen, und ich mußte, um eine Flucht zu verhindern, von der Schußwaffe Gebrauch machen. Leider«, er schlug bedauernd die Hände über dem Kopf zusammen, »bin ich ausgerutscht, und unglücklicherweise ging die Kugel nicht in die Beine, sondern in die Brust.«

Ich betrachtete die Leiche: »Unglücklicherweise verdammt mitten ins Herz.«

»Tja.« Er rieb sich die Hände und grinste mich herausfordernd an. »Jedenfalls ist das meine Version.«

Es war inzwischen draußen stockdunkel. Ich stand auf und machte Licht. Dann ging ich auf ihn zu.

»Vielleicht wäre Ihre Version vor dem Haftrichter gar nicht so schlecht. Aber, daß Kollek Ihr V-Mann war, und nicht irgendein Halodri, den Sie aus purem Zufall über den Haufen knallen, das läßt sich beweisen! Gestern morgen prahlten Sie doch noch mit Ihrem feinen Informationsnetz, gibt’s das heute nicht mehr?«

Ich blieb vor ihm stehen und sah ihm in die Augen. Ohne den Blick abzuwenden, flüsterte Kessler: »Das stimmt schon, aber außer Ihnen und mir weiß niemand was davon, und ich bin deutscher Kriminalkommissar, Kayankaya, und Sie sind ein türkischer Alkoholiker mit einer Lizenz für Privatermittlungen. Merken Sie was?!«

Blitzschnell holte ich die Beretta raus und bohrte sie ihm in den Wams. Mit der linken Hand packte ich ihn am Kragen. »Merken Sie was?!«

Dann zog ich ihm seine Kanone aus der Manteltasche, und ließ ihn los.

»Sie haben Glück, ich hätte gut Lust, Ihre Visage zu behandeln, aber ich will mit Ihnen heute noch zum Staatsanwalt. Und die Böllig kommt auch mit.«

Ich drehte mich um.

»Wo ist sie überhaupt? Ihre Limousine steht doch vor der Tür.«

Kessler streckte sich im Sessel aus.

»Barbara Böllig ist zum Tee. Da liegt ein Zettel.« Er zeigte aufs Regal. Ich nahm das Papier und las: »Bin bei Scheigel zum Tee. Sie hat Lunte gerochen. Werde sie zur Vernunft bringen. Bis später, BB«. Ich hechtete zum Telefon, riß mein Notizbuch raus und wählte die Nummer von Scheigels. Niemand hob ab. Im selben Moment tappste Slibulsky herein und berichtete vergnügt: »Der kleine Mann lag da und zitterte wie ein Fisch. Der ist vielleicht geflitzt… Habe noch nie jemand gesehen, der so glücklich war.«

»Schnauze! Hier!«

Ich warf ihm Kesslers Ballermann in die Arme. Verblüfft fing er die Kanone auf und sah mich mit großen Augen an.

»Paß auf ihn auf! Und wenn er sich davonmachen will, schieß ihm in die Beine!«

Ich blitzte den deutschen Kriminalkommissar an. Slibulsky machte den Mund auf und blickte kopfschüttelnd hinter mir her. Auf halbem Weg hatte ich eine Idee. Ich raste zurück in den Bungalow und warf mich vor den verdutzten Gesichtern der beiden aufs Telefonbuch. Wie war der Name? Kasz… Kasz… Kaszmarek. Nina Kaszmarek, Am Südhang fünf. Ich wählte die Nummer. Besetzt.

»Kessler, geben Sie mir Ihre Autoschlüssel!« Er spitzte die Lippen. »Muß ich das?«

Mit zwei Sätzen war ich bei ihm, und mit zwei Kinnhaken ging er zu Boden. Mit den Schlüsseln in der Hand erteilte ich Slibulsky noch eine Lektion, wie mit dem Kommissar umzuspringen sei, und rannte hinaus zum Auto. Wie der Teufel fuhr ich die Auffahrt hinunter, übers Fabrikgelände auf die Hauptstraße in die Stadt. In einer Kneipe fragte ich nach dem Südhang. In südhessischer Schnelligkeit erklärte man mir den Weg, und ich sprang wieder hinters Steuer. Der Südhang lag etwas außerhalb und war eine weniger gelungene Wohnungsbeschaffungsmaßnahme aus den sechziger Jahren, hohe, gelbe Häuser mit Einbis Dreizimmerappartements, schmale Rasenflächen davor und ein aufgeräumter Kinderspielplatz dahinter. Es gab einen Fahrradweg, für jeweils drei Häuser einen Grillplatz, EDEKA, einen Eissalon, ein Schild ›Hunde an der Leine führen‹ und an jeder Straßenlaterne einen Papierkorb.

Ich hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus Nummer fünf, rannte zur Tür und drückte die Klingelpalette. Eine dünne Stimme fragte durch die Sprechanlage: »Wer ist da, bitteschön?«

» Katastrophenschutz!«

»Ohgottohgott!«

»In wenigen Minuten geht das Atomkraftwerk Biblis hoch!«

»Aha!«

Ich wartete, daß sie aufdrückte, stattdessen fragte sie: »Soll ich die Fenster schließen?«

Sie solle mir vor allen Dingen erst einmal die Tür aufmachen, brüllte ich, sprang dann wie ein Wahnsinniger die Treppen hoch und spürte, es war zu spät.