8
Wenn Rowan gefragt worden wäre, ob er der Polizei so treu diene wie ein Soldat seinem Vaterland, hätte er nur Spott und Beleidigung als Antwort gehabt. Er gehörte nicht zu den Leuten, die ihre Gefühle auf der Zunge trugen. Doch tatsächlich war es so, daß er genau wie ein Soldat ein gewisses seltsames Gefühl des Stolzes und des Glaubens an seinen Beruf hatte. Auch nur in einer Kleinigkeit zu betrügen war für ihn soviel, wie die ganze Sache zu verraten.
Als Rowan den Waschraum betrat, stieß er auf Kerr. Rowan hatte ihn oft um seine Fähigkeit beneidet, immer nur das Schöne zu sehen und zu genießen, doch Kerr war ein viel zu fröhlicher Mensch, als daß er Rowan sein unfreundliches Benehmen lange nachgetragen hätte. Kerr dachte nur an das Heute, was gestern gewesen war, interessierte ihn nicht. Es war typisch für ihn, daß er Rowan bei seinem Erscheinen sofort fragte, was er an einem Sonntag vormittag im Büro zu suchen habe. »Sag bloß nicht, der Alte hat das angeordnet!« fügte er hinzu.
»Nein.«
»Wie schade!« Kerr feixte. »Der miese Sonntagsdienst wäre nicht so schlimm, wenn andere auch drunter leiden müßten.« Rowan ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. »Ich möchte nur ein paar Dinge aufarbeiten, die zu lange liegengeblieben sind.«
»Doch nicht freiwillig?«
»Erraten.«
»Du bist verrückt!«
»Vielleicht.« Rowan sah auf seine Armbanduhr. »Ich bin mindestens eine Stunde hier. Warum machst du nicht eine Pause?«
Das brauchte man Kerr nicht zweimal zu sagen. Er erklärte, er ginge in die Kantine, und verschwand.
Rowan starrte das Telefon an. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder wurde er zum Verräter, oder er blieb ehrenhaft und wehrte sich gegen die Gangster. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellte, würden sie vermutlich ihre Drohung wahrmachen und die Beweise von Heathers Drogenschmuggelei der Polizei übergeben. Heather würde vor Gericht kommen und auf schuldig plädieren, wobei sie als mildernde Umstände anführen konnte, daß sie durch die angedrohte Veröffentlichung gewisser Fotos dazu gezwungen worden war. Bei strikter Auslegung der Gesetze änderte die Tatsache, daß man sie erpreßt hatte, nichts an ihrer Schuld, doch der Urteilsspruch würde milder ausfallen. Alles Beweismaterial würde dem Gericht vorgelegt werden, und die Öffentlichkeit würde erfahren, daß Heather nackt fotografiert worden war, zusammen mit einem Mann! Die Leute dachten immer das schlechteste, auch wenn sie keinen Grund dazu hatten … Heathers Behauptung, daß sie auf einen gemeinen Trick hereingefallen sei, würde man nicht glauben, sondern nur darüber spotten … die Leute würden ihn anglotzen und überlegen, wie er sich als betrogener Ehemann so fühlte … in den Sonntagszeitungen würden lange Berichte erscheinen, die bis ins Kleinste beschrieben, was geschehen war …
Wenn er zu Fusil ging und ihm alles erzählte – konnte er dadurch die Gerichtsverhandlung vermeiden? Nein. Heroinschmuggel konnte und durfte nicht vertuscht werden … die Gerechtigkeit mußte ihren Lauf nehmen … es war nicht schwer, sich auszumalen, was für gemeine Bemerkungen die Kollegen machen würden … nein, er konnte Heather solch einer Erniedrigung nicht aussetzen …
Wenn er tat, was der Mob verlangte, und sich die Information beschaffte, richtete er denn tatsächlich Schaden an? Kein Mensch konnte im Ernst behaupten, daß er das Recht verletzte, nur weil er jemand erzählte, warum ein Mann im Gefängnis saß. Natürlich würde es Verrat sein, aber praktisch gesehen völlig unbedeutend. Was für Folgen seine Tat nach sich ziehen konnte, daran wollte er nicht denken, denn er konnte es einfach nicht zulassen, daß man Heather vor allen Leuten erniedrigte – koste es, was es wolle. Vor allem, weil er selbst sie mit seiner Eifersucht und seinen Zweifeln so gequält hatte.
Er nahm den Hörer ab, bat die Telefonistin um eine freie Leitung nach außerhalb und wählte die Nummer von New Scotland Yard. Inspektor Fryberg, der Verbindungsmann zwischen New Scotland Yard und den übrigen Polizeidienststellen im Land, war nicht im Dienst. Sein Stellvertreter, Sergeant Teesdale, meldete sich.
Rowan bat ihn, bei Interpol anzufragen, warum die spanischen Behörden einen Engländer namens Harry Longman in Palma auf Mallorca festhielten. Er wurde am fünfzehnten des letzten Monats verhaftet. Teesdale versprach, sein Möglichstes zu tun, meinte aber, daß die Spanier ziemlich langsam arbeiteten. Rowan erklärte, es sei dringend und er werde morgen wieder anrufen.
Nach dem Gespräch lehnte er sich deprimiert in seinem Sessel zurück und merkte da erst, daß er stark geschwitzt hatte. Sein Hemd war unter den Armen und am Rücken durchweicht.
Das Telefon klingelte, und der diensttuende Sergeant meldete, daß in Ascrey Cross ein Autounfall passiert sei. Der Fahrer habe Fahrerflucht begangen. Rowan schrieb eine Notiz für Kerr.
Dann stand er auf, trat ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich rauchte er. Er hatte nicht anders handeln können. Heather zu schützen war das wichtigste, das einzige, was wirklich zählte.
Am Montag nachmittag um sechs Uhr rief Rowan wieder in London an. Sergeant Teesdale berichtete, daß die Polizei in Palma erstaunlicherweise schon geantwortet habe. Longman sei wegen Trunkenheit und tätlicher Beleidigung zweier Polizisten festgenommen worden.
Um halb neun Uhr kam Rowan nach Hause. Heather und Tracy saßen vor dem Fernseher. Er nickte Heather unmerklich zu, als diese ihn fragend ansah.
»Du gehst jetzt besser schlafen«, sagte Heather zu Tracy.
»Erst wenn die Sendung zu Ende ist!«
»Nein, gleich!«
Tracy zögerte.
»Ich komme hinauf und lese dir vor«, sagte Rowan.
Tracy beschloß, das beste aus einem so seltenen Angebot zu machen, und erklärte: »Zehn Seiten. Oder elf, wenn eine nicht voll ist.«
Rowan war einverstanden, und Tracy lief aus dem Zimmer. Sie spürte, daß ihre Eltern sich wieder vertragen hatten und war fröhlich und unbeschwert.
»Du hast die Information?« fragte Heather, sobald Tracy verschwunden war.
»Ja.«
»Mein Gott, wenn bloß nicht …«
»Laß alle Wenn und Aber, Liebling«, unterbrach er sie. »Ich habe zu oft gehört, wie Leute über vergossene Milch gejammert haben. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Immerhin … immerhin ist jetzt alles vorbei.« Heather legte den Kopf an seine Brust. »Es macht mich ganz krank, wenn ich daran denke, was es dich für Überwindung gekostet hat, so was zu tun. Ich war so feige. Ich hatte Angst, du würdest dich weigern und alle Leute würden erfahren, daß …«
»Das hätte ich nie gekonnt«, antwortete er ruhig.
Er ging hinauf und las Tracy zehn Seiten aus ihrem Buch vor, ließ es zu, daß sie ihm drei weitere abbettelte, weil ihr Eifer ihm Spaß machte, und las ihr dann noch eine Seite vor, weil die Zahl dreizehn Unglück brachte. Er deckte sie ordentlich zu, schaltete das Licht aus und ging hinaus.
Flur und Treppe waren mit einem teuren, dicken Spannteppich ausgelegt. Die drei alten Stiche von Fortrow, die an der Wand hingen, waren ziemlich wertvoll. Früher hatte er diese Dinge mit einem Gemisch aus Stolz und Verachtung betrachtet, jetzt, so fand er, waren sie alles in allem zu teuer erkauft.
Heather wartete im Wohnzimmer. Er mixte zwei Drinks, und sie tranken schweigend, in Gedanken versunken. Als das Telefon klingelte, fuhren sie erschreckt hoch.
»Haben Sie die Information?«
Rowan stellte ohne große Überraschung fest, daß die Stimme des Mannes sehr siegessicher klang. Nichts machte einem Gangster mehr Spaß, als einen Polizisten nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. »Longman hat sich in einer Bar vollaufen lassen«, antwortete Rowan, »beleidigte ein paar Einheimische, warf mit Flaschen um sich und versuchte, zwei Polizisten zusammenzuschlagen, die feststellen wollten, was los war.«
»Stimmt das wirklich?«
»Ja. Er wurde nicht wegen Heroinschmuggel festgenommen.« Der Mann am anderen Ende der Leitung sagte nichts. Nach einer Weile fluchte er und drohte: »Hören Sie, kommen Sie nicht auf dumme Gedanken!«
»Schicken Sie das Päckchen zusammen mit den Fotos her?« fragte Rowan.
Der Mann lachte rauh. »Sind Sie verrückt? Sie zappeln an der Angel! Ich habe eine Nachricht für Sie. Von jetzt an arbeiten wir zusammen. Wenn’s gut geht, geht’s Ihnen auch gut, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, sind Sie auch dran! Und für ein Gericht gibt es nichts Schlimmeres als einen bestechlichen Bullen, habe ich recht? Also, wenn Sie was hören, das uns interessieren könnte, rufen Sie die Nummer zwei-eins-zwei-drei-sechs-vier an! Geben Sie sich keine Mühe, den Inhaber der Nummer festzustellen. Sie gehört einem Mädchen, das einem Mann wie Ihnen nicht einmal guten Tag wünschen würde.« Der Mann hängte ein.
Rowan ließ den Hörer auf die Gabel sinken, kehrte zu seinem Sessel zurück, nahm sein Glas und trank es aus.
»Haben sie sich … haben sie sich geweigert, die Bilder und alles andere zu schicken?« fragte Heather mit blassem Gesicht. Er nickte, und Heather begann zu weinen. Er setzte sich neben sie auf die Couch und strich ihr tröstend über das Haar. »Sie lassen mich nicht aus ihren Krallen, Heather, sie wollen sichergehen.«
Aufmerksam lauschte Murphy Jarrolds Bericht.
»Longman wurde eingelocht, weil er sich blöde benommen hat, Ed, er hat sich besoffen und mit zwei Polizisten angelegt. Kein Mensch weiß, daß er dort war, um den Kurier zu treffen. Die spanische Polizei hat nicht mal einen Verdacht.«
Murphy starrte Jarrold in sein Mondgesicht, das vor Schweiß glänzte. Der Abend war warm, und Jarrold geriet schnell ins Schwitzen. Das war gerade noch einmal gut gegangen. »Würde er reden, Titch, wenn jemand auf dumme Gedanken käme und ihn ausfragt?«
Jarrold schüttelte den Kopf, wobei ihm zwei Schweißtropfen über die roten Wangen liefen. »So dumm ist er nicht! Schließlich hat er eine Frau.«
Murphy nickte. Nach Möglichkeit stellten sie immer Kuriere an, die Familie besaßen, weil sie dann über ein hervorragendes Druckmittel verfügten … das Geschäft konnte wieder losgehen. Frisches Heroin würde bald eintreffen! Es wurde auch Zeit. Die Vorräte waren bereits knapp, da die Nachfrage dank ihrer Bemühungen stark angewachsen war. Zwei Lieferungen würden mit dem Flugzeug kommen, eine dritte – und größere – per Schiff.
Steve Allen wurde nach sechs Wochen aus dem Krankenhaus entlassen, die erste davon hatte er auf der Intensivstation gelegen.
Während der ganzen Zeit hatte ihn niemand besucht. Er war gezeichnet, das wurde ihm in den letzten beiden Wochen schmerzlich klar, als er wieder richtig denken konnte. Er kam zu der Erkenntnis, daß, wenn er überhaupt noch eine Zukunft hatte, diese nicht in Fortrow lag. Der Mob hatte sich fest eingenistet, und man würde ihm nie verzeihen, daß er einen größeren Anteil hatte haben wollen.
Sein größtes Problem war, Geld aufzutreiben. Seine Frau arbeitete in einer kleinen Fabrik in London und verdiente ganz ordentlich, aber sie hatte ihn schon vor Jahren zum Teufel geschickt. Er versuchte, Pläne zu schmieden, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. So genau konnte er noch nicht wieder nachdenken. Er brauchte einfach Geld, um verschwinden zu können, und Margot, deren Zuhälter er gewesen war, war die einzige Hilfsquelle, welche ihm einfiel.
Nachmittags um vier stand er vor ihrem Haus. Er war ein großer Mann, doch nun wirkte er irgendwie eingeschrumpft, sein Gesicht würde nie mehr so aussehen wie früher. Außerdem hatten die Ärzte im Krankenhaus ihn gewarnt, daß seine Nieren nicht mehr richtig funktionierten. Das Dienstmädchen – sie arbeitete für alle drei Frauen, die im Haus wohnten – war zu dumm oder zu uninteressiert, um bei seinem Anblick irgendwelche Gefühle zu zeigen. Kurzatmig ging er die Treppe hinauf und blieb vor der rechten Tür im Gang stehen.
Im Gegensatz zu dem Dienstmädchen war Margot unangenehm überrascht, als sie ihn sah. Er lächelte und zeigte dabei seine schlecht passenden neuen Zähne, die man ihm statt der von Harps ausgeschlagenen eingepaßt hatte. Das Lächeln war mehr eine Grimasse. »Hallo, Margot! Ich bin eben aus dem Krankenhaus raus.«
Sie merkte sofort, daß er ein anderer geworden war, daß er erledigt war. Soweit es sie betraf, konnte er nicht mehr gefährlich werden. »Was willst du?« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich habe zu tun, Steve!«
Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
»Du kannst hier nicht rumsitzen«, bemerkte sie scharf, ihre Überlegenheit wuchs mit jeder Sekunde. »Ich habe doch gesagt, ich bin sehr beschäftigt. Was willst du?«
Er hatte auf einen herzlichen Empfang gehofft und war bestürzt – und erschrocken –, daß sie ihn so völlig fallengelassen hatte. »Ich … ich gehe weg aus Fortrow, Margot.«
Sie gab sich keine Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen.
»Ich ziehe wieder nach London.«
»Ist auch besser für dich. Da bist du sicher.«
»Ja, aber ich habe kein … ich habe nicht viel Geld.«
Beide dachten an die Zeiten zurück, wo seine Brieftasche mit Scheinen gespickt gewesen war und er das Geld ausgegeben hatte, als käme es aus der Mode.
»Ich kann dir nichts geben«, sagte sie hastig.
»Aber du hast gesagt, du bist beschäftigt, da mußt du doch …«
»Die Unkosten sind hoch.«
»Ich habe immer gut für dich gesorgt.« Er suchte nach Worten. »Die ganze Zeit, während du und ich zusammen waren …«
Plötzlich erkannte sie, daß sie billiger davonkommen würde, wenn sie ihm ein paar Pfund gab. »Ich kann dir zehn Pfund geben, dann bin ich blank.«
»Zehn? Bloß zehn?« Plötzlich stieg der alte Kampfgeist wieder in ihm auf.
»Nimm’s oder laß es bleiben!« Sie sah ihn trotzig an.
Seine Wut war bereits verflogen. »Ich brauche mehr«, bat er. »Und gleich! Es ist eine weite Reise. Du hast viel zu tun …«
»Und ich habe dir schon gesagt, daß alles sehr teuer ist. Ich verdiene nichts extra, weil das Heroin knapp ist.« An seinem verblüfften Gesicht merkte sie, daß er von dem Rauschgiftschmuggel keine Ahnung hatte und es ein Fehler gewesen war, es zu erwähnen. Hastig fügte sie hinzu: »Erst nach dem zwanzigsten gibt’s wieder welches. Bis dahin habe ich nichts extra.«
Er wollte ihr drohen, wie er es früher gemacht hatte, doch er fand nicht die richtigen Worte. Am liebsten hätte er sie beschimpft, aber er hatte Angst, sie würde ihm dann überhaupt nichts geben. Schließlich meinte er bloß: »Also, dann her mit den zehn Pfund!« Sie ging zum Schrank und nahm so, daß er es nicht sehen konnte, zwei Fünfpfundnoten aus einem Schuh. »Hier«, sagte sie. »Und jetzt verschwinde!«
Er verließ das Haus und schlenderte im warmen Sonnenschein die Straße entlang. Zehn Pfund! Zehn lausige Pfund! Früher, in den alten Tagen, hatte er soviel schon am Vormittag ausgegeben. Wieder stieg in ihm der Haß auf den Mann hoch, der ihn zusammengeschlagen hatte, und auf den andern, der den Befehl dazu gegeben hatte. Wenn er sie doch erledigen könnte! Aber er wußte nicht, wer an der Spitze stand; zwar konnte er Harps fertigmachen, doch dann wußten sie, wer es getan hatte, und würden ihn jagen. Er dachte an Vince Wraight. Den hatten sie auch umgelegt. In einem Anflug von Schlauheit fiel ihm plötzlich ein, daß er die Sache mit der Heroinlieferung am zwanzigsten ausplaudern könnte. Niemand würde ihn verdächtigen, denn Margot würde sich nicht mehr erinnern, daß sie es ihm erzählt hatte. Und wenn, würde sie schon wegen ihrer eigenen Sicherheit den Mund halten. Wenn die Bullen es erführen, würden sie die ganze Stadt nach der Lieferung durchkämmen. Das würde den Mob lehren, daß sie ihn nicht ungestraft herumstoßen konnten.