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Im Wachraum des CID, Abteilung Ost, der bei warmem Wetter sofort stickig und heiß wurde, saß Fred Rowan vor einer alten Schreibmaschine und tippte an einem Formular T21: Vorstrafen von Untersuchungshäftlingen. Dann war er fertig und zog das Blatt aus der Maschine. Er las es noch einmal durch und verbesserte ein paar Tippfehler sorgfältig mit Tinte. Kriminalinspektor Fusil hielt sehr viel von sauber getippten Berichten. Heute hatten die meisten Polizeiabteilungen zivile Sekretärinnen, die wenigstens einen Teil des Routinekrams erledigten, doch Fortrow hatte nicht einmal genug Geld für die wichtigsten Dinge, geschweige denn für derartige Nebensächlichkeiten. Die einzige Hilfskraft in ihrer Abteilung war Miss Wagner, und die arbeitete selten für jemand anders als Fusil. »Willst du heute überhaupt nicht Schluß machen?« fragte Welland.
Rowan sah auf und blickte Welland an, der Nachtdienst hatte und sich in einem Sessel flegelte. »Ich hatte einen Haufen T21 zu tippen«, sagte er.
»Wenn du so spät gern noch tippst, könntest du meinen Dienst übernehmen.« Welland grinste. Er war ein großer, fröhlicher, lauter Mann, der sich selten über etwas Sorgen machte.
Rowan legte das halbe Dutzend Formulare auf einen Haufen und klammerte sie zusammen.
»Ich sage dir, Fred, Molly ist ziemlich wütend, weil ich Nachtdienst machen muß. Sie kann ganz schön bissig werden.« Welland klang, als ob er das genösse.
Alle Frauen können sticheln wie ein ganzes Paket Nadeln, dachte Rowan, wenn sie erst mal verheiratet sind.
»Na, wenn du dich schon nicht für mich opfern willst, trink wenigstens ein Bier für mich mit.« Welland seufzte. »Es gibt doch keinen schöneren Anblick als einen vollen Bierkrug, an dem der Schaum runterläuft. Ich fühle direkt, wie es mir durch die ausgedörrte Kehle rinnt.«
»Ein billiges Vergnügen«, meinte Rowan in dem Versuch, einen Scherz zu machen.
»Da wir gerade vom Bier reden. Ich war mal in einem Pub, da …« Das Telefon auf Rowans Schreibtisch klingelte. Rowan machte keine Anstalten, den Hörer abzunehmen. Zögernd stand Welland auf und hob ab. »CID … Ja … in Ordnung, Sergeant. Ja, ja, sofort, wie Sie gesagt haben.« Er warf den Hörer auf die Gabel und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Sie haben einen Typ zum Verhör gebracht, der im Gebrauchtwagenmarkt in der Pikestaff Road rumgeschnüffelt hat. Der muß ganz schön blöd sein. Jeder weiß doch, daß die Karren mehr als schrottreif sind. Ein Bekannter von mir war so verrückt und kaufte sich dort ein Auto, und nach einer Woche …«
Rowan hörte nicht mehr zu. Er räumte seinen Schreibtisch fertig auf, wünschte gute Nacht und ging. Welland blieb, wo er war. Offensichtlich hatte er keine Lust, ins Verhörzimmer zu gehen, wo der Verdächtige auf ihn wartete.
Rowan ging über die Hintertreppe in den Hof, wo sein blauer Mini stand. Er hatte ihn zwar gebraucht gekauft, doch der Händler hatte ihm drei Monate Garantie gegeben. Heather hatte ihn zu dem Kauf überredet und ihm mit zweihundert Pfund ausgeholfen. Selten stieg er in den Wagen, ohne kurz und mit bitterem Gefühl zu überlegen, aus welcher genauen Quelle diese zweihundert Pfund stammten. Manchmal verfluchte er sich im stillen, weil er schwachgeworden war und das Geld angenommen hatte.
Er wartete auf eine Lücke im Verkehr und fuhr vom Hof. Er gab Gas. Für ein oder zwei Sekunden bildete er sich ein, in einem Ferrari Dino zu sitzen, mit röhrendem Auspuff, Tourenzähler … Bis vor ein paar Jahren hatte ihn seine lebhafte Phantasie häufig über die Realität des Lebens hinweggetröstet. Dann hatte er gelernt, sich zu beherrschen, soweit er das konnte, denn es schmerzte zu sehr, wenn er an Heather dachte. Jetzt träumte er nur mehr selten davon, daß er in einem GT säße oder das große Los gezogen und eine riesige Jacht gekauft hätte und am Mittelmeer lebte.
Der Verkehr war ziemlich schwach, er war bald zu Hause.
Sein Zuhause war eine Dienstwohnung, ein kleines häßliches, aber bequemes Haus. Vor drei Jahren hatte er die erste Abzahlung geleistet, in zweiundzwanzig Jahren würde es ihm gehören. Falls er es da noch haben wollte. Eine Garage gab es nicht, er parkte am Randstein.
Er schloß mit seinem Schlüssel die Haustür auf. Als er in die Halle trat, tauchte Mrs. Pritchard aus dem Wohnzimmer auf. »Guten Abend, Mr. Rowan. Hatten Sie viel Arbeit heute?« Mrs. Pritchard war Ende Fünfzig, eine mütterliche Frau, deren Mann vor kurzem gestorben war. Ihre Witwenrente war nicht hoch, und auch sonst verdiente sie nicht viel, so daß sie froh war, wenn sie Kinder hüten konnte.
»Ja, es war viel los«, antwortete er kurz. Obwohl er es immer wieder versuchte, glückte es ihm selten, freundlich zu ihr zu sein. Nicht, daß er sie nicht mochte – man mußte Mrs. Pritchard einfach gern haben –, doch wenn sie im Haus war, bedeutete dies, daß Heather nicht da war.
»Wie ich immer sage, die Leute geraten in Schwierigkeiten, wenn sie nichts zu tun haben und die Zeit vertrödeln können. Mein George pflegte zu behaupten, daß durch die Abschaffung der Todesstrafe die Leute direkt herausgefordert werden. Er hatte recht, wissen Sie. Die riskieren ja nichts mehr! Kürzlich wurde eine alte Frau aus meiner Nachbarschaft im Park niedergeschlagen, und alles, was sie erwischten, war ein Pfund. Sie haben sie niedergeschlagen wegen einem Pfund!« Manchmal, dachte Rowan, tun sie’s auch bloß, weil’s ihnen Spaß macht. »Ja, das ist wirklich unerhört«, antwortete er. »Wie geht’s Tracy?«
»Ganz ordentlich, Mr. Rowan, ganz ordentlich.«
»Was soll das heißen?« fragte er scharf, weil er sich plötzlich Sorgen machte.
»Ach, ihr fehlt nichts. Sie platzt ja vor Gesundheit!« Mrs. Pritchard zögerte und blickte Rowan durch ihre dunkle Brille nervös an. »Sie war nur ein wenig unruhig. Das ist alles. Ich habe ihr ziemlich lange vorgelesen.«
Das arme Kind, dachte er, als wäre Tracy ein fremdes Kind und nicht seine Tochter. Tracy war fünf Jahre alt, bald wurde sie sechs, und spürte immer mehr, daß zwischen ihren Eltern nicht alles stimmte, was sich in Zornausbrüchen, Schreikrämpfen und Bettnässen verriet. Der Arzt hatte ihnen sehr deutlich erklärt, daß seiner Meinung nach nur die Eltern an ihrem Zustand schuld seien.
Mrs. Pritchard hatte Angst, zu deutlich gewesen zu sein, und meinte deshalb hastig: »Gerade bin ich oben gewesen. Sie schläft und sieht aus wie ein Engel. Sie wird mal eine Schönheit, und Sie werden Mühe haben, ihre Verehrer abzuwimmeln, Mr. Rowan.« Sie kicherte.
Wenn Tracy ihrer Mutter nachschlug, dachte er, dann wurde sie so hübsch, daß es für zwei reichte. Hoffentlich würde sie ihrem Mann mal weniger Kummer machen als Heather ihm. Wenn Heather nur nicht so verdammt gut aussehen würde, daß sich jeder Mann den Hals nach ihr verrenkte. Dann würde sie auch nicht für Reklamefotos posieren, mit nichts oder fast nichts am Leib …
»Tja, dann gute Nacht, Mr. Rowan. Hoffentlich bleibt das Wetter schön. Babs kommt mich morgen holen. Ich bleibe eine Weile. Die Zwillinge habe ich seit Monaten nicht gesehen, es ist so aufregend zu beobachten, wie …«
Er murmelte ein paar Worte, um sein Interesse am Besuch bei ihrer Tochter zu demonstrieren, die ihre Mutter aus unbekannten Gründen so selten wie möglich sah, und wünschte Mrs. Pritchard gute Nacht.
Im Wohnzimmer goß er sich einen Gin-Tonic ein. Der Farbfernseher lief, und er schaltete ihn aus. Er haßte alle Dinge, die verrieten, wieviel Geld Heather verdiente, doch er besaß nicht genug Energie, dagegen zu protestieren. Heather schalt ihn deswegen häufig einen Dummkopf. Wenn sie das Glück hatten, ihr Leben im Vergleich zu andern Polizisten etwas luxuriöser zu gestalten, warum nahm er das nicht einfach als Tatsache hin? Er brachte es nicht fertig, ihren Beteuerungen zu glauben, daß sie keinen Freund habe. Jetzt machte sie sich nicht mehr die Mühe, sich gegen seine Anschuldigungen zu wehren. Er wußte nicht, ob sie so reagierte, weil er ihr ihre Lüge doch nicht glaubte oder weil sie es satt hatte, die Wahrheit zu sagen, die er doch nur für eine Lüge hielt.
Er trank sein Glas aus und schenkte nach. In letzter Zeit trank er immer mehr. Häufig, wenn er betrunken war, schwor er, sich scheiden zu lassen, weil er die Nase voll hatte, ein für allemal. Aber er schaffte es nie, diesen Schwur auch zu halten, denn er liebte seine Frau immer noch.
Heather kam um halb zehn. Sie war groß, schlank und hatte gelernt, sich zu jeder Zeit mit Anmut zu bewegen, was bei ihr vollkommen natürlich wirkte. Sie hatte dunkelblaue Augen und rotes Haar. Ihr Gesicht war oval, etwas unregelmäßig und sehr fotogen. Ihre Fotos hatten alle etwas Großäugiges, Winddurchwehtes, als kämpfe die erste Leidenschaft mit der noch unschuldigen Seele.
Rowan wartete, daß sie etwas sagte, doch sie schwieg.
»Du kommst spät«, meinte er.
Sie warf einen Blick auf ihre schmale goldene Armbanduhr. »Eigentlich nicht.« Sie ließ ihre Handtasche auf die Couch fallen und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Dann schüttelte sie sich, als genösse sie es plötzlich, frei und unbeobachtet zu sein.
»Es ist schon nach halb zehn!«
Sie seufzte. »Es war eine lange, ermüdende Sitzung. Es wollte einfach nicht klappen. Gieß mir doch einen Whisky ein, bitte!« Sie setzte sich auf die Couch, streckte Arme und Beine von sich und schloß die Augen.
Er steckte voller Fragen. Wann hatte diese »Sitzung« begonnen? Warum hatte es nicht »geklappt«? Hatte sie nicht zu Mrs. Pritchard gesagt, daß es ziemlich spät werden würde? Wieso konnte sie das vorher schon wissen, außer …
Sie öffnete die Augen, betrachtete ihn prüfend und fragte müde: »Kriege ich nun den Whisky, oder soll ich mir ihn selbst holen?«
Er ging zum Flaschenschrank. Sie hatten nur ein paar Sätze miteinander geredet, und schon stand wieder soviel Mißtrauen zwischen ihnen, daß der restliche Abend in Bitterkeit und Groll verstreichen würde. Er goß den Whisky ein und ging in die Küche, um Eis zu holen. Gleich darauf kehrte er zurück und reichte ihr das Glas.
»Ist mit Tracy alles in Ordnung?« fragte sie.
»Sie schläft jetzt. Mrs. Pritchard hat gesagt, daß sie zuerst ziemlich unruhig war.«
Heather preßte die Lippen zusammen, und plötzlich lag ein Anflug von Stärke und Halsstarrigkeit auf ihrem Gesicht. »Wenn du nicht immer soviel streiten würdest, in ihrer Anwesenheit – du weißt, was der Arzt gesagt hat.«
»Zum Streiten braucht es immer zwei.«
»Nicht in diesem Haus.« Sie trank. »Gibt’s nichts im Fernsehen?«
»Als ich nach Hause kam, nicht. Ich habe es abgestellt.«
»Sei doch nicht so umständlich!« Sie stand auf und schaltete den Apparat ein. Es lief ein Reisebericht, den sie früher schon einmal gesehen hatten.
»Gefällt er dir wirklich?« fragte er mit einem Ton in der Stimme, als könne sie das unmöglich ernst meinen.
»Warum nicht?« sie sah mit ungewöhnlich großer Aufmerksamkeit zu.
Nach einer Weile fragte er: »Essen wir nicht zu Abend?«
»Willst du damit sagen, daß du noch nicht gegessen hast?«
»Natürlich habe ich auf dich gewartet.«
»Warum sagst du das nicht gleich? Wir haben mal eine Pause gemacht und irgendwas runtergewürgt. Ich habe keinen Hunger.«
»Du hast also nicht den ganzen Nachmittag und Abend gearbeitet?«
Sie überhörte die spitze Frage. Er trank seinen vierten Gin-Tonic aus. Verzweifelt wünschte er sich, daß es ihm gelingen würde, die Schranken zwischen ihnen niederzureißen. Wenn er nur die richtigen Worte fände! Doch er wußte, daß er es nicht konnte. Bitter überlegte er, ob sie alle Liebe und Achtung für ihn verloren hatte. Das konnte doch nicht gut möglich sein, denn sonst hätte sie ihn verlassen, mit Tracy. Doch wenn sie ihn immer noch liebte, warum hörte sie nicht auf zu arbeiten, warum hörte sie nicht auf, ihren Körper für Fotos zu verkaufen?
»Hör auf, wie ein Märtyrer auszusehen«, sagte Heather. »Du wirst nicht verhungern! Ich mache dir etwas zu essen, wenn die Sendung vorbei ist.«
Er hätte ihr sagen können, daß er so dreinsah, weil er Angst hatte, sie zu verlieren, doch er sagte es nicht.
Die Ashdowne Road lag in Pendleton Bray, einem Vorort im Nordwesten von Fortrow, und war weit weg vom Hafen, sowohl was die Entfernung betraf, als auch ihre Eigenart. Fast alle Häuser waren vor fünfzig bis sechzig Jahren gebaut worden, als es noch billige Dienstboten gab, und hatten viele Zimmer und große Gärten. Die Gemeinde gehörte der englischen Hochkirche an, und die Osterkollekte war immer höher als die in den anderen beiden Kirchen der Stadt. Die konservative Partei hatte hier ihre meisten Anhänger, und die Ortsgruppe großen Einfluß. Es gab nur wenig Läden im Viertel, weil die meisten Leute entweder im Stadtzentrum von Fortrow oder in London einkauften.
Ed Murphy wohnte im Tranmere House, einem der größten Häuser in der Gegend, umgeben von einem riesigen Park. Es wirkte ziemlich protzig, wie ein Herrenhaus mit zu wenig Land, doch Alter und Wetter hatten ihm einen gewissen Charme verliehen. Ed Murphy hatte einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlt, kurz bevor die Grundstückspreise in schwindelnde Höhen kletterten, und die Nachbarn fanden, daß er mehr Geld als Verstand haben müsse. Nach der Preisexplosion hielten sie ihn für einen ganz gerissenen Geschäftsmann. Er spendete großzügig für alle möglichen Hilfsorganisationen und war auch privat nicht kleinlich. Er erhielt selten Besuch, doch manchmal konnte man ihn mit einer Frau im Park beobachten. Sie waren alle auffallend hübsch, manchmal sogar zu auffallend. Doch als reicher Witwer konnte er sich so etwas erlauben. Das war die allgemeine Meinung. Diejenigen, die ihn kennengelernt hatten, erzählten, daß er sehr freundlich sei, überhaupt nicht hochmütig oder rechthaberisch. Allgemein fand man, daß er genau der Typ von Mann war, der in die Ashdowne Road paßte.
Murphy war zweiundfünfzig Jahre alt. Er turnte sehr viel, trank wenig, und so war sein Körper straff und sehnig. Zwar war er mittelgroß, doch er zog sich etwas zu modisch an, was ihn irgendwie kleiner erscheinen ließ. Er hatte graues Haar, das immer frisch geschnitten aussah, ein rundes Gesicht, das meistens etwas traurig wirkte, und einen lüsternen Mund mit einem kleinen Bärtchen darüber. Seine blaugrauen Augen schienen je nach der Beleuchtung die Farbe zu verändern und waren sehr wachsam. Kein Mensch hätte ihn für einen Dummkopf gehalten.
»Wissen wir nicht mehr als das?« fragte er Jarrold.
Jarrold spielte mit seinem Glas. »Nein. Ed. Sonst nichts.«
Murphy steckte eine Zigarette in den kurzen, goldverzierten Elfenbeinhalter und zündete sie mit denselben präzisen Bewegungen an, mit denen er alles tat. »Es muß doch möglich sein, genauere Einzelheiten zu erfahren«, meinte er schneidend.
Jarrold kratzte mit dem rechten Schuh über den teuren Teppich, der fast den ganzen Parkettboden des Wohnzimmers bedeckte. Er starrte aus dem Fenster in den Garten und beobachtete, wie der Gärtner in den Rosenbeeten zu jäten begann. »Ich habe alles probiert, Ed. Ich habe mich genau umgehört und sogar einen Mann hingeschickt. Es ist wie verhext, es gibt nichts Greifbares. Der Mann sitzt auf Mallorca im Knast, und niemand weiß genau, warum.«
»Weil keiner die richtigen Fragen an den richtigen Orten stellt.«
Jarrold sah ärgerlich aus. Er war ein Faß von einem Mann mit entsprechendem Gesicht. Seine Kraft war erschreckend. Er war Berufsringer gewesen und konnte heute noch einem Mann die Lungen eindrücken, ohne daß er dabei ins Schwitzen geriet.
»Wir müssen einfach wissen, was los ist«, sagte Murphy. Er hatte seine Stimme nicht erhoben, trotzdem klang es so. »Wenn irgendwo eine undichte Stelle ist, muß sie verstopft werden.«
»Vielleicht war alles nur Zufall, Ed. Vielleicht hat sich Longman besoffen, und die Bullen haben ihn einfach eingelocht. Die fackeln nicht lange in Spanien. Sie werfen dich erst ins Gefängnis und fragen später.«
»Natürlich!« In dem geduldigen Ton von Murphys Stimme schwang der leise Vorwurf mit, daß er mit solchen Allgemeinplätzen seine Zeit in Anspruch nahm. »Trotzdem – Titch. Es kann ein Riß im System sein. Vielleicht hat die Polente geglaubt, die Übergabe hat stattgefunden und sie könnten Longman auf frischer Tat ertappen. Wir müssen einfach wissen, was passiert ist, so oder so!«
Jarrold trank seinen Whisky aus, kreuzte die Beine und lehnte sich auf der Ledercouch zurück, die ein geisterhaftes Stöhnen von sich gab, als er sein Gewicht verlagerte. »Es wird nicht einfach sein, Ed!«
»Nichts ist einfach, außer sich zu beklagen. Du wirst es schon schaffen, Titch! Beeil dich!«
War das nun eine Drohung oder ein überraschender Vertrauensbeweis? Jarrold war sich nicht darüber klar. Er starrte in sein leeres Glas. Murphy würde ihm kein zweites anbieten, das wußte er.
»Wer hat Longman ausgesucht?« fragte Murphy nach einer Weile.
Jarrold versuchte vorzubeugen. »Er wurde genau überprüft …«
»Natürlich, sonst wäre er nicht ausgesucht worden. Wer hat ihn nun ausgesucht? Wer hat Mist gemacht?«
»Bill!« gestand Jarrold. »Man kann sich doch mal täuschen, Ed! Bill hat bisher nie einen Fehler gemacht!«
»Das genügt eben nicht.« Murphy strich die Asche in einem kleinen silbernen Aschenbecher ab. »Paß auf ihn auf, Titch! Wir können uns Leute, die Fehler machen, nicht leisten.« Er steckte die elfenbeinerne Zigarettenspitze in den Mund, machte einen Zug und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher entweichen. »Wir können es nicht wagen, den Kontakt noch einmal zu benützen, bis wir über Longman Gewißheit haben.«
»Angenommen, er hat gequatscht: Er hätte den Polypen von unserer Quelle doch gar nichts erzählen können!«
»Auf jeden Fall hätte er zugegeben, daß es eine gibt.« Murphy dachte an das viele Geld, das er investiert hatte, und Zorn stieg in ihm auf, den er sofort unterdrückte. Die Dummheit eines einzigen Mannes, sein Verrat oder Betrug, konnte alles gefährden. Wenn diese Geschäftsverbindung storniert werden mußte, würde der Großhändler in Hongkong nur sehr zögernd wieder mit ihm arbeiten. Das wenigste, was passierte, würde eine unerhörte Verteuerung des reinen Heroins sein. Dann würden sich die Amerikaner, die den Markt aus der Ferne mit rücksichtsloser Tüchtigkeit dirigierten, fragen, ob man ihn weitermachen lassen oder seinen Laden schließen sollte.
»Wenn die Polizei erfährt, daß wir da einen Draht haben, so ist das noch nicht tödlich«, beharrte Jarrold. »Jeden Tag werden irgendwo neue Beziehungen geknüpft oder zerstört.« Er zog ein riesiges weißes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von den rosigen Backen und dem Doppelkinn.
Murphy machte sich nicht die Mühe, ihm den Unterschied zwischen Allgemeinweisheiten und genauem Wissen zu erklären. Jarrold war nützlich auf dem Posten, den er ihm gegeben hatte, aber er brauchte immer jemand, der ihm die Befehle gab. Nicht, daß er dumm war, aber er hatte die fatale Neigung zu glauben, was er gern glauben wollte. Murphy rauchte schweigend und starrte blicklos auf den riesigen Kamin mit dem verzierten Marmorsims. »Wir brauchen einen Kontakt zur Polizei, damit wir rauskriegen, was sie wissen«, meinte er schließlich.
Jarrold nickte unsicher.
»Kümmer dich darum! Außerdem möchte ich Pete sprechen. Mal hören, was er zu sagen hat. Inzwischen muß ich die nächste Sendung stornieren. Ich werde New York erzählen, daß wir uns neu organisieren und deshalb ein wenig mehr Zeit brauchen. Hongkong werde ich die gleiche Geschichte auftischen.«
»Glaubst du nicht«, wandte Jarrold etwas schüchtern ein, »daß die in New York inzwischen Bescheid wissen?«
»Wieso denn? Der Kontaktmann war so vernünftig, nach Hongkong abzuhauen und um neue Anweisungen zu bitten … Das wär’s Titch, okay!«
Jarrold stand auf. Trotz seiner massiven Gestalt bewegte er sich mit erstaunlicher Leichtigkeit, ja sogar mit Anmut.
»Daß mir nicht noch mal so was wie mit Longman passiert«, sagte Murphy.
Jarrold verließ das Wohnzimmer. Als ob er es geahnt hätte, stand einer der beiden Pakistani, die Murphy als Diener angestellt hatte, in der Halle, um ihm die Tür zu öffnen, schweigend, mit einem würdevollen Lächeln. Er und sein Landsmann sahen aus wie Brüder, doch irgend jemand – Jarrold wußte nicht mehr, wer – hatte ihm erzählt, daß sie nicht miteinander verwandt waren. Es waren ruhige, freundliche, respektvolle kleine Männer. Aber Jarrold wußte, daß sie zumindest zwei Leute ermordet hatten, die Murphy aus dem Weg hatte haben wollen.