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Als ich meine Wohnung betrat, fand ich auf dem Boden hinter der Tür eine Notiz meiner Mutter. Ich dachte, sie habe beim Onkel angerufen, nachdem ich von dort abgehauen war. »Ruf mich sofort an, wenn du nach Hause kommst. Sehr dringend.« Ich fühlte mich traurig und deprimiert. Ich setzte mich in den Salon und dachte eine Weile an gar nichts. Ich verspürte den Drang zu kotzen. Ich nahm ein großes schwarzes Frottiertuch aus dem Kleiderschrank. Es duftete gut. Antonio parfümierte meine Hauswäsche mit kleinen Lavendelzweigen. Ich ging ins Bad, drehte das warme Wasser auf und kotzte Galle, dann ging ich zurück in den Salon. Ich versuchte mit dem Luziden Kontakt aufzunehmen, hatte aber erneut einen großen Blackout. Als ich wieder anfangen konnte zu denken, war das Wasser übergelaufen und floss auf den Korridor hinaus. Das deprimierte mich noch mehr. Ich hatte keine Lust, meine Mutter anzurufen, denn die Angelegenheit von höchster Dringlichkeit war sicher die, dass sie sich wieder mit der Mutter meines Sohnes in die Haare geraten war und mir vorschlagen wollte, ihn ihr wegzunehmen, damit sie ihm eine richtige Erziehung angedeihen lassen könne. Oder es ging um die Abtreibung bei einer Cousine, oder sie vermutete, mein kleiner Neffe Alfredo sei homosexuell und man müsse etwas unternehmen, bevor es zu spät war. Ich hatte keine Lust auf noch mehr Koks oder Alkohol. Ich nahm ein Mandrax und legte mich in die Badewanne. Ich schlief augenblicklich ein. Ich träumte mehrmals von Roxana. Als ich wieder aufwachte, war das Wasser lauwarm. Ich wickelte mich in das Frottiertuch und stieg ohne mich abzutrocknen in mein Zimmer hinauf. Ich legte mich in die schwarzen Laken, die mich an sie erinnerten, und klinkte mich wieder aus.
Etwa morgens um acht hörte ich die leisen Geräusche von Antonio, der sich mit der Gelenkigkeit eines Balletttänzers zwischen den Möbeln des Salons bewegte. Der Duft seines Kölnisch Wassers drang bis zu mir in den oberen Stock hinauf.
»Soll ich Ihnen einen Tee machen, Señor Tomassini? Es ist schon Viertel nach acht.«
»Ja, Antonio, bitte. Ich komme gleich runter.«
Ich streifte mir ein marineblaues Hemd über und schlüpfte in den weißen Hausmantel. Bevor ich in den Salon hinunterstieg, legte ich mir ein paar Linien, denn ich zitterte stark. Das Myelin in meinem Körper war dahingeschmolzen.
Ich hörte Antonio in der Küche und fühlte mich gleich besser.
Er kam mit dem Tee.
»Haben Sie schon mit ihrer Mutter gesprochen, Herr Tomassini?«
»Mit meiner Mutter?« Ich erinnerte mich. »Was wollte sie? Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.«
»Sie hat mir nichts gesagt. Sie bat mich, den Zettel unter Ihrer Tür durchzuschieben. Sie wissen, wie sie ist.«
»Ja, Antonio, ich weiß allerdings, wie sie ist. War sie sehr aggressiv?«
»Nein, dieses Mal nicht. Aber mir schien, sie war ein bisschen nervös.«
Ich rief meine Mama an.
»Wer spricht?«, sagte sie.
»Ich bins, dein Lieblingssohn.«
»Ich habe keine Lieblingssöhne. Ich tue mein Möglichstes, sie alle ohne Bevorzugung zu ertragen. Bist du betrunken?«
»Nein, aber warte einen Moment. Ich schenk mir rasch einen Whisky ein.«
Sie schrie etwas in den Hörer, den ich auf den Tisch legte, während ich mir den Whisky eingoss.
Ich nahm den Hörer wieder in die Hand.
»Hallo, hier bin ich wieder. Du bist betrunken!«
»Sie haben deine Tante vergewaltigt und deinen Cousin entführt. Ich belästige dich bloß, um dich zu fragen, ob du und deine Kumpels und Partner etwas für sie tun können.«
Ich hatte keine Ahnung, von welcher Tante und welchem Cousin sie sprach.
»Ist sie verletzt?«
»Sie haben ihr die Zähne rausgeschlagen und ihr das Gesicht und die Gebärmutter zerfetzt. Sie hat starke Blutungen, aber sie ist hier bei mir und wird gepflegt. Sie wurde von drei Notfallstationen abgewiesen.«
»Ich bin in zwei Minuten bei dir.«
»Zwei Minuten! Ich weiß, was das heißt bei dir.«
»Du würdest es gerne wissen. Und du hast keine Blutungen? Und deine Gebärmutter haben sie noch nicht kaputt gemacht?«
»Ich glaube, ich habe in meinem Leben dreimal die Gelegenheit verpasst abzutreiben«, antwortete sie.
Ich legte auf.
»Schlechte Nachrichten, Herr Tomassini?«
»Sehr schlechte, Antonio. Wollen Sie nicht einen Whisky mit mir trinken?«
»Es ist wohl zu früh für mich, oder vielleicht zu spät.«
»Nehmen Sie doch wenigstens einen Tee.«
Während Antonio den Tee zubereitete, wählte ich die Nummer des Kleinen.
»Hallo«, sagte der Kleine.
»Was machst du, mein Alter?«
»Bin zu Hause und spiele mit meinen Eiern«, sagte er und lachte. »Verdammter Dreckskerl, wieso hast du dir Ciprianos Schießeisen unter den Nagel gerissen? Er sucht dich im ganzen Land.«
Das Schießeisen und die Schuhe, mein Alter. Damit er erst die Schuhe finden muss, bevor er sich auf die Suche machen kann. Es gibt ein Problem mit der Jungfrau Maria.
»Ich mag es nicht, wenn du so respektlos von deiner Mutter sprichst. Was ist los?«
»Ich weiß es noch nicht genau. Bist du noch einen Moment zu Hause?«
»Ja, ich warte auf dich.«
Antonio brachte die zwei Tassen Tee und setzte sich.
»Wie viele Stück Zucker, Señor Tomassini?«
»Keines, Antonio. Ich habe keine Lust auf Tee.«
»Trinken Sie ihn in einem Zug, er wird Ihnen gut tun.«
Ich trank den Tee und einen Whisky und beschloss, Antonio mehr ins Vertrauen zu ziehen. Ich ging zum Kamin, hob den losen Backstein heraus, ließ die Schwarze in den Hosenbund gleiten und legte die Dollars in die Vertiefung.
»Señor Tomassini, ich empfehle Ihnen, immer ein bisschen mit Ruß gemischte Fugenmasse zur Hand zu haben. Die Mischung muss beinahe schwarz sein. Jedes Mal, wenn Sie den Backstein wieder in den Kaminsockel einfügen, gleiten Sie mit dem Finger den Fugen entlang. Jedes Mal, wenn ich den Kamin schrubbe, muss ich diesen Backstein heben und die Dinge herausnehmen, die sich darunter befinden. Sollten Sie eines Tages unerwarteten Besuch haben, werden sie das Versteck sofort finden. Ja, ich empfehle Ihnen sogar, das Versteck zu wechseln, denn der Kamin ist einer der ersten Orte, wo die Picoletos suchen werden.«
»Wer?«
»Entschuldigen Sie, die Picoletos sind die Männer der Guardia Civil in Spanien.«
»Sind Sie Spanier, Antonio?«
»Nein, Baske. Ich kam nach Argentinien, als ich drei war. Mein Vater wurde in Guernica und in Frankreich verwundet, aber getötet wurde er hier, vor ein paar Jahren, im Streik der Docker von Tolosa.«
Erst jetzt begann ich den Grund für Antonios unendliche Liebenswürdigkeit zu begreifen.
»Trinken Sie Ihren Tee in aller Ruhe, Antonio. Ich gehe nur rasch mal rüber und schau bei meiner Mutter rein.«
Als ich durch den Korridor zur Straße ging, hörte ich, wie Fellini sagte:
»Ah, da geht er, der Blödmann von oben.«
Ich trat hinaus, ging geräuschlos wieder hinein und knallte die Faust ein paar Mal an die Tür. Die Alte gab einen Schrei von sich, und ich verließ das Haus. Ich überquerte die Straße, nahm einen Kaffee und einen Cognac in der Bar gegenüber und stieg hoch, um meine Mutter zu besuchen.
»Dass du mich am Telefon beleidigst, das erschreckt mich nicht mehr, aber du könntest dich wenigstens ein bisschen um deine Tante kümmern«, sagte meine Mutter.
»Welche meiner Tanten wurde vergewaltigt?«
»Berta Grinberg. Ich nehme an, du hast sie nicht ganz vergessen, oder etwa doch?«, sagte sie mit einem Lächeln.
Das Blut gefror mir in den Adern. Von allen meinen Tanten war Berta die einzige, die ich liebte. Und sie liebte mich. Wir hatten eine Romanze, nachdem ihr Mann bei einem Überfall getötet worden war. Ein jüdischer Juwelier. Sein Sohn, ein militanter Linksextremist an der Philosophischen Fakultät, hatte mich nie ausstehen können. Einmal in einer Pizzeria hatte ich ihm eine Abreibung verpasst, weil er behauptete, seine Mutter sei eine Nutte.
Ich ging ins Badezimmer und zog mir ein paar Linien.
»Wer war es?«
»Ich weiß es nicht. Du wirst dir vorstellen können, dass ich diese Sorte Leute nicht frequentiere. Es würde mich nicht erstaunen, wenn dein Onkel oder seine Leute sie kennen würden.«
»Wer pflegt sie?«
»Der Baske Bercovitch. Sie wurde von drei Notfallstationen abgewiesen.«
Bercovitch war der Familienarzt. Als wir klein waren, hatte er uns die Mandeln rausgenommen, als wir größer waren, uns vom Tripper kuriert.
»Schläft sie?«
»Sie will nicht schlafen. Der Baske hat ihr Schlaftabletten gegeben, aber sie schläft nicht. Mir scheint, sie tut es absichtlich. Natürlich will sie dich um jeden Preis sehen.«
Ich klopfte sanft an die Tür und bekam eine Art Brüllen zur Antwort. Ich betrat das Zimmer. Es war verdunkelt, die Vorhänge waren zugezogen. Ich schlug die Tür ins Gesicht meiner Mutter, die mir gefolgt war.
»Berta? Ich bins, Carlitos. Bist du wach?«
Sie antwortete mit einem Heulen, das an Intensität zunahm, bis es zu einem Schrei wurde. Dann schluchzte sie. Ich ging auf das Bett zu, in dem eine Art Monster mit einbandagiertem Gesicht und Kopf lag. Ihr Mund war geöffnet, und ich sah, dass ihr alle Zähne fehlten. Ich setzte mich auf die Bettkante und umarmte sie.
»Weine nicht, meine Liebe, weine nicht. Die Verletzungen werden sich bloß verschlimmern. Ich schwöre dir bei allem, was dir teuer ist, dafür werden sie bezahlen. Ich schwöre es dir, ich werde sie persönlich abknallen. Beruhige dich, Bertita.«
»Nein! Ich will meinen Sohn wieder haben! Bitte Carlitos, ich will Leon David wieder!«
Mit ihren zerbrochenen Zähnen und den dick angeschwollenen Lippen war es schwierig, sie zu verstehen.
»Er taucht schon wieder auf, Bertita, er taucht schon wieder auf. Du musst dich jetzt um dich selbst kümmern.«
»Nein, sie werden ihn töten. Sie töten alle Kommunisten! Bitte, Carlitos, sprich mit deinem Verwandten, dem General. Der Junge hat damit nichts zu tun! So verdammte Dreckschweine können sie nicht sein! Sprich mit dem Onkel und dem Kleinen!«
»Schrei nicht so!«, schrie ich. »Du hast eine Blutung! Beruhige dich jetzt! Ich werde mich darum kümmern. Lass mich nachdenken. Du wirst sehen, wir werden ihn bald gefunden haben. In zwei Wochen wird er hier bei dir sein.«
Jemand klopfte an die Tür. Ich öffnete sie. Es war der Baske Bercovitch, ein Hüne, mit derselben Ärztetasche wie früher, genau so einer wie die im Kino.
»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich der Baske.
»Sie ist sehr nervös, Baske.«
»Geh mal raus aus dem Zimmer, ich muss sie untersuchen.«
»Brauchst du etwas aus der Apotheke?«
»Nein. Ich habe alles, was ich brauche. Geh nur ruhig.«
»Ich komme wieder, Bertita. Tu, was der Baske dir sagt.«
»Wohin gehst du?«
»Ich gehe ihn suchen, Berta.«
Meine Mutter war nicht wiederzuerkennen. Sie saß in einer dunklen Ecke, in einem unbequemen Sessel, und sah verängstigt aus.
»Wie geht es ihr, Carlitos? Oh, das arme Mädchen!«
»Hab keine Angst und pflege sie weiter. Tu, was dir der Baske sagt.«
Ich ging auf die Türe zu.
»Wohin gehst du?«, fragte meine Mutter mit zitternder Stimme.
»Ich muss zur Bank gehen. Bin gleich zurück.«