Erster Satz
Allegro ma non troppo, un poco maestoso
Mein Bruder fragte seinen Mörder, wie dieser den Mord zu begehen gedenke.
»Auf die ehrwürdige Weise«, antwortete der Inder. »Mit einem malaiischen Kris. Das ist am sichersten und geht am schnellsten. Ein einziger Schnitt genügt. Genügte noch jedesmal.«
»Gut«, sagte mein Bruder. Sie sprachen Englisch miteinander.
»Ich hatte es natürlich stets mit Menschen zu tun, die im Bett lagen oder schliefen.«
»Natürlich«, sagte mein Bruder Werner.
»Das ist die Voraussetzung«, sagte sein Mörder. »Tiefer Schlaf. So tief wie möglich. Betrunkene machen es mir leicht. Sich auch.«
»Ich werde Whisky nehmen«, versprach mein Bruder.
»Whisky ist gut«, sagte sein Mörder. Er sah viel älter aus, als er tatsächlich war: hohlwangig und ausgezehrt. Die schwarzen Augen trugen einen verzückten Ausdruck, die Zähne hatten beinahe ihre Farbe, und wenn der Inder ausspuckte, war sein Speichel rot. Er spuckte häufig aus, denn er kaute Betel. Betel macht die Zähne schwarz und den Speichel rot. Der körperliche Verfall und die beständige Glückseligkeit des Mörders waren zum kleineren Teil Folgen dieser Betelkauerei, zum größeren die eines gewiß langjährigen und gewiß enormen Konsums von Haschisch. Ein Rauschgifthändler in Kairos Altstadt hatte meinen Bruder Werner mit seinem Mörder zusammengebracht. Das war gestern gewesen, und die beiden hatten sich grundsätzlich geeinigt. Heute trafen sie einander noch einmal bei dem alten Nilometer an der äußersten Südspitze der Flußinsel Roda — um dreiundzwanzig Uhr am Mittwoch, dem 14. Dezember 1966. Es war geradezu unglaublich warm für Dezember und für eine Gegend mit im allgemeinen extremen Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht. Die beiden Männer trugen nur leichte Mäntel.
Heiter und verträumt — er sprach stets verträumt und heiter — sagte der Inder: »Ideal wären natürlich Whisky und Schlafpulver. Es gibt sehr starke.«
»Wo bekomme ich die?« fragte Werner. Er war achtundvierzig, ich fünf Jahre jünger, aber trotz dieses Altersunterschiedes sahen wir einander außerordentlich ähnlich. Wir waren beide groß und recht kräftig, wir hatten beide braunes Haar und braune Augen, hohe Stirnen, schmale Nasen, volle Lippen, breite Unterkiefer.
»Ich gebe Ihnen gern die Schachtel hier«, sagte meines Bruders Mörder. »Das Pulver liegt in kleinen Umschlägen darin. Es löst sich rasch und ist vollkommen geschmacklos. Und es beginnt schon nach zehn Minuten zu wirken … mächtig.«
»Fein.«
»Es sind zehn Kuverts in der Schachtel. Nehmen Sie den Inhalt von drei Umschlägen für eine Flasche Whisky. Wir wollen ganz sichergehen.«
»Ganz sicher«, bestätigte mein Bruder ernst.
Schwarzblau war der Himmel in dieser Nacht. Die Sterne leuchteten, als sei es noch August. Das Licht des Mondes war gespenstisch grün. Grün sah der Strom, grün sah ganz Kairo aus. Grün waren die hohen Segel der Falluka-Boote im Alten Hafen links vor der Inselspitze, grün die Sphinx und die Pyramiden von Giza zur Rechten, drüben in der Wüste. Das alte Nilometer, vor dem mein Bruder und sein Mörder standen, war umgeben von einem großen Garten. Rosen, Nelken und Oleander dufteten hier. Tagsüber kamen viele Touristen her, nachts war der Garten gewöhnlich verlassen. Kleine Scheinwerfer, unter den Büschen installiert, beleuchteten ihn romantisch goldgelb für Betrachter aus der Ferne. Heute hatten sich indessen leichte Bodennebel gebildet, und so war der grüne Mond stärker. Die Farbe des Lichtes entsprach etwa jener, die entsteht, wenn man Wasser in Pernod gießt.
Der Garten, in dem Fächerpalmen und Akazien am Rand der Kieswege wuchsen, war flach angelegt und sehr übersichtlich. Stand man vorn bei dem Nilometer, erblickte man jedes Liebespaar, jede Polizeistreife, jeden einsamen Spaziergänger schon von weitem — auch nachts. Dafür sorgten dann die vielen kleinen Scheinwerfer, heute dazu noch das Mondlicht. Wollte man selbst nicht gesehen werden, hatte man ausgiebig Zeit, die Stufen zur Kaimauer hinunterzueilen, die fünf Schritte vom Nilometer entfernt lag und sehr viele Nischen und Einlässe zu unterirdischen Kanälen besaß. Diese dienten dazu, die Insel, insbesondere ihre Spitze, zu schützen, wenn der Nil Hochwasser führte. Dann verhinderten die Gänge und Kanäle eine Überschwemmung oder gar Vernichtung von Roda: Heranbrausende Fluten wurden abgelenkt, geschwächt und verließen zuletzt friedlich und kraftlos die mannshohen Röhren, die unter einem weiten Teil von Roda verlegt waren und erst bei stillen, geschützten Buchten wieder ins Freie mündeten. Führte der Nil kein Hochwasser, gab es hier viele Möglichkeiten, sich zu verstecken oder zu flüchten. Das war der Grund, warum der Inder den schmalen Streifen zwischen Nilometer und Kaimauer für geschäftliche Besprechungen bevorzugte. Ein guter Platz, um über Mord zu reden, dachte ich. Ich stand in einer Nische der Kaimauer, fünf Meter tiefer als mein Bruder und sein Mörder. Es war wirklich eine unwahrscheinlich warme Nacht. Ich trug auch nur einen leichten Regenmantel.
Natürlich hatte der Inder, als er kam, zunächst nachgesehen, ob sich hier unten jemand verberge. Mein Bruder hatte ihm dabei geholfen. Der Mörder besaß eine starke Taschenlampe. Ich war schon eine halbe Stunde vor den beiden dagewesen. Sie hörten mich nicht, als ich aus der Nische, in der ich gewartet hatte, in das Innere des Kanalisationsnetzes hinein verschwand und mich in einer Druckkammer verbarg. Ich trug Slipper mit Gummisohlen. Sie stiegen beruhigt wieder nach oben, und ich kehrte lautlos in meine Nische zurück. Leise klatschten die Wellen gegen den Beton der Mauer. Kein Windhauch regte sich. Ich verstand jedes Wort, das über mir gesprochen wurde.
Mein Bruder fragte seinen Mörder hastig: »Also wann?«
Der Inder lachte. Er lachte häufig. Auch das hing mit dem Haschisch und dem Betelkauen zusammen.
»Sie haben es ja mächtig eilig«, sagte der Inder.
Mein Bruder hatte es in der Tat mächtig eilig, ich wußte es. Ich allerdings hatte es noch eiliger als er. Aber das wußte er nicht.
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Dieses Nilometer war mehr als elfhundert Jahre alt. Irgendwann zu Beginn des achten Jahrhunderts hatte es Kalif Soliman erbauen lassen, damit der Wasserstand des Stromes jederzeit abgelesen werden konnte. Ich bin nicht etwa so außerordentlich gebildet, ich war nur schon zweimal in Kairo gewesen und kannte mich deshalb einigermaßen aus, das ist alles. Zudem gab es Reiseführer. Ich hatte bereits vor Jahren die Kanäle und Schutzgänge unter der Insel Roda besichtigt und wußte noch, welche die besten waren. Was dieses Nilometer anging: Nach der Höhe des Wasserstandes wurden lange Zeit die Steuern errechnet, die ein jeder, der Land besaß oder bebaute, zu entrichten hatte, denn dieser Strom war (und ist) die Lebensader Ägyptens. Sein Wasser bestimmte (und bestimmt) die Erträge der Landwirtschaft und das Ausmaß der Überschwemmungen, fette Jahre und magere. Ein Tiefstand von sieben Ellen gab Anlaß zu Panik, bei einem Stand von fünfzehn Ellen wurden die Bewässerungskanäle durchstochen, und man feierte das große Glück mit großen Festen, meist gegen die Mitte des August.
Das Nilometer — längst nicht mehr in Betrieb, längst benützte man moderne Pegel — bestand aus einem sehr großen rechteckigen Brunnen, in dessen Mitte sich eine achteckige Säule mit altarabischen Maßen befand. An den Brunnenwänden standen kufische Schriftzeichen. Die Wand zum Strom hin hatte man höher gebaut als die drei anderen Wände. An ihrer Innenseite waren mehr Schriftzeichen. An ihrer Außenseite lehnten mein Bruder und sein Mörder. Von Zeit zu Zeit spie der Inder roten Betelsaft aus, entweder in den Brunnen hinab oder über die Kaimauer. Dann klatschte mir Speichel vor die Füße.
»Also wann?« fragte mein Bruder, bebend vor Ungeduld.
»Heute nicht mehr«, sagte sein Mörder. »Ich muß noch Vorbereitungen treffen.«
»Morgen?« Werners Stimme drängte.
»Morgen nacht, ja.«
»Um wieviel Uhr?« Werner stotterte leicht vor Aufregung. »Ich muß … muß … auch noch ein paar Vorbereitungen treffen, muß ich ja dann …«
Der Mörder sagte: »Pünktlich um ein Uhr nachts werde ich dasein. Das ist spät genug und doch nicht zu spät. Um zehn Uhr werden Sie mit dem Abendessen fertig sein. Um elf Uhr fangen Sie mit dem Whisky an. Dann kann ich Sie zwei Stunden später auf das beste bedienen.«
»Wie kommen Sie ins Hotel? Und wieder hinaus?«
»Das ist für Sie doch wirklich uninteressant«, meinte der glückliche Inder und lachte wieder einmal.
»Ich möchte es trotzdem wissen«, sagte mein Bruder, seltsam aggressiv.
Ich möchte es auch wissen, dachte ich in meiner Nische.
»Wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Aber ja doch.« Der Inder spie über die Kaimauer. Direkt vor meine Schuhe. »Ich komme durch die Tiefgarage Ihres Hotels.«
Er meinte das Hotel »Imperial«.
Das Hotel »Imperial« steht an der Nile Corniche, auf der rechten Flußseite, etwa zweihundert Meter oberhalb der Semiramis-Brücke, die zu der nördlichsten und größten Nilinsel im Stadtbereich hinüberführt, nach Gezireh. Das ist die vornehmste und eleganteste Gegend Kairos. Vor dem »Imperial« wachsen an den Rändern der Prachtstraße, die sehr an die Croisette in Cannes erinnert, viele große Palmen, Jacarandas, Flamboyants, Johannisbrot-, Lebbach- und Lotosbäume. Hatte man sein Zimmer an der Vorderseite des »Imperial«, dann erblickte man diese Bäume und die Corniche und die Anlegestelle für die großen, glasgedeckten Ausflugsmotorboote vor dem nahen »Shepheard’s« und auch ganz Gezireh: oben im Norden die Luxusvillen und Parks der Reichen, in der Mitte den Gezireh-Sporting-Club mit seinem Schwimmbad, den Golf-, Tennis-, Polo-, Kricket- und Hockeyplätzen, die Pferderennbahn, und im Süden, etwa in Höhe des »Imperial«, den phantastischen Andalusischen Garten, das Amerikanische Hospital und einen sehr schönen kleinen Palast. Dieser Palast hatte einmal dem fetten Faruk gehört, der hier seine in der Welt wohl einmalige Monstersammlung pornographischer Filme, Bücher, Fotos, Gegenstände und Kunstwerke aufbewahrt und seine komplizierten Partouzen veranstaltet hatte.
In einer Nische der Kaimauer der Insel Roda stehend, fünf Meter unter meinem Bruder und seinem Mörder, dachte ich in jener warmen Nacht des 14. Dezember: Wenn dieser Inder in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag um ein Uhr wirklich kommt und alles glatt geht, kann ich um halb zwei bei Lillian sein, drüben auf Gezireh, neben Faruks Palast. Sie wird dasein, das ist gewiß.
War der Mörder pünktlich, bediente er meinen Bruder wirklich bestens, kam ich mit allem, was ich dann zu erledigen hatte, zeitlich sehr gut zurecht. Natürlich konnte es dabei noch unendlich viele Komplikationen geben; aber an die wollte ich nicht denken. Mein Plan war festgelegt: der letzte, der mir noch verblieb.
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»Wieso durch die Tiefgarage?« fragte mein Bruder. Der Duft einer Zigarette kam zu mir. Werner rauchte stets, wenn er erregt war. Es hatte mich schon gewundert, bis jetzt nur den Geruch des Wassers und, flüchtig, ungewiß, den der Rosen, Nelken und Akazien wahrzunehmen.
»In der Tiefgarage kenne ich mich aus«, sagte der Inder. Er rauchte gewiß nicht. Nicht wenn er Betel kaute. Der war auch nicht aufgeregt.
»Die Einfahrt und die Ausfahrt der Garage sind auch nachts bewacht!« Mein Bruder redete jetzt schnell. »Und es arbeiten Mechaniker da unten und Leute, die Wagen waschen. Ich habe es gesehen!«
»Von der Garage führt eine Wendeltreppe hinauf zur ebenen Erde«, sagte der Inder verträumt. »Zu ebener Erde gibt es einen kleinen Lift.« Das stimmte. Der Lift war für Hotelgäste bestimmt, die ihre Wagen in die Garage gefahren hatten und nicht noch einmal auf die Straße hinausgehen wollten, um in das Innere des »Imperial« zu gelangen. »Und neben dem kleinen Lift gibt es eine Tür, die ins Freie führt.«
»Ja«, sagte mein Bruder. »Eine Stahltür. Nachts ist sie verschlossen.«
»Morgen nacht wird sie nicht verschlossen sein«, sagte der Inder kichernd. »Ich kenne einen der Wagenwäscher.«
»Ich bin beruhigt«, sagte mein Bruder.
Ich auch, dachte ich.
»Die Appartementnummer …« begann Werner, doch der Inder unterbrach ihn ungeduldig: »907. Und wie das Appartement aussieht, haben Sie mir aufgezeichnet. Noch etwas?«
»Nein. Das wäre dann wohl alles«, murmelte mein Bruder unsicher.
»Bis auf dreitausend Pfund«, sagte sein Mörder, und nun lachte er, als würde er gekitzelt.
Werner lachte mit. Er hatte verschiedene Arten zu lachen, ich kannte sie alle. Jetzt lachte er aus Angst, nur kurz, danach wurde es still. Es duftete auf einmal nach Zigarettenrauch, und ich hatte plötzlich selber Angst. Mein Bruder, dachte ich, wird sich zuletzt doch nicht noch alles überlegen? Was, wenn er seinen Mörder nicht mehr will? Wenn er ihn nicht bezahlt? Dann bleibt Werner am Leben. Dann ist mein letzter Plan mißlungen. Dann …
»Verzeihen Sie«, sagte mein Bruder dort oben bei dem Nilometer. »Das habe ich total vergessen. Selbstverständlich muß man vorher zahlen bei einer solchen Sache.«
»Wo ist das Geld, lieber Freund?« Die Stimme des Inders klang herrisch.
»Hier«, sagte mein Bruder.
»Danke, lieber Freund«, sagte sein Mörder.
»Aber …«
»Was aber?«
»Aber Sie werden nun auch ganz bestimmt … ich meine, wenn Sie das Geld haben, könnten Sie ja auch einfach verschwinden. Ich hätte nichts in der Hand gegen Sie. Oder soll ich etwa zur Polizei gehen und sagen: Gentlemen, mein Mörder hat mich sitzenlassen?«
Das belustigte den Inder wieder enorm. Er lachte glucksend. Etwas Glühendes flog über mich hinweg, auf das Wasser hinaus — meines Bruders Zigarette. Er zündete sofort eine neue an.
»Ich werde kommen«, sagte der Mörder. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Mehr kann ich nicht tun. Ich erklärte Ihnen gestern, daß ich immer das ganze Honorar im voraus verlange, weil man nie weiß, was passiert, wenn man seine Arbeit geleistet hat. Sie waren einverstanden.«
»Ich … ich bin es noch immer«, stammelte mein Bruder.
»Geschäfte wie dieses«, erklärte sein Mörder, »müssen ganz einfach auf Vertrauen beruhen. Legen Sie den Koffer hierher. Öffnen Sie ihn. Das sind also dreitausend Pfund?«
»Ja.«
»In Noten, wie ich sie verlangt habe?«
»Ja.«
Der Inder hatte das Geld in lauter Scheinen zu einem ägyptischen Pfund verlangt. Die Scheine durften nicht neu sein, und nicht zwei von ihnen durften fortlaufende Seriennummern aufweisen. Es war für meinen Bruder und seine Freunde ein hübsches Stück Arbeit gewesen, so kurzfristig dreitausend derartiger Pfundnoten zu bekommen. Ohne die Hilfe eines Bankiers hätten sie es nicht geschafft. Im Dezember 1966 entsprach ein ägyptisches Pfund nach amtlichem Kurs 9,26 DM. Mein Bruder honorierte seinen Mörder also mit rund 28000 DM.
»Ich habe die Noten nach den Serienbuchstaben geordnet«, sagte Werner.
»Das bemerke ich. Ich will davon absehen, jetzt und hier alle Nummern zu überprüfen.«
»Jetzt und hier? Das könnten Sie doch niemals!«
»Aber gewiß könnte ich es«, sagte der Inder. »Es würde eine oder eineinhalb Stunden dauern, länger nicht. Ich werde die Banknoten später untersuchen. Wenn falsche dabei sind …«
»Alle sind echt! Alle!« rief mein Bruder hastig.
Hoffentlich, dachte ich, hoffentlich.
»… dann dürfen Sie natürlich nicht mit mir rechnen.«
»Ich habe genauestens aufgepaßt!« rief mein Bruder.
Verflucht, dachte ich, hoffentlich hast du das wirklich, du Hund.
Der Inder sagte: »Sie gehen jetzt. Ich bleibe noch zehn Minuten.«
»Auf Wiedersehen«, stammelte Werner. Seine Stimme zitterte. Er war sehr aufgeregt. Ich auch.
»Wir werden uns wohl niemals wiedersehen, mein Freund«, sagte der Inder und kicherte.
Mein Bruder ging wortlos über einen Kiesweg davon.
Sein Mörder folgte ihm genau zehn Minuten später mit dem Diplomatenkoffer, in dem dreitausend ägyptische Pfund lagen.
Nach weiteren zehn Minuten folgte ich dem Mörder. Die Nebel über den Rasenflächen und Blumenbeeten waren gestiegen, auch über dem Strom erhoben sie sich bereits. Es war, als ginge man bis zu den Knien in fluoreszierender grüner Watte. Niemand begegnete mir, nicht auf der Insel, nicht auf der El-Malik-es-Salih-Brücke.
Bis zum Festland waren es knapp zwei Kilometer, doch mir kam es vor, als seien es zwanzig, und ich fühlte mich auf einmal grauenhaft, einfach grauenhaft, bis ich dachte, daß mein Bruder in rund fünfundzwanzig Stunden tot sein würde, wenn nur alles gutging.
Du darfst nicht daran denken, daß noch etwas passiert und er am Leben bleibt, sagte ich zu mir, durch den Nebel hastend, du mußt ganz fest daran glauben, daß alles gut, gut, gutgehen und dein Bruder morgen nacht schon tot, tot, tot sein wird. Also dachte ich ganz fest daran, und nach einer Weile fühlte ich mich gar nicht mehr grauenhaft, sondern großartig, einfach großartig.
Als Jungen hatten mein Bruder und ich durch Jahre eine Kinderfrau. Unsere Eltern waren geschieden, Vater schuldig, also lebten wir bei Mutter, und Mutter, Redakteurin einer Morgenzeitung — damals noch ein ungewöhnlicher Frauenberuf —, kam stets spät nach Hause. Mein Bruder, älter und robuster als ich, hätte diese Kinderfrau wohl entbehren können. Ich aber brauchte und liebte sie sehr. Sie stammte aus Oberschlesien und hieß Sophie Kaczmarek. Wenn ich nachts aus einem schlimmen Traum erwachte und vor Furcht schrie, ja, immer wenn ich laut weinte vor Furcht, auch tags, sehr oft war das, kam die Sophie gelaufen, um mich zu trösten. Sie wiegte mich auf ihren spitzen Knien und strich mit harten Händen über mein Haar und sagte in ihrem harten Deutsch: »Denk an was Schönes. Denk an Engel.«
So dachte ich dann stets an Engel, und immer schwand meine Furcht nach kurzer Zeit.
Das fiel mir ein, als ich nun durch den Nebel eilte, und ich hörte die Stimme der Sophie: »Muß man nur an was Schönes denken, schon hat man kein’ Angst mehr.«
Das Schönste, woran ich in jener Dezembernacht denken konnte, war, daß mein Bruder in fünfundzwanzig Stunden ermordet sein würde.
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Eine Minute nach ein Uhr nachts am 16. Dezember 1966 öffneten sich ganz langsam und fast geräuschlos die beiden Eingangstüren zum Appartement 907 im neunten Stock des Hotels »Imperial«. Dieses Appartement lag an der Vorderseite des Hauses, an der Nile Corniche. Die schweren Leinenvorhänge waren zugezogen, im Salon und im Schlafzimmer. Hinter dem Schlafzimmer lag das Badezimmer. Hier stand ich, im toten Winkel der offenen Tür, gegenüber einem großen Spiegel, der sich oberhalb des Waschbeckens und neben der Wanne befand. Der Spiegel blieb zunächst noch dunkel.
Ich hörte, wie die äußere Tür des Appartements vorsichtig geschlossen wurde. Dann hörte ich ein hohes Kichern, und ich dachte: Mein guter Bruder Werner hat wirklich jede einzelne Banknote genau geprüft, und sein Mörder ist äußerst pünktlich. Daß die innere Appartementtür — die äußere besaß gar kein Schloß — unversperrt sein würde, hatte der Inder mit meinem Bruder verabredet. Nun kam er aus dem Vorraum in den Salon, geschmeidig und schnell. Die Tür vom Schlafzimmer zum Salon stand auch offen, also konnte ich im Badezimmerspiegel das Aufblitzen der starken Taschenlampe und gleich darauf den Mörder sehen. Er trug einen schwarzen, hochgeknöpften Mantel. Mit der Taschenlampe leuchtete er den Salon ab, und da es auch dort Spiegel gab, die Licht reflektierten, sah ich den Inder in dem Badezimmerspiegel sehr deutlich. Sein Gesicht war weiß, seine Kiefer mahlten, und seine Augen funkelten vor irrer Glückseligkeit. Offenbar arbeitet er am besten, wenn er sehr high ist, dachte ich, und als ich sah, daß er richtig herumtänzelte, drückte ich auf alle Fälle den Sicherungshebel der automatischen 38er Police Special herunter, die ich in der linken Hand hielt. (Ich bin Linkshänder.) Ein zwanzig Zentimeter langer Schalldämpfer war auf die Pistole gesteckt. Ich hatte von Anfang an erwartet, daß ich keine Waffe würde benützen müssen, aber ich war nie ganz sicher gewesen, darum hatte ich die 38er im Laufe des vergangenen Tages bei einem Hehler in einer schmutzigen Gasse, nahe der Ibn-Tulûn-Moschee, erworben, den Schalldämpfer dazu und außerdem sechs Rahmen Munition. Einer steckte in der Pistole, die anderen in meinen Jackentaschen. Ich hatte die Pistole und den Schalldämpfer im Keller des Hehlers ausprobiert. Eine ungeschickt geöffnete Champagnerflasche macht mehr Lärm. Als ich — im Badezimmerspiegel — nun das kleine Ballett des Inders sah, der im Salon mit seiner Taschenlampe alles ableuchtete, fühlte sich die 38er in meiner linken Hand ganz außerordentlich erfreulich an. Man konnte schließlich nie wissen, ob so ein Süchtiger nicht plötzlich durchdrehte, und was er tat, wenn er plötzlich durchdrehte, konnte man erst recht nicht wissen, und unmöglich war es auch nicht, daß mein Bruder, der nebenan im Bett lag, bis oben voll mit Whisky und darin aufgelöstem Schlafpulver, nicht doch erwachte, und man konnte nicht wissen, ob der Mörder sich vielleicht zuerst noch im ganzen Appartement umsehen würde, also auch im Badezimmer und hier hinter der Tür. Man konnte immer noch sehr viele Dinge nicht wissen. Das einzige, was feststand, war, daß ich vor Tagesanbruch Ägypten verlassen haben mußte.
Im Spiegel erschien jetzt die moderne Sitzgarnitur des Salons, die der Mörder mit seiner Taschenlampe prüfte. Zwischen den bequemen Lehnstühlen wurde einer dieser praktischen runden Tische sichtbar, deren Platte sich drehen läßt. Der Tisch trug Aschenbecher, Zigarettenpackungen, Gläser, mehrere Whisky- und Sodawasserflaschen und einen großen silbernen Thermosbehälter, der Eiswürfel enthielt. Es sah ziemlich wüst aus auf diesem Tisch. Asche war verstreut, ein Glas und eine Flasche waren umgeworfen. Ich sah, wie der Mörder sich über all das neigte, und hörte, wie er all das kichernd betrachtete. Er war beneidenswert glücklich.
Nachdem er das Chaos genossen hatte, kam er tänzelnd auf die Schlafzimmertür zu. Da er das elektrische Licht nirgends angeknipst hatte, benötigte er dauernd die Taschenlampe, deren Schein mittanzte. Größer und größer wurde die Gestalt im Badezimmerspiegel. Der Inder mußte den Plan, den mein Bruder ihm von diesem Appartement aufgezeichnet hatte, gut im Kopf haben, denn er leuchtete sofort zum Bett. Dadurch konnte ich es, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, auch erkennen. Mein Bruder lag auf dem Rücken, sein Anzug über einem Stuhl, ebenso seine Wäsche. Er trug einen gelben Pyjama. Ich selbst hatte Werner entkleidet und ihm den Pyjama angezogen.
Dem Mörder schien zu gefallen, was er sah. Er kicherte wieder. Dann griff er in seinen Mantel, wobei ich zum erstenmal sah, daß er schwarze Zwirnhandschuhe trug. Im nächsten Augenblick hielt der Mörder die schlangenförmig gekrümmte Klinge eines Kris in der Hand. Er hängte die Taschenlampe an einen Mantelknopf, riß schnell, um sich vor Verunreinigung zu schützen, die Bettdecke hoch, dann zog er die Klinge durch den Hals meines Bruders, vom rechten Ohr bis zum linken. Seitlich und schräg schoß nach allen Seiten Blut aus der Wunde und befleckte die Wände, das Bett und die Bettdecke, die der Inder nun fallen ließ, während er herzlich lachte. Er wischte den Kris an der Decke ab, eilte beschwingt in den Salon, und sofort danach hörte ich, wie sich die beiden Eingangstüren hinter ihm leise schlossen. Ich sah auf meine Uhr. Es war 1 Uhr 09.
Nun trat ich aus dem Badezimmer. Da die Stores alle geschlossen waren, konnte ich ruhig das elektrische Licht im Schlafzimmer anknipsen. Ich knipste es an und rasch wieder aus. Meines Bruders Bett war mittlerweile ein roter Strumpf geworden, von den Wänden floß das Blut in Mengen herab, und von Bett und Wänden sickerte es bereits in den Teppich. Werners Gesicht war sehr weiß und sah sehr zufrieden aus. Es hatte wirklich ein einziger Schnitt genügt. Der Inder war 28000 DM wert gewesen.
Ich ging durch das Schlafzimmer in den Salon und schaltete hier das Licht des großen Deckenlüsters ein. Aus dem Vorraum holte ich meinen dicken blauen Kamelhaarmantel und zog ihn an. Ich versuchte, die 38er einzustecken, aber mit dem Schalldämpfer daran war sie zu lang, also zog ich ihn ab und steckte ihn in die linke Hosentasche. Die Pistole kam in einen Schulterhalfter, den ich umgeschnallt über dem Hemd, unter der Jacke, trug.
Nun ging ich zum Tisch. Hier standen zwei Flaschen Johnnie Walker Black Label. Die eine war noch voll, in der anderen fehlte etwas. Ich öffnete die angebrochene Whiskyflasche und holte aus der Brusttasche meines Anzugs die schmale Schachtel mit den Schlafpulvern, die der Inder in der Nacht zuvor Werner gegeben hatte. Zehn kleine Kuverts waren ursprünglich darin gewesen. Ich überlegte, wie viele Kuverts ich noch öffnen sollte, um ihren Inhalt in die Flasche zu schütten. Drei Portionen hatte mein Bruder bereits hineinrieseln lassen. Die Wirkung hatte ich mit ansehen können, nachdem er ein Glas von diesem Whisky getrunken hatte. So etwas mußte jetzt noch einmal passieren. Ich wollte mein Opfer keinesfalls vergiften, doch sollte die Sache beim zweitenmal schneller gehen. Die Zeit drängte. Mein Flugzeug, eine Boeing 720 B der Lufthansa, die aus Tokio kam, landete um 3 Uhr 45 auf dem Internationalen Flughafen von Kairo bei Neu-Heliopolis. Sie flog erst um 4 Uhr 40 weiter, aber bis nach Neu-Heliopolis, das nördlich von Kairo liegt, sind es fünfundzwanzig Kilometer, und ich hatte noch viel zu erledigen. Die Maschine mußte ich unbedingt erreichen. Ich hatte sie im Lufthansabüro in der Rue Talaat Harb 9 gewählt und einen Platz in ihr gebucht, nachdem ich genau wußte, wann der Mörder kommen wollte. Ab Rom war ich zum Weiterflug nach Zürich mit einer anderen Lufthansa-Maschine vorgemerkt, die um 6 Uhr 30 römischer Zeit startete. Ich besaß viel Geld auf dem Konto einer Schweizer Bank. Um dieses Geld nach Buenos Aires zu transferieren, war es notwendig, daß ich selbst in der Bank erschien, die mein Vermögen verwaltete, denn der größte Teil des Geldes war langfristig angelegt worden. Bei einer plötzlichen Kündigung hatte ich persönlich verschiedene Dokumente zu unterzeichnen. Eine Swiss-Air-Maschine nach Buenos Aires verließ Zürich um 12 Uhr 15 Ortszeit vom Flughafen Kloten aus. Diese Interkontinental-Maschinen waren höchst selten voll ausgebucht. Hier mußte ich ein Risiko eingehen. Ich konnte erst in Zürich einen Platz belegen. Ich besaß Visa für Ägypten und Argentinien und zwei internationale Seuchenpässe, und ich war gegen die verschiedensten Krankheiten geimpft worden. Bei politischen Delikten, wie sie in meinem Fall zur Debatte standen, lieferten weder Argentinien noch Ägypten aus.
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Nur diese Lufthansa-Boeing 720 B verließ Kairo aber so früh, daß sie noch für mich in Frage kam, denn ich mußte damit rechnen, daß der Mord an meinem Bruder in den Morgenstunden, spätestens aber gegen halb zehn Uhr, entdeckt wurde. Um neun Uhr ließ sich mein Bruder täglich wecken. Meldete er sich nicht, würde man nachsehen, ob ihm etwas zugestoßen sei. Die erste Maschine, die nach jener Lufthansa-Boeing vom Flughafen Kairo aus Ägypten verließ, war eine Caravelle der Air France. Sie startete um 11 Uhr 30, viel zu spät.
Ich war schon dabei, ein weiteres Kuvert zu öffnen, da überlegte ich, daß ich ja keine Ahnung hatte, was für ein Pulver das war und ob jemand überhaupt noch einmal zu sich kommen würde, wenn er auch nur die ganze mit drei Pulvern versetzte Flasche austrank. Kam er nicht mehr zu sich, weil niemand in der Nähe war, der ihm helfen konnte, dann — nein!
Nein. Nein. Nein. — Das ging nicht.
Das durfte ich nicht riskieren. Ich mußte noch einen Menschen schnell und tief betäuben, daran war nichts zu ändern, doch ich durfte nicht seinen Tod verursachen. Mit Whisky und diesen mir unbekannten Pulvern konnte das aber ganz leicht geschehen. Also waren Pulver ausgeschlossen. Ich überlegte kurz, dann war mir eine andere Möglichkeit eingefallen. Ich stellte die Flasche, aus der mein Bruder getrunken hatte, wieder auf den Tisch, steckte die Schachtel mit den Pulvern ein und nahm die frische Johnnie-Walker-Flasche, von der ich den Stanniolverschluß abzog, damit ich den Korken später leicht herausbekam.
Die noch nicht angebrochene, schmale und viereckige Whiskyflasche verwahrte ich in der rechten Tasche des blauen Kamelhaarmantels. Dann verließ ich das Appartement. Der Schlüssel steckte im Schloß der inneren Eingangstür — schwer, mit einem großen Messinganhänger. Ich zog ihn heraus, sperrte von draußen ab, schloß auch die zweite Tür und steckte den Schlüssel in die linke Manteltasche. Der Lift zur Tiefgarage befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Es war ein weiter Weg. Ich fluchte leise vor mich hin. Die großen Aufzüge, die in die Haupthalle führten, wollte ich nicht benützen. Es hätte alles verderben können, wenn mich jetzt noch ein Portier oder ein Hausangestellter sah. Bei dem Garagenlift durfte ich ziemlich sicher sein, von niemandem gesehen zu werden, und auch wenn jener Wagenwäscher, der dem Mörder die Stahltür zur Straße gefälligerweise geöffnet hatte, den Schlüssel in der Zwischenzeit wieder zurückgedreht haben sollte — ich konnte ihn noch einmal drehen und die Tür noch einmal öffnen. Nur die hellerleuchteten Gänge, die ich nun entlanggehen mußte, waren so gottverflucht lang. Es war eben ein gottverflucht großes Hotel. Immerhin hatte bisher alles gut funktioniert, dachte ich, mich in Bewegung setzend, es würde auch weiterhin nichts passieren. Ich dachte das, weil ich mich nach dem Tod meines Bruders so sehr erlöst fühlte, doch ich hätte es nicht denken sollen, schon aus Aberglauben nicht. Kaum war ich losgewandert, da passierte natürlich prompt etwas.
Ich hörte auf einmal Lachen, Stimmen und Musik. In einem der Appartements, die vor mir lagen, fand anscheinend eine Party statt. Der Lärm war gedämpft, aber deutlich. Plötzlich war er laut. Fünf Meter vor mir hatte sich eine Tür geöffnet, und ein junges Mädchen in einem silbernen Cocktailkleid taumelte heraus. Die Tür fiel hinter ihr zu. Das Mädchen war groß, fast so groß wie ich, es hatte leuchtendrotes Haar, das über die Schultern herabfiel, und violette Augen. Es war ein sehr schönes Mädchen. Und es war, schien mir, ein sehr betrunkenes. Die Nacht des Whiskys, dachte ich. Whiskygefüllt mein toter Bruder. Whisky in meiner Manteltasche. Whiskygefüllt dieses sehr schöne Mädchen — sie mußte voll Whisky sein, denn ich roch kaum etwas, als sie mir nun in die Arme taumelte, nur ein wenig Whisky. Man kann Unmengen Scotch trinken und doch nur sehr wenig nach Alkohol riechen. Alle Säufer wissen das. Whisky ist der einzige Stoff, bei dem man nicht gleich zehn Meter gegen den Wind duftet. Dieses sehr schöne Mädchen duftete nach Parfüm, Jugend und heißer Haut. Und nur sehr wenig nach Whisky, so ungeheuer betrunken sie sich auch betrug.
Mein dicker blauer Kamelhaarmantel besaß keine Knöpfe, nur einen breiten Gürtel, den man binden konnte. Der Mantel war noch nicht geschlossen. Das sehr schöne Mädchen ließ sich gegen mich fallen und schlang die langen Arme heftig um meine Brust. Ihre Hände schlugen mit Wucht auf meinen Rücken. Synchron dazu steckte sie mir die Zunge in den Hals, daß ich beinahe erstickte, und preßte ihren Unterleib gegen meinen. Das sehr schöne Mädchen mit dem flammendroten Haar zog die Zunge zurück und sagte kräftig lallend folgendes in englischer Sprache: »Jetzt habe ich dich endlich wieder. Jetzt kommst du mir nicht mehr davon. Jetzt machst du’s mir. Du hast’s versprochen. Du hast gesagt, du machst es mir. Los, los, nun mach schon!«
Ich hatte dieses Mädchen noch nie im Leben getroffen und keine Ahnung, wer sie war. Eine Nutte nicht, das sah man. Reich, das sah man auch, wenn man ihren Schmuck betrachtete. Und betrunken. Allmächtiger, war dieses Mädchen betrunken!
»Also machst du’s mir, oder machst du’s mir nicht?« fragte sie laut und wild und rieb immer weiter ihren Unterleib gegen meinen. Aus dem Appartement, in dem gefeiert wurde, ertönte jetzt die Stimme Louis Armstrongs: »… oh, how I long to be in that number, when the saints go marching in …«
Das war absolut lebensgefährlich. Ich mußte hier weg. Das sehr schöne Mädchen nahm meine Hände und preßte sie sich gegen die Brüste. Die Warzen waren groß und hart wie Haselnüsse.
»Also?«
»Ja doch«, sagte ich schnell, »ja doch, Sweetie, klar mach ich es dir, na was denn!«
In ihre Augen trat sanfter Wahnsinn. Sie hielt mich für irgendwen, der versprochen hatte, es ihr zu besorgen, vielleicht war es auch gar niemand, und die junge Dame nur einfach sinnlos voll und hinüber; aber das alles war ohne Bedeutung. Ich mußte hier weg.
»Komm«, sagte ich.
»Wohin?« Sie rührte sich nicht. Wenn aus diesem Appartement noch jemand trat …
»In mein Zimmer.«
»Willst mich nur ‘reinlegen und wieder verschwinden. Mich legst du nicht zweimal ‘rein!« Damit packte sie die schmalen Revers meines Mantels, und mit der Kraft ihrer Trunkenheit zerrte sie so heftig an ihnen, daß der rechte Aufschlag knirschend riß. Das Revers hing nun herab. Ich hätte diesen Rotkopf gerne geschlagen, aber das ging nicht.
»Bist du verrückt?« zischte ich zornig.
»Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Ich kauf dir einen neuen Mantel, wenn du’s mir gemacht hast.«
»Hier auf dem Gang, ja?«
»Hier auf dem Gang. Jawohl. Du willst nicht? Soll ich schreien?« Sie öffnete den Mund, aber diesmal steckte ich meine Zunge hinein und drückte sie an mich. Sie begann zu stöhnen, machte sich plötzlich etwas von mir los und griff an meine Hose.
»Oh«, sagte sie und wurde so weiß im Gesicht, wie mein Bruder jetzt war, »o Gott. Oh, Darling, Darling, Darling! Ist er das?«
»Ja«, sagte ich und hoffte inbrünstig, sie möge der Sache nicht genauer nachgehen und herausfinden, daß es der Schalldämpfer der 38er war, der sie so begeisterte.
»O barmherziger Vater im Himmel«, sagte der Rotkopf. »O Maria, Mutter Gottes, und ist das auch die Wahrheit? Das ist er wirklich?«
»Ja«, sagte ich und fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach.
»Ich werde ohnmächtig«, sagte der Rotkopf. Wenn du das bloß würdest, dachte ich. »Ich werde ganz bestimmt und sofort ohnmächtig, sofern du es mir nicht so schnell wie möglich machst.«
Sie sagte wahrhaftig »provided«.
»Dann komm endlich«, sagte ich und riß sie brutal fort. Sie taumelte hinter mir her. 1 Uhr 24 zeigte eine Uhr im Gang. Ich rannte mit dem Rotkopf, dessen Hand ich eisern festhielt, los. Sie folgte mir taumelnd und schlingernd. Sie war groß und schwer, und ich mußte dauernd achtgeben, daß sie mich nicht umschmiß. Wenn uns jetzt jemand sah, konnte ich auch auf betrunken spielen, dachte ich. Es sah uns niemand. Wir erreichten den Gang auf der Rückseite des Hotels. Wir erreichten den Tiefgaragenlift. Der Aufzug war unten. Vermutlich hatte er zuletzt den Mörder befördert. Ich drückte auf eine Taste. Der Aufzug kam herauf.
»Wo bringst du mich hin?« fragte das sehr schöne Mädchen. Es lehnte an der Wand und rang nach Luft.
»Na, in mein Zimmer.«
Der Aufzug erschien. Ich öffnete die Lifttür, stieß den Rotkopf vor mir her, die Tür fiel hinter uns zu, und ich preßte einen Finger auf den Knopf für den vierten Stock. Sie sah es.
»Vierter Stock wohnst du?«
»Ja.« Der Aufzug glitt abwärts.
»Zeig ihn mir.«
»Gleich.«
»Ich will ihn sofort sehen!«
»Wir sind sofort bei mir.«
»Aber …« Der Lift hielt im vierten Stock. Ich öffnete die Tür, stieß das sehr schöne Mädchen auf den Gang hinaus, wo es still umfiel, riß die Tür zu und drückte auf den Knopf für die Tiefgarage. Der Aufzug sank weiter. Ich lauschte, aber ich hörte nichts mehr von dem sehr schönen Mädchen, nicht das geringste. Fein, dachte ich. Weh getan hat sie sich gewiß nicht. Vielleicht schläft sie da oben auf dem Gang, bis die Schuhputzer kommen, vielleicht findet sie früher jemand. Aber etwas Vernünftiges aus ihr herausbekommen wird keiner. Noch lange nicht. Dieses sehr schöne Mädchen war wirklich viel zu betrunken.
1 Uhr 27 zeigte meine Armbanduhr.
Der Aufzug hielt. Ich griff auf alle Fälle mit der linken Hand nach dem Kolben der 38er, bevor ich die Tür öffnete. Niemand war zu sehen. Unter mir hörte ich Männerstimmen, Gehämmer und das Geräusch von spritzendem Wasser. Mit einem Sprung war ich bei der Stahltür. Der Schlüssel steckte.
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Diese Nacht war kühl in Kairo.
Tief und schnell segelten die schwarzen Wolken über den Himmel, es roch nach Regen, und es war unangenehm böig. Ich trat auf den Midan el-Tahrir hinaus, den Platz hinter dem Hotel, steckte zwei Finger in den Mund und hielt sie dann, aneinandergelegt, gegen Osten in die Luft. Wo Osten war, wußte ich. Die Innenseite der beiden Finger wurde eiskalt. Das beruhigte mich. Also hatte meine Maschine, die von Osten kam, Rückenwind und würde pünktlich sein. Hoffentlich.
1 Uhr 31.
Der Midan el-Tahrir ist ein Ungetüm von einem Platz. Zehn Avenuen münden in ihn, rundum stehen verschiedene Ministerien, die Amerikanische Universität und, an der Nordseite des »Befreiungsplatzes«, das berühmte Ägyptische Museum. Im Zentrum erhebt sich das Befreiungsmonument, der »Tahrir«.
Ich ging, an der Hotelmauer entlang, schnell auf das Museum zu. Hier standen sehr viele Neonlichtpeitschen, die ihr starkes, helles Licht auf die Gebäude und die gepflegten Anlagen des Midan el-Tahrir warfen. In Riesenbeeten wuchsen viele bunte Blumen, und edle Sykomoren, Tamarisken und Palmen bogen sich in dem kurzen, stoßenden Wind und ließen ihr Laub, ihre Fächer und ihre Wedel rauschen.
Es waren noch Menschen und Autos unterwegs, wenn auch nicht sehr viele. Unterwegs waren, in Rudeln, nur die kleinen Jungen, die man rund um jedes internationale Hotel in Kairo praktisch zu jeder Tages- und Nachtstunde antrifft. Sie wollen alle dasselbe, und sie müssen gute Geschäfte machen, sonst würden sie nicht so ausdauernd herumlungern.
Schon kam einer dieser Kerle auf mich zugerannt. Der kleine Araber war höchstens zwölf Jahre alt, hatte das Gesicht eines zynischen Vierzigers und böse taxierende Augen. Er feixte, als er in grausigem Englisch fragte, ob er mich zu seiner Schwester führen solle. Sie sei erst zehn Jahre alt und noch Jungfrau. Der Junge hatte mich aus dem Hotel kommen sehen. An der Rückseite gab es eine Bar, die ich eben passierte und vor der auch ein paar Jungen lauerten. Sie lauern überall, sie wissen genau, früher oder später werden sie ein Opfer abschleppen.
Ich stieß den kleinen Kerl weg, der versuchte, mich am Weitergehen zu hindern, und beschimpfte ihn mit den wenigen arabischen Worten, die ich kannte. Er ließ sich ruhig puffen und stoßen und blieb getreu an meiner Seite. Jetzt fragte er mich, in einem ganz grausigen Französisch, ob er mich zu seinen beiden Schwestern führen solle. Die seien Zwillinge und erst zehn Jahre alt und noch Jungfrauen. Ich schlug nach ihm, aber er wich geschickt aus und verfolgte mich weiter. Ich hatte nun das Ägyptische Museum erreicht, bog nach links und kam durch eine schmale Seitenstraße auf die Nile Corniche — direkt vor die Semiramis-Brücke, die zu der Insel Gezireh hinüberführt, wo ich jetzt hin mußte. Hier war es besonders hell. Die Fassade des »Imperial« wurde angestrahlt, und alle Lichter der Corniche brannten. Ich überquerte den Damm und sah Damen in Nerzmänteln und Stolen und Herren in Abendkleidung beim Hoteleingang. Autos fuhren vor und ab, und Jungen lungerten natürlich in der Nähe. Nicht einmal die Polizei richtete etwas gegen sie aus.
Mein Freund begleitete mich immer noch brav. Ich war jetzt schon auf der Brücke mit ihren vielen Kandelabern, und der kleine Araber fragte mich, in beinahe einwandfreiem Deutsch, ob ich Interesse an seinem elfjährigen Bruder hätte. Ich trat nach ihm, und wieder wich er geschickt aus und versicherte in gutem Deutsch, wenn ich wollte, stünde auch er mir zur Verfügung. Mit Deutschen schien er am häufigsten ins Geschäft zu kommen, aber mich hielt er offenbar für keinen Deutschen.
Ich hatte jetzt genug. Ich sah, daß ich mit Stoßen und Fluchen nicht weiterkam, also zog ich den Jungen an einem Ohr zu mir empor, bis er jaulte, und als ich eben zu sprechen beginnen wollte, kam ein großer amerikanischer Wagen von der Insel herüber und bremste direkt neben mir.
Ein Mann steckte den Schädel aus dem Fenster an seiner Seite. Er hatte fröhliche Augen und sehr kurzgeschnittenes hellblondes Haar, eine typische amerikanische Igelfrisur.
»Got yourself into trouble with that little son-of-a-bitch, Mister?« fragte er freundlich. Ich stand unter einer Kandelaberlampe der Brücke, es war auch hier hell, und ich sah den jungen Amerikaner sehr genau. Er mich auch. Ich sagte zuerst englisch und danach deutsch, damit der Knabe mich auch verstand, daß ich belästigt worden sei und den Jungen nun zur Polizei bringen würde. Der Amerikaner am Steuer des Chevrolets griff hinter sich und öffnete grinsend den zweiten Wagenschlag.
»Okay, Mister. Get that little bastard in there. I’ll glady help you bring him to the cops.«
Das genügte.
Der Junge riß sich los und rannte, so schnell er konnte, zur Corniche zurück.
»Thanks«, sagte ich zu dem Amerikaner.
Wir sahen uns lächelnd an. Dann bemerkte er etwas.
»He! Was ist mit Ihrem Mantel passiert?«
»Wieso?«
»Na, das Revers! Hat die kleine Kröte das getan?«
Ich sah meinen Kamelhaarmantel an. Der Aufschlag, den das sehr schöne, sehr betrunkene Mädchen im »Imperial« ein wenig zu fest gepackt hatte, hing trist herab. Ich hatte das schon völlig vergessen gehabt.
»Die kleine Kröte, ja«, sagte ich eilig auf englisch.
»Na, so können Sie aber nicht herumlaufen, Mister!«
»Aber ja doch.«
»Aber nein doch!« Der Amerikaner hatte schon das Handschuhfach des Chevrolets geöffnet. Er suchte. »Da liegt immer ein Haufen Zeug … warten Sie mal, wir versuchen es damit.« Er öffnete den Schlag und trat vor mich hin.
»Wirklich …«, begann ich noch einmal, aber es hatte keinen Sinn.
»Moment, Moment, gleich haben wir das«, sagte der junge Amerikaner. Er hielt ein etwa fünf Zentimenter langes Drahtstück in der Hand, das er in dem Wagenfach gefunden hatte. Entwaffnend grinsend, bohrte er den Draht von der Innenseite durch den Reversstoff und befestigte ihn tatsächlich mit ein paar vorsichtigen Stichen. Wir standen uns sehr dicht gegenüber. Amerikaner sind wahrhaftig die hilfsbereitesten Menschen von der Welt, dachte ich. Zur Hölle mit allen hilfsbereiten Menschen. Mach. Mach schon! Der Amerikaner, der so groß wie ich war, bog das Drahtstück am oberen und unteren Ende in den Stoff, damit ich mich nicht verletzen konnte, sah mich zufrieden an und sagte etwas Komisches, worüber er sehr lachen mußte. Ich lachte pflichtschuldig mit. Ich habe keine Ahnung mehr, was er sagte. Ich bedankte mich wieder.
»Don’t mention it. Can I give you a lift?«
»You are driving in the other direction.«
»So what? I can turn around.« Das fehlte noch.
»I’d really rather walk. Thanks again.«
»That’s all right«, sagte er, kletterte in seinen Chevy und fuhr weiter zur Corniche. Dort bog er nach rechts. Ich sah den Wagen am Portal des »Imperial« vorübergleiten, dann verschwand er.
Ich ging nun schnell.
In der Mitte der Brücke — sie ist dreihundertfünfzig Meter lang, und der Ostwind fauchte dort kräftig — warf ich den Appartementschlüssel und die Schachtel mit den Schlafpulvern in den Nil. Auf der Insel angekommen, blieb ich beim Eingang des Andalusischen Gartens kurz stehen, um zu horchen. Niemand folgte mir. Der Garten lag rechts. Ich wandte mich nach links und hastete eine romantisch erleuchtete Palmenallee hinab, auf den Palast des Exmonarchen Faruk zu.
1 Uhr 52.
Jetzt lief ich, wobei ich darauf achtete, daß mir die Whiskyflasche nicht aus dem Mantel fiel. Von der Straße zweigten vor dem Lustschloß an der Inselspitze eine Menge Wege in Wäldchen und Buschwerk hinein ab. Auf der Allee brannten die romantischen Laternen. In den Seitenwegen war es finster. Ich wußte, in welchem Seitenweg Lillian wartete — er lag in unmittelbarer Nähe des Palastes. Ich wußte auch, daß ich nicht in diesen Weg laufen durfte, weil ich dann von vorn an den Wagen herangekommen wäre, der da parkte. Also bog ich einen Pfad früher nach rechts ab und machte einen kleinen Bogen durch Gebüsch und Unterholz zu dem anderen Weg hinüber. Dort sah ich, unbeleuchtet, einen schwarzen Mercedes stehen. Ich holte die 38er aus der Halfter, wickelte ein Taschentuch um ihren Griff und steckte den Schalldämpfer wieder auf. Dann schlich ich mich von hinten — ich trug wieder die Slipper mit den Gummisohlen — an den Mercedes heran. Der Wind machte hier in den Ästen und dem Laub und den Palmenwedeln eine Menge Lärm, und das war gut so.
Bevor ich den Wagen erreichte, ging ich in die Knie und bewegte mich nun so, auf allen vieren, weiter zu dem linken vorderen Wagenschlag. Dann hob ich sehr langsam und vorsichtig den Kopf, bis ich Lillian erblickte. Sie saß auf dem rechten Vordersitz und sah starr auf die Allee hinaus. Sie wartete — genau nach Verabredung. Lillian trug einen Leopardenmantel. Ihre langen Haare waren schwarz wie ihre Augen mit den langen Wimpern, die Backenknochen traten vor, der Mund war breit, die Lippen waren voll und sinnlich, und ich dachte, daß ich in meinem ganzen Leben nur eine einzige Frau wirklich geliebt hatte und immer weiterlieben würde, und das war sie, war Lillian, die da saß und wartete. Ich glaube, ich habe sie nie so sehr geliebt wie in dem Augenblick, da ich hochfuhr und den Schlag aufriß. Mit einem unterdrückten Schrei wandte Lillian den Kopf. Sie konnte in der Dunkelheit nicht viel sehen, nur eben, daß ich hinter das Steuer glitt. Sie sagte atemlos: »Gott sei Dank, Liebster. Es ist also alles gutgegangen. Ich hatte schon …«
Weiter kam sie nicht, denn da schlug ich ihr bereits den umwickelten Kolben der 38er auf den Schädel. Nicht zu hart, aber doch ziemlich hart, denn ich konnte jetzt weder Geschrei noch einen Kampf, noch ihre Fingernägel in meinem Gesicht brauchen. Der erste Schlag warf sie nach vorn. Sie stöhnte laut. Ich riß sie an den Haaren hoch und schlug noch einmal zu, diesmal mit der Faust gegen ihr Kinn. Die 38er hatte ich auf das Armaturenbrett gelegt. Nun warf ich mich über Lillian und hielt ihr mit der linken Hand den Mund zu. Mit der rechten Hand holte ich die Johnnie-Walker-Flasche hervor und drückte den Kork heraus. Ich preßte Lillians Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand zusammen, so fest ich nur konnte. Ihr Körper bäumte sich auf, und sie öffnete den Mund. Sie brauchte Luft, um nicht zu ersticken.
Darauf hatte ich gewartet.
Ich stieß ihr den Hals der Whiskyflasche zwischen die Lippen und zog Lillians Kopf an den Haaren weit nach hinten. Nun kniete ich auf ihrem Sitz, zwischen ihren gespreizten Schenkeln, der Leopardenmantel hatte sich geöffnet, das grüne Wollkleid darunter war zerrissen. Sie wand sich, ihre Glieder fuhren hin und her, sie schüttelte wild den Kopf, Glas klirrte gegen ihre Zähne, aber ich hatte die Flasche schon gehoben, und der Whisky floß heraus, floß in Lillians Kehle. Natürlich floß er auch über ihr Kinn und ihre Kleider, sie würgte und spuckte, ich bekam einiges ab, aber dann trank, trank, trank sie verzweifelt in ihrem panischen Schrecken, ihrer wahnsinnigen Gier nach Luft. Als ich fühlte, daß sie plötzlich zusammensackte, zog ich die Flasche schnell zurück. Sie durfte nicht ersticken. Ich beobachtete Lillian scharf, wie sie röchelnd nach Atem rang, Luft, Luft gierig einsog mit aufgerissenem Mund, und dieses verzerrte Gesicht erinnerte mich an das erste Mal, da sie nackt in meinen Armen gelegen hatte, verzerrten Gesichts, nach Luft ringend, mit einem Ausdruck, als würde sie gefoltert, als der Höhepunkt kam. Vor einer Ewigkeit war das gewesen, vor so vielen, vielen Jahren, und dann immer wieder, immer wieder und immer wieder hatte sie ausgesehen, als ob sie entsetzlich litte, wenn sie selig, völlig selig gewesen war …
Nun richtete sie sich etwas auf. Sofort riß ich ihren Kopf wieder zurück und hob die Flasche. Ächzend und würgend begann sie zu husten. Ich preßte ihre Nase zu und steckte ihr den Flaschenhals noch einmal in den Mund, und plötzlich vernahm ich geisterhaft Musik und die heimwehkranke Stimme von Doris Day: »When I hear that serenade in Blue …«
Das war unser Lied gewesen, vom ersten Tag an, und es war unser Lied geblieben bis heute, und ich dachte, daß ich jetzt nicht den Verstand verlieren durfte über allem, was geschah, doch die Stimme von Doris Day, Geigen und Schlagzeug klangen weiter und weiter in meinen Ohren, ich konnte nichts dagegen tun.
When I hear that serenade in Blue, I’m somewhere in another world alone with you. Lillian wehrte sich, aber viel weniger als das erste Mal, und wieder ließ ich sie Whisky trinken, trinken, trinken. Sharing all the joys we used to know — many moons ago. Ich hatte Angst, daß die Flasche nicht ausreichen würde. Sie reichte aus. Lillian sank plötzlich nach rechts gegen das Wagenfenster. When I hear that serenade in Blue. Ich glitt auf den Sitz hinter dem Steuer zurück, ließ die leere Flasche fallen und packte die 38er wieder am Lauf. Lillians Augen waren offen, aber so verdreht, daß ich fast nur das Weiße sah. Sie lallte. Ihr Make-up war verschmiert, ihr Haar stand wirr vom Kopf, der Mantel war besudelt, das zerrissene Wollkleid darunter feucht am Hals. Just like the theme of some forgotten melody, in the album of my memory. Doris Days Stimme in meinen Ohren, die Geigen, das Schlagzeug, eine Trompete voller Wehmut. Ich war nicht verrückt. Ich war nicht verrückt. Ich hörte das Lied nur, weil ich Lillian liebte, sie, sie, nur sie, sagte ich zu mir und schlug ihr den Pistolengriff gegen das Kinn, und danach war sie weg. Sie sackte zusammen und rührte sich nicht mehr. Ich hatte keine andere Wahl gehabt ohne die Schlafmittel. Aus dieser Bewußtlosigkeit würde sie nach Stunden, wenn der große Whiskykonsum mit seiner narkotisierenden Wirkung nachgelassen hatte, von selber wieder erwachen, ohne fremde Hilfe. Sie war eine ordentliche Trinkerin. Es stand nicht zu befürchten, daß sie einer Alkoholvergiftung erlag. Nein, keine Schlafmittel. Diese Methode war die einzig sichere gewesen — für sie und für mich. It seems like only yesterday, a small café, a crowded floor, and as we danced the night away, I heard you say: Forever more …
Ich legte ein Ohr an Lillians linke Brust und fühlte ihren Puls. In Ordnung. Ich überlegte, ob ich den Sitz zurückklappen und sie liegend transportieren sollte, damit es noch ungefährlicher für sie blieb; aber dann sah ich, daß der Fond voller Gepäck war. Das hatte ich vergessen. Es war sehr viel Gepäck in dem Mercedes, auch im Kofferraum. Ich konnte den Sitz nicht zurückklappen. So legte ich einen Sicherheitsgurt um Lillian und schnallte sie fest, damit sie nicht nach vorn fallen konnte, und dann wartete ich eine Viertelstunde, um zu sehen, ob sie nicht doch noch einmal zu sich kam. Und ich hörte Gesang und Musik in dieser Viertelstunde, und ich dachte an Vergangenheit, so viel Vergangenheit.
And then song became a sigh, forever more became good-bye. Keine Schlafmittel, Lillian. Du wirst erwachen. Ich habe dich nicht getötet. Es heißt, daß die Menschen stets töten, was sie lieben. Ich nicht, Lillian, ich nicht. So tell me darling, is there still a spark? Oh, only lonely ashes of the flame we knew. Verlorene Asche nur der Flamme, die wir kannten. Should I go an wishing in the dank? Serenade in Blue …
Lillian kam nicht mehr zu sich. Der Alkohol tat nun schon seine Wirkung. Es war 2 Uhr 17, als ich den Motor startete, die Scheinwerfer aufflammen ließ und losfuhr. Wenn Polizei uns anhielt, konnte jedermann sofort sehen, daß Lillian nur betrunken war. Ich würde sagen, ich brächte sie heim. Ihr Kopf schwankte hin und her, während ich die Palmenallee zurück zur Semiramis-Brücke fuhr. Nur betrunken. Betrunken nur, meine Lillian. Der Wagen stank nach Whisky. Es war ein Leihwagen. Sie hatte ihn gemietet. And as we danced the night away, I heard you say: Forever more …
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»Meine Damen und Herren, im Namen unseres Kapitäns und seiner Besatzung heiße ich Sie an Bord unserer Boeing 720 B herzlich willkommen. Wir reisen in einer Höhe von dreißigtausend Fuß mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Stundenkilometern. Um fünf Uhr fünfundvierzig Ortszeit werden wir auf dem Leonardo-da-Vinci-Flughafen von Rom landen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug …«
Die Stimme der Stewardeß erklang noch einmal in italienischer und in englischer Sprache über die Bordlautsprecher, dann erschien sie selbst, ein braunhaariges, rehäugiges Mädchen. Sie kam aus dem Cockpit der Maschine. In Kairo hatte die gesamte Crew gewechselt. Die Stewardeß war noch sehr jung und sehr ausgeruht und sehr eifrig, und sie trug eine Passagierliste bei sich.
Ich flog erster Klasse. Diese befand sich vorn, die Touristenklasse, fast dreimal so groß, hinten; dazwischen war ein Trennvorhang. Erster Klasse reisten nur vier Passagiere: zwei ältere Japanerinnen in kostbaren Kimonos, ein weißhaariger Negerpriester und ich. Ich war in Kairo als einziger neuer Passagier der ersten Klasse an Bord gekommen. Die junge Stewardeß trat mit ihrer Liste zu mir, offenbar wollte sie alle neuen Passagiere begrüßen. In der Touristenklasse gab es eine. Menge. Hier vorn war es sehr bequem, man hatte viel Platz. Die japanischen Damen sahen sehr müde aus, der weißhaarige Negerpriester las in seinem Brevier. Wir hatten die schwarzen Wolken steil durchstoßen und flogen nun über ihnen.
Die Stewardeß hatte mich erreicht, sie neigte sich lächelnd vor: »Herr Peter Horneck, nicht wahr?«
»Erraten!«
»Oh, das war nicht schwer. Sie sind der einzige Deutsche, der in Kairo an Bord kam, wissen Sie. Sie sind doch Deutscher?«
»Ja.«
»Kann ich etwas für Sie tun, Herr Horneck?« Die Stewardeß roch frisch nach Seife und Parfüm. »Kaffee? Tee? Milch?«
»Später vielleicht.«
»Darf ich Ihnen etwas zu lesen bringen?«
»Vielen Dank«, sagte ich und wies auf die Zeitung, die ich über eine dunkelblaue Reisetasche gelegt hatte. Die Tasche stand auf dem leeren Sitz neben mir. »Ich habe zu lesen.«
Sie nickte mir lächelnd zu und ging dann nach hinten in die Touristenklasse, wo eine Kollegin und ein Steward sich aufhielten, und ich nahm die Ausgabe der »Stuttgarter Allgemeinen Zeitung« vom vergangenen Mittwoch und entfaltete sie, denn diese Zeitung war mein Erkennungszeichen, und ich mußte nur warten, bis der Mann von der internationalen Nachrichtenagentur »American Press Service« kam und mich ansprach. So hatte ich das vor zwei Tagen mit den Leuten vom Kairoer Büro des »American Press Service« verabredet — telefonisch aus einer öffentlichen Fernsprechzelle, denn es wäre lebensgefährlich gewesen, jemanden von APS zu treffen oder das Büro aufzusuchen oder von einem Hotel aus anzurufen. Von einer Zelle aus zu rufen war nicht gefährlich. In der Telefonzentrale des APS-Büros Kairo gab es einen kleinen Apparat, der Gespräche für jeden Dritten, der die Leitungen anzapfte, unverständlich zerhackte.
Ich hatte mit einer Dame gesprochen. Sie hatte mir gesagt, daß ich die »Stuttgarter Allgemeine Zeitung« kaufen und als Erkennungszeichen aufheben solle. Es gab die großen deutschen Blätter am Zeitungsstand des »Imperial«, und so hatte ich also eine SAZ gekauft.
»Das Material darf uns natürlich nicht auf ägyptischem Hoheitsgebiet übergeben werden«, sagte die Frauenstimme bei meinem Telefonat mit dem Büro von APS.
»Natürlich nicht.«
»Das geht erst, wenn Sie aus Ägypten draußen sind.«
»Im Flugzeug?«
»Im Flugzeug. Unser Mann fliegt mit. Selbstverständlich müssen Sie uns rechtzeitig noch einmal anrufen und mitteilen, welche Maschine Sie nehmen. Unser Mann wird als sein Erkennungszeichen Ihre Partitur der Neunten Symphonie von Beethoven bei sich tragen.«
»Meine Partitur?«
»Die Sie von illustrer Seite zum Geschenk erhielten, ja.«
»Aber … aber wie kommen Sie zu der?« frage ich verblüfft. »Ich habe sie doch …«
»… bei Ihrem Freund Boris Minski in Frankfurt gelassen, ja.«
»Und?«
»Und Ihr Freund Minski gab sie Homer Barlow, als er erfuhr, in welcher Lage Sie sich befinden, und Barlow schickte sie uns. Sie kennen Ihre Partitur doch gut. Barlow meinte, wenn unser Mann sie als Erkennungszeichen trägt, werden Sie ihm unbedingt vertrauen.«
Boris Minski und Homer Barlow …
Es hatte mich mit heißer Freude erfüllt, ihre Namen zu hören. Ich bin nicht allein — das war mein erster Gedanke gewesen. Nicht allein.
Seit diesem Anruf hatte ich wieder Mut gefaßt und beschlossen zu kämpfen. Ich hatte gekämpft. Erfolgreich. Ich war ganz sicher, daß ich meine Partitur sofort wiedererkennen würde: ein kostbares, seltenes Stück — ein Exemplar der Erstausgabe von 1824, in Leder gebunden, mit einem Titelblatt, auf dem das Werk Seiner Majestät König Friedrich Wilhelm III. von Preußen zugeeignet war. Ich würde leicht feststellen können, ob es sich auch ganz bestimmt um jenes Exemplar handelte, das ich bei Boris Minski zurückgelassen hatte, denn in diesem Exemplar war dem Drucker ein Unglück widerfahren. Das Chorfinale des Vierten Satzes, dessen Text der Schillerschen »Ode an die Freude« entlehnt war, lautete im ersten Absatz, soweit von Beethoven benutzt:
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium!
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Nun, in meinem Exemplar, dessen Chortext unter den Noten natürlich noch in altertümlicher Rechtschreibung (Heiligthum, getheilt) stand, war beim Druck ein kleines Malheur passiert: In der zweiten Vokalvariation der Freudenmelodie fehlte die Verszeile »Alle Menschen werden Brüder«. Ich wußte, wo sich diese Stelle befand. Es würde alles ganz einfach werden, wenn der Mann von APS kam und sich zu mir setzte. Ganz einfach würde es werden, und wieder sollte ich ein großes Stück weiter sein, fast schon am Ziel, denn dann hatte der Mann von APS die blaue Reisetasche und ihren Inhalt, und was niemand erfahren hätte um ein Haar, würde dann die ganze Welt erfahren, und das bedeutete, daß ich einmal, einmal! Sieger war und nicht mein Bruder. Mit seinem Tod allein hatte ich noch nicht gesiegt. Erst wenn die Nachrichtenagentur APS melden und beweisen konnte, was geschehen war, stand fest, daß einmal mein gottverfluchter Bruder einen Bruderkampf verloren hatte — und nicht ich. Aber noch kam der Mann von APS nicht. Noch mußte ich warten. Die japanischen Damen schliefen, Köpfe aneinandergelehnt, der Negerpriester mit dem weißen Haar las lautlos die Lippen bewegend in seinem Brevier. Ich stützte die Ellbogen auf die Armlehnen meines Sitzes und begann in der SAZ zu lesen.
KIESINGER VERKÜNDET EIN PROGRAMM DER WIRTSCHAFTSBELEBUNG UND STABILITÄT.
Die Regierungserklärung des neuen deutschen Kanzlers. Wir hatten eine neue Regierung, ein Koalitionskabinett gebildet, von CDU, CSU und SPD. Als die Geschichte, die ich hier niederschreibe, begann — wenn eine Geschichte überhaupt jemals beginnt, was ich bezweifle —, besser gesagt also, als diese Geschichte in ihr akutes Stadium getreten war, da hatten wir noch keine neue Regierung in der Bundesrepublik gehabt, aber eben Landtagswahlen in Bayern.
Die NPD, die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands«, hatte bei jenen Wahlen spielend die Fünf-Prozent-Klausel übersprungen und war gleich mit fünfzehn Sitzen in den Landtag eingezogen. In Hessen saß sie schon darin. Ich dachte an jene Nacht, da ich mit Boris Minski über diese Wahlen gesprochen hatte. Im »Strip« war das gewesen, jenem Frankfurter Nachtklub, der uns beiden gehörte. Während der ersten Morgenstunden des 22. November 1966, eines Dienstags, hatten wir da debattiert.
Am 22. November!
Erst vor so kurzer Zeit, so kurzer Zeit. Was über meinen Bruder, Lillian, Minski, mich, über uns alle hereingebrochen war, hatte sich also in vierundzwanzig Tagen abgespielt — und ich erinnerte mich genau daran, o ja, genau an alles und an jene Nacht ganz besonders klar, an den Moment, da der Anruf kam, an mein Entsetzen und den Schmerz, der mich durchzuckt hatte, in dem Büro unseres Klubs, den Telefonhörer am Ohr. Damals war in Sekunden meine ganze Vergangenheit auferstanden: meine und die anderer Menschen, geliebter, gehaßter, die Vergangenheit von Freunden und Feinden. Damals, in jenen ersten Morgenstunden des 22. November hatte der Schneeball zu rollen begonnen, aus dem in unfaßbarer Eile eine Lawine geworden war, die Unheil, so viel Unheil angerichtet hatte.
Drei Wochen und drei Tage: Und mir schien, als liege mein ganzes Leben zwischen diesem 22. November und heute, diesem 16. Dezember. In einem bestimmten Sinn war das auch so. Denn was nun folgen sollte, würde ein neues Leben sein, wenn ich Glück hatte, völlig verschieden von meinem bisherigen. Alles Bisherige war tot, nichts davon würde, sollte, durfte ich mit mir nehmen. Allzuviel und allzu Schreckliches war geschehen, in so kurzer Zeit, drei Wochen und drei Tagen.
KIESINGER SCHILDERT GEGENWÄRTIGE FINANZLAGE IN DÜSTEREN FARBEN — STEUERERHÖHUNGEN UNVERMEIDLICH — DAS DEUTSCHE VOLK WIRD OPFER BRINGEN MÜSSEN …
Ich las ein Stück des Leitartikels.
Ein Milliardendefizit belastete den Bundeshaushalt. Massenkündigungen in vielen Industriezweigen wurden bereits angekündigt, dazu Feierschichten, Kurzarbeit, Stillegungen von Betrieben, Konkurse. Opel mußte dreitausend Arbeiter entlassen, Siemens in Berlin zweitausend. Das Volkswagenwerk plante für die Zeit nach Weihnachten und den Beginn des Jahres 1967 Kurzarbeit. Autoindustrie in der Krise. Alle Zubringerfirmen in der Krise. Krise in der Holzindustrie. Krise in der chemischen Industrie. Ärgste Krise der Stahlindustrie seit Kriegsende. Es schien keine einzige Industrie zu geben, die sich nicht in einer verzweifelten Lage befand.
War das bewußte Panikmacherei — damit die unpopulären Maßnahmen, die die neue Regierung nun ergreifen mußte, dann nicht so sehr unpopulär empfunden werden konnten? Oder war es wirklich vorbei mit dem Wunder, ganz und gar vorbei?
Es sah danach aus.
Ich las und las.
Bergbau — Zeche um Zeche wurde stillgelegt. Begonnene Bauprogramme — U-Bahnen, Autobahnen, Sozialwohnungen, Kliniken und Universitäten — ab sofort gestoppt. Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer, der Benzinsteuer, der Tabaksteuer, der Branntweinsteuer. Sparprämienstop. Versicherungen mußten teurer werden, Lebensmittel, Mieten. Es gab kaum etwas, was nicht teurer werden mußte. Die Amerikaner drangen auf Devisenausgleich, sie wollten zwei Milliarden von uns, und wenn wir Waffen dafür kauften. Die Engländer forderten Geld für ihre Rheinarmee. Aktienkurse sanken ins Bodenlose. Zeitungen stellten ihr Erscheinen ein. Und Demoskopen rechneten für Januar 1967 mit einer Arbeitslosigkeit für eine Million Menschen. Eine Million Arbeitslose schon im nächsten Monat.
Die Düsenaggregate sangen ihr grelles Lied, und ich dachte: Falls das alles wirklich wahr ist und alles so weitergeht, dann wird unser Deutschland bald heilfroh sein, wenn der Genosse Ulbricht es den Arbeitslosen gestattet, in sein Deutschland, das es nicht gibt, weil wir es nicht anerkennen, zu flüchten und dort zu arbeiten und ihr Brot zu verdienen. Und wenn der Genosse Ulbricht dies nicht gestattete — wann würde wohl der Tag kommen, an dem unsere Brüder und Schwestern jenseits der Mauer ihren armen Verwandten im Westen Pakete schickten?
Ich dachte: Ich kann nicht nach Deutschland zurück, aber nach all dem, was da begonnen hat, wäre es Wahnsinn, zurück zu wollen.
Ich dachte: Ich will ja gar nicht nach Deutschland zurück. Ich will nach Argentinien. Mit meinem Geld aus der Schweiz. Ist das nicht der ideale Moment, sich und sein Geld in Sicherheit zu bringen? Habe ich nicht auch hier schon wieder Glück?
Ich dachte: Ich hätte dich so gerne mitgenommen, Lillian. Aber das ist unmöglich.
Ich dachte an Lillian …
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Kein Polizist hatte uns angehalten, als ich mit ihr auf der Insel Gezireh nordwärts gefahren war, hinauf zu der großen Rennbahn. Ihr Kopf pendelte hin und her, und ich hörte plötzlich, wie sie leise zu schnarchen begann. Das rührte und beruhigte mich, und ich dachte voll Kummer, daß ich nun Abschied nehmen mußte von dieser Frau, die ich so sehr liebte, Abschied für immer.
Ich kannte die Rennbahn und die Stallungen in ihrer Nähe einigermaßen, ich fand meinen Weg. Abseits der Ställe und abseits des kleinen Hauses, in dem das Verwalterehepaar lebte, gab es eine große Futterscheune. Das Personal der Rennbahn lebte nicht auf der Insel, die Tiere wurden nicht vor sechs Uhr früh gefüttert. Alles war hier still. Ich fuhr den Mercedes vom Weg hinab in ein Gebüsch nahe der Scheune, drehte den Motor ab und löschte die Scheinwerfer. Licht von den großen Alleen drang bis hierher, man sah genug.
Ich stieg aus und holte eine schwere, warme Decke und ein langes Abschleppseil aus dem mit Koffern vollgeräumten Gepäckraum des Wagens. Über Gras ging ich lautlos zur Scheune. Ihr Tor war nur mit einem großen Holzriegel verschlossen, im Inneren duftete es nach Stroh und Futter. Hier war es warm. Ich warf Seil und Decke auf einen großen Strohhaufen, dann ging ich zum Wagen zurück und holte Lillian heraus. Das war ein hartes Stück Arbeit, und ein noch härteres war es, Lillian vom Mercedes bis zur Scheune zu tragen. Ich begann heftig zu schwitzen und mußte mich einen Augenblick setzen, nachdem ich Lillians weichen, schlaffen und schweren Körper endlich auf den Strohhaufen gelegt hatte. Sie schnarchte gleichmäßig und leise, immer weiter. Sie war sehr tief in ihren alkoholischen Schlaf verloren. Sie merkte und spürte nichts …
Als ich wieder richtig atmen konnte, erhob ich mich und band mit dem Abschleppseil zuerst Lillians Beine an den Fußknöcheln aneinander, danach drehte ich ihre Arme auf den Rücken und fesselte die Hände. So konnte sie nicht die Knoten lösen, wenn sie zu sich kam. Aber sie konnte um Hilfe rufen, und dann mußte der Verwalter sie bald finden. In der Scheune gab es genug Luft, und es war wirklich warm hier, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Trotzdem breitete ich noch die Wagendecke über Lillian und wickelte sie richtig ein. Ich hob ihren Kopf, der dort, wo der Griff der 38er ihn getroffen hatte, nun eine Beule aufwies, doch kein Blut, und ich schlug den großen Kragen ihres Leopardenmantels hoch und legte ihren Kopf darauf, damit sie weicher und bequemer ruhte. In der Scheune war es dunkel, ich sah recht wenig, aber ich wollte das Tor nicht weiter öffnen. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, lauschte ich noch ein paar Sekunden lang dem sanften Schnarchen, dann verließ ich die Scheune, verschloß das Tor wieder mit dem großen Holzriegel und eilte über das feuchte Gras des Rasens zu dem Mercedes. Ich startete, wendete und fuhr nun zur Semiramis-Brücke und über diese zurück zur Nile Corniche. Ich mußte zum Hauptbahnhof, und mittlerweile war es 2 Uhr 46 geworden.
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KLAGE DER NPD GEGEN DEN SPIEGEL ABGEWIESEN.
Meine Augen waren starr auf diese Überschrift in der SAZ gerichtet, langsam begriff ich ihren Sinn, langsam schwand die Erinnerung an meinen Abschied von Lillian. Ich sah mich in der Kabine der Maschine um. Die japanischen Damen schliefen fest. Der weißhaarige Negerpriester, in sein Brevier vertieft, bewegte immer noch lautlos die wulstigen Lippen.
Warten.
Ich mußte warten, auf den Mann von APS, mußte meine SAZ hochhalten und weiterlesen.
KLAGE DER NPD GEGEN DEN SPIEGEL ABGEWIESEN.
Die NPD hatte geklagt, weil das Nachrichtenmagazin die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« ein »Sammelbecken früherer Nationalsozialisten« genannt hatte. Das aber durfte man nach einem Urteil der Dritten Zivilkammer des Landgerichts Konstanz tun.
Die SAZ vertrat in einem Kommentar die Ansicht, daß die NPD wenig Grund hatte, sich zu beklagten, denn immerhin: Der Stellvertretende NPD-Vorsitzende und Landesvorsitzende von Baden-Württemberg war ab 1932 NSDAP-Mitglied und nach 1945 Funktionär des »Bundesverbandes ehemaliger Entnazifizierungsgeschädigter« gewesen; der Stellvertretende NPD-Vorsitzende und Landesvorsitzende von Hessen war NSDAP-Mitglied von 1931/1932 gewesen, von 1949 bis 1959 Mitglied des Deutschen Bundestags — erst in der FDP, dann in der Deutschen Partei; ein NPD-Präsidiumsmitglied war NSDAP-Mitglied ab 1931 sowie Gauamtsleiter in Ostpreußen gewesen, nach dem Krieg Funktionär der Deutschen Reichspartei; ein weiteres NPD-Präsidiumsmitglied in der NSDAP seit 1930, Gauredner, Kreisleiter, Referent im Gerichtsamt der Obersten SA-Führung und SA-Obersturmbannführer, nach dem Krieg Funktionär der Deutschen Reichspartei; ein drittes NPD-Präsidiumsmitglied in der NSDAP ab 1929, Goldenes Parteiabzeichen, Reichshauptstellenleiter der »Deutschen Arbeitsfront«, nach dem Krieg Mitglied der (verbotenen) Sozialistischen Reichspartei und BHE-Abgeordneter im Zweiten Deutschen Bundestag; der Verlagsleiter der NPD-Zeitung »Deutsche Nachrichten« und NPD-Präsidiumsmitglied in der NSDAP seit 1936, Junker der Ns-Ordensburg Vogelsang, Hauptsturmführer der Waffen-SS, nach dem Krieg Funktionär der Deutschen Reichspartei; ein Mitglied des erweiterten NPD-Vorstandes in der NSDAP ab 1930, Leiter der Gauschulungsburg Schwaben, Reichsschulungsleiter im Amt für Technik, nach dem Krieg Funktionär der Deutschen Reichspartei; der NPD-Landesvorsitzende von Hamburg in der NSDAP seit 1932, SS-Hauptsturmführer und Legationsrat im Reichsaußenministerium …
Das ging noch eine ganze Reihe von Zeilen so weiter.
Ich fing an zusammenzuzählen, wie viele ehemalige prominente Nationalsozialisten zur Zeit Adenauers, Erhards und nun auch im Zeichen der neuen Koalitionsregierung hohe und höchste Posten bekleidet hatten und weiter bekleideten, und es fielen mir viele berühmte Namen ein. Nach einer Weile hörte ich auf zu zählen und dachte, wie falsch doch alles war, was Antifaschisten und Ausländer über den Nationalsozialismus gesagt und geschrieben hatten — auch die vielen, die glaubten, ihn erklären oder seine Entstehung gar entschuldigen zu müssen. Alle diese Menschen hatten einfach keine Ahnung. Der Nationalsozialismus war eine echte Volksbewegung gewesen, die größte, die deutsche Menschen je erlebt hatten — ich hatte das seinerzeit auch nicht sofort begriffen. Doch nun wußte ich es. Und darum, weil es eine so echte, uns ins Mark treffende, in Fleisch und Blut gegangene Bewegung gewesen war, hatte sie auch den verlorenen Krieg, das Elend des geteilten Landes, Chaos, Hunger und Not der Jahre nach 1945 überdauern können. Und aus dieser momentanen Krise würde sie, wie aus jeder, unerhörte neue Kräfte schöpfen.
Die Welt empfand das auch, und viele fürchteten uns zu Recht deshalb, aber viele andere imitierten unseren Faschismus nach besten Kräften, und in so vielen Ländern — nicht nur in Deutschland, bewahre! — lebten prominente deutsche Nationalsozialisten, angesehen, bewundert, erfolgreich. Auch in Buenos Aires, wohin ich nun flog.
Ein jüdischer Bankier, aus Holland gebürtig, der seinerzeit auf der Flucht vor den Deutschen in Buenos Aires gelandet war und es nach schweren Jahren zu großem Wohlstand gebracht hatte, besuchte einmal jährlich Europa und dann immer auch Frankfurt, wo er seine Geschäfte erledigte. Diesem Mann war ich auf einer Gesellschaft vorgestellt worden, und er hatte mir von Argentinien und von Buenos Aires, insbesondere von der deutschen Kolonie dort, vorgeschwärmt.
»Bezaubernde Leute«, hatte er gesagt. »Gehen bei mir aus und ein. Wir geben Parties, wir machen Geschäfte miteinander. Meine Frau und ich besitzen so viele gute und liebe Freunde unter den Angehörigen der deutschen Kolonie. Ich habe gehört, was Sie hier in Frankfurt tun. Junger Mann, junger Mann — ist das ein Beruf für einen Menschen wie Sie? Ich habe gehört, was Sie früher getan haben. Ich weiß Bescheid über Sie. Nun gut, Sie können hier nichts anderes mehr tun. Aber dann kommen Sie doch zu uns, kommen Sie nach Buenos Aires! Alle Wege stehen Ihnen offen dort — alle!«
Nun, jetzt kam ich.
Und ich rechnete fest darauf, daß jener Bankier mich seinen vielen Freunden aus der deutschen Kolonie vorstellen würde. Auf diese Weise erwartete mich die Heimat bereits in der Fremde, und ich mußte keine Angst haben, jemals unter Heimweh zu leiden. Dieser Gedanke erheiterte mich, und erheitert dachte ich an den Hauptbahnhof von Kairo zurück. Um 3 Uhr 15 hatte ich den schwarzen Mercedes dort geparkt.
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Ich lief durch die große Halle des Bahnhofs zu dem stählernen, hohen und langgezogenen Block mit den Fächern, in denen man Reisegepäck aufbewahren konnte, wenn die allgemeine Gepäckaufbewahrungsstelle, wie zum Beispiel jetzt, geschlossen war. An diese Fächer kam man immer heran. Ein jedes war groß genug, einen Handkoffer aufzunehmen, und funktionierte so: Im Schloß eines nichtbesetzten Faches steckte ein komplizierter Yale-Schlüssel. Nach Einwurf einer Fünf-Piaster-Münze (etwa fünfzig Pfennig) ließ sich die Stahltür des Safes öffnen. Man konnte darin unterbringen, was man wollte, und danach die Tür wieder schließen. Hob man nun ihre Klinke leicht an und preßte sich gegen sie, dann schnappte das Spezialschloß ein, und jetzt ließ der Schlüssel sich abziehen. Gleichzeitig erschien über dem Fach ein rotes Besetztzeichen. Nun hatte man vierundzwanzig Stunden Zeit. Dann mußte man, wenn man das Fach behalten wollte, ein Zehn-Piaster-Stück einwerfen, nach weiteren vierundzwanzig Stunden wiederum eins — und so fort. Warf man länger als zweiundsiebzig Stunden kein Geld nach, ließ die Leitung der Gepäckaufbewahrung das Fach öffnen, den Inhalt in Gegenwart von Zeugen herausnehmen und verwahrte ihn. Der Besitzer konnte seine Habe — an einem besonderen Schalter der Gepäckaufbewahrung — wiedererhalten.
Darauf hatte mein Bruder es natürlich nicht ankommen lassen. Sofort nach seiner Ankunft in Neu-Heliopolis war er hierhergefahren und hatte die blaue Reisetasche in einem der Fächer deponiert. Es war auch tatsächlich am allerwichtigsten, daß er zuerst das Material in Sicherheit brachte. Die Tasche in den Hoteltresor oder auf eine Bank bringen hätte zu lange gedauert und wäre zu riskant gewesen. So viel hätte passieren können — auch schon zwischen Landung und Bahnhof. Es war nichts passiert. Ich bin sicher, daß meinem Bruder ein Stein vom Herzen fiel, als er das Schließfach einschnappen gehört hatte. Das Fach trug die Nummer 138.
Hier wird diese Geschichte ein wenig grotesk, denn wo sich die Tasche wirklich befand, vertraute mir mein Bruder an, triumphierend und von sich selbst begeistert, während wir im Appartement 907 des Hotels »Imperial« zusammen Whisky tranken, eine knappe Stunde vor seinem gewaltsamen Ende. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt und ein wildes Hazardspiel getrieben — mit meinem Leben und mit den Leuten vom »American Press Service«, denen ich das Material bereits versprochen, denen ich bereits mitgeteilt hatte, in welchem Flugzeug ich es einem ihrer Leute übergeben würde.
Gewiß, ich provozierte meinen Bruder sehr geschickt knapp vor seiner Ermordung. Gewiß, er war schon sehr betrunken, und ich spielte recht gut den sehr Betrunkenen. Werner war sich seiner Sache so unendlich sicher gewesen. Das soll man nie sein, heute weiß ich es. Werner zeigte mir sogar den Schlüssel zu dem Fach, lachend und höhnisch, und er sagte, wie sehr es ihn unterhalten habe, meine vielen vergeblichen Versuche zu beobachten, herauszufinden, wo die Tasche geblieben war.
»Konntest du nicht herausbringen, Brüderchen«, grölte mein Bruder.
»Unmöglich, ganz unmöglich! Ich bin nie wieder zum Bahnhof gegangen. Freunde … hick … Freunde von mir haben immer neue Münzen nachgeworfen. Köpfchen muß man haben, weißt du. Na, mach dir nichts draus. Nicht jeder kann eben eines haben.«
Eine Stunde später hatte er keines mehr — oder nur noch eines, das ihm sehr lose auf dem Hals saß. Eine Stunde später hatte ich den Schlüssel zu Fach 138 …
Nun öffnete ich also Fach 138 und entnahm ihm die blaue Tasche. Ich lief zu dem Mercedes zurück und fuhr aus der Stadt und etwa fünf Kilometer weit auf der Straße nach Neu-Heliopolis. In einem Eukalyptushain hielt ich an. Der böige Wind war hier sehr stark. Er fauchte und knatterte. In der blauen Tasche befanden sich eines jener kleinen, leistungskräftigen Tonbandgeräte, wie Reporter sie benützen, und acht Tonbänder in roten Kassetten. Es waren BASF-Fabrikate der Type PES 18, ein jedes siebenhundertdreißig Meter lang, beidseitig und vierspurig besprechbar. Das Gerät konnte mit Batterie oder Strom betrieben werden. All das gehörte mir, die Bänder hatte ich besprochen. Auf ihnen hatte ich die ganze Geschichte und Vorgeschichte jenes Verbrechens erzählt, in das ich selbst verwickelt war. öffnete schnell das Magnetophon und prüfte Band um Band. Ich mußte wissen, ob von meinem Bruder, dem ich, bevor wir nach Ägypten kamen, die blaue Tasche mit dem ganzen Inhalt anvertraut hatte, die Bänder etwa gelöscht worden waren. Er hatte nichts gelöscht. Von jedem Band erklang meine Stimme. Werner, dachte ich, hatte gewiß noch viel vorgehabt. Wer diese Bänder besaß, besaß den Schlüssel zu großer Macht.
Ich verstaute das Gerät und die Kassetten wieder in der Reisetasche. Das Schulterhalfter der Pistole warf ich in den Eukalyptushain. Dann fuhr ich wieder los. Sturmböen rüttelten an dem Wagen. Es war sehr einsam und dunkel hier. Den Schalldämpfer der 38er warf ich etwa drei Kilometer weiter in einen Fluß, die Pistole wiederum etwa drei Kilometer weiter in eine Zisterne am Straßenrand, und die Patronenmagazine schleuderte ich danach im Fahren von Zeit zu Zeit aus dem Fenster in die Felder hinein. Der Schlüssel zu dem Stahlfach im Bahnhof war im Schloß steckengeblieben. Ich wollte keine große Macht, ich wollte fort, nach Argentinien, in Sicherheit, in eine neue Welt, ein neues Leben — aber ich wollte auch einmal, einmal Sieger sein über meinen Bruder Werner. Darum hatte ich die Bänder den APS-Leuten angeboten.
Natürlich wollten sie das Material haben, es war eine Sensation. Nur auf ägyptischem Boden konnten und würden sie mir nicht helfen, erklärte die Dame aus dem APS-Büro in Kairo, mit der ich telefonierte.
»Erst im Flugzeug kann unser Mann erscheinen und sich zu erkennen geben, das müssen Sie begreifen.«
»Ich begreife es …«
»Wie Sie das Material in die Maschine bringen — unter Umgehung des Zolls meine ich —, ist auch Ihre Sache. Aber da kann ich Ihnen einen kleinen Tip geben.«
Sie hatte mir einen kleinen Tip gegeben, und alles hatte großartig funktioniert, hier saß ich nun, die blaue Tasche an meiner Seite, in einem bequemen Sessel dieser Lufthansa-Maschine, und wir hatten Kairo lange verlassen und näherten uns mehr und mehr Rom, und ich wartete auf den Mann, der mit meiner Partitur der Neunten Symphonie unter dem Arm erscheinen und das Material an sich nehmen würde, und dieser Mann kam nicht, und ich war reichlich nervös. Und reichlich nervös las ich noch immer in der SAZ, meinem Erkennungszeichen …
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»Lachen Sie ruhig. Das Lachen wird Ihnen schon noch vergehen.« Das hatte, las ich, der Vorsitzende der NPD, der Bremer Zementfabrikant Fritz Thielen, in einem Interview gesagt. Und sein Stellvertreter, Adolf von Thadden, hatte gesagt: »Die NPD wurde gegründet, als es soweit war.«
Die NPD, dachte ich, war erst 1964 gegründet worden. Sie hatte in zwei Jahren einen beispiellosen Aufstieg erlebt; doch das alles sei erst der Anfang, sagten Thielen und von Thadden. Und ich war ganz ihrer Ansicht. Die beiden japanischen Damen waren nun erwacht, dafür war der Negerpriester eingenickt. Die Japanerinnen gingen nach hinten zu den Waschräumen, die rehäugige freundliche Stewardeß eilte hin und her, zu den Piloten nach vorn und wieder zurück, und sie fragte mich: »Jetzt Kaffee?« und ich sagte »Bitte, ja«, und sie verschwand hinter dem Vorhang zur Touristenklasse, den sie offenließ. Ich drehte mich um. Auch die Menschen in der Touristenklasse wurden munter, einer nach dem andern. Sie erhoben und streckten sich, gingen herum, es waren sehr viele, ich konnte durch den Vorhang nicht alle sehen, und in der ganzen Maschine begann es nach Kaffee zu duften …
Ich hatte den Flughafen von Kairo um 4 Uhr 10 erreicht. Den Mercedes ließ ich auf dem großen Parkplatz stehen, die Autoschlüssel warf ich durch das Gitter eines Gullis. Ich meldete mich beim Lufthansa-Schalter. Die Boeing war pünktlich gelandet, sagte man mir, und sie würde pünktlich weiterfliegen. Nun ging ich zur Gepäckaufbewahrung. Hier hatte ich schon vor Tagen einen Koffer deponiert, in dem Wäsche, zwei Anzüge, Schuhe und Waschzeug lagen — nichts Verbotenes. Der Zollbeamte, der den Koffer inspizierte, nickte. Die blaue Tasche hatte ich dem Gepäckträger anvertraut, der im Freien stand, als ich eintraf. Er trug die Nummer 57. Das war der Tip, den die Dame von APS-Kairo mir gegeben hatte. Sie benützten diesen Träger oft für derlei und zahlten ihn gewiß gut.
Es ist klar, daß die Nummer 57 nicht stimmt und daß es überhaupt kein Gepäckträger, sondern jemand ganz anderer war, dem ich die Tasche anvertraute — er lebt schließlich, so hoffe ich wenigstens, und ich möchte ihm keineswegs Unannehmlichkeiten bereiten.
Mit Hilfe dieses Mannes, dessen Identität ich nicht preisgeben kann, kam die Tasche jedenfalls an Bord der Boeing, ohne daß der Zoll sie sah. Das war der Zweck der Übung. Das Material mußte illegal aus Ägypten herausgebracht werden. Darum konnte der Amerikaner es auch frühestens in Empfang nehmen, wenn Ägypten hinter uns lag. Der Zoll hätte diese Tasche und ihren Inhalt niemals passieren lassen, sondern sie beschlagnahmt und meine Verhaftung gefordert. Die VAR und die Bundesrepublik haben zwar offizielle diplomatische Beziehungen zueinander abgebrochen, doch gerade dieser Abbruch der offiziellen Beziehungen war von besonderem Wert — für gewisse Kreise.
»Bitte sehr, Herr Horneck!« Die freundliche Stewardeß neigte sich über mich. Sie brachte ein Tablett, voll beladen mit allem, was zu einem opulenten Frühstück gehört, und hakte es in die Sessellehnen. Ich drehte mich wieder nach der Touristenklasse um, die ich durch den offenen Vorhang sehen konnte. Zwei Stewards und zwei Stewardessen servierten dort. Sie hatten alle viel zu tun.
»Danke«, sagte ich. »Wann werden wir in Rom landen?«
»Pünktlich auf die Minute, Herr Horneck. In etwa vierzig Minuten.« Die Stewardeß goß heißen, starken Kaffee in meine Tasse. Sie nickte mir zu und ging zu den beiden japanischen Damen und dem Priester. Kairo hatte Ortszeit — Rom gegenüber eine Differenz von einer Stunde. Ich stellte meine Armbanduhr zurück, deren Zeiger schon auf fünf Uhr gestanden hatten. In vierzig Minuten landeten wir in Rom. Und der Mann von APS kam nicht.
Ich war nun schon sehr unruhig, und sehr unruhig trank ich heißen Kaffee, aß nur ein Brötchen mit Butter und Jam — dann hatte ich genug. Alles andere ließ ich unberührt. Ich schenkte eine zweite Tasse Kaffee ein und bemerkte, daß meine Hände zitterten. Wenn etwas geschehen war …
Noch dreißig Minuten bis Rom.
Etwas später kam die Stewardeß wieder vorbei.
»Schon fertig?«
»Ja«, sagte ich.
»Keinen Appetit?«
»Nein.«
»Wie schade.«
Sie hakte das Tablett aus. In diesem Moment hörte ich hinter mir ziemlich laute Stimmen. Ich drehte mich um.
Unter dem geöffneten Durchgang zur Touristenklasse standen zwei Männer, die englisch miteinander sprachen. Der eine war ein Steward. Der andere war der große Amerikaner mit der blonden Igelschnittfrisur und den fröhlichen Augen, der mir nachts auf der Semiramis-Brücke geholfen hatte, den Araberjungen zu verjagen — derselbe Amerikaner, der mit einem Stück Draht mein abgerissenes Mantelrevers befestigt hatte. In der Hand hielt dieser Amerikaner ein großes, flaches, in Leder gebundenes Buch. Ich erkannte es sofort, und mein Herz klopfte wild vor Erleichterung.
»Was ist los?« fragte ich laut den Steward.
»Dieser Herr will unbedingt in die erste Klasse. Er sagt, er habe Sie wiedererkannt und …«
»Natürlich hat er mich wiedererkannt. Wir sind alte Bekannte«, sagte ich, hob einen Arm und rief: »Hallo!«
»Hallo!« rief der fröhliche Amerikaner und winkte mit der Beethoven-Partitur. Der Steward wurde verlegen. Beide Männer kamen zu mir. Sie sprachen alle Englisch. »Sie an Bord?« fragte ich den Amerikaner.
»Ja. Ich sah Sie von da hinten und wollte Ihnen guten Tag sagen, aber der Steward meint, ich dürfte die erste Klasse nicht betreten. Strenge deutsche Bräuche.«
Der Steward sagte höflich zu ihm: »Internationale Bräuche, mein Herr.« Er wandte sich zu mir. »Keine Schikane. Aber wir müssen wirklich … natürlich, wenn Sie sich kennen …«
»Außerdem landen wir gleich«, sagte die nette Stewardeß vermittelnd.
Der junge Amerikaner blinzelte sie an. »Also darf ich mich bis zur Landung mit meinem Freund unterhalten? Ich bitte um Entschuldigung für die Zumutung«, sagte er zu dem Steward. »Ich fliege nur bis Rom. Sie sind mich gleich los.«
»Nicht doch, Sir«, sagte der Steward. »Ich bitte um Entschuldigung. Aber die Vorschriften …«
»Gewiß«, sagte der Amerikaner. »Wo kämen wir ohne Vorschriften hin! Also danke, vielen Dank.«
Ich hob die SAZ und die blaue Reisetasche von meinem Sitz auf meine Knie. Der Amerikaner setzte sich neben mich. Steward und Stewardeß verschwanden. Jetzt schlossen sie den Vorhang zur Touristenklasse hinter sich. »Endlich«, sagte ich. Der Negerpriester war nun nach hinten gegangen, die beiden japanischen Damen unterhielten sich eifrig.
Der Mann von APS reichte mir die Partitur. Er sagte: »Zu verdammt viele Ägypter da hinten. Man kann nie wissen. Ich mußte so lange warten. Und Touristenklasse mußte ich fliegen, weil die erste zu leer war.«
»Sie haben schon in Kairo auf mich achtgegeben …«
»Klar!« Er grinste. »Aber zart. Keine Verbrüderungen! Ich mußte wissen, ob Sie gut aus dem ›Imperial‹ rauskamen. Ging auch sonst alles glatt?«
»Ja«, sagte ich, während ich fühlte, wie eine wohlige Wärme in meinem Körper emporstieg. Glück, dachte ich, wieder, wieder Glück! Ich öffnete die alte Partitur und dachte dabei, daß ich das eigentlich gar nicht mehr mußte, so klar und eindeutig war alles. Ich suchte rein mechanisch, während der Amerikaner sich die SAZ ansah. Vierter Satz. Da war die Wendung nach A-Dur, die kadenzierend den Vokalteil vorbereitete. Ich blätterte weiter. Da kam das Donnern der Pauke, kam die »Schreckensfanfare« vom Anfang des Finales noch einmal: das grelle Fortissimo. Und hier fing der vokale Teil an. Direkt nach dem Rezitativ begannen die fünf Variationen der Freudenmelodie. Ich überflog die zweite Variation. »… Was die Mo — strengge — theilt …« Und dann hatte der Druck ausgesetzt, oder die Zeile war während des Druckens herausgefallen — das »Alle Menschen werden Brüder« fehlte, und es ging weiter: »… wo dein sanfter Flügel weilt …«
Ja, das war meine Partitur!
»Okay?« fragte der Amerikaner.
»Okay«, sagte ich. Die Stimme des Kapitäns kam über die Bordlautsprecher und ersuchte, das Rauchen einzustellen und sich festzuschnallen, da wir gleich zur Landung ansetzen würden. Die Stewardessen eilten durch die Maschine und sahen nach, ob dieser Bitte überall Folge geleistet wurde. Der Mann von APS und ich waren schon angeschnallt, und wir lächelten beide der jungen Stewardeß mit den Rehaugen zu, als diese zu uns kam. Sie lächelte gleichfalls und verschwand im Cockpit. Ich schob die blaue Reisetasche zu dem jungen Mann von APS hinüber. »Das wäre auch erledigt«, sagte ich.
Er grinste.
»Jetzt sind Sie zufrieden, eh?«
»Und wie«, sagte ich und atmete tief, und da kippte die Maschine plötzlich, und die elektrische Beleuchtung der Kabine flackerte.
»Here we go«, sagte der Mann von APS.
Ich habe mich nie an die Art gewöhnen können, mit der moderne Düsenmaschinen vor der Landung plötzlich kippen und dann nach unten sausen. Das steile Hochgehen ist auch nicht gerade angenehm, aber bei der Landung weiß man wahrhaftig nie, ob man nicht bereits abstürzt. Wir rasten in die Finsternis einer schwarzen Wolkenschicht, die elektrische Beleuchtung der Kabine war immer noch unruhig, meine Ohren taten weh, obwohl ich eifrig an einem Kaugummi herumbiß, und ich sah schwere Tropfen gegen das Fenster an meiner Seite knallen.
Das Wetter in Rom war schauderhaft. Es regnete in Strömen, eiskalter Nordwind heulte über das Feld, und es war noch tiefe Nacht hier. Scheinwerfer kreisten auf dem Tower, rote, grüne, weiße und blaue Lichter brannten an den Pistenrändern, und die Bogenlampen vor dem Flughafengebäude schwangen im Wind. Ein Zubringerbus mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam uns entgegen und hielt direkt neben der riesigen Boeing. Erste-Klasse-Passagiere stiegen durch die vordere Luke aus, alle anderen durch die Luke hinten. Der Mann von APS war, sobald die Maschine stand, zurück in die Touristenklasse geeilt. Die blaue Tasche unter dem Arm, hatte er mir noch einmal auf die Schulter geklopft und zugenickt.
Ich kletterte ins Freie. Trotz meines schweren Kamelhaarmantels fror ich so erbärmlich wie die anderen Passagiere. Die beiden Japanerinnen, die über ihren Kimonos nun Pelzmäntel trugen, zitterten richtig. Das Einsteigen in den Bus verlief trotz der vielen Menschen reibungslos und schnell. Die Passagiere der ersten Klasse ließ man zuerst einsteigen, aber ich blieb noch stehen. Ich leide unter einer milden Art von Platzangst, mein Leben lang. Ich fühle mich stets unsicher im Gedränge, und wo ich kann, vermeide ich es so lange wie möglich, in einer Menge zu stehen oder zu sitzen. Ich steige stets als letzter in ein Flugzeug ein, gleichgültig, welchen Sitz ich dann noch bekomme. Ich wollte, trotz des Regens und der Kälte, lieber auch als letzter in diesen Bus steigen, und so stand ich, die Partitur unter dem Mantel, mit hochgeschlagenem Kragen da und sah auf zwei Taxiways, die in der Nähe zu einer anderen Piste führten, Transportflugzeuge der italienischen, der amerikanischen und der deutschen Luftwaffe stehen, schwere Noratlasmaschinen vor allem. Sie wurden von Scheinwerfern angestrahlt. Große Laster standen bei den offenen Ladeklappen, und Männer in vor Nässe glänzenden Overalls arbeiteten hastig, entluden die Maschinen oder beluden sie — mit Lebensmitteln, Medikamentenkästen, Decken, Bettenteilen, aber auch mit Jeeps, Raupenschleppern und vielen Apparaten. Manche sahen aus, als würden sie für Krankenhäuser gebraucht. Ein paarmal erblickte ich auf Kisten das Zeichen des Roten Kreuzes. Mir fiel ein, daß sich in Florenz und in der gesamten Poebene die schwerste Unwetterkatastrophe seit vielen hundert Jahren ereignet hatte. Hunderttausende von Menschen kämpften dort mit Hunger, Wasser, Kälte, Seuchen und dem Tod. Unersetzliche Kunstschätze waren zerstört und Tausende von Quadratkilometern Land überschwemmt und auf Jahre hinaus von den Salzwasserfluten unfruchtbar gemacht worden.
Eine Maschine rollte, vollgeladen, zu der zweiten Piste. Sie wird gewiß auf einem NATO-Flughafen im Katastrophengebiet landen, dachte ich. Ein jäher Windstoß warf mich fast um. Der ältere grauhaarige Mann, der auf der Bustreppe stand, packte eben noch rechtzeitig meinen Arm und zog mich ins Trockene des großen Wagens, in dem sich — ich war der letzte! — die Passagiere der Boeing händereibend und niesend versammelt hatten. Langsam fuhr der Bus an — zu dem fernen Flughafengebäude. Tankwagen begegneten uns.
Der grauhaarige Mann, der mir in den Bus geholfen hatte, drängte mich in eine Ecke beim Ausstieg. Hier waren wir allein. Der Mann sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, während er ein viereckiges Stück Zelluloid aus der Tasche holte. In das Zelluloid eingepreßt war ein Ausweis. Er besagte, daß der Grauhaarige William S. Carpenter hieß und Chef des römischen Büros von »American Press Service« war. Ein Foto befand sich auf dem Ausweis. Es zeigte ein Bild des Grauhaarigen. Ich öffnete meinen Mantel und ließ Carpenter die Partitur sehen. Er nickte traurig, neigte sich vor und sagte: »Ich gehöre nicht in diesen Bus. Wenn er hält, muß ich sofort in einen anderen springen, weil ich mit Alitalia nach Mailand zu fliegen habe.«
Ich starrte ihn an.
»Sonst wäre ich überhaupt nicht aufs Flugfeld gekommen. Die lassen doch nur Passagiere raus, nicht wahr?« Er sprach New Yorker Englisch. »So kann ich behaupten, ich hätte mich im Bus geirrt und …«
»Warum sind Sie überhaupt hier?«
»Weil alles schiefgegangen ist«, sagte er verbissen. »Und weil ich Ihnen das sofort mitteilen mußte.«
»Was ist …«
»Nicht so laut!«
»Was ist schiefgegangen? Ich habe die Tasche Ihrem Mann gegeben, so wie es verabredet war!«
»Es war verabredet«, sagte Carpenter. »Aber es war nicht unser Mann.« Ich fühlte, wie mir kalt wurde. Der Bus ruckelte heftig.
»Unser Mann wurde mit seinem Wagen angehalten, als er von Kairo nach Neu-Heliopolis fuhr. Der verfluchte Idiot blieb wahrhaftig stehen, er dachte wohl, jemand brauche Hilfe. Nun, sie schlugen ihn halb tot. Er liegt im American Hospital.«
Jetzt klapperten meine Zähne aufeinander. Ich versuchte das Klappern zu stoppen, aber es gelang mir nicht. Es war nicht die Kälte. Die schwankenden Bogenlampen auf dem Vorfeld des Flughafengebäudes kamen näher. Der Bus fuhr nun über eine Asphaltstraße. Wir mußten bald dasein. »Die Partitur haben sie unserem Mann natürlich weggenommen«, sagte Carpenter. Sein Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. »Daß sie sein Erkennungszeichen sein sollte, muß jedem Kretin klar gewesen sein. Es funktionierte ja auch alles großartig.« Ich drehte mich schnell um und starrte die Menschen im Bus an. Da waren die japanischen Damen. Der Negerpriester, der mir zuwinkte. Sonst nur Unbekannte. Der junge Amerikaner mit dem blonden Haar und der Igelfrisur befand sich nicht unter ihnen.
»Der, dem Sie die Tasche gegeben haben, ist sofort abgehauen«, sagte Carpenter bitter.
Ich sah ihn fragend an.
»Irgendwohin über das Feld. Rüber zu den Transportmaschinen, was weiß ich. Die Brüder kennen sich aus. Das einzige, was ich noch nicht kapiere, ist, woher er wußte, was Ihr Erkennungszeichen war.«
Ich sagte langsam: »Ich habe diesen Amerikaner schon in Kairo gesehen …« Carpenter fuhr zusammen.
»Amerikaner? Wo?«
Ich erzählte es ihm schnell.
Carpenter fluchte gräßlich.
»Dann ist mir alles klar«, sagte er. »Sie wurden beschattet. Von Anfang an. Wahrscheinlich schon im ›Imperial‹. Der Araberjunge war natürlich ein Spitzel. Er hatte den Auftrag, Sie aufzuhalten, wenn Sie auf die Brücke zugingen, damit dieser … dieser Amerikaner Sie sich richtig ansehen konnte. Wenn er mal wußte, wie Sie aussahen, brauchte er nicht mehr zu wissen, was Ihr Erkennungszeichen war. Es gab doch Licht auf der Brücke?«
»Viel.«
»Na also.«
»Aber … aber woher wußte der Junge, wer ich war?«
»Irgendein Zeichen …«
»Was für ein Zeichen … oh!«
»Was, oh?«
»Mein Mantelrevers!« Ich drehte es um, zeigte Carpenter das Drahtstück an der Innenseite, und dabei begann ich zu fluchen, aber schlimmer als er.
»Schluß!« sagte Carpenter scharf. »Wie kam das? Rasch! Erzählen Sie.«
Also erzählte ich ihm auch noch rasch von dem sehr schönen rothaarigen Mädchen mit den violetten Augen, das mich auf dem Gang im »Imperial« angefallen und das ich für so exemplarisch betrunken gehalten hatte, und daß jener Amerikaner mir dann mit dem Drahtstück half und mich dabei ganz genau und von ganz nahe betrachten konnte, und während ich sprach, fühlte ich, wie Angst, klebrig, kalt und scheußlich, in mir wuchs und wuchs und wuchs.
»Perfekte Organisation«, sagte Carpenter. »Kein Wort gegen die Brüder. Sind immer noch die besten.«
»Was hat Ihr Büro in Kairo eigentlich unternommen?« fragte ich verzweifelt.
»Sie haben versucht, Ihre Maschine über Funk zu erreichen und Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen — rechtzeitig. Nichts zu machen. Die ägyptischen Behörden verboten es. Das Büro versuchte, den Funkspruch über italienische Stationen abzusetzen. Sie bekamen keine Verbindung. Unsere Freunde da unten waren sehr tüchtig. Die Ägypter haben sich auch sofort bei der Amerikanischen Botschaft beschwert.«
»Mitten in der Nacht?«
»Finden Sie, die Sache ist nicht wichtig genug?« knurrte er. »Na also! Offizieller Protest. Unser Mann, der, den sie zusammenschlugen, hätte einen ägyptischen diplomatischen Kurier überfallen, sagten sie. Sie sagten natürlich, ein paar von unseren Leuten hätten den diplomatischen Kurier überfallen. Inzwischen haben sie unser ganzes Büro verhaftet. Der Kurier schaffte einen der Angreifer, in Notwehr natürlich. Die anderen Verbrecher flohen. Das ist ihre Version. Die Botschaft in Kairo verständigte sofort die Botschaft in Rom. Und die mich. Sie können nichts dafür. Unser Fehler. Hätten Tommy nie allein fahren lassen dürfen. Jetzt können wir nur beten, daß unsere Leute bloß ausgewiesen werden und nicht …« Er brach ab.
Ich fragte, bebend vor Furcht: »Warum haben die mich nicht in Kairo so fertiggemacht wie Ihren Tommy und mir die Tonbänder abgenommen?«
»Wäre nicht sauber gewesen.«
»Was?«
»Entweder sie hätten noch einen Schwerverletzten oder noch einen Toten auf dem Hals gehabt, oder Sie wären ihnen entkommen … irgendwohin. Nein, nein, erst im Flugzeug, als Sie nicht mehr aussteigen konnten, da haben sie alles erledigt! Es ist Ihnen doch klar, was das für Sie bedeutet?«
Ich mußte mich an einem Griff der Buswand festhalten.
Ja, es war mir klar, was das für mich bedeutete. Wenn sie bereits die Amerikanische Botschaft verständigt hatten, dann hatten sie bestimmt auch viele andere Stellen verständigt. Sie kannten meinen Namen. Sie wußten, wie ich aussah. Vorbei. Leb wohl, Schweiz, leb wohl, Argentinien. Leb wohl, Sicherheit.
Ich sagte: »Aber Sie …«
Carpenter unterbrach schnell: »Wir! Wir könnten Ihnen nur helfen, wenn wir das Material hätten! Aber das ist weg. Also müssen wir die Finger von Ihnen lassen. Wir können Sie nicht mehr schützen. Niemand kann das mehr … jetzt.«
Plötzlich fing alles an, sich in widerlicher Weise um mich zu drehen, Menschen, Lichter, die Finsternis. Ich fiel auf einen leeren Sitz, als der Bus hielt.
»Tut mir wirklich leid«, sagte Carpenter. Mit einem Satz war er bei der Ausgangstür, die sich automatisch öffnete. Windstöße fegten herein, während Carpenter ins Freie sprang und schnell auf einen anderen Bus zurannte, in dem sich bereits Passagiere befanden.
Eine Maschine startete. Das Toben ihrer Motoren dröhnte durch Regen und Wind. Passagiere drängten an mir vorüber. Ich hätte als erster aussteigen können, aber mir war zu elend vor Furcht. Ich wandte den Kopf und sah den Bus, in den Carpenter gesprugen war, auf das Rollfeld hinausfahren.
Aus. Alles aus. Alles umsonst.
Oder hatte dieser Carpenter mich belogen? Sein Ausweis konnte gefälscht sein. Wer wußte, ob das stimmte, was dieser Mann erzählt hatte? Vielleicht war überhaupt er einer von den anderen, und …
Hör auf, sagte ich zu mir. Hör auf. Sofort. Der Mann war echt, war Carpenter, war Chef des römischen Büros von APS. Beweis: Der blonde Junge mit der blauen Tasche ist verschwunden.
Ja, das war ein eindeutiger Beweis.
Ich fror entsetzlich.
Ich dachte an meine Kinderfrau, an die Sophie Kaczmarek aus Oberschlesien.
»Denk an was Schönes. Denk an Engel …«
Ich dachte: Wenn schon das Mädchen im »Imperial« für sie arbeitete, dann wußten sie natürlich auch bereits alles, was im »Imperial« geschehen war. Ganz gewiß wußten sie es.
Wie durch ein Wunder war ich noch aus Kairo entkommen.
Wunder?
Vielleicht wollten sie mich entkommen lassen — Carpenter hatte so etwas gesagt. Vielleicht wollten sie mich anderswo erledigen. Wo anders? Überall. Hier, im Regen, auf diesem stürmischen dunklen Riesenflughafen zum Beispiel. Wirklich ungefährlich waren nur tote Menschen. Menschen wie mein Bruder. Ich lebte noch. Die Tonbänder, die ich besprochen hatte, waren verschwunden, die besaßen sie nun. Aber ich konnte ja noch immer sprechen, noch einmal alles erzählen, anderen Menschen — der Besitz der Bänder war für sie wertlos, solange ich noch lebte und sprechen konnte, solange ich meine Geschichte erzählen konnte!
Also mußten sie mich töten.
Klar. Völlig klar.
Sie mußten es tun.
Und sie würden es tun. Natürlich. Gewiß. Unter allen Umständen.
Ich wußte nicht, wer dazu den Auftrag erhalten hatte. Jeder hier auf dem Flughafen konnte es sein, ja, jeder. Und ich mußte schnell getötet werden, bevor ich reden konnte, ganz schnell, sofort! Jetzt erst begriff ich völlig, warum Carpenter mir auf das Flugfeld hinaus entgegengekommen war. Er wollte mir noch eine Chance geben, eine lächerlich kleine Chance, beinahe keine. Denn wie sollte ich nun lebend auch nur noch diesen Flughafen, dieses Flugfeld, diesen Bus verlassen, wenn ich doch sterben mußte, augenblicklich, bevor ich etwas erzählen …
Eine Hand legte sich auf meine Schulter.
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr ich empor.
Vor mir stand ein stämmiger Karabiniere. Ich bemerkte, daß der Bus sich geleert hatte. Der Karabiniere hatte ein breites, großes Bauerngesicht.
Er machte eine Kopfbewegung.
»Prego, signore …«
Vielleicht er? dachte ich in Panik.
Warum nicht? Vielleicht er!
Unsinn. Gar kein Unsinn. Natürlich Unsinn. Ich erhob mich schwankend. Die Partitur der Neunten Symphonie fiel auf den Boden des Busses. Der Karabiniere hob sie auf und reichte sie mir mit einem Lächeln.
Ich konnte nicht mehr weiter, ich hatte keine Kraft mehr, keinen Funken Kraft. Es sollte ein Ende haben, schnell.
Aber nicht den Tod, nicht den Tod …
Ich suchte mühsam meine italienischen Sprachbrocken zusammen und fragte den Karabiniere atemlos: »Parla tedesco?«
Er schüttelte den Kopf.
»E …e il padrone della polizia del aeroporto?«
»Si, signore.«
»Devo subito parlarlo«, sagte ich schnell.
Ich mußte ihn sprechen, den Chef der Flughafenpolizei, so rasch wie möglich mußte ich ihn sprechen, wenn ich mein Leben behalten wollte, mein elendes, verpfuschtes Leben.
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Der diensthabende Chef der Flughafenpolizei war erstaunlich jung für seine Position. Er hatte mandelförmige Augen, ebenholzfarbene Haut und ein gepflegtes Schnurrbärtchen. An der Decke seines großen Büros, im zweiten Stock des Turms der Flugsicherung, brannten lange Neonstablampen. Es war ein modern eingerichtetes Büro mit Stahlrohrmöbeln und Aktenschränken aus Metall. Zwischen zweien von ihnen befand sich eine Tür, dem großen spiegelnden Fenster gegenüber, durch das man Ausblick auf das Flughafengebäude hatte. In dem Fenster spiegelten wir uns beide, der ganze Raum spiegelte sich in den Scheiben, und draußen blitzten Lichter, bewegten sich Schatten. Es war immer noch Nacht in Rom, der Wind heulte immer noch, und immer noch schlug schwerer Regen gegen das Fenster.
Die Tür, durch die der Karabiniere mich hereingeführt hatte, befand sich dem Schreibtisch des Polizeichefs gegenüber. Der Diensthabende in dieser Nacht hieß Alfonso Geraldi, und er war Major. Das stand in Druckbuchstaben auf einer Karte, die in einem schmalen Blechrahmen draußen an der Gangtür steckte. Über dem Blechrahmen stand: DI SERVICIO.
Obwohl die Nacht schon zu Ende ging, war der Major frisch und munter, höflich und elegant in seiner schicken Uniform. Er saß hinter einem Riesenschreibtisch, ich davor in meinem Stahlrohrsessel.
»Und was kann ich für Sie tun, Herr Horneck?« fragte der höfliche Major. Er sprach ausgezeichnet Deutsch, mit Akzent natürlich. Meinen Paß hielt er in der Hand. Er hatte um ihn gebeten, nachdem ich mit der Bitte nach Hilfe hereingestürmt war.
Ich antwortete: »Ich heiße nicht Horneck. Das ist ein gefälschter Paß. Ich heiße Richard Mark, und das Bundeskriminalamt in Wiesbaden hat eine weltweite Fahndung nach mir veranlaßt mit dem Ersuchen an alle Staaten, mich sofort nach Identifizierung zu verhaften. Bitte verhaften Sie mich sofort und verständigen Sie den Oberstaatsanwalt Paradin in Frankfurt von meiner Festnahme.«
Der Major Alfonso Geraldi strich über sein Bärtchen und betrachtete dann die große Schreibtischplatte. Vor mir lag die Partitur der Neunten Symphonie, vor ihm, aufgeschlagen und mit dem Einband nach oben, ein graues, dickes Buch, in dem er offenbar gelesen hatte, bevor ich hereinkam. Das Buch lag so, daß ich die Schrift auf dem Einband erkennen konnte. Es hatte mich sehr erstaunt zu sehen, daß der junge, elegante Major den »Tractatus politicus« von Spinoza las — in lateinischer Sprache.
Nachdem er eine ganze Weile den Schreibtisch betrachtet hatte, hob Geraldi den Blick und fragte: »Sie kommen aus Kairo?«
»Ja.«
»Ist das eine Interpolfahndung?«
»Nein.«
»Also werden Sie wegen eines politischen Verbrechens gesucht?«
»Ja.«
Ich verstand nicht, was er sagte, denn eine Maschine flog so tief über das Gebäude hinweg, daß die Fensterscheiben klirrten. Er wiederholte seine Worte: »Zwischen der Bundesrepublik und Ägypten bestehen keine diplomatischen Beziehungen. Sie waren doch vor einer Auslieferung fast völlig sicher. Warum haben Sie Ägypten verlassen?«
»Ich mußte.«
»Aha.«
»Ich wollte nach Argentinien. Buenos Aires. Über Zürich. Eine Maschine nach Zürich …«
»… startet in einer Viertelstunde«, sagte der Major. »Warum haben Sie die nicht genommen?«
»Ich habe Angst!«
»Wovor?« erkundigte er sich höflich.
»Umgebracht zu werden.«
»Tatsächlich?«
»Bitte, sperren Sie mich ein … sofort … bis deutsche Beamte kommen und mich holen!« Bis deutsche Beamte kommen und mich holen. Zurück nach Deutschland holen. Zurück in das Land, in das ich niemals mehr zurückkehren wollte. Zurück zu …
Ich bemerkte, daß der Major mich schweigend und mit einem seltsamen Lächeln ansah. Das erregte meinen Zorn. Ich rief: »Ich verlange, daß Sie mich in Schutzhaft nehmen!«
Der Major lächelte und schwieg noch immer.
»Wenn Sie mir nicht glauben … wenn Sie mich für einen Narren halten oder für einen Schwindler …«
»Aber das tue ich doch nicht, Herr Mark«, sagte Major Geraldi.
»Ich sage die Wahrheit!«
»Ich weiß, daß Sie die Wahrheit sagen, Herr Mark.«
Mir rann jetzt der Schweiß in den Hemdkragen, und meine Hände waren an den Innenseiten naß. »Sie … wissen es?«
»Ja, Herr Mark«, sagte der höfliche Major.
»Woher? Sie haben nicht einmal in Ihrer Fahndungskartei nachgesehen, als ich Ihnen sagte, daß mich die deutschen Behörden ausgeschrieben haben!«
»Doch.«
»Wann?«
»Gestern«, antwortete Major Geraldi.
»Wann?«
»Gestern gegen neunzehn Uhr, als ich mit dem Herrn Oberstaatsanwalt Paradin sprach.«
»Sie haben mit …«
Er nickte.
»Telefonisch?«
»Persönlich«, sagte Geraldi. »Hier, in diesem Zimmer. Er saß in dem Sessel, in dem Sie jetzt sitzen, Herr Mark.«
»Paradin war in Rom …«, stammelte ich.
»Er ist noch immer in Rom.«
»Wo?«
»Hier«, sagte der Oberstaatsanwalt Dr. Walter Paradin. Die Tür zwischen den beiden Aktenschränken hatte sich geöffnet. Paradin kam in den Raum. Er war dunkel gekleidet. Er war immer dunkel gekleidet. Zwei Männer in grauen Flanellanzügen folgten. Ich erhob mich torkelnd und hielt mich an der Schreibtischkante fest.
»Guten Morgen, Ritchie«, sagte Walter Paradin. »Wo ist Ihr Bruder Werner?«
Ich weiß nicht, ob er absichtlich so fragte, aber ich nehme es an, denn er kannte die Beziehung zwischen meinem Bruder und mir gut, und er traf mich mit seiner Frage, als ob er mich mit einem Acht-Unzen-Handschuh unter der Gürtellinie erwischt habe. Ich konnte nicht gleich antworten. Mein Mund war trocken, mein Herz schlug im Hals, und ich mußte, ich wollte gar nicht, ich mußte an jene Bibelstelle denken, die ich auswendig konnte, auswendig seit meiner ersten Schulzeit …
»… Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«
Ich hatte mich ein wenig erholt und antwortete: »Werner ist tot.«
Paradin schwieg und sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick, und jetzt wußte ich, daß wir an dasselbe dachten — an jene Stelle aus dem Ersten Buch Mose, die ich auswendig kannte.
»Der HErr aber sprach: Was hast du getan? …«
Paradin fragte: »Wurde Ihr Bruder ermordet?«
»Ja«, antwortete ich.
»Das habe ich erwartet«, sagte Paradin.
»Wieso erwartet?«
»Die Stimme des Blutes deines Bruder schreit zu mir von der Erde …«
»Wären Sie sonst geflohen?« fragte Paradin. »Wären Sie sonst hier, Ritchie?«
»Nein«, sagte ich.
»Nun also«, sagte Paradin. Die anderen Männer schwiegen. Der Oberstaatsanwalt und ich sahen einander noch immer an.
»… und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen …«
Ich sagte schnell: »Werner wurde im Hotel ›Imperial‹ ermordet. Er liegt im Schlafzimmer des Appartements 907 auf dem Bett, die Kehle durchschnitten. Das heißt — so lag er da, als ich ihn zuletzt sah, vor ein paar Stunden. Inzwischen hat man ihn vielleicht gefunden und schon weggebracht. Das weiß ich natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte der weißhaarige kleine Paradin mit dem zierlichen Körper und dem großen, wohlgeformten Schädel. »Alles kann kein Mensch wissen, Ritchie.«
Ich stammelte: »Wieso … wieso sind Sie hier? Wer … woher wußten …«
Paradin besaß sehr zarte Glieder, kleine Hände und Füße, er trug eine goldgefaßte Brille, die ihm ständig auf der Nase nach vorn rutschte, und er war vierundsechzig Jahre alt, das wußte ich genau, denn ich kannte ihn sehr gut und sehr lange. Paradin hinkte. Eines seiner Beine war kürzer als das andere. Er trug besondere Schuhe, aber auch die konnten das Hinken nicht ganz beseitigen.
Der Oberstaatsanwalt sagte: »Wir haben keine Botschaft mehr in Ägypten, aber wir haben noch immer ein Konsulat. Und gute Freunde. Natürlich hätten wir die Ägypter nie dazu bringen können, Sie auszuliefern, Ritchie. Deshalb paßten unsere Freunde ein wenig auf Sie auf und bekamen einiges von dem mit, was Sie erlebten.« Paradin lächelte. Seine blauen Augen wurden fröhlich wie die eines Kindes, wenn es lächelt. Ich dachte, wie viele Leute in Kairo auf mich ein wenig aufgepaßt hatten. »Bei weitem nicht alles bekamen unsere Freunde mit, natürlich. Aber doch so viel, daß Sie aus Ägypten fort mußten.«
Mir war sehr schlecht, ich fühlte mich schwindlig und schwach, und Paradins Stimme drang wie durch einen Watteberg an mein Ohr. Und da war die Erinnerung daran, wie jene Bibelstelle weiterging …
»… Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seine Frucht nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden …«
»Nun, und als unseren Freunden das klar war, setzten sich ein paar von ihnen in die Büros der großen Fluggesellschaften, da sie wußten, daß Sie schnell weg mußten. Schiffe, Eisenbahnen und innerarabische Fluggesellschaften fielen deshalb fort.«
»… Kain aber sprach zu dem HErrn: Meine Sünde ist zu groß, als daß ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden …«
Paradins Stimme erreichte mich nur leise, obwohl er laut sprach: »Sie wechselten sich ab, unsere Freunde. Sie besaßen alle Fahndungsfotos von Ihnen. Gestern vormittag, als Sie Ihr Lufthansa-Ticket buchten, hatte einer von ihnen Glück. Er erfuhr, wann Sie fliegen würden und wohin und unter welchem Namen.«
»… und Kain sprach: So wird mir’s gehen, daß mich totschlage, wer mich findet …«
»Unsere Freunde schickten einen verschlüsselten Funkspruch. Als ich die Nachricht erhielt, flog ich gleich hierher … mit diesen Herren.«
»Kriminalpolizei?«
Paradin nickte, und einer der Männer, die ihn begleiteten, trat vor und zeigte mir Papiere, die ich kaum sah.
»Mit den italienischen Behörden ist alles erledigt«, sagte dieser Beamte. »Hier die Unbedenklichkeitserklärung des römischen Generalstaatsanwalts, hier das Schreiben des Justizministeriums …«
»… Aber der HErr sprach zu Kain: Nein! Sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HErr machte ein Zeichen an Kain, damit ihn niemand erschlüge, wer ihn fände …«
»Und Sie bringen mich sofort zurück nach Deutschland?« fragte ich Paradin.
»Ja, Ritchie. Sofort. Es wird Ihnen nichts zustoßen, seien Sie ohne Sorge.« Er rückte an der dunkelblauen Krawatte, die er zu dem dunkelblauen Anzug trug.
»… Also ging Kain von dem Angesicht des HErrn hinweg und wohnte im heimatlosen Lande östlich von Eden …«
Ach, auswendig kannte ich diese Stelle, Wort um Wort, seit so vielen, vielen Jahren.
»Danke«, sagte ich zu Paradin.
»Sie wissen, was Sie in Deutschland erwartet?« fragte der zweite Kriminalbeamte.
»Ich weiß es.«
»Und trotzdem danken Sie uns?«
»Ja«, sagte Paradin, bevor ich antworten konnte.
»Schon gut, Ritchie, Sie müssen nichts erklären. Ich weiß, warum Sie trotzdem danken. Es ist nicht nur deshalb, weil wir Sie davor bewahren, umgebracht zu werden.«
»Nein«, sagte ich leise, »nicht nur deshalb.«
»Sie haben erkannt, daß Ihr Bruder nun doch nicht auch noch über seinen Tod hinaus stärker bleibt als Sie.«
»Das habe ich erkannt«, sagte ich.
»Die Tonbänder, die Sie besprochen haben, sind verschwunden. Aber Sie werden noch einmal sprechen … in Frankfurt. Sie werden noch einmal alles erzählen, was wir nie erfahren sollten.« Paradins Brille war wieder nach vorn gerutscht, er schob sie hoch. »Und Sie werden die Wahrheit erzählen.«
»Ja«, sagte ich.
»Die ganze Wahrheit.«
»Sie ist nicht schön«, sagte ich.
»Das weiß ich«, sagte Paradin.
Der italienische Major und die beiden deutschen Kriminalbeamten lauschten schweigend. Wieder flog donnernd eine Maschine über uns hinweg.
»Ich weiß, daß sich Abgründe auftun werden, wenn Sie zu erzählen beginnen, Ritchie«, sagte Paradin. »Aber Sie müssen erzählen, denn ich muß die Wahrheit kennen, die ganze Wahrheit. Ich muß sie erfahren von Ihnen.«
»Von mir! Ich bin ein Schwein«, sagte ich. »Und wie ein Schwein habe ich gehandelt.«
Paradin nickte.
»Das stimmt. Aber Sie waren nicht immer ein Schwein. Widersprechen Sie mir nicht, ich kenne Sie seit zwanzig Jahren. Nein, Sie waren nicht immer ein Schwein. Sie wurden eines. Das ist es, was mich fasziniert. Denn Sie sind nicht der einzige Mensch, der eine solche Wandlung durchgemacht hat. Außerdem …«, er lachte, und wieder hatte er die Augen eines Kindes, »… außerdem mußten Sie ein Schwein sein.«
»Wieso, bitte?« fragte, der italienische Major höflich.
»Man braucht ein Schwein, um die Trüffeln zu finden«, antwortete Paradin. »Die großen Trüffeln. Ritchie fand eine ganz große …«
»Oh, jetzt verstehe ich«, sagte der Major. Paradin blinzelte ihm zu und wandte sich dann an mich: »Der Major und ich, stellten wir fest, haben einen gemeinsamen Lieblingsphilosophen.« Er wies mit dem Kinn zu dem Buch auf dem Schreibtisch. »Der Major kann sogar lateinisch lesen — beneidenswert.«
»Jeder Mensch braucht etwas, was er liebt, nicht wahr?« sagte der Major, seltsam verlegen. »Sie, Herr Mark, lieben Musik, wie ich hörte …«
»Das tun auch andere Menschen«, sagte ich bitter. »Das tut auch Herr Professor Delacorte. Ich habe nie verstehen können …«
»… daß auch er die Neunte liebt?« fragte Paradin.
»Ja.«
»Menschen sind sehr seltsam«, sagte der Oberstaatsanwalt. »Sehr schwer zu verstehen. Während wir auf Sie warteten, las mir der Major eine Stelle aus dem ›Tractatus politicus‹ vor. Ich meine: Er übersetzte sie mir. Sie paßt zu diesem Gespräch. Würden Sie bitte noch einmal übersetzen, Major?«
Der Italiener verbeugte sich, immer noch verlegen, nahm das alte Buch, blätterte, suchte und sprach dann fast fließend: »Ich habe mich eifrig bemüht, des Menschen Tun weder zu belachen noch zu beweinen, noch zu verabscheuen, sondern es zu begreifen.« Er legte das Buch wieder auf den Schreibtisch.
»Um zu begreifen, was ein Mensch heute tut«, sagte ich, »muß man aber wissen, was er gestern getan hat. Und um zu begreifen, was er heute denkt und ist, muß man wissen, was er gestern dachte und war.«
»Und das alles werden Sie mir nun erzählen«, sagte Paradin. »Sie wissen so viel — beinahe alles — über fast alle Menschen, die mit diesem Verbrechen zu tun hatten. Sie kennen das Gestern dieser Menschen. Und auch von diesem Gestern müssen Sie mir berichten, es gehört unbedingt dazu, Sie haben völlig recht, all das gemeinsam erst ergibt die Wahrheit.«
»Sie sollen sie hören«, sagte ich.
Hier also folgt die ganze Wahrheit nun für jeden, der berufen ist oder auch nur bereit, über das, was geschah, zu richten.
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Ich schaltete den Zehnplattenspieler ein. Die unterste Platte fiel auf den kreisenden Teller, der Tonabnahmearm schwang einwärts und senkte sich, und nebenan begann Vanessa zu arbeiten, sobald die ersten Takte von »Cocktails for Two« aus den Lautsprechern kamen. Das war eine Mr.-Acker-Bilk-Langspielplatte, Acker Bilk mit seiner Klarinette, Ben Fabric am Klavier, dazu der Leon Young String Chorale, also massenhaft Geigen. Wir hatten alle Mr.-Acker-Bilk-Platten auf Lager, denn Vanessa liebte seine Musik, und man soll es den Menschen bei der Arbeit so angenehm wie möglich machen.
Der erste Teil von Vanessas Auftritt war eine der üblichen Geschichten: Das Mädchen, das einen Floh hat und ihn nicht fangen kann und ihn überall sucht und sich dabei immer weiter auszieht. Die Sensation brachte der zweite Teil: »Vanessa’s Famous Candle Act«. Aber so weit waren wir noch lange nicht. Unsere Preise hatten es in sich, hier hinten in dem Raum mit den Spiegelwänden, dem gedämpften roten Licht, den schwarzen Tischchen und den schwarzen Ledersesseln, aber wir boten den Leuten auch etwas für ihr Geld.
Bei »Cocktails for Two« gelang Vanessa mit viel Hüpfen und Winden der Ausstieg aus dem schwarzen Abendkleid. Bei »Summerset« streifte sie auf ihrer Flohsuche die Handschuhe, die schwarz wie das Abendkleid waren und bis zu den Ellbogen reichten, ab, danach ein Hemdchen, und dann fing sie an, das Mieder aufzuhaken, und ließ sich dabei von Gästen helfen, zu denen sie an die Tische kam.
Sie zuckte, wenn der Floh, der natürlich gar nicht da war, sie wieder einmal biß, und sie saß auf den Knien verschiedener Damen und Herren, die alle an dem Korsett herumfingerten, und sie ächzte und wimmerte. Unser bestes Stück, diese Vanessa, zweiundzwanzig Jahre alt, naturblond, schlank und vollbusig. Nach einer erstklassigen Ausbildung beherrschte sie das ganze chi-chi und verstand es, ein hinreißend idiotisches Babyface zu machen und einen Schmollmund à la Bardot und auch mit den großen blauen Augen zu kullern.
Das »Strip« lag in der Innenstadt von Frankfurt am Main, an der Taunusstraße. In dem großen Lokal gab es zwei Bars mit vielen Hockern, viele Tische, eine von unten farbig beleuchtete Tanzfläche und eine kleine Bühne für die Artisten und die Stripperinnen, die hier auftraten.
Sie alle waren vorzüglich, aber die Sensation war natürlich Vanessa. Boris hatte sie unter einen hochdotierten Exklusivvertrag genommen, der alle möglichen Schutzklauseln für uns und alle möglichen Konventionalstrafen für Vanessa vorsah, falls sie versuchte wegzulaufen.
»Sie wird nicht weglaufen«, sagte ich oft. »Schließlich hast du ihr damals so geholfen, und sie ist uns beiden dankbar.«
»Wenn du mal wem geholfen hast und er dir dankbar zu sein hat, mußt du verflucht vorsichtig sein«, antwortete Boris dann immer.
Die Artisten und die anderen Stripperinnen verpflichten wir nur auf Zeit, ein paar Wochen, zwei Monate, denn wir wechselten das Programm vorn in der Bar häufig. Auch die Kapellen. Ich sage »vorn in der Bar«, weil es für Herrschaften mit sehr dicken Brieftaschen eben noch dieses Hinterzimmer gab, dessen Wände mit Spiegeln verkleidet waren, in dem rotes Licht brannte und in dem Vanessa sich produzierte. Der Raum war acht mal acht Meter groß. Wir hatten die schwarzgelackten Tische und die schwarzen Ledersesselchen eng aneinandergerückt, da ging schon etwas hinein. Freitag und Samstag waren wir hier stets ausgebucht, heute, Montag, der schlechtesten Nacht der Woche, war der Spiegelraum zu mehr als drei Vierteln besetzt. Man konnte nicht sagen, daß sie bei uns schon angefangen hatte, die große Krise. Frankfurt war aber auch eine gute Stadt für so ein Lokal. Hier gab es Banken, Industrie, viele fremde Besucher, Ausstellungen und Messen. Bei Gott, wir stießen uns gesund an unserem »Strip«!
Im Spiegelraum, zu dem man nur entweder von Boris oder mir geführt werden konnte (es gab hier eigene Toiletten und Waschräume und Garderoben und Ausgänge), wurden grundsätzlich nur Champagner oder Whisky oder Getränke in der Preislage serviert; mit etwas anderem hielten wir uns gar nicht auf. Natürlich hatten wir Stammkunden, wie einen millionenschweren »Kessen Vater« namens Petra Schalke. Die kam gewiß zweimal wöchentlich, meistens — wie heute — in Begleitung eines weißblondgefärbten Modeschöpfers, der schon geliftet war und eine intellektuelle schwarze Hornbrille und goldene Kettchen an den Handgelenken trug. Die Schalke erschien oft auch mit anderen, normalen Freunden, wie wir denn hauptsächlich normale Stammkunden hatten, mit ganz normalen Freunden, aber natürlich auch solche, die auf andere Weise verdreht waren, einfach alles eben.
Nun ertönte Mr. Acker Bilks Version von »Alley Cat«, und Vanessa untersuchte ihren Büstenhalter und das viele Fleisch darin, aber der Floh, den es nicht gab, war da offenbar in ihrem Höschen, und dort suchte sie ihn auch, und bei »What’ll I do?« ließ sie sich den Büstenhalter von einem dicken Herrn im Smoking, der Veuve Cliquot 1952 trank, abnehmen, und alle, die in der Nähe saßen, durften nachsehen, ob sich der Floh vielleicht auf ihren großen weißen Brüsten mit den großen rosigen Warzen finden ließ. Sie schaukelte dem Veuve-Cliquot-52-Herrn auf den Knien herum und ließ die blauen Augen kullern. Sie war ein wirklich schönes Mädchen, das sein Zeug ausgezeichnet machte, dachte ich, während ich ihr zusah. Eine der vier Spiegelwände des Raums war nämlich in einem drei mal zwei Meter großen Rechteck präpariert und von meiner Seite her durchsichtig wie eine Glasscheibe. Meine Seite: das war unser Büro; es lag hinter dem Spiegelzimmer. Drinnen sah der Spiegel natürlich wie ein Spiegel aus. Wir brauchten diese geheime Fensterscheibe, denn wir mußten, wenn Vanessa auftrat, wissen, wie die Atmosphäre war, damit wir rechtzeitig die Rausschmeißer rufen konnten, falls einmal etwas passierte. Es passierte sehr selten etwas, nur manchmal, wenn ein Herr zu alkoholisiert oder seine Begleiterin zu böse oder eine Dame zu animiert war. Da Vanessa immer erst nach dem allgemeinen Barprogramm um zwei Uhr nachts auftrat, erschienen ihre Zuschauer natürlich mehr oder weniger beschwipst, denn sie hatten vorher ja schon draußen im Lokal getrunken. Es ging einfach nicht anders; wir mußten aufpassen. In unserem Job kam man nie vor fünf, aber sehr oft erst um sieben Uhr ins Bett.
»Über zweiundzwanzig Prozent in Neugablonz«, sagte Minski. Dann fing er an zu lachen. Er saß hinter seinem altmodischen Schreibtisch und hatte einen Haufen Zeitungen von Dienstag morgen vor sich, die um Mitternacht gekommen waren. Wir lasen immer die Morgenzeitungen, während Vanessa arbeitete, oder wir überprüften Abrechnungen und erledigten Post und Bankgeschichten. In jener Nacht lasen wir Zeitungen. Ich besaß im Büro auch einen altmodischen Schreibtisch, neben dem Minskis, gegenüber dem durchsichtigen Spiegel. Hinter uns stand ein großer Geldschrank, Herstellungsjahr 1909. Es gab ein schäbiges Wandbord mit ein paar Flaschen und Gläsern, eine schäbige Sitzgarnitur, deren Leder an manchen Stellen schon brüchig war und riß, einen häßlichen runden Tisch und ein Pult mit einer Remington 1936. Ein abgetretener Teppich lag auf dem Fußboden. An einer anderen Wand standen in wackeligen Regalen Leitzordner, Steuergesetzbücher und eine Menge Literatur zur Zeitgeschichte, insbesondere über das Dritte Reich. Neu waren der Dual-1010-V-Plattenspieler mit Stereoanlage und eine große Diskothek, und neu waren die beiden Telefone auf unseren Schreibtischen — die Post hatte sie gegen die veralteten ausgetauscht.
Das Büro war vier mal fünf Meter groß, es besaß kein Fenster, nur einen kräftigen Exhaustor, der sich alle zehn Minuten von selbst einschaltete und dessen Ventilator frische Luft brachte. Der Ventilator schepperte. Von den Wänden lösten sich die Veilchen-Rosen-Vergißmeinnicht-Tapeten. Wir hätten uns neue Möbel und einen neuen Teppich kaufen und die Wände neu tapezieren lassen können. Ich hatte das ein paarmal angeregt, aber Boris’ Antwort war stets nur gewesen: »Für was?« Im Grunde hatte er natürlich recht. Wirklich nötig war es nicht, solange nur draußen alles erstklassig aussah.
»Wo ist Neugablonz?« fragte ich, zerrte meine Smokingschleife herunter und öffnete den Hemdkragen, denn es war heiß in dem Büro. Hier arbeitete die Zentralheizung manchmal wie von Sinnen, und auch dagegen hätte man etwas tun können; aber wirklich nötig war es nicht. Wenn es zu heiß wurde, wie jetzt, zog man seine Jacke aus und öffnete sein Hemd. Boris hatte das schon getan.
»Neben Kaufbeuren«, sagte er. »Die Stadt, in der die vielen Sudetendeutschen leben, die Schmuck herstellen.« Boris Minski war ein mittelgroßer Mann mit schwarzen Augen, die stets feucht schimmerten, lange Wimpern besaßen und nie mitlachten, wenn der Mund lachte. Boris hatte glänzendschwarzes Haar, ein bleiches Gesicht, Tränensäcke und eine enorme Nase. Er duftete nach englischer Seife und »Yardley«-Lavendel. Er war vierundfünfzig Jahre alt.
»In Neugablonz, les ich, haben von 971 Wahlberechtigten 221 die NPD gewählt. Inzwischen machen sie sich schon in die Hosen und könnten sich selber erschlagen dafür.«
»Wofür?«
Der Exhaustor schaltete sich ein, der Ventilator klapperte laut. Boris schien das nichts auszumachen, mir schon, und ich nahm mir vor, das verfluchte Ding reparieren zu lassen, morgen bereits und gegen seinen Willen.
»Weil sie so stramm gewählt haben!« überschrie Boris den Ventilator. Er war ein russischer Jude, und er kam aus der Stadt Kamenez-Podolsk, die nordöstlich von Czernowitz, nicht weit von der rumänischen Grenze, liegt. Er sprach fließend Deutsch mit Akzent. »Die leben da doch von ihren Schmuckwaren, nicht? Jetzt, les ich, haben ihnen ein paar Exporteure gesagt, daß sie ihnen nichts mehr abnehmen werden — angeblich —, und sofort ist helle Panik ausgebrochen, und alle jammern, daß die ausländischen Einkäufer erst recht nicht mehr nach Neugablonz kommen werden, sondern sie werden Neugablonz was pfeifen und in Hongkong oder Japan einkaufen. Dort ist es genauso billig. Steht da. Wie findest du denn das? So ein Pech für die armen Neugablonzer.« Er grunzte. »Ein Beispiel von spontaner Glaubensstärke. Spontan geht immer daneben. Bissel denken vorher …«
Unser Büro war schalldicht. Wir konnten einen Lautsprecher einschalten und hören, was draußen gesprochen wurde, wenn wir das hören wollten. Draußen war alles in Ordnung. Der Plattenspieler neben mir lief, und ich hörte, ganz leise, die Musik, die im Spiegelzimmer laut erklang. Bei »These Foolish Things« hatte sich Vanessa auf den Schoß des Kessen Vaters, dieser Petra Schalke, die einen Männerhaarschnitt trug, gesetzt und langsam die Netzstrümpfe ausgezogen. Der Kesse Vater, einen schwarzen Nerzmantel über der Schulter, war seit Monaten jammervoll verliebt in Vanessa und hinter ihr her — vergeblich, eine Tragödie — und schon dankbar, wenn Vanessa sich auf ihren Schoß setzte. Der weißblonde Modeschöpfer mit den Rüschenmanschetten und dem goldenen Kettchen betrachtete seine Fingernägel, als Vanessa nun die nackten Beine in die Luft steckte und Theater machte und ihrer leidenschaftlichen Verehrerin danach gestattete, den Hüfthalter zu öffnen.
Wir hatten Vanessa gesagt, daß sie so etwas oder so etwas Ähnliches der Schalke immer gestatten mußte, sie brachte uns so viele Leute an und trank nur Pommery demi sec der besten und teuersten Jahrgänge, da hatte man einfach menschlich zu sein. Die unglücklich verliebte Lesbierin — sie war etwa fünfundvierzig und sah aus wie drei Kerle — fummelte an Vanessas Hüfthalter herum und klemmte sich vor Aufregung die Finger, was weh tat. Der Modeschöpfer blies über ihre Hand und machte heile-heile, und dann flüsterte der Kesse Vater mit hartem, hungrigem Gesicht Vanessa etwas ins Ohr, worüber Vanessa baby-kichern und die blauen Augen kullern lassen mußte.
»Im übrigen«, sagte Minski, »krieg ich tausend Mark von dir.«
Ich holte einen Packen Hunderter, zusammengerollt, aus meiner hinteren Smokinghosentasche, zählte zehn ab und reichte sie Boris. Ich hatte eine Wette verloren, das stand jetzt um zwei Uhr nachts am 22. November 1966 fest, jetzt, da die NPD-Prozentzahlen aller Städte, Landkreise und Gemeinden nach der Wahl vom Sonntag im Druck vor uns lagen. Die NPD würde in Bayern großen Erfolg haben, darüber waren wir uns einig gewesen. Also hatten wir vereinbart, daß derjenige Sieger der Wette sein sollte, der den tatsächlichen Ergebnissen, die wir, ein jeder für sich, vorausgesagt und aufgeschrieben hatten, am nächsten kam. Und das war Minski gewesen. Es fing schon damit an, daß ich auf nicht mehr als zehn Sitze der NPD im bayerischen Landtag getippt hatte, er jedoch auf fünfzehn. Genau fünfzehn Sitze hatte die NPD erhalten.
Boris zählte die Scheine nach und sagte: »Stimmt.«
Jetzt spielte Mr. Acker Bilk »Handsome Gigolo«, und Vanessa zuckte und schüttelte sich, es war klar, daß der Floh nur noch dort sein konnte, wo sie etwas am Leib hatte außer ihren Schuhen. Sie ließ sich alle Zeit von der Welt. Als wir anfingen, diese Nummer zu proben, hatte ich Vanessa gesagt, sie müsse mit dem Ausziehen fertig sein, wenn eine Seite der Langspielplatte abgelaufen sei. Zwei Seiten dauerten immerhin an die dreißig Minuten.
»So lang brauche ich auch!« hatte Vanessa erwidert. »In den dreißig Minuten bringe ich sie erst richtig in Fahrt für den Candle Act! Verlaß dich auf mich, Ritchie. Kein Mensch wird sich langweilen. Wenn ich sonst nichts kann — das kann ich.«
»Ja, Herzchen, ja, aber …«
»Laß sie machen«, sagte Boris. »Ich glaub, sie hat recht.«
Sie hatte recht gehabt. Die beiden Seiten einer Langspielplatte schaffte sie ohne Mühe, und bei dem ersten Teil der Nummer wurde auch noch serviert — von lauter sehr hübschen Mädchen in schwarzen Miniröcken, die weiße Schürzchen und Häubchen trugen und wie Zofen aussahen.
»Handsome Gigolo« war das letzte Lied auf SIDE I dieser Acker-Bilk-Platte. Die Musik verstummte, und der Tonabnahmearm schwang nach außen, damit die nächste Platte (auch Acker Bilk) von dem Stapeldorn auf den Teller herunterfallen konnte. Bis der Arm sich wieder senkte, vergingen ein paar Sekunden, und in der Zeit glitt Vanessa im Raum umher wie eine Schlange mit Schluckauf und schob sich zwischen den Gästen durch, bemüht, so viele wie möglich zu berühren oder zu streifen. Ein Naturtalent.
Die neue Platte lag nun auf dem Teller, Musik erklang wieder, und Vanessa machte weiter. Zu »Bula Too« und »Blueberry Hill« und »Sweet Georgia Brown« rollte sie sich auf einem kleinen Teppich in der Mitte des Spiegelzimmers herum und jaulte, weil der Floh in ihrem Höschen sie so plagte, und bei »Big Crash From China« kroch sie auf allen vieren und hielt dabei den Hintern hoch, damit Männer und auch Frauen immer wieder versuchen konnten, ihr schwarzes Höschen herunterzuziehen, was aber keinem gelang. Während dieses Theaters war ich zu Minskis Schreibtisch gegangen. Hier lagen Zeitungen, Bankauszüge und eine Illustrierte, auf deren Titelblatt Riesenbuchstaben verkündeten: ICH, EMMY GÖRING, SAGE, WIE ES DAMALS WIRKLICH WAR. Diese Serie lief schon seit geraumer Zeit, und Frau Göring berichtete darin, was für ein treusorgender Familienvater, vorbildlicher Ehemann, Judenfreund, Pazifist und erbitterter Hitlerfeind der Ministerpräsident und Reichsmarschall gewesen war, wie verzweifelt er sich gegen den Rußlandkrieg wehrte, wie er und seine Familie oft kaum zu essen gehabt, wie sehr Frau Göring und ihre Tochter nach Kriegsende gehungert und gefroren hatten und wie demokratisch aufrecht und antifaschistisch ihr Mann gekämpft hatte bis zum Ende.
»Lach nicht so blöd, Ritchie«, hatte Boris zu mir gesagt, als diese Serie begann. »Wer kann den Mann wirklich besser gekannt haben als die Frau, die ihn geliebt und die mit ihm gelebt hat?«
Neben den Morgenzeitungen mit den endgültigen Ergebnissen lagen auf Minskis Schreibtisch unsere beiden Voraussagezettel für den Ausgang der Landtagswahl in Bayern. Ich hatte stets entweder viel zu hoch oder viel zu niedrig getippt, Minski nur ein einziges Mal um etwas mehr als ein Prozent, und das galt nicht nur für die Landkreise, sondern auch für die großen Städte! Es war geradezu unheimlich …
»Ich hab’s mir ausgerechnet«, sagte Boris, der meinen stieren Blick bemerkte. »Hättest du auch tun können. Ganz einfach. Schau her.« Er holte eine große Autokarte von Westdeutschland hervor und breitete sie aus. Dann nahm er einen Bogen Pauspapier, auf dem Westdeutschland nachgezeichnet und bestimmte Gebiete einfach, doppelt oder dreifach schraffiert und Städte mit kleinen, größeren und großen Punkten versehen waren. Das Pauspapier legte Minski über die Landkarte, während draußen, im Spiegelzimmer, Vanessa zu den Klängen von »Red Sails In The Sunset« selbst das schwarze, winzige Höschen auszog und sich dabei reckte und wiegte. Sie besaß sehr viel blondes Haar, dort und auch unter den Achselhöhlen. (»Achselhöhlen bleiben natürlich unrasiert«, hatte sie gleich bei den ersten Proben gesagt. »Wirkt animalischer so.«)
»Ich bin davon ausgegangen«, erklärte Boris nicht ohne Selbstgefälligkeit, »was bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und in Hessen passiert ist. Da bekam die NPD in unserem schönen Frankfurt zehn Prozent, nicht?«
Durch den Einwegspiegel sah ich, wie Vanessa nun das Theater mit dem G-String begann.
»Danach«, sagte Boris, »hab ich ein bissel gelesen. Statistiken. Poliakov-Wulf, Shirer, Schnabel, Sonnemann … und so.« Er sah zu den wackeligen Regalen. Dort stand seine politische Bibliothek. »Ich hab festgestellt, daß die NSDAP bei den Weimarer Reichstagswahlen 1928 nur 2,6 Prozent gekriegt hat. Bei den Bundestagswahlen 1965 hat die NPD 2 Prozent gekriegt.«
»Boris«, sagte ich, »die NSDAP wurde 1920 gegründet. Die war schon acht Jahre alt bei diesen Wahlen. Die NPD war erst zwei Jahre alt.«
»Hab ich berücksichtigt.«
»Wie?«
»Düsenzeitalter einkalkuliert. Zeit ist relativ. Alles geht schneller heute. Weiter. Unsere Regierung ist völlig im …«
»Die alte. Momentan. Wir kriegen gleich eine neue.«
»Damals haben wir dauernd neue Regierungen gekriegt. Damals war die Arbeitslosigkeit schon groß im Schwung. Heute fängt sie wieder an, klein, klein noch, aber es geht schneller, Ritchie, viel schneller. Düsenzeitalter. So, hab ich mir gesagt, wird also alles kommen wie beim letztenmal.«
Draußen ertönte jetzt »Let’s Put Out The Lights«, und Vanessa fing an, unendlich langsam auch noch den G-String, der das Letzte verdeckte, abzunehmen.
Boris dozierte: »Zum Schluß hab ich mir die Statistiken von den Reichstagswahlen 1930 angesehen und diese Karte von Westdeutschland durchgepaust. Westdeutschland genügt ja noch. Im Moment. Überall da, wo die Nazis 1930 mehr als zehn Prozent der Stimmen bekommen haben, hab ich die Gebiete schraffiert. Bei zwanzig Prozent hab ich doppelt schraffiert, bei über fünfundzwanzig Prozent dreifach. In den Städten — kleiner Punkt, größerer Punkt, ganz großer Punkt. Siehst du?«
»Ja.«
Etwas lenkte ihn ab, er blickte in den Spiegelraum hinaus.
»Wer sind die beiden Kerle?«
»Wo?«
»Links hinter der Schalke und ihrem Hundertfünfundsiebziger.«
»Ach die.« Links hinter der Schalke saßen zwei »Special Effects Men« einer großen amerikanischen Filmgesellschaft, die gerade in der Umgebung von Frankfurt drehte. Diese Männer waren hochbezahlte Techniker, die einfach jeden, auch den tollsten und atemraubendsten Trick ausknobelten. Sie beobachteten Vanessa mit wissenschaftlichem Interesse. Ich sagte Boris, wer der kleine Schwarze und der große Blonde waren und daß ich sie eingeladen hätte in der Hoffnung, sie würden bei dem »Candle Act« in Verzückung geraten und Reklame für uns machen.
»Brav«, sagte Boris. »Brav, Ritchie. Wir sahnen hier noch ab, was geht. Wo war ich? Ach ja! Nun hab ich das Pauspapier auf die Karte gelegt und feststellen können, daß die NPD bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Hessen überall dort die meisten Stimmen bekommen hat, wo sie 1930 die meisten Stimmen bekommen hat! Also hab ich eine Grundlage gehabt für meine Voraussage für Bayern. Nenn mich Computer! Wo ich besonders viel schraffiert hab oder wo die Punkte besonders groß sind, kriegten die Nazis 1930 die meisten Stimmen in Bayern. Jetzt haben sie genau da wieder die meisten Stimmen gekriegt.«
»Nicht doch die Nazis«, sagte ich. »Die NPD. Das ist etwas ganz anderes, Kamerad.«
»Natürlich«, sagte Boris. »Ich hab mich versprochen. Aber ich muß sagen, ich bin sehr zufrieden mit mir. So blöd wie das letztemal werde ich nicht mehr sein.«
»Ich auch nicht«, sagte ich.
»Immer schön auf Papa hören«, sagte Boris. Er klopfte mir mit einer Hand auf den Arm und schenkte mir sein Lächeln, bei dem die schwarzen, feuchten, langwimprigen Augen stets todernst blieben, und ich sah, daß Vanessa drüben ihren G-String abgenommen hatte. Sie fand endlich den Floh, den es nicht gab, hielt ihn hoch und drückte zwei Finger zusammen.
Das rote Licht wurde nun schummeriger. (Ein Mixer zog draußen auf dem Gang einen elektrischen Widerstand höher.) Der Plattenspieler stellte sich ab. Was folgte, war genau einstudiertes Zeremoniell. Zwei besonders hübsche Zofen brachten ein Tigerfell herein und breiteten es feierlich auf dem Boden des Spiegelraums über dem Teppich aus. Es war ein großes Fell, der ausgestopfte Kopf des Viehs hing daran, Glasaugen funkelten dunkelgrün. Die Zofen knicksten. Sie geleiteten Vanessa auf das Fell und verschwanden, nochmals knicksend. Vanessa ließ sich langsam in die Knie sinken, erhob sich ein wenig, so daß sie nun kauerte, und öffnete die Schenkel. Der zweite Teil ihrer Darbietung lief ohne Musik ab. Es war immer still wie in einer Kirche — wenn man davon absah, was für Laute Vanessa von sich gab. Zuletzt klang das stets so, wie es klingt, wenn bei Hagenbeck wilde Tiere ausgeladen werden.
Es existieren eine Menge heiße Nachtlokale in Frankfurt, aber wir hatten gewiß das heißeste. Mein Freund Boris Minski und ich, von der Konkurrenz beneidet und gehaßt, galten als die kältesten, zynischsten und gewissenlosesten Hunde der Branche. Darauf waren wir sehr stolz, denn wir mußten schwer schuften, um uns diese Bezeichnungen zu verdienen. Vor Monaten, als die Sache mit Vanessa eben angefangen hatte, war ein Abgesandter der Jüdischen Kultusgemeinde erschienen, ein gebeugter, alter Mann mit bleichem, ausgemergeltem Gesicht.
»Herr Minski«, hatte dieser Mann gesagt, »Sie wissen, daß es sehr viele Bars und Nachtlokale in Deutschland gibt, die Juden gehören.«
»Moment«, hatte Boris erwidert. Ich war bei dem Gespräch dabeigewesen. »Dieser Nachtklub gehört nur zu fünfzig Prozent einem Juden. Die anderen fünfzig Prozent gehören meinem Partner Richard Mark, und der ist ein hundertprozentiger Christ mit dem EK I und der Nahkampfspange und was weiß ich noch allem.«
»Darum dreht es sich nicht«, sagte der würdige alte Herr von der Kultusgemeinde. »Was Ihr Partner tut, muß er als Christ verantworten.«
»Ich verantworte es schon«, sagte ich.
»Es ist Ihre Sache. Ich wäre überhaupt nicht gekommen, wenn Ihre neueste Darbietung nicht so absolut skandalös wäre.«
»Wenn sie so skandalös ist, warum zeigt ihr mich dann nicht an?« fragte Minski, mit traurigen Augen grinsend.
»Das wissen Sie so gut wie ich«, sagte der Herr von der Kultusgemeinde.
»Ihr könntet mir den Laden doch kaputtmachen!«
»Ja, und das ganze Land hätte sein Fressen. Juden gegen Juden!«
»Ich hab gewußt, daß man sich auf euch verlassen kann«, sagte Minski.
»Also schön. Was ich mach, ist skandalös. Aber es ist nicht verboten, wie?«
»Leider nicht«, sagte der Abgesandte der Kultusgemeinde.
Falls Sie es noch nicht wissen sollten: Verboten kann eine Darbietung wie die Vanessas nur werden, wenn der Tatbestand des »Öffentlichen Ärgernisses« gegeben ist. Damit der gegeben ist, muß jemand zur Polizei gehen und erklären, daß er an der Darbietung Anstoß nimmt. Dann wird es allerdings peinlich. Die Darbietung kann untersagt werden, die Beteiligten, wenn sie Pech haben, können ins Kittchen wandern. Aber, o Wunder, nun ließen wir Vanessa schon elf Monate auf die Menschheit los — und sie war wirklich eine Wucht! —, und nicht ein einziger Gast hatte Anstoß genommen. Und darum konnte die Polizei uns nicht belangen.
»Was heißt: Leider nicht?« fragte Minski also den Herrn von der Kultusgemeinde. »Laßt mich doch in Ruh! Wem tu ich was Böses?«
»Herr Minski, Sie wissen, daß es noch knapp dreißigtausend Juden in Deutschland gibt. Zwanzigtausend sind Ausländer wie Sie. Daß man uns hier liebt, werden wohl nicht einmal Sie behaupten wollen.«
»Ich brauch nicht Liebe, ich brauch Geld. Viel Geld. Wie kriegt man leichter so viel? Na!«
»Herr Minski, Sie müssen sich darüber klar sein, daß es viele anständige Leute in diesem Land gibt, die trauern über das, was Sie und Juden wie Sie sich leisten. Das ist es, was böses Blut, was neuen Antisemitismus schafft.«
»Ich hör immer neuen«, sagte Boris.
»Sie verstehen mich genau. Sie haben von der NPD gehört. Die erklärt, daß die Bundesrepublik in einem moralischen Sumpf erstickt, daß die Jugend keine Ideale und Vorbilder mehr hat, daß man dieses Volk systematisch demoralisiert und verdirbt durch den Appell an niedrigste und gemeinste Instinkte. Sie sehen, welchen Erfolg die NPD und solche Parolen haben. Mit dem, was Sie tun, Herr Minski, fügen Sie der jüdischen Sache unermeßlichen Schaden zu.«
Darauf antwortete mein Freund: »Wie schrecklich. Kann ich nur hoffen, daß die Frankfurter Strichmädchen der katholischen Sache nicht auch unermeßlichen Schaden zufügen.«
»Wieso?«
»Weil neunzig Prozent aller Strichmädchen hier katholisch sind«, antwortete Boris Mordechai Minski.
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Am 21. Juni 1942 schrieb der Gendarmeriemeister Fritz Jacob an den Generalleutnant Querner einen Brief, in dem es heißt: »Es wird natürlich gehörig aufgeräumt, insbesondere unter den Juden. Wir schlafen hier nicht. Wöchentlich 3 bis 4 Aktionen. Einmal Zigeuner und ein andermal Juden, Partisanen und sonstiges Gesindel … Nun, wir haben von den hier in Kamenez-Podolsk lebenden Jüdlein nur noch einen verschwindenden Prozentsatz von den 24000. Die in den Rayons lebenden Jüdlein gehören ebenfalls zu unserer engeren Kundschaft. Wir machen Bahn ohne Gewissensbisse und dann: ›… die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh‹.«
Ich weiß nicht, was aus den Herren Jacob und Quemer geworden ist. Die Briefabschrift (das Schreiben existiert auch im Original) fand ich in dem Buch »Der gelbe Stern« von Gerhard Schoenberger, und ich zeigte sie meinem Freund Minski, weil der aus Kamenez-Podolsk stammte.
»Ja«, sagte Boris Mordechai Minski, nachdem er gelesen hatte, »1942, im Juni, da waren sie wirklich schon fast fertig in unserer Gegend. Ich war seit vier Monaten in Maidanek. Wo meine Frau war, das hab’ ich natürlich nicht gewußt und natürlich auch nicht, ob sie noch lebt. Wir sind gleich bei der Verhaftung getrennt worden.«
Seine Frau Rachel Minski befand sich zu jenem Zeitpunkt schon seit vier Monaten in dem Konzentrationslager Kolomyja. 1942 war sie vierundzwanzig Jahre alt und ein sehr schönes Mädchen. Boris Mordechai Minski war dreißig Jahre alt. In Kamenez-Podolsk hatte er an einer höheren Schule Naturkunde unterrichtet. Auch sein Vater und sein Großvater waren Lehrer in Kamenez-Podolsk gewesen. Die Minskis hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach einem besonders großen Pogrom in Winniza, woher die Familie eigentlich stammte, den Wohnort gewechselt. Es war der Traum des Boris Mordechai Minski, einmal so unabhängig zu sein, daß er Zeit und Geld genug besaß, um Schmetterlingsforscher zu werden. Er glaubte, auf diesem Gebiet einiges leisten zu können, was der Wissenschaft zu großem Nutzen gereichte; gab es doch über hunderttausend verschiedene Arten in der Riesenfamilie der Lepidopteren, von denen man noch so wenig wußte.
Maidanek war ein sogenanntes Vernichtungslager, Minski überlebte es. Im Juli 1944 befreite die Rote Armee das KZ, doch da war Minski schon unterwegs nach dem Lager Auschwitz-Birkenau, wohin zu dieser gleichen Zeit, da die westlichen Alliierten bereits in Frankreich gelandet waren und die deutschen Fronten immer häufiger zerbrachen, noch rasch eine halbe Million ungarische Juden deportiert und ermordet wurde. Sechs Wochen brannten in Auschwitz Tag und Nacht alle Öfen. Minski überlebte auch Auschwitz. Die Deutschen wollten keinen KZ-Gefangenen in die Hände der Alliierten fallen lassen. Mit dem Töten der Häftlinge kamen sie indessen einfach nicht mehr nach.
»Geschuftet wie die Tiere haben sie«, erzählte Boris einmal, »geschuftet bis zum Umfallen. Aber sie haben es einfach nicht schaffen können. Warum? Wir waren zu viele.«
Da sie es einfach nicht schaffen konnten, selbst wenn sie bis zum Umfallen und wie die Tiere schufteten, befahl ihnen Himmler, die Häftlinge in das Innere Deutschlands zu bringen. So wurden die Lager des Ostens evakuiert. Im eisigen Februar 1945 fuhr Minski, der immer noch nicht die geringste Ahnung hatte, wo seine Frau Rachel war und ob sie überhaupt noch lebte, über das zerbombte, zusammengeflickte, immer aufs neue zerbombte Eisenbahnnetz eines zerbombten, verwüsteten Landes — in einem offenen Güterwagen, ohne Decke, ohne Mantel, wie Vieh zusammengedrängt mit anderen Häftlingen. Sie schliefen im Stehen, sie verrichteten ihre Notdurft im Stehen, sie starben im Stehen. Es wäre leicht gewesen zu fliehen; aber kaum einer floh, denn sie waren zu verhungert und zu erschöpft, sie konnten kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen, die Häftlinge in diesem Güterwaggon und die in Zehntausenden anderer Güterwaggons, die, angehängt an ein halbes Tausend Lokomotiven, kreuz und quer durch Deutschland fuhren. Unentwegt rollten diese Geisterzüge von einem Lager zum anderen. Sie wurden abgewiesen, umgeleitet, weitergeschickt. Minskis Reise ging von Auschwitz nach Buchenwald, von Buchenwald nach Dachau, von Dachau nach Flossenbürg.
Viele Tage fuhren sie, ohne zu halten. Hielten sie einmal, wurden die Luken der Waggons geöffnet, dann fand man in sehr vielen von ihnen nur noch hartgefrorene, kompakte Leichenquader.
An den Fronten kam die Katastrophe immer schneller. Die SS mußte die letzten Lager in größter Eile räumen. Nun trieben sie die Häftlinge über Landstraßen. Wer nicht weiterkonnte, wurde sofort erschossen oder lebendig verbrannt. Junge Menschen in Deutschland erzählten mir nach dem Krieg, daß sie sich noch gut an jene endlosen Kolonnen unheimlicher Elendsgestalten erinnern, die sie als Kinder über die Landstraßen von Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Thüringen und Bayern hatten schwanken sehen. Minski kam nach Bergen-Belsen. Hier gab es eine Typhusepidemie. Wer nicht verhungerte, wer nicht erfror, wer nicht ermordet wurde, konnte an Typhus sterben. Minski überlebte auch Bergen-Belsen. Alle Minskis waren zäh wie Katzen, sagte er einmal, man konnte sie ebenso schwer töten.
Die Überlebenden von Bergen-Belsen wurden von den Engländern befreit. Minski, obgleich zäh wie eine Katze, lag da im Sterben. Er kam in ein Hospital bei Uelzen, wo er sich unfaßbar schnell erholte, und danach in ein DP-Lager nahe Neustadt. Hier blieb er ein halbes Jahr. Immer noch hatte er keine Ahnung, wo sich seine Frau befand. Er wurde entlassen auf Grund eines Zufalls: Unter der Lagerleitung gab es Angehörige einer polnischen Division, die mit den Briten von England herübergekommen waren und sich gemeinsam ihren Weg nach Deutschland hineingekämpft hatten. Einer dieser Soldaten war ein Oberleutnant, dessen Vorfahren aus Kamenez-Podolsk stammten. Von ihm erhielt Minski neue Papiere, Geld, Lebensmittelkarten und — besondere Vergünstigung — die Erlaubnis, sich innerhalb der drei Westzonen frei zu bewegen.
Der Offizier half Minski, wo er konnte. Er schrieb Briefe an die Militärbehörden der drei Besatzungszonen im Westen, er wies Minski zu den richtigen Stellen bei den Suchdienstzentralen des Roten Kreuzes.
Die erste Spur führte nach Hamburg. Viele Leute erzählten Minski, sie hätten seine Frau in dem Vernichtungslager Ravensbrück gesehen, und die Häftlinge aus Ravensbrück seien zuletzt nach Hamburg gebracht worden. Der Winter 1945 war sehr streng. Zu Fuß und, wenn er Glück hatte, in großen Armeelastwagen ging Minski auf Wanderschaft, bei Eisregen, Schneestürmen, dreißig Grad unter Null. Es erwies sich, daß die erste Spur falsch war. Vergebens lief er in Hamburg von Behörde zu Behörde. Immerhin erfuhr Minski, daß zwar ein kleiner Teil der Insassen von Ravensbrück — wo sich zuletzt Gefangene vieler Lager gesammelt hatten — hier heraufgekommen war; der weitaus größere, insbesondere Häftlinge aus dem Osten, war nach Bayern gebracht und dort, oft sogar noch in ihren Zügen, von den Amerikanern befreit worden. Minski stellte auch fest, daß man Rachel ursprünglich nach Kolomyja gebracht hatte. Nun saß sie, vermutlich und sofern sie lebte, irgendwo in einem bayrischen DP-Lager. Boris Mordechai Minski trampte gen Süden. In Bayern fuhr oder wanderte er von Lager zu Lager, von Rotkreuzstelle zu Rotkreuzstelle — umsonst. Da einige der Camps schon aufgelassen wurden — es war mittlerweile Frühling 1946 geworden —, versuchte es Minski in Städten und Dörfern nun auch bei den Einwohnermeldeämtern und den Bürgermeistereien.
Boris Mordechai Minski aus Kamenez-Podolsk, einer Stadt nordöstlich von Czernowitz, suchte seine Frau Rachel siebzehn Monate lang, vom Oktober 1945 bis zum April 1947. Im April 1947 sagte ihm ein Beamter der Bürgermeisterei von Hof, daß eine Rachel Minski am 11. November 1945 in einem Lager vor der Stadt gestorben und auf einem jüdischen Friedhof begraben worden sei. Minski fand den nahen Friedhof, er fand ein halb verfaultes, umgestürztes Holzbrett mit eingebranntem Davidstern und dieser eingebrannten, noch gut leserlichen Inschrift:
RACHEL MINSKI, GEB. LITMAN
1.5.1918 – 11.11.1945
Das Geburtsdatum stimmte, der Mädchenname stimmte, der Vorname stimmte. Minski stand lange reglos vor dem verwilderten Grab und dem umgestürzten Brettchen. Er sagte mir später einmal: »Wie ich da so gestanden bin und gedacht hab, daß ich mich jetzt umbringen werd, sind plötzlich fünf von diesen Segelfaltern gekommen und um mich und das Grab herumgeflattert. Richtig getanzt haben sie. Zartgelb waren sie mit schwarzer Zeichnung. Papilio podalirius heißt die Art. Und es war ein schöner, sonniger Tag, noch vor zwölf, verstehst du?«
Ich verstand nicht, aber er erklärte mir, daß der Schmetterling seit dem Altertum bei allen Völkern als das Sinnbild der unsterblichen Seele gilt und daß er als Orakeltier je nach Färbung und Tageszeit Gutes oder Böses ankündigt. Hellfarben Schmetterlinge mit schwarzer Zeichnung, gesehen an einem schönen, sonnigen Tag, verhießen besonders Gutes.
»Gespinne und Aberglauben natürlich«, sagte Boris. »Aber ich bin ein schlechter Jud, immer schon war ich abergläubisch, und so habe ich gedacht, daß ich mich nicht umbringen darf, wenn Segelfalter kommen, gleich fünf, und an einem schönen Tag, und noch vor zwölf! Wenn ich mich nicht umbring, muß ich aber von was leben, hab ich gedacht, und da ist mir eingefallen, daß ein entfernter Vetter von mir in München, in der Möhlstraße, ein Geschäft hat. Ein Ami hat mich in seinem Truck mitgenommen nach München, und mein Vetter hat mich engagiert in seinem Geschäft.«
Die Möhlstraße in München war nach dem Krieg das Schwarzmarktzentrum der Stadt. Hier konnte sich nur behaupten, wer auch nicht die Spur eines Skrupels besaß. Neun Monate im Geschäft seines Vetters — einer Holzbaracke —, und aus dem weichen, verträumten Lehrer Boris Mordechai Minski, dessen Lebenstraum es einmal gewesen war, die geheimnisvolle Welt der Schmetterlinge zu erforschen, war ein eiskalter, gefinkelter und äußerst erfolgreicher Großschieber geworden, den die gerissensten der anderen Schieber aufsuchten, teils um seinen Rat einzuholen, teils um den gefährlichen Mann zum Freund zu gewinnen. Im Frühjahr 1948 war Minski bereits selbständig und ziemlich wohlhabend.
Er bekam rechtzeitig Wind von der bevorstehenden Währungsreform, und es gelang ihm, sein nun schon beträchtliches Vermögen in die neue Zeit hinüberzuretten. Sofort nachdem er zu verdienen begonnen hatte, war er nach Hof hinaufgefahren, jeden Monat zweimal, zu seiner Rache!. Er ließ einen großen, schönen Stein besorgen, aus Granit, mit eingemeißelten vergoldeten Buchstaben; er bezahlte auch dafür, daß immer frische Blumen auf Rachels Grab standen und daß es das schönste und gepflegteste des ganzen Friedhofs war. Auch eine Grabbank kaufte er. Da saß er dann stundenlang und erzählte seiner toten Frau von seinen Geschäften. Er versuchte, den Sarg mit ihrer Leiche auf den Jüdischen Friedhof in München überführen zu lassen, aber man sagte ihm, daß Rachel Minski in keinem Sarg, sondern nur in einem Papiersack begraben worden war und deshalb eine Exhumierung nicht in Frage käme. Das sah Minski ein. Er besaß nun bereits eine Zweizimmerwohnung in Bogenhausen, einem vornehmen Stadtteil Münchens, nicht weit von der Stätte seines ersten emsigen Nachkriegswirkens entfernt, und betätigte sich im Schrotthandel. Mitte August 1948 erreichte ihn ein Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Hornstein, die im Norden der Stadt Frankfurt am Main, zwischen Seckbach und Bad Vilbel, westlich der Friedberger Landstraße liegt. Es wurde Boris Mordechai Minski mitgeteilt, daß man seine Frau Rachel Minski, geb. Litman, seit dem 18. Dezember 1945 stationär behandelte. Unterzeichnet war der Brief vom Leiter jener Heil- und Pflegeanstalt, einem gewissen Professor Dr. Peter Mohn.
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Im Spiegelzimmer trippelte eine schwarzhaarige Zofe herbei, knickste und überreichte Vanessa, die auf dem Tigerfell kauerte, ein flaches schwarzes Seidenkissen, in dessen Mitte eine rote Kerze lag. Die Zofe knickste wieder und huschte davon. Vanessa deponierte Kissen und Kerze neben sich. Durch den Einwegspiegel sah ich aus unserem Büro, wie unser Goldstück nun halb die Augen schloß und an ihren Brustwarzen zu spielen begann. Ich drehte den Lautsprecher auf, der uns die Geräusche von draußen brachte, und nun hörte ich Vanessa leise stöhnen, sehr leise noch. Nach einer Weile legte sie die rechte Hand dorthin und fing an zu spielen, und das Seufzen und Stöhnen wurde lauter. Ich besitze ein feines Ohr und fragte: »Was hat sie?«
»Hm?«
»Es klingt so heiser. Ist sie schon wieder …«
»Erkältet, ja«, sagte Minski. »Ziemlich arg diesmal.«
»Kunststück«, sagte ich. »Da drin ist es heiß, auf dem verfluchten Gang draußen ist es kalt und zieht, daß es einen umwirft, und das Mädchen rennt da täglich nackt herum. Ein Wunder, daß sie nicht überhaupt einen Dauerschnupfen hat. Oder schon Lungenentzündung, bei dem verrückten Wetter noch dazu.«
Das Wetter war wirklich völlig verrückt in diesem Spätherbst — heute Sonnenschein und Frühlingswärme, morgen Schneestürme, Glatteis, klirrende Kälte.
»Ich hab sofort den Doktor Fellner gerufen. Kostet mich ein Vermögen, das Mädchen, aber es muß sein. Gott soll helfen, daß sie keine Grippe kriegt. Fellner sagt, nein.«
»Was, nein?«
»Keine Grippe. Sie muß heute in ihrer Garderobe schlafen, darf nicht mehr rausgehen, er kommt morgen wieder. Hat ihr Breitbandantibiotika und noch alles mögliche gespritzt, wie immer. Kostet mich ein Vermögen, das Mädchen«, sagte Boris noch einmal. »Aber was soll ich machen? Lassen wir nicht dauernd umbauen? Den Gang kriegt man einfach nicht dicht! Müßten wir schon übersiedeln, und da ist der Doktor Fellner immer noch billiger.« Das alte Haus, in dem sich unser »Strip« befand, war als eines von wenigen in der Taunusstraße von den Bomben des Krieges verschont geblieben. Verschont, aber das Gebäude hatte schwersten Erschütterungen standgehalten — nicht ohne Folgen. Dauernd war etwas kaputt bei uns, und wir mußten es reparieren lassen, denn an einen Umzug mochten wir nicht denken, dazu lag die Taunusstraße zu günstig. Minski, der mit jedem Groschen geizte, wußte, wo er Geld auszugeben hatte: beispielsweise für die Behandlungen von Vanessas häufigen Erkältungen durch einen erstklassigen, sehr teuren Facharzt.
»Ewig wird sie das da ja auch nicht machen«, sagte ich. »Nur so lange, bis sie ihr Ziel erreicht hat.«
»Lange soll sie es noch nicht erreichen!« murmelte Minski inbrünstig und klopfte dreimal auf Holz.
Ich sah, daß Vanessas Atem nun immer unruhiger wurde, ihre schweren Brüste begannen sich zu heben und zu senken. Die Zuschauer saßen da wie hypnotisiert. Petra Schalke, der liebe Stammgast mit dem Männerhaarschnitt, hatte eine Faust gegen den Mund gepreßt und biß auf den Knöcheln herum. Die beiden »Special Effects Men« flüsterten aufgeregt miteinander.
Das Telefon auf Minskis Schreibtisch begann zu läuten.
Sein New Yorker Börsenmakler meldete sich. In New York war es acht Uhr abends. Boris und sein Makler telefonierten stets um diese Zeit miteinander. Das kostete, bei vielen und langen Gesprächen, ein Vermögen. (»Makler muß ich haben, telefonieren muß ich«, hatte Minski erklärt, als ich einmal unsere ungeheuerliche Telefonrechnung beanstandete. »Außerdem erledige ich deine Geschäfte dabei genauso wie meine.« Da hatte er recht. Er hatte überhaupt immer so verflucht recht.)
Wir besaßen amerikanische Aktien. Seit die Amerikaner sich in Vietnam engagiert hatten, waren es fast nur noch Aktien von Rüstungsfirmen. Boris hatte sich, in Erinnerung an den Koreakrieg, rechtzeitig ausgerechnet, was passieren würde, und Aktien von Norris-Thermador, United Aircraft und Lockheed über seinen Makler zu einem Zeitpunkt erwerben lassen, da sie — vergleichsweise — noch billig waren. Er kaufte für sich und mich so viele Aktien, wie wir nur kaufen konnten. Wir nahmen sogar Kredite dazu auf. Draußen im Spiegelzimmer wurde Vanessa auf ihrem Tigerfell nun sehr unruhig, fing an, sich in den Hüften zu wiegen, und ihre Finger bewegten sich immer schneller. Jemand warf ein Glas um. Ich hörte, wie es auf dem Boden zersprang, und ich hörte Minskis Stimme am Telefon, und ich dachte an das, was mein Freund mir gesagt hatte, als wir die amerikanischen Rüstungsaktien kauften: »Durch den Vietnamkrieg wird das reichste Land von der Welt noch reicher, werden, das kann man sich ausrechnen, Ritchie. Dann wird es natürlich wieder mal einen riesigen Pletsch geben, eine Pleite, gegen die der Schwarze Freitag nichts ist. Aber inzwischen läßt sich verdienen.«
Damit hatte er bis zum heutigen Tag recht behalten. Der Vietnamkrieg kostete die Amerikaner dreihundert Millionen Mark pro Tag — aber die Kriegsindustrie verdiente pro Tag mindestens eineinhalb Millionen Dollar. Es gab »Vietnammillionäre«: nicht nur unter den Rüstungsfabrikanten, auch unter Finanzleuten, die frühzeitig auf die richtigen Aktien gesetzt hatten. Wir waren keine Millionäre geworden, aber wir hatten — nein, Ehre, wem Ehre gebührt! Minski hatte — wahrlich auf die richtigen Aktien gesetzt, und das rechtzeitig, im Frühsommer 1965.
Wir besaßen ein Exemplar einer ganz offiziellen amerikanischen Broschüre, die kühl und statistisch nachwies, daß der Krieg in Südostasien die bei weitem kostspieligste Schlacht war, die Amerika je erlebt hatte: »In price per enemy soldier killed = Dollar 52500,00« hieß es in der Broschüre. Ein toter Vietcong kostete die USA 52500 Dollar.
Ich sah durch den Spiegel. Vanessa knirschte jetzt sogar mit den Zähnen. Das hatte sie wochenlang geprobt. Es ging einem durch Mark und Bein. Ich drehte den Lautsprecher leiser, damit Boris ungestört mit New York telefonieren konnte, und sah, daß Vanessa nach der roten Kerze griff, die auf dem schwarzen Seidenkissen lag, ihre Hand zurückzog, als schäme sie sich, wieder hingriff, auf ihre Lippen biß, stöhnte, und immer so weiter mit dem Theater …
»Die wirtschaftlichen Folgen der Eskalation in Vietnam sind für uns die Schlagsahne auf dem Kuchen!«
Das hatte ein ganz großer Manager in Kalifornien einem Reporter von »Newsweek« gesagt, dort war der Ausspruch abgedruckt worden, und Boris hatte ihn mir triumphierend vorgelesen.
(»Aber über meine Telefonrechnungen schimpfen!«)
Der Gewinn der Firma Norris-Thermador, die jeden Monat 500 000 Stück 2,75-inch-Raketen und 40 000 Bomben nach Vietnam lieferte, war allein in den letzten sechs Monaten um mehr als 155 Prozent gestiegen. United Aircraft hatten für 1965 ein Gewinnplus von 70 Prozent ausgewiesen, und die Lodcheed-Flugzeugwerke waren mit Verteidigungsaufträgen in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar der weitaus wichtigste Geschäftspartner des Pentagon. Der Wert ihrer Papiere schnellte in den Himmel.
Wer jetzt Rüstungsaktien verkaufte — natürlich zu irren Preisen —, war trotzdem ein Irrer, denn das ging in Vietnam noch jahrelang so weiter, dachte ich, als ich hörte, wie Boris in den Telefonhörer rief: »Halten Sie mir keine Reden, Goldstein! Ich sage, verkaufen! Alles, jawohl! Natürlich zu den äußersten Preisen! Aber schnell! Bis zum neuen Jahr muß alles weg sein. Das Geld überweisen Sie sofort nach Zürich.«
»Boris«, sagte ich entgeistert, »bist du meschugge?«
»Halt den Mund!« Minski winkte mit einer Hand nervös ab. Er schnaufte und schnupperte, während er dem Makler Goldstein rasend schnell Bedingungen und Zahlen diktierte und während draußen, im Spiegelsaal, Vanessa plötzlich in einem wilden Entschluß die rote Kerze packte, sie sich hineinsteckte und laut aufstöhnte. Laut und heiser. Wenn sie uns bloß keine Grippe bekam.
Der Exhaustor schaltete sich wieder einmal ein, der Ventilator schepperte. Boris fing an zu schreien, wie immer, wenn dieser Ventilator lief, und er sagte Goldstein, der solle keine blöden Fragen stellen, sondern tun, wofür Minski ihn bezahlte.
»Hören Sie endlich auf, mir zu widersprechen. Sie leben in den Staaten, ich leb hier, ich weiß, was ich tu! Schluß. Gute Nacht, Goldstein.« Er legte den Hörer hin und sagte: »Schlimmer als der blödeste Christ ist ein blöder Jud. Ich brauch einen anderen Makler!«
»Ich bin ein blöder Christ«, sagte ich. »Ich kapier nichts. Ausgerechnet jetzt, wo wir wie die Maden im Speck sitzen mit den Ami-Aktien, verkaufst du?«
»Ja, ausgerechnet jetzt«, sagte Minski ernst und stand auf. Er knüpfte sorgfältig seine Smokingschleife, denn es war üblich, daß wir beide uns nach dem Ende von »Vanessa’s Famous Candle Act« im Spiegelsaal zeigten, teils um die Gäste zum Weitertrinken zu animieren, teils um ihnen Märchen über Vanessa zu erzählen, damit sie noch interessierter wurden, als sie dann immer schon waren, und wiederkamen und Freunde mitbrachten. Ich stand ebenfalls auf, und während der folgenden Konversation machten wir uns wieder salonfähig.
»Das Budget der Bundesrepublik ist im Eimer, richtig, Ritchie?« fragte Boris.
Ich nickte.
»Fehlen ein paar Milliarden. Kann sich ein Kretin ausrechnen, was jetzt also kommen wird.«
»Steuererhöhungen …«, fing ich an.
Er winkte ab. »Das sowieso. Andere Sachen! Gefährlichere für uns. Was ist für uns am gefährlichsten?«
»Was?«
Im Lautsprecher, obwohl ich ihn zurückgedreht hatte, wurde es nun sehr lebendig. Vanessa war in großer Fahrt. Sie führte ein solches Theater auf, daß man glauben mußte, sie sei knapp davor. Sie stieß kurze, hohe Schreie aus. Ihre Hand flog. Hoffentlich niest sie jetzt nicht, dachte ich.
»Devisenbestimmungen sind für uns am gefährlichsten«, belehrte mich Minski. »Radikale Devisenbestimmungen. Und die kommen blitzschnell! Du wirst bald keine Mark mehr ins Ausland transferieren dürfen, und wenn du welche hast, werden sie sie dir wegnehmen und Mark bezahlen dafür …«
»Wenn sie aber nicht wissen, daß ich Devisen im Ausland habe?«
»Werden sie dir draufkommen. Die Amis werden ihnen helfen dabei. Der Staatshaushalt von denen geht doch auch in die Binsen. Da wird es auch Steuererhöhungen und Devisensperre geben, und nur …«
»Aber wir haben doch massenweise Devisen in den Staaten!«
»… und nur, wenn du mich vielleicht ausreden läßt, nur Leuten, die nachweisen können, nachweisen, Ritchie!, daß ihr Geld in internationalen Investmentfonds steckt, wird man nichts tun, warum, diese Fonds legen ihre Wachstumswerke in der westlichen Großindustrie an. Na, kapiert?«
Vanessa draußen schrie: »Ja! Ja! Ja!« und jaulte wie ein Hündchen.
Boris richtete meine Smokingschleife mit Künstlerhand und fuhr fort: »Es wird ein Erwachen geben, Ritchie, ein böses Erwachen! Und dann werden alle versuchen, zu retten, was sie können. Aber bis dahin möcht’ ich nicht warten. Ich hab schon einmal in meinem Leben gewartet, bis alle erwacht sind. 1969 kommen die nächsten Wahlen.«
»Also fast noch drei Jahre Zeit.«
»Fast noch drei Jahre!« Boris regte sich auf. »Bis dahin müssen wir raus sein! Längst! Längst in der Schweiz müssen wir sein!«
Mit »wir« meinte Minski vier Menschen: seine Frau Rachel, mich, sich und Professor Dr. Peter Mohn, den Chef der Heil- und Pflegeanstalt Hornstein, die im Norden Frankfurts, zwischen Seckbach und Bad Vilbel, westlich der Friedberger Landstraße liegt.
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Am 25. September 1940 las der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Hornstein, der 1898 in Leipzig geborene Psychiater Professor Dr. Peter Mohn, in seinem großen, hellen Arbeitszimmer zwei Berliner Ärzten in SS-Uniform zwei Stellen aus dem sogenannten Hippokratischen Eid (genannt nach dem um 460 vor Christi auf der Insel Kos geborenen griechischen Arzt Hippokrates) vor, als erste diese: »Die Behandlung, die ich wähle, soll, nach meiner besten Fähigkeit zu urteilen, dem Wohle meiner Patienten dienen und ihnen niemals schaden. Ich werde niemals ein tödliches Mittel geben, auch wenn man es von mir verlangt, noch werde ich Menschen zu solchen Mitteln verhelfen.«
Die beiden SS-Ärzte wechselten kurze Blicke, dann fragte der ältere: »Sie sind Parteigenosse, Herr Professor?«
»Jawohl«, antwortete der große, schlanke Mohn ruhig. Er hatte ein langes, schmales Gesicht mit sehr großen braunen Augen.
»Seit wann?« fragte der zweite SS-Arzt.
»Seit 1933.«
»Sie sind auch der jüngste Anstaltsleiter und waren einer der jüngsten Professoren Deutschlands, nicht wahr?« fragte der ältere SS-Arzt. Mohn nickte.
»Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie diese steile Karriere durchaus nicht zuletzt dem Umstand Ihrer langjährigen Parteizugehörigkeit und Ihren guten Beziehungen zu hohen Parteifunktionären verdanken?«
»Sie gehen recht in der Annahme«, sagte Mohn.
»Sind Sie also nur in die Partei eingetreten, um schneller Karriere zu machen?«
»Durchaus nicht nur! Mein Vater — er starb vor zwei Jahren — wurde schon 1930 Parteigenosse. Ich selbst war gleichfalls überzeugt, daß der Führer Deutschland die Rettung bringen würde. Nun, und dann, einmal in der Partei, machte ich mir natürlich alle Vorteile und das Wohlwollen der Freunde meines Vaters zunutze, um so rasch wie möglich vorwärtszukommen«, erklärte Professor Mohn. »Hätten Sie das an meiner Stelle nicht getan?«
Der älteste SS-Arzt sagte verbissen: »Und nach alldem haben Sie also die Kühnheit, sich einem Befehl des Führers zu widersetzen. Das tun Sie doch. Da haben wir Sie doch richtig verstanden?«
»Da haben Sie mich völlig richtig verstanden«, antwortete Professor Mohn. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen noch eine zweite Stelle aus dem Eid des Hippokrates vorlese … den Sie vergessen zu haben scheinen, verehrte Herren Kollegen.«
Die Besucher versuchten zu protestieren. Mohn sah sie kurz und fest an. Da schwiegen sie. Und Mohn verlas die zweite Stelle des Eides: »Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.« Mohn pausierte und wiederholte dann laut: »Vor willkürlichem Unrecht.«
»Sie weigern sich also, die Fragebogen auszufüllen?«
»Nicht nur das. Ich werde auch nicht zulassen, daß ein einziger meiner Patienten von Ihnen oder Angehörigen Ihrer Organisation untersucht und von hier fortgebracht wird«, antwortete Professor Mohn. Die Organisation, die er erwähnte, war auf Grund einer Vollmacht Hitlers für den Reichsleiter Bouhler und den Dr. med. Brandt entstanden, sie hatte diesen Wortlaut:
Reichsleiter Bouhler und
Dr. med. Brandt
sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbaren Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.
gez. Adolf Hitler
Die Ermächtigung, bei Kriegsausbruch gegeben, bezog sich zwar auf »unheilbar Kranke« generell, die Bevollmächtigten beschäftigten sich indessen vor allem mit Geisteskranken, denn die lagen verborgen in einsamen Anstalten. So würde die Sache weniger Aufsehen erregen.
Es entstanden: die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, deren ärztliche Mitglieder über Tod oder Leben der Kranken entscheiden sollten; ferner die »Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege«, die alle finanziellen Mittel für die Tötungsaktion bereitstellte; ferner die »Gemeinnützige Krankentransport-Gesellschaft GmbH«, abgekürzt »Gekrat«, die mit einem eigenen Busfuhrpark die Kranken zu den Tötungsstätten bringen sollte; und schließlich wurde durch Erlaß des Reichsinnenministeriums den Ärzten aller Anstalten die Ausfüllung von Fragebogen befohlen, und zwar »im Hinblick auf die Notwendigkeit planwirtschaftlicher Erfassung«.
Die Bogen fragten nach Form der Geisteskrankheit, nach Dauer und Art der Behandlung und nach den Heilungsaussichten sowie nach kriminellen Geisteskranken und solchen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes waren.
Die Organisation hatte sich sofort getarnt, alle Mitglieder wurden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Das Hauptquartier befand sich in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Nach der Adresse dieser kleinen Villa erhielt das Tötungsprogramm den Decknamen »T 4«.
Die Herren Bouhler, dessen Oberdienstleiter Brack und der Reichsgesundheitsführer Dr. Conti wählten als zweckmäßigstes Tötungsmittel Kohlenmonoxydgas. Bei einem ersten Test im Zuchthaus Brandenburg an der Havel gelang es dem Dr. August Becker, Chemiker beim Reichskriminalamt, unter Anwesenheit der erwähnten Herren in genau 22 Sekunden vier Anstaltspatienten vom Leben zum Tode zu befördern. Ab Februar 1940 begann dann der Großbetrieb in den Vergasungsanstalten Hadamar (Hessen), Schloß Grafeneck (Württemberg), Schloß Hartheim bei Linz, Bernburg (Anhalt) und Burg Sonnenschein in Pirna.
Die Anstaltsärzte konnten, da ihnen knappste Fristen gesetzt waren, keine medizinisch auch nur halbwegs ordnungsgemäßen Diagnosen auf den Fragebogen eintragen. Die Gutachter allerdings lasen diese Fragebogen auch nicht. Der bayrische Obermedizinalrat Dr. Pfannmüller beispielsweise erledigte in der Zeit zwischen dem 14. November und dem 1. Dezember 1940 2190 Fragebogen, zwischen dem 20. und 22. November 258 Fragebogen und zwischen dem 28. und 30. November 300.
In ein dafür vorgesehenes Rechteck auf den Bogen machten die Gutachter entweder ein rotes Pluszeichen oder ein blaues Minuszeichen. Das rote Plus bedeutete den Tod eines Kranken, das blaue Minus, daß einem Kranken das Leben gelassen wurde. Anhand der Fragebogen wurden von Sekretärinnen in Berlin Transportlisten zusammengestellt, und die »Gekrat«-Omnibusse holten die Patienten dann ab. In den Tötungsanstalten behandelte man die Kranken im allgemeinen sofort. Die Vergasung fand im »Desinfektionsraum« statt, die Verbrennung, je nach Anlage, zu drei bis sechs Leichen pro Ofen.
Viele Anstaltsleiter versuchten, die Fragebogen für ihre Patienten vorteilhafter auszufüllen. Als man das in Berlin merkte, gingen die sogenannten »Fliegenden Kommissionen« auf Reisen. Sie arbeiteten äußerst effektvoll. In der Anstalt Neuendettelsau beispielsweise wurden unter Leitung eines Dr. Steinmeyer in wenigen Tagen 1800 Fragebogen erledigt. Nicht ein einziger Kranker wurde dabei untersucht, der größte Teil nicht einmal nur angesehen.
Bis August 1941 ermordeten deutsche Ärzte so durch Plus- und Minuszeichen weit über 100000 Kranke. Dann ließ Hitler die Aktion »T 4« abbrechen, weil Gerüchte durchgesickert waren: An den Fronten erzählten sich Soldaten, daß, wer einen »Kopfschuß« bekam, damit rechnen mußte, vergast zu werden. Dies wirkte sich nicht eben positiv auf den Geist der Truppe aus. Anstelle der Aktion »T 4« trat die Aktion »14 f 13«, die sich nun mit KZ-Insassen, Polen, Zigeunern und Juden beschäftigte.
Die meisten Menschen in Deutschland fügten sich stets den Befehlen Hitlers. Viele fügten sich nicht. Zu denen, die sich nicht fügten, gehörte der Professor Dr. Peter Mohn, der, als seine Weigerung, Fragebogen auszufüllen oder Kranke freizugeben, bekannt wurde, den Besuch von zwei Berliner SS-Ärzten erhielt, denen er zwei Stellen aus dem Eid des Hippokrates vorlas, wonach er sie brüsk verabschiedete.
Seine Frau Anna und alle seine Mitarbeiter bangten um Professor Mohns Leben und Existenz.
»Besonders wohl gefühlt habe ich mich natürlich auch nicht«, sagte Mohn nach dem Krieg bei seinem Spruchkammerverfahren. (Er war seit 1933 Parteigenosse gewesen, und er hatte als Anstaltsleiter eine höhere Position bekleidet.)
»Haben Sie sich mit der Bitte um Hilfe an Ihre Bekannten unter den Parteifunktionären gewandt?« fragte der Vorsitzende der Spruchkammer.
»Ich habe mich an niemanden gewandt«, antwortete Mohn. »Ich wollte da niemanden mit ’reinziehen.«
»Was geschah Ihnen?«
»Nichts«, sagte Mohn.
»Sie sind nicht verhaftet worden?«
»Nein. Nicht verhaftet, nicht verhört, nicht eingesperrt, nicht von meinem Posten suspendiert, nicht gemaßregelt. Man ließ mich und meine Ärzte völlig unbehelligt — und alle meine Kranken«, antwortete Professor Mohn.
»Sind Ihnen ähnliche Fälle von Befehlsverweigerung bekannt?«
»Gewiß«, antwortete der schlanke, große Mann mit den großen braunen Augen. »Etwa ein Dutzend. Diesem Dutzend Anstaltsleitern, die so handelten wie ich, geschah kein Leid. Sie wurden schlimmstenfalls an andere Kliniken versetzt, wo, sie in untergeordneten Positionen arbeiten mußten. Ihre ursprünglichen Anstalten jedoch blieben von den ›Fliegenden Kommissionen‹ danach verschont — fast immer. Allerdings …«
»Ja?«
Mohn sagte leise: »Allerdings war manchmal trotzdem alles umsonst. In Bukenow beispielsweise. Da verteidigte ein Kollege seine Anstalt …« Der Arzt holte ein Blatt Papier hervor. »Ich habe mir die Zahlen notiert. Am 1. Januar 1945 gab es in der Heil- und Pflegeanstalt Bukenow noch 2168 Patienten. Am 1. Januar 1946 gab es nur noch 1213. Im Laufe des Jahres 1945 verhungerten 2006 Kranke.« Mohn sah den Vorsitzenden an. »Es kamen natürlich dauernd Neuzugänge. So erklärt sich die hohe Zahl.«
»Das heißt …«
»Das heißt«, sagte Mohn, »daß im Chaos der ersten Nachkriegsmonate die Anstaltsverpflegung zusammenbrach. So viele Patienten hatten die Nazis überlebt. Erst nach dem Krieg mußten sie sterben. Aber den Krieg haben wir begonnen.«
Die Spruchkammer stufte den Professor Dr. Peter Mohn als »unbelastet« ein, er durfte die Heil- und Pflegeanstalt Hornstein weiterführen. Am 14. August 1948 saß der nun Fünfzigjährige, der ungemein jugendlich wirkte, in seinem hellen Arbeitszimmer dem sechsunddreißigjährigen Boris Mordechai Minski gegenüber, den er davon verständigt hatte, daß sich Minskis Frau Rachel seit dem 18. Dezember 1945 bei ihm in stationärer Behandlung befand. Minski saß auf dem Sessel, auf dem acht Jahre zuvor der ältere der beiden SS-Ärzte gesessen hatte. Dieser leitete 1948 schon seit längerem ein exklusives Privatsanatorium am Stadtrand von Kairo.
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»Ihre Frau wurde am 17. Dezember 1945 in Frankfurt von der Polizei aufgegriffen, Herr Minski«, sagte Professor Dr. Peter Mohn. »Sie trug, obwohl es stark schneite und sehr kalt war, nur dünne, teils zerrissene Kleider, einen alten Mantel und defekte Schuhe.« Mohn sprach mit wohlklingender Stimme, seine Bewegungen waren behutsam, niemals hastig, und der Blick der braunen Augen bannte die Aufmerksamkeit jedes Menschen, mit dem der Arzt sich unterhielt. Auf dem Schreibtisch stand eine große Fotografie seiner Frau Anna, davor ein Tulpenstrauß in einer Tonvase.
»Was hat Rachel in Frankfurt gemacht?« fragte Minski.
»Gebettelt. Um Brot.«
Die Fenster des großen Zimmers waren geöffnet, Sonnenschein fiel in den Raum, und Minski hörte den Gesang von Frauenstimmen. Er hatte, bevor er sich setzte, gesehen, daß viele Patientinnen in einem Anstaltsgarten arbeiteten, zu dem die Fenster hinausgingen. An den Wänden des Arbeitszimmers hingen mehrere Bilder, von Patienten gemalt. Einige fand Minski schön.
»Um Brot«, sagte er tonlos.
»Ein amerikanischer Soldat brachte sie schließlich zum nächsten deutschen Polizeirevier. Ihre Frau hatte den KZ-Ausweis einer gewissen Ludmilla Szydlowsky, einer Russin, bei sich, doch das Foto auf dem Ausweis zeigte ein ganz anderes Gesicht, und als man sie fragte, wer sie denn nun wirklich sei — sie spricht sehr gut deutsch, Ihre Frau, Herr Minski …«
»Ja«, sagte dieser. »Rachel kommt aus einer reichen Familie, Herr Professor. Hat einen Privatlehrer für Deutsch und einen für Französisch gehabt. Sehr reiche Leute … alle tot, denk ich … Zuerst war da eine große Aufregung, wie sie gesagt hat, sie will mich armen Schlucker heiraten …« Minskis Stimme versinterte.
Ruhig fuhr Mohn fort: »… als man sie also fragte, wer sie denn nun wirklich sei, da regte Ihre Frau sich furchtbar auf, denn sie wußte es nicht.«
»Sie … was?«
»Sie wußte es nicht.« Mohn hielt Minski eine Tabatiere hin.
Der schüttelte den Kopf.
Mohn nahm selbst eine Zigarette und steckte sie in Brand.
»Sah ein Knab ein Röslein stehn«, sangen jetzt die Kranken unten im Garten.
»Nachts, auf dem Revier, erlitt Ihre Frau einen Anfall. Am nächsten Tag brachte man sie zu uns.« Mohn stand auf und begann im Zimmer umherzugehen, langsam, bedächtig. »Alles, was wir hinsichtlich der Identität feststellen konnten, war eine tätowierte Nummer am Handgelenk, aber die half uns natürlich nicht weiter.«
»Natürlich nicht«, sagte Minski.
»Wir hatten einige derartige Fälle. Auch Flüchtlingsfrauen. Nach ihrem Eintreffen gaben wir ihnen die aufeinanderfolgenden Buchstaben des Alphabets. Bis vor zwei Wochen war Ihre Frau für uns Frau E.«
»… war so jung und morgenschön, lief er schnell, es nah zu sehn. Sah’s mit vielen Freuden …«, klang es aus dem sonnigen Garten herauf.
»Dieses Lied hat Ihre Frau besonders gern«, sagte Mohn.
»Frau E«, wiederholte Minski verloren. »Frau E … bis vor zwei Wochen … drei Jahre lang nichts … wieso auf einmal …«
Mohn blieb stehen und sah auf Minski herab.
»Ich habe mich mit Ihrer Frau intensiv beschäftigt … Ehrlich gesagt, zunächst aus rein wissenschaftlichem Interesse. Nun, nach langen Gesprächen kam es dann zu einer ersten leichten Aufhellung. Frau Rachel erinnerte sich daran, wie sie hieß und wo sie herkam und daß sie verheiratet war und wie Sie hießen. Den Rest erledigte das Rote Kreuz für uns. Es ging so schnell, weil Sie sich ja seinerzeit bei vielen Rotkreuzstellen nach Ihrer Frau erkundigt haben.«
»Aber … aber wer ist dann da bei Hof begraben worden?« stotterte Minski.
»… Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden …«
»Jene Russin Ludmilla Szydlowski. Das haben wir mittlerweile auch geklärt Im November 1945 lagen beide Frauen im Krankenrevier des DP-Lagers dort. Sie wissen, wie das 1945 aussah. Zu wenig Ärzte, zu wenig Personal, kaum Medikamente, kaum Platz — und eine Sintflut von Kranken! In den Karteien ging alles drunter und drüber. Die Ärzte waren überlastet, viele, selbst ehemalige KZler, noch völlig entkräftet, brachen zusammen. Ihre Frau, das wissen wir heute, litt im Herbst 45 arg unter Rheumatismus. Sie lag in einem Zweibettzimmer — ach was, Zimmer, in einem Verschlag, in dem zwei Feldbetten der Amerikaner standen —, und ihre Kleider hingen an Nägeln, die man in die Wand geschlagen hatte. Am 11. November starb jene Ludmilla Szydlowski nachts im Schlaf an einem Herzschlag.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das Rote Kreuz fand auch noch einen Sterbeschein. Herzschlag ist da als Todesursache angegeben.«
»… Knabe sprach: Ich breche dich, Röslein auf der Heiden …«
»Was den Rest angeht, sind wir auf Vermutungen angewiesen«, fuhr Mohn fort. »Es kann sein, daß Ihre Frau — und das nehme ich an — damals schon psychisch erkrankt und verwirrt war und durch den nächtlichen Tod ihrer Zimmergefährtin in Panik versetzt wurde. Vermutlich wollte sie flüchten. In der Dunkelheit der Kammer nahm sie die falschen Kleider, die der Toten, in denen auch deren KZ-Ausweis steckte, kletterte aus dem Fenster und lief davon. Alles Vermutungen«, sagte der jugendlich wirkende fünfzigjährige Professor mit den großen braunen Augen, »aber so oder ähnlich muß es gewesen sein. Die Ärzte, die am Morgen die Tote und ein leeres Bett fanden, nahmen — es war die Tagesmannschaft — wohl an, daß die fehlende Patientin noch am Abend zuvor entlassen worden war. Immerhin fehlten ja auch Kleider. In den Kleidern, die noch da waren, steckte ein Ausweis für ehemalige KZler auf den Namen einer Jüdin namens Rachel Minski …«
»Aber da war doch auch ein Foto drauf!«
»Nein«, sagte Professor Mohn. »Leider eben nicht. Der Ausweis fand sich noch auf dem Standesamt Hof. Nicht alle die Scheine hatten Fotos. Der Ihrer Frau hatte keines. Und so begrub man an ihrer Stelle eine andere und schrieb ihren Namen auf das Grab. Es starben damals so viele Leute, Herr Minski. Sie wissen es doch. Es gab so viele Irrtümer.«
»Ja, so viele«, murmelte Boris. Er starrte die Fotografie auf dem Schreibtisch an. »Und wie ist meine Frau von Hof nach Frankfurt gekommen?«
»Das weiß sie auch heute noch nicht. Als die Polizei sie fragte, wußte sie nicht einmal, daß sie sich in Frankfurt befand. Sie hielt die Uniformierten für Wachen des Konzentrationslagers Kolomyja.«
»Gott im Himmel«, sagte Minski. »Wird sie wieder …«
Behutsam antwortete darauf Mohn: »Sie ist noch immer sehr krank, Herr Minski.«
»… Röslein sprach: Ich steche dich, daß du ewig denkst an mich, denn ich will’s nicht leiden …«
»Was fehlt meiner Frau?«
»Das wäre zu kompliziert zu erklären. Aber es ist keine unheilbare Krankheit, Herr Minski! Es ist nur eine, über die wir noch zu wenig wissen. Wir werden bald schon sehr viel mehr über sie wissen.«
Minski traten Tränen in die Augen.
Mohn schwieg und rauchte. Nach einer Weile wischte Minski sich die Augen trocken und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung.«
Mohn legte ihm eine Hand auf die Schulter: »Ihre Frau ist immer freundlich und ruhig. Sie liegt in der Offenen Abteilung. Sie ist einfach … nun, sie weiß einfach nicht, wo sie wirklich ist, und sie weiß nicht, wer alle Menschen wirklich sind. Nur bei mir ist das anders. Mich hält sie immer für denselben Menschen.«
»Wieso?« fragte Minski, dem sehr elend war. »Die anderen hält sie immer für andere?«
»Ja. Und manchmal erkennt sie überhaupt niemanden mehr — nicht einmal falsch. Doch immer ist sie freundlich und ruhig.«
»Freundlich und ruhig.«
»Sie könnte auch unruhig und böse sein, Herr Minski. Es gibt immer ein Unglück, das noch größer ist.«
Minski sagte leise: »Sie muß furchtbare Erlebnisse gehabt haben.«
»Ohne Zweifel. Die Rückbildung verläuft leider sehr zögernd. Vielleicht dauert es bei Frau Rachel noch lange, denn ihr Zustand unterliegt starken Schwankungen. Sie müssen Vertrauen und Geduld haben. Werden Sie das können?«
»Was sollt’ ich denn tun, wenn ich’s nicht könnte, Herr Professor«, sagte Minksi. Etwas fiel ihm ein. »Sie sind der einzige, für den meine Frau immer ansprechbar ist und den sie immer für denselben Menschen hält?«
Mohn nickte.
»Für wen hält Rachel Sie?«
»Ich sehe jünger aus, als ich bin. Sie hält mich für einen SS-Rottenführer namens Kleppke«, sagte Mohn.
Minski fuhr zusammen.
»Dieser Kleppke«, sprach der Professor langsam und beruhigend wie stets, »war in Kolomyja. Er hat Ihre Frau nie mißhandelt, sondern er war sogar einmal gut zu ihr, obwohl das sehr gefährlich für ihn hätte werden können, wenn einer seiner Kameraden es gesehen und verpfiffen hätte.«
»Woher wissen Sie, daß er gut zu meiner Frau war?«
»Von ihr selber. Sie dankt ihm — also mir — auch immer noch«, sagte Mohn mit unbewegtem Gesicht, in dem nur die großen braunen Augen zu leben schienen.
»Wofür dankt sie Ihnen?«
»Für einen Viertellaib Brot«, antwortete Mohn. »Die anderen SS-Leute in ihrem Block machten sich einen Spaß daraus, vor den Augen der hungernden Gefangenen den Bluthunden Brot und Wurst hinzuwerfen. Da sagte Ihre Frau einmal: ›Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann würde ich mir wünschen, ein Hund zu sein. Weil die Herren SS doch Hunde so gern haben.‹ Nun, und dieser Kleppke hörte das und gab ihr einen Kanten Brot, schnell und heimlich, denn gewiß hatte er so viel Angst vor seinen Vorgesetzten wie seine Gefangenen vor ihm.«
»… und der wilde Knabe brach ‘s Röslein auf der Heiden …«
»Nun kommen Sie«, sagte Mohn. »Ich bringe Sie hinunter in den Garten.«
Er ging zum Schreibtisch, öffnete eine Lade und entnahm ihr etwas, was Minski nicht erkennen konnte. Den Gegenstand steckte er in eine Tasche seines Ärztekittels. Minski blickte noch einmal die große Fotografie an, als er sich erhob. »Wir wollen aber sehr behutsam sein, damit Ihre Frau nicht erschrickt«, sagte Mohn. »Ich erkläre Ihnen, wie Sie sich verhalten müssen …«
Er erklärte es Minski auf dem Weg über lange, helle Gänge der Anstalt. Zuletzt öffnete er die Tür zu einem großen, dämmrigen Saal.
»Hier durch, das ist eine Abkürzung«, sagte Mohn.
Der Gesang der Frauen begleitete sie auf ihrem ganzen Weg. Das Röslein hatte sich gewehrt und zugestochen, auf daß der wilde Knabe ewig an die Zerstörung einer schönen Sache denken sollte; aber das hatte diesen nicht abgehalten, sie zu zerstören. Half dem Röslein doch kein Weh und Ach, mußt’ es eben leiden.
»Was ist das hier?« fragte Minski. In dem dämmrigen Raum stiegen Zuhörerbänke steil im Halbkreis um eine freie Fläche auf.
»Heute ist es ein Vortragssaal. Früher einmal war es die Hauskapelle.«
»Sehr große Hauskapelle«, sagte Minski.
»Sehr fromme Zeiten«, sagte Mohn. »Und dies ist außerdem eine ziemlich große Anstalt.«
»Herr Professor …«
»Ja?«
»Ich hab Angst …«
»Sie müssen keine Angst haben. Es ist Ihre Frau. Und Sie lieben sie doch.«
»Ja«, sagte Minski. »Sehr.« Er zögerte. »Auf Ihrem Schreibtisch … war das ein Bild von Ihrer Frau?«
»Ja.«
»Lebt sie hier draußen mit Ihnen?«
»Sie lebte hier. Sie war gern auf dem Land. Und ihre Lieblingsblumen waren Tulpen«, sagte Mohn. »1945 starb sie, im Dezember. Lungenentzündung. Es war eine schwere Zeit damals … sie hatte viele Aufregungen hinter sich … und vor sich … sie war sehr schwach geworden in den letzten Kriegsjahren … sie starb, ein paar Tage bevor Ihre Frau zu uns gebracht wurde.« Mohn durchquerte schnell den Vortragssaal. Minski sah, daß an dessen Stirnwand, hoch oben, ein Spruch der ehemaligen Kapelle stehengeblieben war. In mattgoldenen Buchstaben hieß es da:
EHRE SEI GOTT IN DER HÖHE
Rachel Minski wanderte durch den Anstaltsgarten, in dem vielerlei Gemüse, Blumen und Obstbäume wuchsen. Sie ging über einen Kiesweg, begleitet von einer Pflegerin, und sie kam direkt auf Minski und Mohn zu. Der Arzt war ins Freie, in die Sonne hinausgetreten, Minski stand im Dunkeln des Hauseinganges. So hatte der Professor es gewünscht.
Der Garten war groß, weit entfernt lagen hohe Mauern, die ihn einschlossen. Viele Frauen arbeiteten hier. Sie sangen nun das Lied vom Lindenbaum. In allen Farben leuchtete dieser Garten, und es war Sommer, tiefer Sommer. Minski sah, daß um seine Frau Schmetterlinge flatterten, Zitronen- und Schillerfalter — Gonepteryx rhamni und Apatura iris, dachte er mechanisch und sehr verwundert darüber, daß er die lateinischen Bezeichnungen noch in Erinnerung hatte. Dann war Rachel nahe herangekommen. Er erschrak entsetzlich.
Rachel Minski, von bunten Schmetterlingen umflattert, sah aus wie ein Gespenst: ausgemergelt, viel kleiner, als Minski sie in Erinnerung hatte, mit dünnem weißem Haar und dem Gesicht einer alten Frau. Und war doch noch nicht dreißig Jahre alt und einmal eines der schönsten Mädchen von Kamenez-Podolsk gewesen …
Minski bemerkte, daß Rachel mehrere Zähne fehlten. Sie trug leichte, gestreifte Anstaltskleidung. Der Schweiß rann Minski plötzlich in Strömen über den Körper. Er wollte seiner Frau entgegeneilen, aber Mohn vertrat ihm den Weg. Er winkte der Pflegerin, wieder fortzugehen.
Minskis Herz schlug heftig, als er sah, daß seine Frau zu lächeln begann, aber dann bemerkte er mit großer Betrübnis, wen sie anlächelte: den Arzt. Ihren Mann schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
Rachel Minski blieb stehen, hob den rechten Arm und sagte in gutem Deutsch: »Heil Hitler, Herr Rottenführer!«
»Guten Tag, Frau Minski«, antwortete Professor Mohn ruhig. »Nun, wie geht es uns heute?«
Minski sah mit Grauen, wie seine einst so schöne Frau noch strammere Haltung annahm und erwiderte: »Gut, Herr Rottenführer.« Sie lachte glucksend, ein Gespenst lachte.
»Was ist denn?«
»Das große Glück«, sagte Rachel Minski. »Immer wieder muß ich an das große Glück denken, Herr Rottenführer! Ich werde von Kolomyja in ein anderes Lager gebracht, hierher, und hier werde ich krank und komme ins Revier — und wen treffe ich da wieder?«
Mohn nickte strahlend.
»Sie finde ich wieder, Herr Rottenführer! Sie hat man auch versetzt, und einen Sanitäter hat man aus Ihnen gemacht. In dem Lager hier! So viel Glück! Immer muß ich daran denken.« Ein Ausdruck von wilder Gier trat plötzlich in ihre erloschenen Augen, und sie starrte den Arzt an. Sie flüsterte: »Heute auch?«
»Heute auch«, sagte Mohn. »Aber warum flüstern Sie, Frau Minski?«
»Wenn Ihre Herren Kameraden uns hören …«
»Die halten dicht. Sind alles anständige Kerle hier, das habe ich Ihnen doch schon so oft gesagt. Nicht zu vergleichen mit Kolomyja. Hier können wir ruhig laut reden.« Er griff in die Tasche seines Ärztemantels und holte eine Semmel hervor, die er Rachel gab. Eine Semmel nahm er also aus seinem Schreibtisch, dachte Minski und sah in ohnmächtiger Trauer das plötzlich verklärte Gesicht seiner Frau und daß sie Mohn die Hand küßte.
»Nicht!« sagte der, etwas strenger. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß Sie mir nicht die Hand küssen dürfen, Frau Minski?«
»Ich werde Ihnen die Hand küssen, jedesmal, wenn Sie mir ein Stück Brot schenken«, antwortete Rachel. »Und weil Sie mir immer Brot schenken, wenn Sie Dienst haben, werde ich Ihnen die Hand küssen, bis ich sterb.«
Und Blumen blühten rot, blau, weiß, gelb, violett und golden, und das Gemüse leuchtete grün und weiß und rot, und rote Beeren wuchsen an den Sträuchern und blaue, rote und gelbe Früchte an den Obstbäumen, und die Frauen sangen bei ihrer leichten Arbeit, und ihre Stimmen stiegen klar und hell auf in der hellen, klaren Luft.
Rachel Minski aß die Semmel so hastig, daß durch die Zahnlücken Krümel aus ihrem Mund fielen.
»Langsamer, Frau Minski, langsamer«, sagte der Arzt.
Rachel schüttelte den Kopf, diesen Gespensterkopf, der einst so schön, so schön gewesen war.
»Muß schnell essen«, erklärte sie. »Nimmt mir sonst eine fort, oder einer sieht was, und ich komm in den Ofen, und Gott allein weiß, was sie mit Ihnen machen, Herr Rottenführer. Es ist doch so streng verboten. Wenn Ihnen was passieren würde, schrecklich, ich wär ganz allein, ohne einen einzigen Freund hier in dem neuen Lager.«
»Ich habe heute einen Freund mitgebracht«, sagte Mohn vorsichtig. »Ein feiner Kerl. Mein bester Freund. Zu ihm können Sie Vertrauen haben, Frau Minski. Habe ich Ihnen noch nie etwas von meinem alten Freund erzählt?« Rachel schüttelte den Kopf.
»Komisch. Nun, heute ist er da, und ich wollte ihn Ihnen vorstellen, damit Sie wissen, daß Sie nicht nur einen Freund haben, sondern mindestens zwei, denn mein Freund ist auch Ihr Freund.«
Mohn zog Minski, der am ganzen Körper zitterte, aus dem tiefen Schatten des Hauseingangs in das grelle Sonnenlicht heraus und bis vor Rachel hin.
Mit starren, leeren Augen betrachtete diese ihren Mann. Rachels Pupillen waren nicht größer als Stecknadelköpfe. Sie kaute immer noch an der Semmel, schluckte, was sie im Mund hatte, und hob wieder den Arm.
»Heil Hitler!« sagte Rachel Minski.
Boris Mordechai Minski sah Mohn zitternd an und flüsterte: »Muß ich jetzt auch Heil Hitler sagen?«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Mein Freund wird jetzt oft kommen«, sagte er rasch.
»Schade«, sagte Rachel.
»Wieso schade?«
»Schade, daß nicht immer nur Sie Dienst im Krankenrevier haben.«
»Ich habe immer Dienst, Frau Minski. Aber mein Freund wird trotzdem oft kommen. Gefällt er Ihnen nicht?«
»Oh, natürlich«, sagte Rachel sofort erschrocken. »Wird er mir immer ein Stück Brot bringen?«
»Das wird er tun.«
»Oh, schön! Er gefällt mir sehr, wirklich!« sagte Rachel. »Aber jetzt muß ich schnell wieder zum Außendienst, sonst fällt es auf, und ich werd bestraft.«
Der Arzt nickte.
Rachel Minski hob wieder den rechten Arm, lächelte Mohn und jetzt auch Minski zu, drehte sich auf den Hacken und eilte zu einem Gemüsebeet zurück.
»Kommen Sie«, sagte Mohn. »Ich bin sehr froh, daß es so gut ging.«
»Gut nennen Sie das?«
»Wissen Sie, wie schlimm es hätte werden können?« fragte Professor Peter Mohn leise. Er nahm Minski am Arm. Der ließ sich ein paar Schritte weit in einen Korridor des großen Hauses führen, dann blieb er stehen.
»Meine Frau liegt dritter Klasse …«
»Tja … natürlich … sie war mittellos … das alles kostet Geld … und wir … Sie müssen das verstehen. Wenn es nach mir ginge …«
Minski unterbrach: »Dritter Klasse, in einem Saal mit anderen …«
»Mit etwa zwanzig Frauen, ja.«
»Ich möchte, daß meine Frau erster Klasse liegt«, sagte Minski. »In einem schönen Einzelzimmer. Oder geht das nicht? Wär das schlecht für sie? Soll sie nicht allein sein?«
»Sie soll nicht allein sein … aber sie wäre ja auch nicht allein, sie liegt ja längst nicht mehr im Bett«, sagte Mohn. »Sie wäre den ganzen Tag, solange sie will, mit anderen zusammen. Manchmal möchte sie sehr gerne allein sein, vor allem allein schlafen, sagt sie. Der Saal erinnert sie natürlich …«
»Eben. Also erster Klasse, Einzelzimmer!«
»Das ist aber teuer, Herr Minski …«
»Macht nichts. Ich hab Geld. Und wenn es lang dauert, werde ich noch sehr viel mehr Geld haben. Es wird lang dauern, das hab ich jetzt gesehen. Sie müssen nix erzählen, Herr Professor.«
Mohn schwieg.
»Ich kann arbeiten«, sagte Minski. »Und ich werd arbeiten. Für meine Rachel. Nur noch für sie. Daß sie es hier so angenehm hat wie möglich — was es auch kostet.«
»Das wird die Verwaltung freuen«, sagte Mohn. »Wir brauchen immer Geld, wir haben so wenig. Aber es kann … es kann wirklich noch Jahre dauern, das müssen Sie sich vor Augen halten …«
»Ich halt’s mir vor Augen«, sagte Boris. »Keine Angst. Minski zahlt. Pünktlich. Minski übersiedelt nach Frankfurt. Minski weiß auch schon, was er machen wird in Frankfurt.«
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Er eröffnete — mit dem Geld, das er besaß, mit dem Erlös des Wohnungsverkaufs in München, mit Hilfe von Freunden, die ihm einen Nansen-Paß, eine Aufenthaltserlaubnis und eine Schankkonzession verschafften, aber vor allem mit der ungeheuren Energie, die ihn erfüllte, in Frankfurt eine Bar für amerikanische Soldaten — keinen richtigen Army Club natürlich, aber ein sehr anziehendes Lokal für G. I’s, die genug hatten von dem feinen Getue der offiziellen Klubs und von ihren Vorgesetzten und den Weibern ihrer Vorgesetzten. Minski nannte das Lokal ‘G. I. Joe’. Er engagierte eine Band und ein paar Mädchen, die das produzierten, was man damals »Schönheitstänze« nannte, er schob mit Script-Dollars, Zigaretten, Benzin und Schokolade. Bald war er ein Begriff in Frankfurt — und was für einer! Alle Mitglieder der Kultusgemeinde stöhnten, wenn sie nur an Boris Mordechai Minski dachten.
Mehrfach wurde sein ‘G. I. Joe’, das damals schon in jenem Gebäude der Taunusstraße untergebracht war, in dem sich später unser »Strip« befand, von der Militärregierung für Amerikaner OFF LIMITS erklärt. Aber Minski hatte viele Freunde in der Militärregierung, mit denen er und die mit ihm schoben. So wurde die Bar immer wieder bald freigegeben.
Pünktlich auf den Tag bezahlte Minski die Kosten für den Erste-Klasse-Aufenthalt seiner Frau in der Heil- und Pflegeanstalt Hornstein.
1948 traf ich Boris Minski zum erstenmal, als ich mit einer MilitaryPolice-Streife im ‘G. I. Joe’ erschien. Ich arbeitete damals für die Amerikaner — als Dolmetscher. MP-Streifen erschienen häufig bei Minski (und in allen anderen derartigen Lokalen); sie ließen sich die Ausweise der Soldaten und die der »Fräuleins« zeigen. »Nonfraternization« gab es längst nicht mehr, wenn die deutschen Mädchen auch noch immer den Spitznamen »Veronica Dankeschön« hatten. V.D. war die Abkürzung dieses Spitznamens, V.D. war auch die Abkürzung für »Venereal Diseases« — Geschlechtskrankheiten. Auf Anordnung des Provost Marshals mußte Minski damals gleich beim Eingang große, auf Holz gezogene Fotos von erkrankten Genitalien an die Wände hängen und darunter Tafeln mit Warnungen wie DON’T BE A SAP AND CATCH THE CLAP oder DON’T GET A DRIP AND MISS YOUR SHIP.
Ich befreundete mich mit Minski. Zuerst wußte ich nichts von seinem und seiner Frau Schicksal. 1958, als ich Minskis Partner wurde und wir das kleine ‘G. I. Joe’ zu dem großen »Strip« umbauten, wußte ich längst alles. Ich hatte in den Jahren zwischen 1948 und 1958 natürlich mein eigenes Stück Leben hinter mich gebracht. Darüber werde ich noch berichten müssen, viel …
Das »Strip« erwies sich von Anbeginn als Goldgrube. Es kamen kaum Soldaten zu uns. Sie hatten nicht genug Geld, um ins ‘Strip’ zu gehen. Unsere Gäste waren jetzt Deutsche. Die hatten genug Geld. Das Wirtschaftswunder blühte. Über fünfundneunzig Prozent unserer Besucher waren zuletzt Deutsche oder ausländische Zivilisten. Das Ende jenes Wunders hatte Minski sich ausgerechnet, Jahre bevor Ludwig Erhard bat, maßzuhalten, und er hatte sehr gute Vorkehrungen getroffen …
Seine Frau, betreut von Professor Mohn, den ich durch Minski kennenlernte und den dieser als größten Arzt aller Zeiten verehrte, war gesünder und gesünder geworden. Langsam erhellte sich Rachels Geist, langsam wurde Minski ihr vertraut — und 1952 erkannte sie ihn eines Tages, ruhig, ohne jede Erregung.
Gleich darauf machte ein Rückfall diesen großen Erfolg der Behandlung wieder zunichte. Zwei Jahre dauerte es, bis Mohn und seine Ärzte es geschafft hatten, Rachel wenigstens wieder so weit zu bringen, wie sie 1952 gewesen war. 1956 erkannte Rachel Minski ihren Mann zum zweitenmal. Die Heilung schien geglückt. Doch als Rachel die Klinik verließ, erwies es sich, daß sie dem Leben in einer rasenden, tollen, fremden Welt nicht mehr gewachsen war. Bald schon stand fest: Rachel Minski, zu lange in ihrer Umnachtung befangen, würde nie mehr die Kraft aufbringen, sich in unserer hektischen Zeit zu behaupten. Sie brauchte Ruhe, Abgeschiedenheit und Frieden.
Professor Mohn war jäh gealtert, weißhaarig und etwas zittrig geworden. Des Arztes Arbeit wurde dadurch nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Je mehr sich bei ihm Abnutzungserscheinungen bemerkbar machten, desto unermüdlicher zeigte sich dieser Mann in der Klinik.
Rachel Minski hätte Hornstein längst verlassen und, praktisch geheilt und nur dauernd pflegebedürftig, die besten Sanatorien aufsuchen können. Geld verdiente Minski nun genug. Aber: »Ich will in Hornstein beim Herrn Professor bleiben!« bat Rachel immer wieder. Sie blieb. In all den Jahren war zwischen der russischen Jüdin und dem einstmals überzeugten Parteigenossen eine sehr große Sympathie entstanden. Indessen sollte Professor Peter Mohn 1968 — er war dann siebzig Jahre alt — endgültig pensioniert werden.
Minski, besessen wie Rachel von der Idee, daß seine Frau »ihren Professor« brauchte und immer weiter brauchen würde, hatte bereits vor langer Zeit in Erfahrung gebracht, was wenige wußten: Mohn besaß, noch von den Eltern her, ein kleines Haus am Lago Maggiore. Er und seine Frau Anna hatten immer davon geträumt, in diesem Haus ihren Lebensabend zu verbringen. Nun verbrachte der Arzt hier, allein, stets seinen Urlaub. Sobald Minski das wußte, begann er alles für eine Übersiedlung in die Schweiz vorzubereiten. In der Schweiz legte er sein Geld an, in der Schweiz wollte er auch das kleine Vermögen Mohns anlegen.
»Ich darf hier aber nicht so einfach weggehen, Herr Minski«, protestierte Mohn, als Minski zum erstenmal mit ihm darüber sprach. »Ein Arzt darf nie einfach weggehen und seine Kranken im Stich lassen.«
»Sollen Sie ja auch nicht, Herr Professor. Gott, wer würde so etwas verlangen von Ihnen? Aber wenn Sie siebzig sind, wenn Sie pensioniert sind, dann müssen Sie doch die Kranken hier verlassen. Und dann, Herr Professor, dürfen Sie in die Schweiz! Das möchten Sie doch noch immer gern, nicht?«
»Gern, Herr Minski. Aber keinesfalls, bevor …«
»… Sie siebzig sind, natürlich. Ich versteh genau. Ich hab mir alles überlegt und überschläglich ausgerechnet. Es wird gehen.«
»Was?«
»Mit der Zeit«, sagte Minski. »Knapp vielleicht, aber es wird sich noch ausgehen. Ich meine: Ich werd mit meiner Rachel hier nicht weg müssen vor 1968.« Er klopfte vorsichtig dreimal auf Holz. »Bis dahin hält es sich schon noch, sehr wahrscheinlich. Wie wunderbar, daß Sie schon alt genug sind! … Und jetzt erlauben Sie, daß ich mich um Ihr Geld kümmer …«
Mohn hatte es ihm erlaubt. Er wußte, womit Minski das seine verdiente — er zuckte nur die Schultern, wenn man ihn darauf ansprach. Dieser Arzt wußte auch viel von mir, beinahe alles. Er wußte, daß auch ich Minski mit seinem unfehlbaren Instinkt in die Schweiz folgen wollte, noch bevor sich alles, was wir alle schon einmal erlebt hatten, wiederholte — in etwas anderer Form vielleicht. Und vielleicht würde die Form gar nicht so viel anders sein.
Ich besaß für dieses Fortgehen viele Gründe — die Jahre seit 1945 und was ich in ihnen getan hatte, meine ganze Vergangenheit, die Minski meine »Zukunft« nannte, nachdem er einmal formuliert hatte: »Ritchie, du bist ein Mann, der eine große Zukunft hinter sich hat.«
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Auf dem Tigerfell draußen fuhrwerkte Vanessa immer wilder und heulte wie ein Wölfchen: »Oooohhh!!!«
In dem gedämpften roten Licht sahen die Gäste aus wie eine Versammlung von sehr toten Wasserleichen, denen jeden Moment die Augen platzen oder aus den Höhlen springen würden. Sie sahen so aus, wie alle unsere Gäste immer aussahen, wenn Vanessa ins Finale ging. Ihre heiseren Urwaldlaute kamen durch den Lautsprecher zu uns. Einmal nieste sie — fast. Sie hatte sich eisern unter Kontrolle. Während Minski sorgfältig meine Smokingjacke abbürstete, sah ich noch einmal auf eine der Zeitungen vor mir.
»Notstandsgesetze«, sagte ich.
»Was?«
»Wird die neue Regierung nun auch energisch vorantreiben, steht da — im Geist der Demokratie natürlich. Für den Fall eines plötzlichen Notfalls.«
»Der ist längst da«, sagte Minski. »Willst du auch ein bissel Yardley? Nein? Der gefährlichste Notstand in unserer Demokratie ist schon da, hab ich gesagt.«
»Hab’s gehört. Was meinst du mit dem gefährlichsten Notstand?«
»Den schrecklichen Mangel von Demokraten in unserer Demokratie«, sagte Minski. »Spaß. Zum drüber lachen.«
»Ach so«, sagte ich. »Es ist dir doch klar, Boris, daß sie uns die Bude hier hinten jedenfalls schließen werden, wenn sie mit den Gesetzen auch nur ein Stück weitergekommen sind?«
»Freilich ist mir das klar«, sagte Minski. »Sie müssen uns solche Sachen verbieten, warum, sie sind staatsgefährdend. Oberste Gesetze in jeder Diktatur oder Demokratie, die eine werden will, heißen Todesstrafe und absolute moralische Sauberkeit. War nirgends so sauber und moralisch wie unterm Hitler. Sie werden uns, denk ich, noch eine Weile erlauben, daß wir ein ganz zahmes Programm machen — weil sie Steuern brauchen. Aber die werden sie so verrückt hoch ansetzen, daß wir 68 schon sicher schließen müssen. Na, wie hab ich das gemacht? Darauf ist doch alles eingerichtet! Unser Vermögen in dem Fonds — was wir jetzt noch verdienen, behalten wir für die Steuer, damit sie uns dann auch gleich rauslassen.« Er rieb sein Gesicht mit »Yardley« ein.
Vanessa auf ihrem Tigerfell öffnete und schloß die Schenkel, ihr Kopf neigte sich zu den Brüsten, das blonde Haar fiel über das Gesicht, sie wimmerte jetzt in einem gleichbleibend hohen Ton. Der Leib bäumte sich immer wieder auf, mit der freien Hand trommelte sie auf ihren flachen Bauch oder auf dem Fell herum, und der Exhaustor schaltete sich wieder einmal ein, und ich dachte an unsere Rettung, an die IIO.
Die IIO, die »International Investors Organisation«, war eine der größten der Welt, sie vertrat an die zweihundert Investmentfonds. Ihren Rechtssitz hatte sie in Panama, die Geschäftsleitung befand sich in Genf, Wertpapiere und Anteile der Fonds lagen im Depot der Bankers United in London, und als Bank für Barmittel — Einzahlung und Auszahlung — fungierte die Schweizerische Finanzbank, Zürich.
Am 1.1.1955 hatte Minski dort bar 25 000 Dollar einbezahlt, regelmäßige jährliche Zahlungen von 2500 Dollar abgehoben und auf ein offenes Konto gelegt. Einlagen bei der IIO hatten während der letzten Generation alle zehn Jahre das Vierfache an Wert gewonnen. Das bedeutete: Die von Minski am 1. Januar 1955 eingezahlten 25 000 Dollar hatten schon am 31. Dezember 1964 den Wert von 97 352 Dollar besessen, obwohl Minski in den zehn Jahren dazwischen seine gesamte ursprüngliche Einlage in Raten wiederbekommen hatte. Praktisch also waren aus null Dollar beinahe 100 000 Dollar geworden. Das klingt wie ein Märchen, es ist aber keines. Die 25 000 Dollar, die Minski insgesamt entnahm, also derselbe Betrag, den er eingezahlt hatte, setzten sich zusammen aus Dividenden und Kapitalgewinnen der riesigen IIO. Eine Kapitalrente.
Es war nicht bei diesen ersten 25 000 Dollar geblieben. Im Laufe der Zeit hatte Minski weiteres Vermögen eingebracht. Ich tat desgleichen. Am 1.1.1959 und am 1.1.1960 legte auch ich jeweils 25 000 Dollar an, denn da hatte ich schon genug Geld. Was wir zusammenrafften, schafften wir so in Sicherheit, und so legte Minski auch Professor Mohns kleines Vermögen an. Natürlich konnte man nicht mit Gewißheit prophezeien, daß sich die Einzahlungen innerhalb von zehn Jahren immer weiter vervierfachen würden, sie konnten sich, wenn noch ein paar Kriege wie der in Vietnam ausbrachen, auch verfünf- und versechsfachen.
Fallen konnten sie bei der bisherigen Entwicklung kaum, denn es hatte in der letzten Generation dauernd Kriege gegeben, und es würde sie dauernd weitergeben, und nur wenn ein großer Atomkrieg die Welt verheerte, war es auch mit der IIO vorbei. Aber, wie Minski bemerkte: »In so einem Fall wird man selbst in der Schweiz kein Geld mehr brauchen.« Kleine Pause, dann: »Vermutlich.«
Aus dem Lautsprecher kamen jetzt Geräusche, die so international waren wie die IIO und die jeder Mensch auf der Welt verstand: Vanessa spielte den Damen und Herren den Höhepunkt vor. Sie schrie einmal gellend auf, dann erstarb ihre Stimme zu einem Murmeln, sie rang nach Luft und sank zuckend auf dem Tigerfell zusammen.
»Wie schau ich aus?« fragte Minski und trat vor mich hin.
»Großartig«, sagte ich.
»Und dabei bin ich vierundfünfzig«, bemerkte er. »Elf Jahre älter als du! Du müßtest viel besser aussehen! Aber du paßt ja nicht auf dich auf.«
»Du schon.«
»Muß ich ja — wenn ich für euch alle denken soll. Muß auf meine Gesundheit achten, viel Obst essen, nicht rauchen, keinen Alkohol trinken …«
Vanessa bewegte sich immer noch nicht. Das gehörte zum Act. Endlich erhob sie sich. Die beiden Zofen brachten ein knielanges Hermelincape, das sie über Vanessas Schultern legten und verschwanden mit Kerze, Kissen und Tigerfell. Vanessa schritt nun — das Licht wurde wieder heller — von Tisch zu Tisch, die blauen Kulleraugen weit geöffnet, und von Zeit zu Zeit hielt sie eine Hand daran und zeigte diese Hand dann den Gästen.
Das war das Nonplusultra!
Das schmiß sie einfach immer wieder alle um. Da konnten sie nur staunen. Reden konnten sie da nie. Bloß heute flüsterten die beiden »Special Effects Men« heftig miteinander.
»Schau dir an, wie glücklich wir sie wieder mal gemacht haben«, sagte Minski.
»Und wenn man bedenkt — nur ein bißchen Theater.«
»Es ist beinahe so leicht, Menschen glücklich zu machen wie unglücklich«, sagte Minski, der einmal Schmetterlingsforscher hatte werden wollen.
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Als wir den Spiegelraum betraten, verließ Vanessa ihn eben, wie eine Königin schreitend, in ihrem Hermelin, der ein Kaninchenpelz war, was aber bei dieser Beleuchtung niemand sehen konnte. Die Zuschauer waren aus ihrer Trance erwacht. Sie applaudierten rasend. »Gibt wenige Schauspieler, die so was von Applaus kriegen«, sagte Minski.
Wir widmeten uns nun den Gästen. Ich ging zuerst zu den beiden Filmmenschen.
»Well, gentlemen?« sagte ich. Die beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie mich gar nicht bemerkten. Es war auch sehr laut im Raum, wie immer danach, und unsere Zofen eilten hin und her und brachten Getränke und nahmen Bestellungen auf. Ich versuchte es noch einmal:
»Well, gentlemen, what do you say?«
Nichts zu machen.
Der große Blonde redete auf den kleinen Schwarzen ein: »No, Charlie, no! Believe you me. It’s the only solution. She’s got to have one! I couldn’t do it any other way for any kitten if they offered me a million dollars!«
Der Kleine bemerkte mich endlich.
»Fantastic gimmick«, sagte der Kleine. »Congratulations, Mr. Mark.«
»Thank you«, sagte ich.
»Absolutely fantastic«, sagte der Große. »And now do tell us. We’ll keep it a professional secret. She’s got a sponge, eh?«
»Nein«, erwiderte ich ernst.
Der große Bonde, der ziemlich betrunken war, starrte mich an und murmelte erschüttert: »You swear to God that’s the holy truth?«
Die heilige Wahrheit, sagte ich, das könne ich bei Gott beschwören.
Er fragte mich, ob ich in alle Ewigkeit verflucht sein und in der Hölle brennen wollte, wenn ich ihn anlog.
»Sure«, sagte ich. Da war kein Risiko dabei. Verflucht war ich längst, und brennen würde ich gewiß auch in der Hölle, wenn es eine Hölle gab und man dort brannte. Absolut kein Risiko.
Feierlich und betrunken erklärte der Große: »If it is not a sponge, it is a miracle.«
»Ja«, sagte ich ernst, »es ist ein Wunder.« Dann sagte ich noch, ich würde gleich zurückkommen und einen Drink mit den beiden nehmen. Das sagte ich stets, an jedem Tisch, wenn ich weg wollte. Ich kam kaum je zurück. Zuviel zu tun.
Natürlich benützte Vanessa einen, aber ich hätte mir eher den Kopf abschneiden lassen, als das zuzugeben. Erraten hatte er es, dieser Spezialist, dachte ich, er verstand sein Geschäft. Doch als ich bei Gott schwor, da glaubte er mir sofort und sprach von einem Wunder. Betrunkene neigten zu derlei.
Ich ging noch an ein paar andere Tische und machte höfliche Konversation und sah erfreut, daß unsere Zofen Kübel mit Champagnerflaschen und Tabletts mit Gläsern und ganze Flaschen Scotch darauf heranschleppten. Als ich das Spiegelzimmer verließ, um nach Vanessa zu sehen, die ich nach jedem Auftritt in der Garderobe besuchte, um sie zu loben (alle Künstler brauchen Bestätigung), hörte ich von einem der Tische laut Minskis Stimme: »Herr Intendant, was soll ich machen? Soll ich Sie belügen? Ja, jedesmal regt sie sich so auf dabei. Ein Phänomen, Herr Intendant! Was glauben Sie, was mich das Mädchen kostet?«,
Auf dem Gang zu den Umkleideräumen der Artisten und Stripperinnen und den Einzelgarderoben war es verflucht kalt und so zugig, daß man sich hier wahrhaftig den Tod holen konnte. Warum wohl mußte gerade dieses alte, häßliche, verbaute Haus von den Bomben verschont geblieben sein? Ich ging bis zu der Tür von Vanessas Garderobe und wollte eben anklopfen, als ich von drinnen Stimmen hörte. Also klopfte ich natürlich nicht an, sondern lauschte.
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»Wirklich, gnädige Frau, es ist schrecklich für mich, Ihnen das immer wieder sagen zu müssen — aber es geht nicht! Ich … ich … ich habe doch meine Liebe …« Das war Vanessas Piepsstimme. Wir hatten sie dieses Piepsen gelehrt, es gehörte ebenfalls zur Nummer.
»Ihre Liebe!« Petra Schalkes harte, tiefe Stimme erklang. »Dieser Grieche. Wo ist er denn, dieser Grieche?«
»In Paris, das wissen Sie doch …«
»Und Sie sind hier. Und er kommt nicht her.«
»Er kann nicht. Er muß doch …«
»Ach was muß er! Wenn er Sie wirklich liebte, mein Kind, wäre er hier und nicht in Paris!«
»Er liebt mich wirklich«, hörte ich Vanessa sagen. Ihre Piepsstimme flatterte.
Arme Vanessa, dachte ich.
Diesen Griechen gab es tatsächlich, und er war tatsächlich in Paris, und er kam tatsächlich nie nach Frankfurt, und Vanessa wäre vermutlich sehr glücklich gewesen, wenn er sie geliebt hätte. Panos Mitsotakis hieß der Grieche. Vanessa war uns sozusagen durch ihn beschert worden.
Arme Vanessa!
Wenn Panos sie schon nicht liebte, dann konnte sie es doch behaupten — er war nicht da, um es zu bestreiten, und sie hielt sich so jeden lästigen Besucher vom Leib. Eine große Liebe war etwas, das immer noch alle Menschen rührte. Sogar wenn es sie gar nicht gibt und man nur von ihr erzählt, dachte ich.
Oder doch nicht alle? Diese Schalke jedenfalls ließ sich nicht rühren.
»Der Grieche!« sagte Petra Schalkes Stimme voll Verachtung. »Der wunderbare, herrliche Grieche, der nur nie da ist. Dieser großartige, prächtige Mann. Hören Sie mir mit Männern auf! Was kann ein Mann schon für ein Mädchen tun?«
»Er kann es lieben und zärtlich sein und es glücklich machen …« Vanessas Piepsstimme zitterte schrecklich.
»Ich kann ein Mädchen viel glücklicher machen und viel besser lieben und viel zärtlicher sein als jeder Mann«, sagte Petra Schalke.
Ich fror und rieb meine Hände, aber ich lauschte weiter. Petra Schalke besaß eine der größten Büstenhalterfirmen Deutschlands. Die hatte sie 1960 von einer langjährigen Freundin geerbt. Damals war diese Freundin, eine erstklassige Pilotin, die eine »Bonanza« besaß und einen eigenen Piloten dazu, obwohl sie ihre Maschine am liebsten selbst steuerte (der Pilot hatte ein feines Leben!); damals also war diese Freundin auf dem Weg über das Frankfurter Flugfeld auf einer Orangenschale ausgerutscht und auf den Hinterkopf gefallen und zwei Tage später tot gewesen. Sie hatte alles, was sie auf Erden besaß, testamentarisch ihrer lieben Petra Schalke vermacht. Verwandte gab es keine, also gab es auch keinen Streit, und der Kesse Vater erbte Büstenhalterfabrik, Grundstücke, Häuser, Villen, ein Vermögen, das Privatflugzeug, den Piloten, Schmuck, Pelze und eine Hochseejacht.
Sechs Jahre lang war der Lesbienne ein Traumleben vergönnt gewesen — auf Reisen, mit Mädchen, in fernen Ländern. Um die Fabrik kümmerten sich Angestellte. Dann hatte die Erbin unsere Vanessa gesehen. Vorbei der Traum, das Leid begann. Kurz ist der Menschen schöne Zeit auf Erden. Nun litt die Schalke also.
»Gnädige Frau«, piepste Vanessa, der wir eingeschärft hatten, bis an die Grenzen des Möglichen höflich gegen unseren teuren Gast zu bleiben, »ich glaube Ihnen das ja alles …, ich bin unglücklich darüber, daß ich Sie immer wieder abweisen muß … aber ich … ich brauche nicht nur Zärtlichkeit, ich brauch das, was keine Frau hat, ich …«
»Das habe ich auch.«
»Sie haben …«
»Jede Menge davon, mein Kind. Wir werden den finden, der dir am wohlsten tut, und ich werde dein liebendes Männchen sein, dein wildes, zärtliches Männchen … und du kannst dir wünschen, was du willst … alles, alles will ich dir geben … nur laß mich nicht weiter betteln. Schau, ich knie vor dir …«
Tut sie es wirklich? dachte ich frierend.
»Nicht! Bitte, stehen Sie auf, gnädige Frau!«
Sie tat es wirklich, dachte ich. Sachen gab es …
»Laß mich dich …«
»Nein!«
»Nur ein einziges Mal …«
»Nein!« schrie Vanessa plötzlich so laut, daß ich zusammenfuhr. Das mußte ihre Erkältung sein. Vielleicht hatte sie Fieber. »Geben Sie Ruhe! Stehen Sie auf! Und rühren Sie mich nicht an! Nehmen Sie Ihre Hände … wenn Sie nicht sofort Ihre Hände wegnehmen, brülle ich, daß das ganze Haus zusammenläuft!« Jetzt piepste Vanessa nicht mehr, sie schrie jetzt. Sie mußte sehr aufgeregt sein. Es war nicht nur die Erkältung, dachte ich. Mir fiel Rambouillet ein und was Vanessa dort erlebt hatte. Schien ihr doch einen sehr tiefen Schock versetzt zu haben.
Die Schalke jammerte: »Liebling … Liebste … wir fliegen, wohin du willst … wir machen eine Schiffsreise, um die ganze Welt …«
»Raus!«
»O Gott, wie kann ein junges Mädchen nur so grausam sein«, hörte ich die Schalke schluchzen. »Ich gehe ja schon … und ich darf nicht hoffen …«
»Nein! Nein! Nein!«
Ich verdrückte mich eben noch rechtzeitig hinter einer Ecke im Dunkeln, bevor die Garderobentür aufflog und die Schalke, betrunken und tränenblind, auf den Gang gestürzt kam. Die Tür flog hinter ihr zu, und sie stolperte den Flur hinunter, in das Spiegelzimmer zurück.
Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, und hatte plötzlich so ein komisches Gefühl, daß diese verzweifelte Dame noch einmal eine Rolle in meinem Leben spielen sollte. Das erschien mir sogleich völlig absurd. Zwei Wochen später spielte Petra Schalke diese Rolle dann.
Und was für eine!
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Vanessa saß in einem dicken blauen Bademantel vor einem langen Wandtisch und schminkte sich ab, als ich hereinkam. Ich sah, daß die Couch, die in der Garderobe stand, schon als Bett hergerichtet war. Ihrer Erkältung wegen sollte Vanessa ja heute hier schlafen.
Diese Garderobe war die größte und relativ schönste. Ein Milchglasfenster mit einem Gitter draußen führte in einen Hof, die Klappen oben ließen sich öffnen. An die Wände hatte Vanessa die Reproduktion einer Zeichnung Toulouse-Lautrecs, darstellend die berühmte, elementar-vulgäre La Goulue vom »Moulin Rouge« geklebt; des weiteren französische, spanische und italienische Kinoplakate, große Fotografien griechischer Inseln, des Hafens von Piräus und der Akropolis, und solche von den alten Vierteln der Stadt Paris, vom Montmartre, den Champs-Élysées und dem Friedhof Père Lachaise. Es waren sehr schöne Aufnahmen, aus Kunstbüchern gerissen. Aus der Zeitschrift »Life« hatte Vanessa riesige Farbfotos der einzelnen Phasen einer H-Bomben-Explosion geschnitten und ebenfalls an den altersgrauen Wänden befestigt. Über dem Bett war, mit einem Reißnagel, der Zettel eines Notizblocks angebracht. Wenige Worte in griechischer Schrift standen darauf.
»Hallo, Ritchie«, sagte Vanessa, als sie mich erblickte. Sie wischte ihr Gesicht mit Kleenextüchern sauber und sprach nun mit normaler Stimme, und sie machte auch nicht mehr das idiotische Babyface und die runden Kulleraugen. Sie war außer Dienst — ein junges, schönes Mädchen, kultiviert und immer traurig.
»Was bin ich froh, dich zu sehen«, sagte Vanessa.
Ich küßte sie auf die Stirn und sagte, daß sie noch nie so großartig gewesen sei wie heute und daß das Publikum einfach hin wäre. Vollkommen hin und erledigt. Dies hatte ich ihr gewiß schon zweihundertmal gesagt, und jedesmal noch war ihr melancholisches ‘Außer-Dienst-Gesicht’ dann für Sekunden fröhlich geworden, und sie hatte, wie auch diesmal, atemlos gefragt: »Wirklich, Ritchie? Wirklich?«
Alle Leute nannten mich Ritchie, seit ich 1946 angefangen hatte, für die Amerikaner zu arbeiten. Die nannten mich sofort so, und das blieb mir erhalten.
»Wenn ich es dir sage«, antwortete ich. »Die können sich immer noch nicht beruhigen.«
»Habt ihr auch zugesehen, du und Boris?«
»Ja.« Ich log. »Boris sagt, ich soll dich fragen, ob du wieder jemanden aus Hamburg unter den Gästen erkannt hast, weil du so gut warst.«
Ihr heiteres Gesicht verdüsterte sich wieder.
»Nein, niemanden. Ihr?«
»Niemanden, den wir kennen.« Ich fügte schnell hinzu: »Aber das sagt nichts. Wen kennen wir schon in Hamburg? Es ist ganz leicht möglich, daß Hamburger da waren.«
»Zwei Wochen lang war schon niemand mehr da, den ich kenne«, sagte Vanessa und starrte ein gebrauchtes Kleenextuch an, bevor sie es fortwarf.
»Aber vorher! Anfang November! Na? Fünf Männer an zwei Abenden! Und alle mit deiner Familie bekannt. Eines Tages schaffst du es, Vanessa, bestimmt!«
»Ja«, sagte sie, und ihr Gesicht verwandelte sich in eine grinsende Fratze des Hasses. »Eines Tages, da habe ich ihn geschafft.« Sie lachte grell und böse. »Ganz hübsch weit habe ich es ja bereits gebracht, nicht?«
»Das kann man wohl sagen. Was wir so hören …, schon mächtig angekratzt dein Vater …«
»Eines Tages«, sagte Vanessa, und sah mich nun wieder lächelnd an und war schön wie ein Engel, »wird es aus sein mit ihm, Ritchie. Vollkommen aus. Dann habe ich mein Ziel erreicht!«
»Hoffentlich erreicht sie ihr Ziel noch lange nicht.« Das hatte Minski gesagt, jetzt fiel es mir ein, aber ich nickte und antwortete eifrig: »Klar, Vanessa. Klar.«
»Dann gebe ich ein Fest! Oh, was für ein Fest ich dann geben werde!« Fortgewischt ihr Lächeln. »Die Schalke war wieder da«, murmelte sie.
»Ich weiß. Ich stand vor der Tür.«
»Ich tue wirklich alles, was ihr mir sagt! Aber das wird unerträglich. Diese Frau ist … schrecklich!«
Rambouillet, dachte ich. Der Schock von Rambouillet. Haß auf Frauen, Haß auf den Vater.
»Du hast ihr aber ordentlich die Meinung gesagt«, meinte ich, während sie plötzlich dreimal nacheinander nieste.
»Da haben wir’s«, sagte Vanessa.
»Gesundheit!«
»Beim Act hat es einmal so arg gekribbelt, daß ich schon dachte … aber ich konnte es im letzten Moment unterdrücken.«
»Hab’s gemerkt. Braves Mädchen. Noch ein, zwei Spritzen, und morgen abend ist es vorüber.«
»Was hast du vorhin gesagt?«
»Gesundheit!«
»Davor.«
»Davor? Ach so. Daß du der Schalke heute aber ordentlich die Meinung gesagt hast!«
»Und zum wievielten Male?«
Da hatte sie allerdings recht.
»Die kommt wieder«, sagte Vanessa traurig. »Immer wieder kommt die wieder. Diese Behandlung gefällt ihr doch! Eigentlich müßte ich im Gegenteil einmal … aber das kann ich nicht. Das kann ich nicht, Ritchie!«
»Ruhig. Sei ganz ruhig! Wenn es zu arg wird, reden wir mit ihr.« Ich fühlte mich nicht wohl, als ich das sagte, denn ich wußte, daß wir mit dieser reichen Petra Schalke niemals oder jedenfalls niemals ernsthaft reden würden — eine solche Type war imstande, uns die Polizei auf den Hals zu hetzen.
Weil ich Vanessas Blick nicht aushielt, begann ich in der Garderobe herumzugehen und bemerkte dabei den Roman, der auf dem Tischchen neben der in ein Bett verwandelten Couch lag. Da lagen ausländische und inländische Zeitungen, Nachrichtenmagazine, außerdem populäre Bücher über das Weltbild der modernen Physik — und dieser Roman.
STEH STILL, JORDAN!
So hieß der Roman, es stand in schwarzen großen Buchstaben auf dem weißen Grund des abgegriffenen Einbands, und ich preßte die Lippen zusammen, als ich den Titel las.
Vanessa war aufgestanden. Sie kam zu mir.
»Was hast du denn?«
»Der Roman.«
»Ich wollte noch darin lesen, wenn ich mich hingelegt habe.«
»Warum?« fragte ich und fühlte, wie ein sehr großer Haß in mir aufflammte.
»Das weißt du doch! Weil das mein Lieblingsbuch ist.«
»Lieblingsbuch? Drecksbuch!« sagte ich. Das Blut stieg mir zu Kopf.
»Ach, Ritchie …« Sie nieste wieder, einmal.
»Hör auf mit deinem ach, Ritchie!« sagte ich grob. »Ein verlogenes Drecksbuch ist das. Verlogener Dreck vom Dreck! Wie kommt es überhaupt hierher?«
Vanessa antwortete hilflos: »Ich habe doch alle deine Romane …«
»Zu Hause, ja!«
»Als … als ich hörte, daß ich heute hier schlafen sollte, weil mir so mies ist, da habe ich den Roman mitgenommen. Ich lese immer darin, wenn mir mies ist …«
»Davon kann dir nur immer noch mieser werden! Verflucht, schmeiß meine Romane endlich weg! Wie oft habe ich dich darum gebeten? Es kotzt mich an, sie bloß zu sehen!«
»Und als du sie geschrieben hast?« fragte Vanessa ängstlich. »Als du ›Steh still, Jordan!‹ geschrieben hast … hat es dich da auch angekotzt?«
»Das war in einer anderen Zeit«, sagte ich und ballte die Fäuste. »Die Zeit gibt es nicht mehr.«
»Vielleicht kommt sie wieder.«
»Nie! Nichts kommt wieder!« sagte ich. Der Anblick dieses Romans, den ich gleich nach dem Krieg geschrieben hatte, verursachte mir Übelkeit.
»Das ist nicht wahr«, sagte Vanessa an meiner Seite kaum hörbar. »Was wäre das denn dann für eine Welt, wenn niemals etwas Schönes wiederkommen würde?«
Mich hatte diese unvermutete Begegnung mit meinem ersten Roman ein wenig zu sehr bewegt, ich konnte im Moment nur an mich denken, nicht an andere, und so verstand ich Vanessa auch nicht richtig.
»Das wäre dann die Welt, in der wir leben!« sagte ich. »Nichts ist von Dauer. Alles verändert sich ständig. Die Zeit. Die Menschen. Nicht zum Guten — bewahre! Deshalb kann auch nichts Gutes wiederkommen und nichts Schönes und nichts Fröhliches …«
»Aber dann auch nichts Böses …«
»Böses! Auch nichts Böses natürlich. Wozu auch? Böses wird jeden Tag geboren, mehr, mehr, böser, böser, so wie diese Welt wird, Tag um Tag … schlechter, böser, kälter. Ganz von selber! Da geht kein Weg zurück. Da wird nie wieder irgend etwas sein, wie es einmal gewesen ist …«
Ich hatte mich in Rage geredet, ich bemerkte nicht Vanessas flehenden Blick, ich starrte den Roman, den Roman, meinen verfluchten ersten Roman an.
STEH STILL, JORDAN!
So hatte ich den Roman genannt. Der Titel war die erste Zeile eines Negro-Spirituals »Stand still, Jordan …«. Damals, in ferner Zeit, als ich dieses Buch schrieb, hatte ich noch gehofft, daß jene Zeit und alles in ihr bleiben und Bestand haben möge; von Brüderlichkeit, Frieden und dem Sieg der Vernunft handelte die Geschichte meines ersten Romans. Doch in jenem Negro-Spiritual gab es auch eine andere, immer wiederkehrende Zeile, die ich nicht hatte wahrhaben wollen, die ich bemüht gewesen war, ad absurdum zu führen in meinem Buch.
‘… but I cannot stay still!’
Und diese andere Zeile hatte recht behalten; sie, nicht ich.
STEH STILL, JORDAN — Scheiße!
Ich packte den alten Roman und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Dabei bemerkte ich, daß ich keuchte.
»Ritchie …«
Ich keuchte und schwieg und dachte an mein Leben, und mir wurde immer übler dabei.
»Ritchie …«
»Ja?« Ich sah Vanessa an. Sie war blaß, ihre Lippen zitterten, und sie sah so verloren und allein aus, daß ich, der ich da gerade begonnen hatte, in Selbstmitleid zu baden, endlich begriff, womit ich sie so getroffen hatte, was sie wirklich sagen wollte.
Vanessa sagte: »Du … du bist unglücklich, darum redest du so …«
»Ich? Ich bin überhaupt nicht unglücklich!«
Wie kam ich bloß wieder von diesem Thema fort, verflucht?
Wenn jemand unglücklich war, dann Vanessa — wegen ihres Lebens, ihres Vaters, wegen dieses griechischen Jungen, meinetwegen, ja, auch meinetwegen! So schön sie war — sie hatte nie Glück bei Männern gehabt, höchstens eine Weile. Eine sehr kleine Weile.
Sie war zu klug, sich etwas vorzumachen. Sie wußte, daß Panos nicht zu ihr kommen würde, sie wußte es schon lange. Sie hatte sich — aus Trauer, Dankbarkeit, und weil jeder Mensch immer wieder glaubt, daß es einen anderen geben muß, der für ihn da ist, weil jeder Mensch immer wieder glaubt, daß er einen anderen Menschen braucht — auch mit mir eingelassen. Wir schliefen ein paarmal zusammen und spielten verliebt, denn auch ich hatte da eine Zeit gehabt, in der ich dachte, das Ganzalleinsein nicht länger aushalten zu können.
Nun, es war uns beiden nicht bekommen. Derartige Bindungen sind unmöglich. Sollen Blinde Blinden, soll ein verlorenes Schaf dem anderen helfen, zurückzufinden in eine heile Welt, die es nicht gibt? Das alles war wie in der Geschichte vom Unterschied zwischen Philosophie, Kommunismus und Religion. Die Philosophie entspricht danach der Beschäftigung von Menschen, die in einem finsteren Zimmer eine schwarze Katze suchen; der Kommunismus ist die Beschäftigung von Leuten, die in einem dunklen Zimmer eine nichtexistierende schwarze Katze suchen; und mit Religion endlich, so definiert dieser Witz, der gar nicht so witzig ist, beschäftigen sich Menschen, die in einem dunklen Zimmer, das nicht existiert, eine schwarze Katze suchen, die nicht existiert — und behaupten, sie hätten sie bereits gefunden.
Vanessa und ich, die meisten Menschen wohl, waren heute nach dieser Definition mit Religion beschäftigt …
Ich sagte schnell, weil sie mir so leid tat: »Alles Unsinn. Natürlich kommen schöne Dinge wieder. Besonders zu Verliebten! Dein Panos wird …«
»Ja«, sagte Vanessa bitter und schnell, »mein Panos wird wiederkommen und mich als seine Frau heimführen nach Athen, und wir werden viele Kinder bekommen und glücklich miteinander leben für alle Zeit, ich weiß.«
»Vanessa, wirklich, du wirst sehen …«
»Wenn«, sagte sie, mich wieder unterbrechend, und ihre Stimme wurde immer zynischer, »du ihm nicht zuvorkommst und um meine Hand anhältst. Denn wir haben uns doch auch geliebt, es kam dann nur etwas dazwischen — geschäftliche Grundsätze, vermute ich, man hat kein Verhältnis mit Angestellten, nicht wahr? —, aber die Liebe wird stärker sein, auch bei dir, Ritchie, eines Tages wirst du einfach nicht mehr an dich halten können. Was soll ich dann nur tun? Panos und du? So viel Liebe, so viel Begehrtwerden, ich …«
»Hör auf.«
»… werde wirklich nicht wissen …«
»Du sollst aufhören!«
»… wie ich so viel Glück ertragen, wie ich mich entscheiden soll. Ich glaube, ich werde mich für dich entscheiden, Ritchie …« Wieder nieste sie, mehrmals. Ich gab ihr mein Taschentuch, und sie blies heftig hinein. Danach sagte sie: »Denn du bist so klug, Ritchie. Klüger als Panos. Was du da eben gesagt hast …«
»War nicht wahr!«
Arme Vanessa. Wir vermieden es, wo wir konnten, über uns oder über Panos zu reden. Es war so lange gutgegangen. Und jetzt — der gottverfluchte Roman war schuld!
»Ich komme schon zurecht«, flüsterte Vanessa heiser und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Hab keine Angst. Natürlich ist es wahr, was du sagst. So ist die Welt, in der wir leben. Genau so. Warum schreibst du das nicht auf? Warum schreibst du darüber nicht einen Roman — endlich wieder einen Roman?«
Sie wollte freundlich sein, liebevoll, sie wollte mir Trost geben, sie, die selber Trost brauchte und ihn von niemandem bekommen konnte, und in ihrer Hilflosigkeit berührte sie noch einmal jenes Gebiet, das dieses ganze Gespräch ausgelöst hatte, und ich begann noch einmal zu wüten.
»Hör endlich auf mit diesen Tricks!«
»Tricks?«
»‘Steh still, Jordan!’ — den Roman hast du ganz unabsichtlich auf den Tisch gelegt, wie? Ganz unabsichtlich finde ich alte Romane von mir bei dir, immer wieder, immer wieder!« Die Fingernägel hatten sich in meine Handballen gebohrt. Mir war zum Heulen und zum Kotzen. »Du weißt, warum ich nicht mehr schreibe. Du weißt, warum ich niemals wieder schreiben werde!«
»Ich weiß nur, was du dir da einredest. Aber das ist nicht wahr, Ritchie!«
»Es ist wahr!« rief ich und trat nach dem Roman. »Ich kann nicht mehr schreiben!«
»Das stimmt nicht«, sagte sie leise, hob mein Buch auf und hielt es schützend an die Brust gepreßt.
»Wenn noch irgend etwas wahr ist auf dieser wunderbaren Welt«, sagte ich, »dann das: Ich kann nicht mehr schreiben! Längst nicht mehr! Und ich werde nie wieder schreiben können!«
Die Tür hinter uns flog auf, wir fuhren herum. Minski stand da, sehr blaß und außer Atem.
»Was ist?« schnauzte ich.
»Telefon …« Er war nervös. »Für dich. Im Büro. Nun komm schon! Los, da ist etwas passiert!«
»Wo?«
»Weiß ich nicht, wo …« Er zog mich zur Tür. Vanessa rief heiser und verschnupft: »Wer ruft Ritchie an, jetzt?«
Sorgenvoll antwortete Minski: »Lillian Lombard.«
Ich stand da wie ein Idiot, und ich brachte kein Wort heraus, und ich hörte Vanessa fauchen: »Was, seine Lillian?«
»Das ist nicht meine Lillian!« schrie ich plötzlich wie ein Irrer.
»Ojojoj«, sagte Minski. »Wenn er so brüllt, ist sie wirklich noch immer seine Lillian.«
»Nein, zum Teufel!« schrie ich weiter und stieß ihn fort. »Sie ist nicht mehr meine Lillian! Längst nicht mehr! Geh und sag ihr, daß es mich nicht interessiert, was ihr schon wieder passiert ist! Ich wir’s nicht wissen! Der passiert doch dauernd etwas. Was ist es diesmal?«
»Sie hat sich das Leben genommen«, sagte Minski. Vanessa nieste wieder.
»Willst du vielleicht die Tür schließen?« schrie ich. »Ist Vanessa noch nicht genug erkältet? Das Leben genommen, ha?«
Minski trat mit dem Fuß nach hinten. Die Tür flog zu.
»Schrei nicht mit mir«’ schrie Boris Minski.
»Lillian hat sich schon einmal das Leben genommen!« schrie ich.
»Zweimal!« schrie Vanessa.
Das stimmte. Lillian Lombard hatte schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Vanessa wußte viel über Lillian und mich. Nicht alles natürlich, aber sehr viel. Ich wußte auch sehr viel über Vanessa.
»Zweimal, nebbich«, sagte Minski, plötzlich leise. »Aber jetzt, beim drittenmal, scheint es zu klappen.«
»Darum telefoniert sie auch, was?« Ich sah erbittert, daß meine Hände zu zittern begonnen hatten.
»Sie kann nicht mehr richtig telefonieren«, sagte Minski. »Lallt nur so rum … hat was geschluckt … Gift … Ich hab kaum was verstehen können … Sie hat Todesangst … und da ruft sie dich an …«
»Ausgerechnet mich!«
»Ja, es scheint, daß du trotz allem wirklich der einzige Mann bist, der …«
»Halt’s Maul!« sagte ich.
Heiße Wut packte mich. In einer Sekunde erinnerte ich mich an alles, was ich mit Lillian erlebt hatte. Zum Teufel mit dir, Lillian, dachte ich. Krepier doch endlich, dann habe ich meinen Frieden! Und im gleichen Moment, in dem ich das dachte, wurde mir klar, daß Minski — wie immer — recht hatte, und eisige Angst um Lillian packte mich. Ich rannte zur Tür, riß sie auf und stürmte den Gang hinab — einem Telefon entgegen und meinem Untergang.
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»Nicht … nicht … geh nicht. Ritchie! Boris, halt ihn auf!« schrie Vanessa. »Ritchie! Bitte, bitte, Ritchie, komm zurück! Diese Frau hat dir doch immer nur Unglück gebracht …«
Ich rannte den Gang hinab, ohne mich umzudrehen. Hinter mir hörte ich das Geräusch eiliger Schritte und dann Minskis zornige Stimme:
»Du bleibst hier! Willst du dir den Tod holen?«
»Ritchie!« schrie Vanessa. »Bitte, nicht! Was hat diese Frau dir angetan …«
»Du siehst ja, was mit ihm los ist.« Minskis wütende Stimme wurde leiser. »Sei vernünftig, Vanessa! Du sollst vernünftig sein!« Die Garderobentür krachte wieder zu.
Der Gang war lang. Ganz unten machte er ein Knie und führte, um den Spiegelraum herum, zu unserem Büro, das auf der anderen Seite dieses verbauten, alten Hauses lag. Wenige Meter vor mir befand sich eine Tür. Durch sie kam man in die Gästegarderobe des Spiegelraums und von da in diesen. Der Weg war kürzer. Ich riß die Tür auf und drängte mich gleich danach hastig durch die enggestellten Tische des Hinterzimmers, stieß brutal Menschen zur Seite und fluchte laut, aber meine ganze Brutalität, all mein Fluchen galten Lillian. Haß auf Lillian und alles, was ich mit ihr erlebt hatte, Zorn über meine verlorenen Jahre, mein schmutziges Leben lagen in diesen Flüchen, während ich mich in dem überfüllten Raum zu der Bürotür vorkämpfte.
Manche Gäste sahen mich erschrocken an. Ich muß erschreckend ausgesehen haben.
Lillian. Lillian. Elende, verlogene, gemeine, geliebte Lillian.
Ich hatte fürchterliche Angst um Lillian.
Die meisten Gäste waren noch da. Betrunken und erregt saßen sie zusammen, betasteten und küßten sich ohne Hemmungen, lachten zu laut, redeten zu laut, tranken noch immer, viel zuviel, zwei einsame Paare tanzten, eng umschlungen und rot beleuchtet dort, wo das Tigerfell gelegen hatte. Musik von Ray Conniff und seinem Orchester kam aus dem Lautsprecher. Ich hatte den Plattenspieler mit Ray-Conniff-Platten vollgepackt, bevor ich das Büro verließ. Es sah hier aus wie immer um diese Zeit.
Alle betrugen sich, als komme der Weltuntergang in den nächsten Stunden, die man noch ordentlich nutzen mußte, aber nicht mehr ganz ordentlich nutzen konnte, weil man zu betrunken, viel zu betrunken war.
Da saß Petra Schalke neben dem weißblondgefärbten Modeschöpfer. Ich quetschte mich an ihnen vorbei. Sie stützte den Kopf in die Hände und weinte in ihr Champagnerglas. Ein Arm des Modeschöpfers lag um ihre Schulter, ich sah die Rüschenmanschette, das goldene Kettchen am Handgelenk, und ich hörte ihn durch all den Lärm hindurch sagen: »Nicht weinen, Liebste … so sind die Weiber … nur Ärger hat man mit ihnen, immer … ich weiß das doch, meine arme Männy, ich weiß das doch …«
Männy wird sie also genannt, dachte ich. Lillian, dachte ich, bitte stirb nicht. »Pardon …« Ich drückte den Modeschöpfer zur Seite, weil ich nicht weiterkam.
Er bemerkte es gar nicht.
»Mein Gott«, sagte er, »könntest du doch Männer lieben, meine arme, arme Männy …«
Ich sperrte die Tür zu unserem Büro auf, die sich an jener Spiegelwand befand, in der auch das Einwegfenster installiert war, schloß sie schnell und schlitterte zu meinem Schreibtisch, auf den Minski den Hörer des Telefons gelegt hatte. Geräuschlos drehte sich der Teller des großen Plattenspielers, geräuschlos glitt die Nadel des Tonabnahmearms über eine Schallplatte. Ich riß den Hörer ans Ohr und schrie: »Lillian!«
Es kam keine Antwort.
»Lillian!«
Im gleichen Moment schaltete sich natürlich der Ventilator des Exhaustors ein und schepperte, und ich fluchte obszön und sinnlos und schrie sehr laut: »Lillian! Hier ist Ritchie! Lillian!«
Aus dem Telefonhörer kam nur das Summen einer offenen Verbindung.
»Rede! Sag etwas! Wo bist du?«
Plötzlich vernahm ich ein Stöhnen im Hörer. Ich kannte keinen Menschen besser als Lillian, soweit man einen anderen Menschen eben überhaupt je kennt, und ich fuhr entsetzt zusammen: Dieses Stöhnen war nicht Hysterie, nicht gespielt, dieses Stöhnen war echt, und es klang nach Tod.
»Lillian!«
Ein Röcheln diesmal, lange und qualvoll, danach krachte etwas in der Leitung, und ich dachte: Der Hörer ist ihr aus der Hand gefallen.
Der Ventilator schaltete sich wieder ab.
Ich rannte zu Minskis Schreibtisch und holte das zweite Telefon — zum Glück war die Anschlußschnur lang genug — und stellte es neben meinen Apparat. Ich lauschte wieder. Nun klang das Stöhnen schwächer, entfernter. Ich dachte: Ihr Hörer baumelt an seiner Schnur. Wenn sie nur nicht auflegt … laß sie nicht mehr die Kraft haben, den Hörer aufzulegen, lieber Gott, bitte. Ich will alles tun, was du willst, ich will ein neues Leben beginnen, aber bitte, lieber Gott, mach, daß sie jetzt nicht den Hörer auflegt. Und daß sie nicht stirbt …
Das waren so die Gelegenheiten, bei denen ich betete.
Inzwischen hatte ich die Nummer der Auskunft gewählt.
Von Band kam eine Mädchenstimme: »Auskunft, bitte warten … Auskunft, bitte warten … Auskunft, bitte warten …«
Auf meiner Armbanduhr war es zehn Minuten nach drei Uhr früh. Um diese Zeit arbeiten nur wenige Mädchen in der Auskunft, dachte ich, nahm auch den anderen Hörer ans Ohr und hörte Lillian stöhnen, leise, unregelmäßig, und ich war erfüllt von lauter Glückseligkeit.
Danke, lieber Gott. Sie hat nicht aufgelegt. Sie kann nicht mehr auflegen. Sie ist zu schwach. Sie …
»… Auskunft, bitte war …« Das Band schaltete sich ab, eine andere Mädchenstimme sagte: »Auskunft, Platz achtzehn, guten Morgen.«
Die Stimme klang sehr müde.
»Guten Morgen! Fräulein, meine Nummer ist 57 64 32. Ich habe hier noch einen zweiten Anschluß. 43 12 61.«
Das war die Nummer meines Apparates. Ich hielt jetzt beide Hörer ans Ohr. Aus meinem hörte ich ab und zu Lillian stöhnen. »Auf diesem zweiten Anschluß wurde ich angerufen. Die Verbindung ist da, aber der Teilnehmer meldet sich nicht. Ich fürchte, da ist etwas geschehen. Können Sie feststellen, wer da von wo anruft?«
»Ihren Anschluß 43 12 62?« fragte die müde Mädchenstimme.
»Nicht 62! 61! Die Nummer ist 43 12 61!« schrie ich.
»Ich verstehe besser, wenn Sie nicht schreien, mein Herr.«
»Verzeihen Sie …«
Stöhnen.
Geh zur Hölle, Lillian! Krepier doch!
Hilf, lieber Gott, mach, daß sie am Leben bleibt.
Lillian, Lillian, wie glücklich waren wir …
»Ist das ein Anruf aus dem Inland oder aus dem Ausland?«
»Das weiß ich nicht! Man kann doch jetzt ins ganze Ausland durchwählen!«
»Nicht ins ganze. Sie können nach Italien durchwählen oder nach Österreich oder nach der Schweiz oder nach Frankreich oder nach …«
»Fräulein! Fräulein, können Sie feststellen, wer mich angerufen hat?«
»Wenn die Verbindung noch besteht …«
Stöhnen aus dem anderen Hörer.
»Sie besteht noch!«
»Bitte, warten Sie, mein Herr.«
Stöhnen. Stille. Stöhnen, Stille.
Ich sah durch den Einwegspiegel. Eng umschlungen saßen sie da draußen in dem roten Licht, streichelten, liebkosten einander und taten sich wohl, die beiden einsamen Paare tanzten noch immer zu der Musik, die ich nicht hören konnte, Petra Schalke trauerte noch immer, und ich sah aufgerissene Münder, aufgerissen zum Schreien, Lachen, Grölen, sah schwitzende Gesichter, Verbrüderungen im Vollrausch — sah das alles, hörte nichts und dachte plötzlich, daß man in der Hölle, wenn es eine Hölle gab, vielleicht nicht brannte, sondern sich derart die Ewigkeit vertrieb. Das waren so die Momente, in denen ich moralisch wurde. Die beiden »Special Effects Men« sah ich nicht mehr.
»Hallo!« rief ich. »Hallo, Fräulein!«
Keine Antwort. Es dauerte natürlich seine Zeit, da mußte nun natürlich erst gesucht werden. Wie suchte man da, wo, wer alles?
Stöhnen aus dem anderen Hörer …
Die zweite Tür des Büros, jene zum Gang, wurde aufgestoßen. Vanessa, in ihrem dicken Bademantel und auf hohen Pantoffeln, kam niesend hereingeschossen, hinter ihr her Minski.
»Sie ist mir ausgerissen!« schrie er.
»Ich will nicht, daß diese Person Ritchie wieder unglücklich macht!«
Vanessa stürzte sich auf mich, um mir beide Hörer zu entreißen.
»Boris!« brüllte ich.
Der warf sich auf Vanessa und versuchte, sie von mir fortzuziehen.
Der Versuch mißlang.
Vanessa trat, kratzte, nieste, und sie schrie andauernd, ich solle die Hörer hinlegen, und sie verfluchte Lillian mit Worten, die ich nicht aufschreibe, weil sie doch nie gedruckt würden.
Aus dem Telefonhörer von Minskis Apparat meldete sich das Mädchen der Auskunft: »Hallo, sind Sie da?«
»Ja …«
»Leg den Hörer hin!« kreischte Vanessa und warf sich wieder über mich.
»Was ist bei Ihnen los?« fragte das Mädchen der Auskunft.
»Nichts … gar nichts … was wollten Sie sagen?«
»Ihr Anschluß 43 12 61 ist verbunden mit dem Anschluß 66 33 in Treuwall.«
»Wie heißt der Ort?« Ich steckte den Hörer meines Telefons in eine Tasche der Smokingjacke und griff nach einem Bleistift.
»Oh, Ritchie, Ritchie, ich … ich …« Vanessa torkelte plötzlich, und ehe Minski sie noch auffangen konnte, fiel sie um. Sie saß nun auf dem alten Teppich, bekam einen richtigen Nieskrampf, schluckte, würgte, und dann begann sie zu brechen. Sie rang nach Luft und brach und rang nach Luft und nieste und brach weiter, es nahm kein Ende.
»Aufregung«, sagte Minski, der sich um Vanessa kümmerte, ihren Kopf hielt und sie stützte. »Sie hat sich so irrsinnig aufgeregt. Da, schau dir das an — grün. Reine Galle. Weil sie dich liebt.«
Vanessa übergab sich noch immer.
»Hören Sie, 43 12 61, was geht bei Ihnen vor?«
»Nichts, überhaupt nichts, Fräulein … bitte noch einmal den Namen des Ortes …«
Die Stimme des Mädchens klang jetzt mißtrauisch: »Ich glaube, ich werde besser die Polizei …«
»Unsinn! Hier ist nur jemandem schlecht geworden. Ich heiße Richard Mark. Ich spreche aus meinem Lokal, dem ›Strip‹.«
»Oh«, sagte das Mädchen von der Auskunft. Die Sache schien damit für sie geklärt zu sein. Sie kicherte. Wir hatten einen feierlichen Ruf mit unserem »Strip« in Frankfurt.
»Der Ort, bitte …«
»Treuwall.«
Ich schrieb »Treuwall« auf.
»Wo ist das?«
»In der Lüneburger Heide.«
Ich schrieb »Lüneburger Heide« auf.
»Ich gebe Ihnen die Durchwählnummer«, sagte das Mädchen von der Auskunft, immer noch kichernd. Jetzt klang ihre Stimme gar nicht mehr müde, jetzt war sie munter, keß und neugierig.
»Muß ja toll zugehen bei Ihnen! Unsereins kommt natürlich nie …«
»Die Durchwählnummer, Fräulein. Bitte!«
Sie gab sie mir, und ich schrieb sie auch auf.
»Wollen Sie die Adresse des Anschlußbesitzers?«
»Natürlich!«
»Treuwall, Waldpromenade 24. Der Anschlußinhaber heißt …«
»Lillian Lombard. Das weiß ich.«
»Ja, Lillian Lombard. Aber wieso wissen …«
»Ich danke Ihnen, Fräulein.«
»Gern geschehen. Auf Wie …«
»Moment!«
»Ja?«
»Dieses Treuwall … gibt es da ein Krankenhaus?«
»Wozu brauchen Sie … oh, ich verstehe! Ich weiß nicht. Treuwall ist eine Kreisstadt. Eigentlich müßte da ein Krankenhaus sein. Einen Moment, bitte …«
Ich zog den zweiten Hörer wieder aus der Smokingtasche und hielt ihn ans Ohr. Stöhnen und Röcheln waren noch zu hören, aber in größeren Abständen.
Ich sah zu Vanessa. Besudelt und beschmutzt saß sie auf dem alten Teppich, Minski hielt sie fest. Ihr Gesicht war grau, ihre Lippen waren blau. Sie sagte: »Idiot. Idiotischer Idiot.«
»Ruhig, ruhig«, sagte Minski.
»Idiotischer Idiot, der nur noch Blödsinn reden und Blödsinn denken kann und sich anlügt und alle anderen und dem nicht mehr zu helfen ist«, sagte Vanessa. Dann sank sie in Minskis Arme. Sein Smoking sah ebenfalls greulich aus.
»Fein«, sagte Boris grimmig. »Ausgezeichnet. Hervorragend. Erkältet. Masse Spritzen im Leib. Und jetzt noch das! Weißt du, was das finanziell bedeutet, wenn sie uns morgen, Gott behüte, ausfällt? Und vielleicht noch länger? Ich war nicht umsonst gleich so durcheinander. Ich hab gewußt, wie du dich aufführen wirst mit dieser Lillian. Konnt’ man sich ja ausrechnen.«
Er hob Vanessa vorsichtig hoch. Es fiel ihm schwer, denn sie war groß, größer als er. Minski trug sie zu dem alten, brüchigen Ledersofa, bettete sie darauf und schob ein Kissen unter ihren Kopf. Vanessa war jetzt so schwach, daß sie nur noch leise murmeln konnte.
»Ja«, sagte Minski, »ja, mein Gutes, ja, mein Braves, mußt ruhig werden, ganz ruhig, mir zulieb …«
»Nimm das Kissen weg«, sagte ich.
»Was?«
»Du sollst das Kissen wegnehmen. Falls sie noch mal anfängt. Kissen weg. Flach auf die Seite legen. Und paß auf, daß sie ihre Zunge nicht verschluckt.«
Er sah mich gramvoll an. Dann tat er alles, was ich ihm aufgetragen hatte.
Vanessa murmelte immer noch. Die Galle stank.
Wie lange brauchte dieser Trampel von der Auskunft, um herauszufinden, ob es in Treuwall ein Krankenhaus gab? Aus dem Hörer meines Apparates kam ein schwaches Röcheln.
»Fräulein!« schrie ich.
Aber es antwortete mir niemand.
Minski, der neben Vanessa kniete und leise über ihr Haar strich, sagte etwas Jiddisches.
»Was?«
»Dos arme kleine Menschele«, sagte Minski.
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In der Nacht zum 2. Oktober 1965 rannte ein nacktes blondes Mädchen laut schreiend durch den Park eines Schlößchens der Kleinstadt Rambouillet. Dieses exklusive Refugium besonders vornehmer und reicher Leute befindet sich etwa fünfunddreißig Kilometer südwestlich von Paris. Der Park, durch den das schreiende Mädchen rannte, lag schon außerhalb Rambouillets, an der Straße zur Hauptstadt. Begrenzt wurde der Park abwechselnd von einer hohen Mauer und in Abständen angebrachten ebenso hohen, dicken Schmiedeeisenstangen, die oben zugespitzt und miteinander verbunden waren — eine Reihe starrender Spieße.
Durch jene Stangen erblickte ein nach Paris fahrender Taxichauffeur das Mädchen. Er verriß das Steuer, so daß die Scheinwerfer seines Citroëns nun in den Park leuchteten, hielt an und sprang ins Freie. Dabei bemerkte er, nahe dem kaisergelb gestrichenen Schlößchen im Hintergrund, mehrere Menschen, darunter zwei schwankende Frauen, die sich eilig zurückzogen. Eine der Frauen hatte ein zerrissenes Tuch in der Hand.
»Helfen Sie mir! Bitte helfen Sie mir!« rief das nackte Mädchen. »Ich komme hier nicht heraus!«
»Weiter vorn!« Der junge Chauffeur rannte ein Stück, sprang an der alten vermoosten Mauer, aus der einzelne Steine gebrochen waren, hoch und arbeitete sich empor. Auf der anderen Mauerseite schwankte bereits das Mädchen, Zehen und Finger in Ritzen und Löcher der Steinwand gepreßt, der Chauffeur, mit Cordsamthosen, Rollkragenpullover, einem kurzen Ledermantel und einer Schirmmütze, lag nun flach oben auf der Mauer.
»Langsam«, sagte er. »Vorsichtig, damit Sie sich nicht verletzen. Geben Sie mir eine Hand.« Er zog das Mädchen behutsam zu sich herauf und half ihr danach auf die Straße hinunter.
Das Mädchen hatte ein paar Schrammen abbekommen, an den Schenkeln und an der Brust. Eine Schramme blutete. Der junge Chauffeur rannte zum Kofferraum des Wagens und holte Jodtinktur aus einem Erste-Hilfe-Kästchen.
»Nicht doch …«
»Viel zu gefährlich. Das muß sein …« Er bepinselte die geschrammten Körperstellen mit der braunen Flüssigkeit.
»Au!« sagte das Mädchen.
»Gleich vorbei … oder wollen Sie eine Blutvergiftung kriegen?«
»Ja, natürlich«, sagte das Mädchen, das völlig nackt im Licht der Scheinwerfer stand. »Was dachten Sie?«
Der Chauffeur schlüpfte aus seinem kurzen Ledermantel und reichte ihn dem Mädchen. Sie zog ihn an.
»Und was jetzt?« fragte der Chauffeur.
»Weg … nur weg von hier …«
»Zur Polizei?«
»Nein, nicht zur Polizei … Ich bin Ausländerin … und die Avignolles sind eine sehr bekannte Familie.«
Der Chauffeur sah zum Schloß.
»Ja«, sagte das Mädchen. »Die.«
Es war kalt. Es war spät. »Also was dann?« fragte der Chauffeur.
»Ich weiß nicht … ich weiß es wirklich nicht …«
»Hören Sie, ich nehme Sie ja gerne mit, und Sie erzählen mir alles, und dann überlegen wir, was man tun kann«, sagte der Chauffeur. »Aber ich bin auch Ausländer. Grieche. Ich werde doch Ihretwegen keine Schwierigkeiten kriegen? Haben Sie was ausgefressen?«
»Nein«, sagte das Mädchen.
Der Chauffeur sah sie brütend an. Er hatte dunkle Augen, dunkles Haar und eine klassisch hellenische Nase.
»Glauben Sie mir nicht?« fragte das Mädchen.
»Ausländerin … woher?« fragte der Chauffeur.
»Ich bin Deutsche.«
Der Chauffeur verzog kurz das Gesicht zu einer Grimasse.
»Sie mögen Deutsche nicht, wie?«
»Unsinn. Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind Grieche. Ich kann es begreifen. Ich kann begreifen, daß sehr viele Menschen uns Deutsche nicht mögen. Das ist verständlich nach dem, was geschah.«
»Verständlich und dumm«, sagte der Chauffeur. »Wie darf man ein ganzes Volk nicht mögen? Was weiß ich denn von jedem einzelnen Deutschen? Und was können Sie dafür, daß Sie Deutsche sind?«
»Ich sehe, Sie lieben die Deutschen. Ihr Gesicht strahlt richtig.«
»Hören Sie auf! Ich … ich habe überhaupt nichts gegen Deutsche!«
»Besonders, wenn es junge Mädchen sind und …«
»Zum Teufel«, sagte der Chauffeur. »Steigen Sie ein!« Er dachte daran, daß es wirklich idiotisch gewesen war, eine Grimasse zu schneiden, und er dachte an alles, was er gesehen hatte und was nun sein Ledermantel verbarg. »Tut mir leid«, sagte der Chauffeur und half dem Mädchen in den Wagen.
Als sie fuhren, bot er nach einer Weile Zigaretten an. Sie rauchten beide Gauloises. Die teils schon kahlen Alleebäume flogen ihnen im Licht der Scheinwerfer entgegen.
»Was für ein Glück, daß Sie gerade vorbeikamen«, sagte das Mädchen. Sie sprachen französisch miteinander, und, obwohl sie beide Ausländer waren, ein Französisch fast ohne Akzent.
»Große Fuhre gehabt«, sagte der junge Chauffeur. »Sohn von irgend so einem Ölscheich. Hat auch ein Schloß hier. Besoff sich in Paris derart, daß er seinen Jaguar nicht mal mehr starten konnte. Hat man Sie vergewaltigen wollen?«
»Ja«, sagte das Mädchen. »Zwei Damen. Madame Avignolle und ihre Freundin. Sie waren beide betrunken.«
»High society lebt hier.«
»In meinem Zimmer.«
»Bitte?«
»Die beiden sind in mein Zimmer gekommen. Ich habe tief geschlafen. Auf einmal spüre ich, daß jemand neben mir liegt und mich …«
»Reden Sie immer so?«
»Wie?«
»So kreuz und quer?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Die Aufregung also«, sagte der Chauffeur. »Man wird ja auch nicht jeden Tag vergewaltigt.«
»Es war Madame Avignolle.«
»Aha.«
»Die schon neben mir lag, meine ich.«
»Natürlich.«
»Ihr Freundin wollte eben … ich kann wirklich nichts dafür!«
»Wofür?«
»Daß ich ihr ein Knie in die Zähne schlug. Als ich zu mir kam und es merkte, zog ich die Beine an, und ein Knie traf sie. Das war übrigens meine Chance. Ich sprang aus dem Bett und rannte davon, die beiden Damen hinter mir her. Aus dem Haus kam ich noch. Aus dem Park wäre ich nie gekommen ohne Ihre Hilfe.«
»Gern geschehen«, sagte der junge Grieche. Er fuhr schnell. Er wollte möglichst bald mit diesem Mädchen in seinem Zimmer sein, und es war immerhin noch ein hübsches Stück Weg bis zu dem Hotel, in dem er ein Zimmer gemietet hatte: ein jämmerliches Zimmer in einem jämmerlichen Hotel in einer jämmerlichen Straße, direkt am Gare du Nord. Es war laut und schmutzig da, und es roch nach Armut und schlechtem Fett und immer nach Kohle. Aber das Zimmer war billig. Im Hotel »Le Toucan«, einem Stundenhotel, konnte man auch Monatszimmer mieten.
»Madame hat mich im Park erwischt«, erzählte das junge Mädchen.
»Dabei habe ich mein Nachthemd verloren, Sie hat es mir vom Leib gerissen. Ist das der neue Citroën?«
»Ja.«
»Wissen Sie, ich bin sonst gar nicht so … mit Männern, meine ich … wirklich nicht! Aber Frauen! Ich habe noch nie mit einer Frau … und heute nacht … schrecklich, wirklich, es war ganz schrecklich.«
»Kann ich mir denken«, sagte der Chauffeur. »In Deutschland gibt es natürlich so viele anständige Menschen wie in jedem anderen Land der Welt. Das gebietet ja schon die mathematische Vernunft.«
»Sie reden aber auch ganz nett kreuz und quer!«
»Ich bin … ich bin auch ein bißchen durcheinander«, sagte der junge Grieche.
»Und dazu noch so heimtückisch«, sagte das Mädchen. »Im Schlaf! Die hatten mindestens drei Flaschen Champagner getrunken, zusammen. Es wäre noch im Park passiert, aber da kamen schon der Gärtner und die Köchin und das Stubenmädchen. Mein Schreien hat sie geweckt. Der Diener kam nicht. Der ist nämlich auch Chauffeur.«
»Hm.«
»Ich meine: Er kam nicht, weil Monsieur Avignolle über das Wochenende nach Marseille fahren mußte. Mit dem Diener.«
»Als Chauffeur«, sagte der Chauffeur.
»Ja. Sie fuhren schon gestern früh weg. Heute ist Samstag, nicht?«
»Ja«, sagte der Grieche. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Oh, schon so viel besser! Natürlich kann ich da nie zurückgehen.«
»Ich hole morgen Ihre Sachen.«
»Oh, wirklich? Sie sind aber nett!«
»Sie sind auch nett.«
»Ja«, sagte das Mädchen, »nicht wahr? Ich bin eine nette Deutsche.«
»Ach, hören Sie doch auf damit, bitte! Wie kamen Sie überhaupt zu diesen Avignolles?«
»Ich habe nicht angefangen damit. Als Haustochter. Sie kennen das doch. In fremde Länder gehen, damit man Sprachen wirklich gut lernt.« Das Mädchen lachte. »Ich bin hierhergekommen, um wirklich gut Französisch zu lernen. Komisch, nicht?«
»Ausgerechnet Rambouillet, das ist auch komisch«, sagte der Chauffeur.
»Wieso?«
»Es gab einmal eine Marquise de Rambouillet. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.« Der junge Grieche überholte schnell und geschickt drei schwere, mit Gemüse beladene Laster, die sich auf der Fahrt zu den Hallen befanden. »Die Marquise hatte ein Palais in Paris. Hôtel de Rambouillet. Vierzig Jahre lang gab sie da ihre berühmten Gesellschaften. Für die vornehmsten und geistreichsten Leute Frankreichs. Es waren außerordentlich viele Damen darunter. Was die Marquise wünschte, war Pflege bester Gesellschaft und französischer Kultur in sogenanntem preziösem Geist.«
»Woher wissen Sie das?«
»Gehört zur Allgemeinbildung«, sagte der junge Grieche grinsend.
»Die Herrschaften — besonders viele Damen darunter, wie gesagt — wurden ›Les Précieuses‹ genannt. Sie trieben es preziöser und preziöser. Molière hat eine Komödie über die Bande geschrieben.« Der Chauffeur lachte. »Und dreihundert Jahre später in Rambouillet … voilà, unsterbliches Frankreich!«
»Woher wissen Sie das wirklich alles? Sind Sie kein Chauffeur?«
»Nein. Oder ja. Aber nur nachts.«
»Und am Tage?«
»Studiere ich Physik an der Sorbonne«, sagte Panos Mitsotakis.
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Panos Mitsotakis hatte eine sehr glückliche Jugend. Sie dauerte drei Jahre.
1939 wurde er als Kind armer Leute in Athen geboren. Sein Vater war Flickschneider und immer fröhlich, seine Mutter, eine hübsche Frau, half ihm bei der Arbeit und war gleich ihm stets guter Dinge. Sie sang gerne. Panos’ Eltern liebten einander von Herzen.
Um Politik kümmerte der Vater sich nie. Am warmen Abend des 28. Juni 1942 ging er noch einmal fort, um eine ausgebesserte Hose abzuliefern. (Eine Woche zuvor hatte der Gendarmeriemeister Fritz Jacob dem Generalleutnant Querner schriftlich mitgeteilt, daß sich in der russischen Stadt Kamenez-Podolsk nur noch ein verschwindend kleiner Prozentsatz von Jüdlein befand. Das Ehepaar Rachel und Boris Mordechai Minski war nicht mehr darunter.)
Vater Achilles Mitsotakis geriet auf seinem Liefergang in ein Gefecht zwischen monarchistischen und kommunistischen Widerstandsgruppen. Auch italienische und deutsche Soldaten schossen in der Gegend herum. Sie hatten, gemeinsam mit bulgarischen Soldaten, Griechenland überfallen und besetzt. Bulgarische Soldaten schossen an jenem Abend nicht mit.
Griechenland litt seit 1936 unter schweren innenpolitischen Unruhen, denen die Diktatur des Generals Metaxas ebensowenig hatte ein Ende setzen können wie die Londonreise König Georgs II. vor Ankunft der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten. Die innere Zerrissenheit des Landes machte es den Angreifern leicht, es zu erobern. Eine zuerst amtierende italienische Militärregierung wurde mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen allerdings auch nicht fertig.
Den Flickschneider Achilles Mitsotakis trafen zahlreiche Kugeln aus Gewehren von Italienern, Deutschen, Österreichern und Griechen, als er in einem Haus, hinter dem sich Monarchisten verborgen hielten, jene Hose abliefern wollte. Er trug sie, in Papier geschlagen, über einem Arm. Die an dem Feuergefecht Beteiligten mutmaßten, daß sich unter dem Papier ein gefährlicher Gegenstand verbarg. Achilles Mitsotakis war auf der Stelle tot.
Derartige Zwischenfälle ereigneten sich zu jener Zeit fast täglich in Athen und erst recht auf dem Lande. Eine deutsche Militärregierung löste die unfähige italienische ein knappes Jahr später endlich ab. Danach gab es mehr Ordnung, mehr Tote und eine Hungersnot.
Vor dieser rettete die junge Witwe Aglaja Mitsotakis ihren kleinen Sohn Panos und sich selbst dadurch, daß sie die Geliebte eines deutschen Feldwebels wurde, der in einem Verpflegungsdepot der Wehrmacht arbeitete. Dieser Feldwebel war einundzwanzig Jahre alt, stammte aus Pforzheim und kam, sooft er nur konnte, heimlich und vorsichtig. Es war sehr gefährlich für ihn, eine griechische Geliebte zu haben. Der Feldwebel kam nie, ohne Essen mitzubringen. Er spielte mit dem kleinen Panos, der wie alle Kinder sehr schnell die fremde deutsche Sprache erlernte, viel schneller als seine Mutter.
König Georg II. hatte in London eine Exilregierung gebildet und hielt regelmäßig Rundfunkansprachen über die Sender der BBC. In diesen Reden verhieß er feierlich die Vernichtung der Aggressoren und seine Wiederkehr sowie schwerste Bestrafung all jener, die mit dem Feinde kollaborierten. In London hatte König Georg II. stets genug zu essen.
Zwischen August und Oktober 1944 mußten die Deutschen dann Griechenland räumen. Der Feldwebel aus Pforzheim verließ Panos und dessen Mutter Anfang September. Vier Tage später fiel er bei einem Partisanenüberfall. Mutter und Sohn Mitsotakis erfuhren niemals etwas davon. Die Angehörigen des Feldwebels in Pforzheim erhielten den üblichen Brief.
Georg II. kehrte erst im September 1946, eineinhalb Jahre nach Kriegsende, in sein Land zurück, wo mittlerweile der Bürgerkrieg ärger denn zuvor tobte. Der König hielt seine Londoner Versprechungen. Er dekorierte und verurteilte viele seiner Landsleute, beförderte sie und ließ sie einkerkern oder töten.
Gleich nach dem Abzug der Deutschen war es Aglaja Mitsotakis böse ergangen. Patrioten schoren sie kahl, hängten ihr ein großes Pappschild um den Hals und zwangen sie, durch die Straßen Athens zu gehen. Sie wurde beschimpft, bespien und geschlagen. Auf dem Pappschild stand:
ICH, AGLAJA MITSOTAKIS,
WAR EINE HURE DER DEUTSCHEN MÖRDER
Der kleine Panos sah hilflos zu, wie seine Mutter mißhandelt wurde. Er konnte bereits lesen. Er wußte noch nicht, was eine Hure ist. Was Deutsche waren, wußte er. Er hatte allerdings noch nicht gewußt, daß die Deutschen Mörder waren. Nun erfuhr er es. Jedermann haßte die Deutschen, stellte er fest. Auch Panos haßte nun die Deutschen. Sie waren schuld daran, daß seine Mutter leiden mußte. Und ein deutscher Mörder war als Freund gekommen, von einem deutschen Mörder hatten sie Essen angenommen und verzehrt! Das dachte er, davon träumte er.
Panos sprach nie mit der Mutter über seine Gedanken und Träume, denn er sah, wie sie litt, und er wollte ihren Schmerz nicht noch größer machen. Indem er aber seinen Kummer für sich behielt, wuchs in ihm der Haß auf alle Deutschen zu schrecklicher Größe.
König Georg II. trat bereits ein halbes Jahr nach seiner Heimkehr zurück. König Paul I. folgte ihm auf den Thron. Der Bürgerkrieg dauerte an. Im Norden, im Grammosgebirge, konnte er gar erst 1949 beendet werden. Es gab viele Kämpfe und viel Not und soviel Hunger wie zur Zeit der deutschen Besatzung.
Das Haar der immer noch sehr hübschen Aglaja Mitsotakis war längst nachgewachsen. Sie hatte die kleine Wohnung einer verhungerten Tante in einem anderen Stadtteil genommen. Hier kannte sie niemand, und niemand wußte hier, daß sie eine Hure der deutschen Mörder gewesen war. Aglaja Mitsotakis arbeitete hinter der Theke einer großen Bar, in der sich die Vertreter der internationalen Nachrichtenagenturen trafen, die nach Athen entsandt worden waren, um über den Bürgerkrieg zu berichten.
Wiederum bewahrte Aglaja Mitsotakis ihren Sohn und sich selbst vor dem Verhungern, indem sie die Geliebte eines Korrespondenten der Nachrichtenagentur »Agence France Presse« wurde. Nachdem der kleine Panos sich gründlichst vergewissert hatte, daß niemand die Franzosen als Mörder bezeichnete, gewann er den Journalisten aus Paris so lieb, wie er einst den Feldwebel aus Pforzheim liebgehabt hatte. Lange Zeit war seine Mutter nicht mehr fröhlich gewesen, lange Zeit hatte sie nicht mehr gesungen, kein einziges Lied. Nun war sie wieder fröhlich, und nun sang sie auch wieder. Ihr französischer Freund hatte es gerne, wenn sie sang und fröhlich war.
Zu jener Zeit ging Panos schon in die Volksschule, und für seine Lehrer war er ein Phänomen: Im zweiten Schuljahr bereits hatte er den Lehrstoff aller vier Elementarklassen bewältigt, ohne daß dieser überhaupt vorgetragen worden wäre, einfach durch Fragen, Denken und Lesen.
Der Mann von AFP blieb zweieinhalb Jahre in Griechenland, bevor er nach Paris zurückgerufen wurde. In diesen zweieinhalb Jahren erlernte Panos auch die französische Sprache.
Die Lehrer beschworen nun Aglaja Mitsotakis, ihren Sohn, der so über alle Maßen begabt war, studieren zu lassen, doch sie besaß kein Geld für eine höhere Schulbildung. Da erinnerte man sich daran, daß ihr Mann Achilles während der deutschen Okkupation ermordet worden war, und gab ihr eine ehrenvolle Urkunde, eine kleine Rente, und dem Sohn verschaffte man ein Stipendium an einem Realgymnasium. 1959, nachdem er das Abitur mit der höchsten Auszeichnung bestanden hatte, erhielt er sogleich ein weiteres Stipendium für die Universität von Athen. Er wollte Physiker werden.
Das Land war indessen immer noch nicht zur Ruhe gekommen, häufig wechselnde Regierungen sahen sich veranlaßt, die Universität wieder und wieder zu schließen. So, fand Panos, konnte er nicht ordentlich lernen. Er brauchte eine andere Hochschule. Deutsche Universitäten wollte er lieber nicht besuchen. Zwar war er längst davon überzeugt, daß durchaus nicht alle Deutschen Mörder waren, doch quälte ihn die Erinnerung an das Geschehene noch allzusehr. In Deutschland, so fürchtete er, hätte er immer an seine Mutter und an jenes Plakat denken müssen, das ihr um den Hals gehangen hatte, und obwohl er sich beständig sagte, daß alles dies unsinnig und eines exakten Wissenschaftlers unwürdig war, entschloß er sich dennoch, nach Paris zu gehen, an die Sorbonne. Der ehemalige Geliebte seiner Mutter, Charles Bernier von AFP, ermunterte Panos in Briefen herzlich dazu und versprach, sich um ihn zu kümmern, soweit das in seiner Macht stände. Bernier kümmerte sich rührend um Panos, als dieser in Paris eintraf; allerdings war es ihm nur wenige Monate lang möglich, dies zu tun, dann wurde er von seinem Büro nach Afrika geschickt und bald darauf bei einer Revolte im Kongo aus Versehen getötet.
Zu jener Zeit indessen waren Panos’ Lehrer an der Sorbonne schon derart angetan von der außerordentlichen Begabung dieses jungen Mannes, daß er auch hier ein Stipendium erhielt.
Seiner Mutter, die Panos sehr liebte und mit der er regelmäßig und häufig korrespondierte, durfte er nicht zur Last fallen, das wußte er. Sie konnte von ihrer kleinen Rente nichts abgeben. Doch der Drang nach Wissen und Erkenntnis war inzwischen so übermächtig geworden, daß Panos sein Studium um nichts in der Welt mehr abgebrochen hätte. Eher wäre er verhungert. Er hungerte eine ganze Weile recht arg in Paris. Der Hunger schien sein Leben zu begleiten. Dann fand er eine Stelle als Taxichauffeur bei einem Großunternehmen. Was er an Geld unbedingt für sich benötigte, behielt er, was blieb — und es blieb wahrhaftig immer noch etwas übrig —, ließ er durch Bekannte seiner Mutter zukommen, die unendlich stolz auf ihren Sohn war.
Panos übernahm nur Nachtdienst bei jenem Taxiunternehmen. Tagsüber mußte er zur Universität. Er war jung, es machte ihm nichts aus, so viel zu arbeiten, so wenig zu schlafen. Er aß das billigste Menü der Mensa und wohnte in einem Zimmer des Stundenhotels »Le Toucan«, unmittelbar neben dem Gare du Nord. Im Oktober 1965, als er eines Nachts auf recht ungewöhnliche Weise Britt Rending kennenlernte, war er sechsundzwanzig Jahre alt.
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Im Jahre 1870 erbaute ein gewisser August Wilhelm Petersen im Hamburger Stadtteil Billstedt, der direkt am Hafen liegt, eine Fabrik und begann Fischkonserven herzustellen. Sein Sohn Joachim Petersen vergrößerte die Fabrik um mehr als das Doppelte und führte moderne Herstellungsmethoden und eine Vielzahl von Spezialitäten ein. PETERSEN-KONSERVEN, beinhaltend Krabben, Hummer, Heringsfilets in pikanten Saucen und ähnliches, errangen in kurzer Zeit Berühmtheit. Joachim Petersen war bereits ein schwerreicher Mann mit einer schönen Villa in Blankenese. Seine Frau gebar ihm eine Tochter, die auf den Namen Elsbeth getauft wurde. Elsbeth war ein nervöses, unscheinbares Kind, später ein nervöses, reichlich unscheinbares junges Mädchen mit fadblondem Haar, weißlichem Teint, großen, ewig erstaunt blickenden blauen Augen und einem sehr langweiligen Körper. Was sie dennoch für Männer einer bestimmten Art interessant machte, das waren ihr hochgeachteter Name und das Vermögen ihres Vaters.
Zu den Männern der erwähnten Art gehörte ein gewisser Thomas Francis Rending, blendend aussehender Gent aus alter Hamburger Patrizierfamilie, in welcher einzelne Mitglieder von England herübergekommen waren, womit sich Rendings zweiter Vorname erklärte. Die Rendings, im Kaiserreich noch Millionäre und Besitzer einer der größten Hamburger Werften, waren nach Inflation und Wirtschaftskrise fast völlig verarmt.
Thomas Francis Rending, in Luxus aufgewachsen und an ihn gewöhnt, spielte hervorragend Golf, Tennis, Kricket, und er war ein guter Reiter. Er hatte nie in seinem Leben ernsthaft gearbeitet, und er gedachte das auch weiterhin nicht zu tun.
Auf einem Empfang im Überseeklub lernte die blasse, fade Elsbeth Petersen den charmanten Thomas Rending kennen und verliebte sich sogleich auf das heftigste in ihn. Rending kämpfte einen kurzen, harten Kampf mit sich selbst, dann siegte sein gesunder Menschenverstand, und er begann, Elsbeth Petersen den Hof zu machen. Es war damals schon Krieg, Rending Hauptmann der Wehrmacht, in Hamburg stationiert (man hatte seine Beziehungen); in seiner maßgeschneiderten Uniform sah er einfach umwerfend gut aus. Er war zehn Jahre jünger als Elsbeth, doch als sie einander erst ihre Liebe gestanden hatten, versicherte der Patriziersohn ergriffen, daß dieser Altersunterschied niemals eine Rolle spielen würde, und nichts glaubte Elsbeth lieber als das.
Die Hochzeit fand unter starker Beteiligung von Angehörigen der ersten Gesellschaft Hamburgs in der Michaeliskirche statt. Auch beste Beziehungen konnten nicht verhindern, daß der Hauptmann Rending sehr bald danach an die Ostfront geschickt wurde, wo es ihm durchaus nicht gefiel, sooft und emphatisch er auch von seiner Sehnsucht gesprochen hatte, mit der Waffe in der Hand am heroischen Kampf des deutschen Volkes teilnehmen zu dürfen.
Bei den ungeheuren Luftangriffen der Engländer im Juli und August 1943 und den danach folgenden wurden dreiundvierzig Prozent der Stadt Hamburg und sechzig Prozent der Hafenanlagen zerstört. Im September 1943 erhielt Rending deshalb einen kurzen Sonderurlaub. Das Haus in Blankenese traf er unzerstört, die Fabrikanlagen nicht allzuschwer beschädigt an. Alle Lieben waren wohlauf — die Mitglieder seiner Familie befanden sich auf dem Landsitz der Petersens im Schwarzwald, wohin Elsbeths Mutter sie eingeladen hatte. Elsbeth war mit dem Vater in Hamburg geblieben. Erstaunt stellte Rending fest, daß sie, schwächlich und träge in seiner Erinnerung, hart und energisch geworden war und dem Vater bei dessen Bemühungen, die Fabrik wieder produktionsfähig zu machen, wie ein Mann zur Seite stand.
Es war ein freudiges Erstaunen, das Rending überkam, soweit es Elsbeths Aktivität um die Konservenwerke betraf; ansonsten gefiel ihm die Wandlung seiner Ehefrau nicht sonderlich. Eine gewisse besorgte Nachdenklichkeit ließ ihn überaus zärtlich werden. Als er schon längst wieder an der verhaßten Ostfront weilte, erreichte ihn ein Brief. Elsbeth schrieb, daß sie schwanger sei. Der Hauptmann Rending dachte, wie richtig es gewesen war, nachdenklich und zärtlich zu sein.
Ihr Vater, schrieb Elsbeth, bestehe darauf, daß sie nun auch in den Schwarzwald fahre, um dort, relativ außer Gefahr, ihr Kind zur Welt zu bringen.
So wurde Britt Rending am 28. Mai 1944 in einer Privatklinik bei Baden-Baden geboren. (Zu jener Zeit befand sich Boris Mordechai Minski gerade auf dem Wege von dem Konzentrationslager Maidanek in das Konzentrationslager Auschwitz, und neun Tage nach Britt Rendings Geburt begann die Invasion der westlichen Verbündeten an der Normannenküste.)
Knapp vor Kriegsende kehrte Elsbeth — ihr Baby ließ sie im Schwarzwald — nach Hamburg zurück. Ein Telegramm hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, daß ihr Vater, der die Stadt nie verlassen mochte, bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sei. Elsbeths Mutter warf der Schicksalsschlag aufs Krankenlager, sie starb sechs Monate später.
Die nächsten drei Jahre verlebte Elsbeth Rending im Keller der unbegreiflicherweise unzerstört gebliebenen Villa in Blankenese — oben wohnten britische Offiziere. Drei Jahre lang schuftete Elsbeth Rending nun zur grenzenlosen Verwunderung aller, die der fragilen, blutarmen Frau derlei niemals zugetraut hätten, zusammen mit alten Arbeitern und Angestellten, die noch am Leben und aufzufinden waren, und mit vielen neuen Menschen und unter schwersten Bedingungen, um die Konservenfabriken wieder aufzubauen und in Gang zu bringen. Sie arbeitete bis an den Rand des Zusammenbruchs. 1948, im Frühling, lief die Produktion an.
Nach dem Krieg war Fisch jeder Art in Deutschland besonders gefragt, PETERSEN-KONSERVEN verkauften sich sofort en masse. Durch geschickte Aktionen rettete Elsbeth Rending das Betriebskapital über die Währungsreform. Von Arbeitsfieber ergriffen, gönnte sie sich kaum eine freie Minute.
Um acht Uhr früh war sie in der Fabrik, selten verließ sie ihr Büro vor acht Uhr abends. Sie kannte weder Sonntage noch Feiertage. Ihr Mann war immer noch in Gefangenschaft, die kleine Britt immer noch im Schwarzwald. Britt sah die Mutter nur selten, wenn diese zu eiligen Besuchen kam, und wurde erst nach Hamburg geholt, nachdem der Exhauptmann Thomas Francis Rending 1949 endlich heimgekehrt war. Das Zusammentreffen der kleinen Britt mit ihm gestaltete sich peinlich. Die Tochter lehnte den Vater furchtsam ab, noch nie hatte sie ihn gesehen, und voll Verwirrung schenkte sie ihre ganze Liebe und ihre Zuneigung im Übermaß der Mutter. Der Vater war für sie ein fremder, unheimlicher Mann. Erst langsam wurde Britt ein wenig zutraulicher.
Thomas Francis Rending empfand das Betragen seiner Tochter abwechselnd als ärgerlich oder als nicht der Beachtung wert. Nun übernahm er die Leitung der Konservenfabriken, nun war er der Herr, und das ließ er seine Angestellten und Arbeiter spüren. In fast fünfjähriger Gefangenschaft hatten die Russen ihn spüren lassen, wer der Herr und was er war, was er wahrhaftig war, und zwar nicht wissen wollte, aber dank seiner Intelligenz doch wußte: ein Parasit, ein Nichtsnutz, ein Feigling.
Das wußte er — die Männer, mit denen er nun zu tun hatte, wußten es nicht. Brutalität und Vitalität imponieren immer unter Geschäftsleuten, und so war Rending, der es nach wie vor geschickt verstand, alle schwere Arbeit andere tun zu lassen, ganz schnell ein geachtetes und beneidetes Mitglied jenes Zauberkreises von Genies, die Deutschland das schenkten, was die Welt das »Wunder« nannte.
Von Jahr zu Jahr wurden die PETERSEN-KONSERVEN besser, gefragter, das Angebot reichhaltiger. Von Jahr zu Jahr stieg der Umsatz. 1955 war Rending einer von Westdeutschlands ersten Millionären und Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse.
Frau Elsbeth, zehn Jahre älter als ihr Mann, sah plötzlich aus, als sei sie zwanzig und mehr Jahre älter. Spezialisten konstatierten ein Herzleiden — zweifellos hervorgerufen durch die Ängste und Schrecken des Krieges, vor allem aber durch die enorme Anstrengung beim Wiederaufbau der Fabrik, deren strahlender Repräsentant nun Thomas Francis Rending war.
»Es ist kein Grund zu ernster Besorgnis gegeben«, sagte der hervorragendste der herbeigezogenen Spezialisten zu Elsbeth Rending. »Wenn Sie vernünftig leben, Aufregungen und weitere Überanstrengung meiden, können Sie mit Ihrem Leiden uralt werden, gnädige Frau.«
»So fühle ich mich bereits«, antwortete Elsbeth Rending. »Besonders wenn ich an meinen Mann denke. Er hat so viel mitgemacht in der Gefangenschaft … er erzählt es mir oft … und wie jung, wie gesund ist er doch geblieben … ein junger Mann … und eine alte Frau …«
Der Arzt versuchte, Elsbeth von einer derartigen Einstellung schleunigst abzubringen. Es gelang ihm nicht. Da erkannte er, daß die Einstellung bereits einem — noch unbewußten — Selbstschutzversuch entsprang. In diesem Falle, dachte der Arzt, würde sich Frau Rendings Zustand natürlich zum Negativen hin entwickeln. Er machte sich voll Haltung auf die lange Behandlung einer außerordentlich wohlhabenden Patientin gefaßt.
Von Männern bewundert, von Frauen umschwärmt, empfand Thomas Rending die Herzkrankheit seiner Frau nur kurze Zeit als betrüblich, dann wurden ihm ihre Vorteile bewußt. Elsbeth bemerkte wohl, daß sie ihren Mann schon lange nicht mehr zu interessieren vermochte, weder psychisch noch physisch. Stärker und stärker wurde ihre Überzeugung, sie habe das nie vermocht, ihr Mann habe sie niemals geliebt und nur des Geldes wegen geheiratet — und das stimmte ja auch. Elsbeth beschloß, ihren Mann zu »bestrafen«, indem sie sich hinfälliger und kränker gab, als sie war.
Rending durchschaute seine Frau schnell. Er beging keinen Fehler bei seinen weiteren Unternehmungen, war er doch von Geburt an daran gewöhnt, immer nur an das eigene Wohlergehen und den eigenen Vorteil zu denken. Elsbeths Bestrafungsversuche tangierten ihn wahrhaftig nicht. Es gelang ihm indessen stets mühelos, aufrichtig zu erscheinen, wenn er seine Frau bedauerte, umsorgte, seiner Liebe versicherte und voller Verständnis dafür war, daß sie, wie sie sagte, einfach zu elend sei, einfach zu krank, um ihm ständig repräsentieren zu helfen, um das Leben in der Gesellschaft, zu dem er verpflichtet war, mit ihm führen zu können. Er solle ihr verzeihen, sagte Elsbeth, und alles so tun, wie er es für richtig halte.
Rending verzieh ihr. Er tat, was er für richtig hielt. Seine kleine Tochter irritierte ihn, denn er hatte das (zutreffende) Gefühl, daß Britt ihn immer noch ablehnte und als Feind ansah. So hielt Thomas Rending es also für richtig, die Zehnjährige sofort nach der Grundschule in eines der teuersten und feinsten Internate der französischen Schweiz zu schicken.
»In unseren Kreisen geschieht das so, basta«, sagte er, als Britt ihn unter Tränen bat, sie doch bei der geliebten Mutter zu lassen.
Die Mutter schwieg.
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Aus einem Lehrbuch für Jugendfürsorger:
»Internationalen Statistiken zufolge nehmen rund fünfundachtzig Prozent aller Kinder, die in einem Alter unter zwölf Jahren aus schlechten Ehen ›abgeschoben‹ werden und ohne fürsorgerische Betreuung bleiben, Fehlentwicklungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Kinder arme oder reiche Eltern haben. Die Arten der Fehlentwicklungen sind zahllos, sie können zum Asozialen, Kriminellen, zu offener oder geheimer Prostitution, Alkoholismus, seelischen Erkrankungen, sexuellen Verwirrungen und Lastern jeder Art führen — und nur ganz selten hat ein solcher Mensch dann noch die Kraft zur Umkehr.«
In dem Schweizer Internat traf Britt Rending auf eine Gruppe von Mädchen aus Millionärshäusern, die ihre Eltern oder den einen Teil der Eltern verachteten oder haßten und den anderen Teil dabei auch manchmal verzweifelt liebten — »abgeschoben« sie alle, aber nicht willens, ihren Kummer anders zu artikulieren als durch Zynismen, Snobismus und einen wahren Wettlauf nach sexuellen Erfahrungen.
Größte Vorsichtsmaßnahmen der Anstaltsleitung konnten nicht verhindern, daß alle Mädchen dieser Gruppe Freunde in der nahen Stadt besaßen. Die Jungen jener Stadt hatten siebzehnjährig bereits zahlreiche Erlebnisse. Sie machten sich mit Vorliebe an die jüngeren Mäddlen heran, denn diese, unsicher und ängstlich, wenn auch begierig, waren »leichter zu kriegen«. Die älteren Mädchen unterhielten im allgemeinen Verhältnisse mit erwachsenen Männern und verachteten die Jünglinge meist. Intern war das erste und wichtigste Gesprächsthema der Gruppe beständig, wer bei Männern die größten Chancen, wer was mit wem erlebt, wer am meisten erlebt hatte. In den nächsten acht Jahren »erlebte« Britt Rending hier mehr als vermutlich irgendein Mädchen vor ihr.
Mit dreizehn Jahren wurde sie von einem Sechzehnjährigen verführt. Mit vierzehn Jahren verführte sie einen Sechzehnjährigen, und mit fünfzehn Jahren hatte sie zwei weitere Affären hinter sich: mit einem Telegrafenjungen und einem verheirateten Notar. Fünfzehnjährig sah Britt allerdings aus, als sei sie bereits achtzehn. Sie hatte goldblondes Haar, die blauen, riesigen Augen der Mutter, aufgeworfene Lippen und einen makellosen Körper. Alles an ihr war erotisch: ihre Art zu sprechen, ihr Gang, ihr träges Lächeln.
Jeder Mann, der Britt sah, dachte an das gleiche, mußte ganz einfach an das gleiche denken. Sie war selbst außerordentlich triebhaft, und es erregte sie, zu sehen, wie sie alle Männer erregte. Trotz ihrer Triumphe auf jenem Gebiet blieb sie jedoch ständig melancholisch und bedrückt.
An diesem permanenten Grundzustand änderte sich auch nichts, wenn Britt in den Ferien, den Feiertagen, heim nach Hamburg zu ihrer geliebten Mutter fahren durfte, die, trotz aller Bemühungen jenes Arztes, mehr und mehr in ihre Krankheit geflüchtet war und weit über das tatsächliche Maß hinaus sich hilflos, schwach und auch der kleinsten Anstrengung oder Erregung nicht mehr gewachsen zeigte.
Britts Vater war inzwischen Konsul eines südamerikanischen Staates geworden, ein äußerst erfolgreicher Mann, ein äußerst lebenslustiger Mann, wenn er sich dabei auch sehr diskret betrug. Man sprach in Hamburg über seine Affären — aber nur hinter vorgehaltener Hand, denn Thomas Rending war reich und mächtig und also gefährlich —, und man sprach auch ohne Tadel über ihn: Was sollte ein Mann schließlich tun, der verheiratet war mit einer ewig kranken, um so vieles älteren Frau?
Natürlich erfuhr Britt bald von dem Leben, das ihr Vater führte. Heißer und heißer wurde ihr Haß. Sie durfte ihre Mutter nicht aufregen, jedermann sagte ihr das, und sie war deshalb verblüfft, als die Mutter selber, eines Nachmittags, da Britt zu Hause war, der Tochter erklärte, sie wisse sehr wohl Bescheid über das Treiben ihres Mannes.
Diese Unterhaltung fand im Garten hinter der Villa in Blankenese statt. Die Mutter ruhte in einem Liegestuhl, Britt kauerte neben ihr im Gras und starrte sie an.
»Oh, gewiß weiß ich Bescheid«, sagte die Mutter, auf das glitzernde Wasser der Elbe hinabblickend. »Seit langem, mein Kind.« Elsbeth Rending sprach mit leiser Stimme — auch das hatte sie sich angewöhnt —, und sie genoß die Rolle, die sie sich selbst zugelegt hatte.
»Seit langem?« fragte Britt entgeistert.
»Seit langem und über viele … viele seiner Frauen und Mädchen. Im Moment ist es nur eine, ich denke, die wird es wohl auch bleiben, denn er ist ganz vernarrt in sie. Eine kleine Schauspielerin. Yvonne Horn heißt sie.« Und die Mutter nannte die Adresse dieser Yvonne Horn, um zu zeigen, wie gut informiert sie war. »Er besucht das Mädchen häufig … sehr häufig … vorsichtig natürlich. Nicht vorsichtig genug für einen guten Privatdetektiv.«
»Aber … aber warum …« Britts Stimme versagte.
Die Mutter lächelte.
»Warum ich mir das gefallen lasse, willst du wissen, nicht wahr?«
Britt konnte nur nicken. Trotz allem, was sie bereits erlebt hatte, kam sie sich hilflos vor wie ein neugeborenes Kind.
»Ich kann es mir gefallen lassen«, erklärte die Mutter, »weil ich mich entschlossen habe, so zu leben, als ob ich von nichts wisse. Dein Vater ist fest überzeugt davon, und du mußt mir schwören, auf der Stelle schwören, daß du ihm kein Wort verrätst. Schwöre!«
»Ich … ich schwöre.«
»Bei meinem Leben!«
»Bei deinem Leben …«
»Gut«, sagte die Mutter befriedigt. »Siehst du, ich lasse mir nicht das geringste anmerken. Dein Vater ist höflich und liebenswürdig zu mir, immer, und so soll es bleiben.«
»So soll es bleiben?«
»Bitte. Nicht so laut!« Die Mutter verzog das Gesicht. »Ich ertrage laute Stimmen nicht.«
»Verzeih«, sagte Britt, und durch einen Vorhang jäher Tränen blickte sie über den blühenden Garten, hinab auf den blitzenden Strom und die Schiffe, die großen und kleinen, die die Elbe herauf kamen oder ausliefen zur See.
»Und ich ertrage auch keine Aufregungen, das weißt du. Ich müßte mich natürlich aufregen, wenn ich mit deinem Vater ein Gespräch über all das anfinge. Es würde nichts an dem ändern, was er tut. Und für mich wäre es schlecht. Ich liebe deinen Vater nämlich, trotz allem … und ich liebe dich, mein Schatz … ich liebe dich sehr …« Grenzenloses Mitleid mit sich selber ließ ihre Stimme zittern. »Deshalb, verstehst du, nehme ich nichts zur Kenntnis … so schone ich mein Herz …«
Wie ich ihn hasse, dachte Britt, wie ich ihn hasse!
»Wir hatten auch unsere glückliche Zeit, o ja«, fuhr die Mutter fort. Es war ein schöner Nachmittag für sie, sie fühlte sich froh und gesund wie lange nicht. »Einmal geht eben alles vorbei. Aber ich bin zufrieden. Solange er mich nicht verläßt, bin ich zufrieden …« Es hätte viel im weiteren Leben Britts geändert, wenn ihr der triumphierende, unerbittliche Ton zu Bewußtsein gekommen wäre, den die Stimme der Mutter mehr und mehr annahm. Aber er kam ihr nicht zu Bewußtsein. »… und verlassen wird er mich nie … nie! Sicherlich wollte er es schon oft gerne. Aber wie hätte er das anfangen sollen? Mit welcher Begründung? Alles zugeben? Die Scheidung verlangen? Riskieren, daß ich sie verlange? Dann wäre er schuldig geschieden worden! Unsere Fabriken, mein Kind, die hat mein Großvater und mein Vater gebaut, und ich habe sie wieder aufgebaut, mit diesen meinen Händen, und mein Vater hatte den guten Verstand, bei meiner Heirat darauf zu dringen, daß im Ehekontrakt all das festgehalten wurde. Das und daß dein Vater jedes Anrecht auf diese Fabriken und unseren ganzen Besitz verliert, wenn er schuldig geschieden wird oder wenn ihm auch nur in einem einzigen Fall Ehebruch nachgewiesen werden kann. Du siehst, so lange ich lebe, wird Thomas mein Mann bleiben … mein Mann … Keine andere wird ihn vor meinem Tod bekommen … jetzt verstehst du mich besser, nicht wahr?«
Britt nickte. Sie zitterte am ganzen Körper vor Zorn und Haß auf ihren Vater und Schmerz über ihre arme Mutter.
Und das Wasser des Stromes glänzte, und die Schiffe leuchteten in der Sonne, und das war ein Nachmittag im Sommer des Jahres 1962.
An einem Nachmittag im Sommer des Jahres 1963 starb dann Elsbeth Rending, geborene Petersen.
Im Juli 1963 hatte Britt ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden und war aus der Schweiz nach Haus gekommen — eine Woche vor ihrer Mutter Tod.
Am Sarg, der in der Villa aufgebahrt stand, sagte Britt zu ihrem Vater: »Du hast sie auf dem Gewissen!«
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Die sehr attraktive Schauspielerin Yvonne Horn wurde Britts zweite Mutter. Der Witwer wartete genau das Trauerjahr ab, dann führte er die brünette, grünäugige Yvonne, deren Gesicht sehr an das einer Katze erinnerte, geschmackvollerweise vor den Traualtar der altehrwürdigen Michaeliskirche, in der er schon einmal geheiratet hatte.
Eine Gesellschaft erlesener Gäste aus Hamburgs Patrizierfamilien war eingeladen worden.
Das Leben ging immer weiter, philosophierte man. Hier war ein Mann, der sich nicht beugen ließ. Ein tapferer Mann. Ein arbeitsamer Mann. Ein wahrhaft demokratischer Mann! Ein Millionär, der ein armes Mädchen ehelichte.
Diese Art von demokratischer Gesinnung ließ zu allen Zeiten spontane Sympathie für einen solchen Mann entstehen. Niemals noch, seltsamerweise, hat man ein armes Mädchen demokratisch genannt, weil es einen Millionär ehelichte.
Britt war der Vermählung ferngeblieben — einer Erkrankung wegen, wie es hieß. Als die Hochzeitsgesellschaft die Villa in Blankenese betrat, wurde sie von einer völlig gesunden, sehr schönen und sehr bleichen Britt Rending empfangen. Damit hatte der offene Krieg zwischen ihr und ihrer Stiefmutter begonnen.
Es war ein Krieg, in welchem Britt, der Lebenserfahrung zufolge, Siegerin bleiben mußte. Sie war zwanzig Jahre alt, Yvonne neunundzwanzig, Thomas Rending fünfzig. Auf allen Empfängen, die Rending gab, auf allen Empfängen, zu denen man Herrn, Frau und Fräulein Rending lud, war stets die so außerordentlich schöne, geistreiche und sinnlich erregende Britt Mittelpunkt. Von ihrer Stiefmutter nahm man wenig Notiz. Sobald indessen jemand Gefallen an Yvonne Rending fand, die ja nun auch nicht eben unansehnlich war, griff Britt ein — blitzschnell. Sehr verwirrte Herren konnten sich dann bereits nach einer Stunde nicht mehr erklären, was sie eigentlich an Frau Yvonne Rending interessiert hatte.
Yvonne, von Anbeginn unsicher in der für sie ungewohnten Welt des Reichtums und der Großen Familien, wurde immer unsicherer. Britt sah es mit Freude. Mit Freude brachte sie ihre Stiefmutter in ausgeklügelt vorbereitete Verlegenheiten.
Wenn Yvonne auf allen Gebieten ihres neuen Lebens unsicher war und es wohl noch lange, wenn nicht immer bleiben würde, auf einem Gebiet war sie sich selbst vollkommen sicher. Sie wußte, daß sie ihren einundzwanzig Jahre älteren Mann, der sie mit eifersüchtiger Leidenschaft liebte, völlig beherrschte. Yvonne verlangte von Britts Vater, daß er seiner Tochter eine Wohnung kaufte — Britt studierte Französisch an einer Spezialschule, sie wollte Diplomdolmetscherin werden.
»Entweder deine Tochter verläßt das Haus oder ich«, sagte Yvonne.
Thomas Rending argumentierte nicht eine Sekunde. Kalt sagte er zu Britt, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, daß sich für sie durch eigene Schuld die Notwendigkeit ergeben habe, den gemeinsamen Haushalt zu verlassen. Ihre gesetzlichen Ansprüche auf den Familienbesitz würden davon natürlich nicht berührt.
Auch Britt argumentierte nicht eine Sekunde mit dem Vater.
Es war ihr klar, daß sie wiederum eine Schlacht verloren hatte. Nun fiel ihr nichts mehr ein, wie sie ihre Stiefmutter und ihren Vater demütigen oder lächerlich machen konnte. Sie bezog eine komfortable Garçonniere, vollendete das Studium an der Sprachenschule und erhielt auch hier ein exzellentes Zeugnis — just an dem Tag, an dem sie erfuhr, daß ihre Stiefmutter einen Knaben zur Welt gebracht hatte.
Einen Knaben!
Nichts sehnlicher hatte sich Thomas Rending gewünscht! Nun war ein männlicher Nachkomme da, der die Fabriken weiterführen konnte. Nun, das erkannte Britt sofort, war die Position ihrer Stiefmutter durch nichts mehr zu erschüttern. So über alle Maßen groß ihr Haß war — sie mußte mit ihm leben. Bis auf weiteres jedenfalls …
Die Sprachenschule vermittelte ihren Schülern Auslandsaufenthalte bei wohlbeleumundeten Familien, damit die zukünftigen Dolmetscher die Sprache im Lande selbst perfekt lernten.
Britt teilte ihrem Vater schriftlich mit (sie verkehrten seit langem nur noch schriftlich miteinander), daß sie für ein Jahr als Haustochter nach Frankreich gehen würde, zu einem Ehepaar namens Avignolle. Sie brauchte, fast, aber noch nicht ganz einundzwanzig Jahre alt, seine Einwilligung dazu.
Monsieur Hercule Avignolle, schrieb sie, sei einer der größten Kunsthändler von Paris, er besitze eine Stadtwohnung und ein Schloß in dem nahen Rambouillet. Ihr Vater gab seine Einwilligung mit größter Freude und Eile. Britt fuhr nach Paris …
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Es war halb vier Uhr früh am 2. Oktober 1965, als Britt Rending, geleitet von dem Nachttaxichauffeur und Studenten der Physik an der Sorbonne, Panos Mitsotakis, dessen Zimmer im zweiten Stock des Hotels »Le Toucan« betrat. Sie fror, glitt aus dem Ledermantel, den sie auf der Fahrt von Rambouillet hierher getragen hatte, lächelte Panos zu und schlüpfte schnell in ein altes Messingbett.
Der junge Grieche hatte den Citroën in die nahe Taxizentrale gefahren und gebeten, seine heutige Nachtschicht vorzeitig beenden zu dürfen. Er habe Durchfall, log er. Als zuverlässig und fleißig bekannt, war er sogleich abgelöst worden.
Der Portier, dem sie beim Betreten des Stundenhotels begegnet waren, hatte Britt ohne Erstaunen gemustert. Er war zu müde, um erstaunt zu sein über ein barfüßiges Mädchen, das offenbar nichts als einen Ledermantel am Leib trug. Zudem empfand der Portier Verehrung für seinen strebsamen und gebildeten Gast. Und schließlich waren, seit der Portier in diesem Hotel arbeitete, noch ganz andere Dinge vor seine Augen oder an seine Ohren gekommen.
Panos entschuldigte sich ununterbrochen für die Ärmlichkeit des Zimmers, in das er Britt gebracht hatte.
»Wieso denn? Ich finde es riesig gemütlich und romantisch hier!« sagte Britt.
»Unsinn …«
»Ehrenwort! Was heißt das auf deutsch?« Sie wies auf einen Notizblockzettel, der an einem Nagel an der Wand über einem wackeligen Tisch beim Fenster hing. Der Tisch war überladen mit Büchern, Heften und Broschüren. Auf dem Zettel an der Wand standen ein paar griechische Worte.
Panos antwortete, immer noch verlegen: »Es heißt auf deutsch: ›Der Mensch hat wenig Glück‹. Einstein hat das einmal gesagt.«
»Einstein war ein großer Mann.«
»O ja«, sagte Panos.
Auf dem nahen Gare du Nord rangierten fauchend, quietschend, rollend und scheppernd Lokomotiven, Waggons, Züge. Das ging hier die ganze Nacht so. Ab und zu heulte eine Sirene. Am Tag wurde es noch viel lauter. Das Zimmer war nur weißgetüncht, aber die Tünche schon längst nicht mehr weiß. Es gab hinter einem schmutzigen Vorhang eine Waschnische, in der sich neben dem Becken ein Bidet befand und auf diesem ein Brett. Auf dem Brett stand ein alter Gasrechaud. Panos bereitete sich kleine Mahlzeiten selber, er hatte die Erlaubnis dazu. Drei Stühle waren da und ein abgeschabtes Plüschsofa. Und es gab einen großen, fleckigen Spiegel an der Außenseite einer Schranktür, die sich auf der Höhe des Bettes, diesem gegenüber, befand.
Panos drehte das triste, schwache Deckenlicht aus, nachdem er eine grünbeschirmte Nachttischlampe eingeschaltet hatte.
»Nun ist es einfach luxuriös«, stellte Britt Rending fest. Sie dehnte sich. Die Bettdecke war herabgerutscht und gab ihren Oberkörper frei. Britt rührte sich nicht. Panos starrte gebannt die großen Brüste an, deren eine jodverschmiert war. Er hustete, wandte sich ab, zündete sich eine Zigarette an, drückte sie wieder aus und verschwand in der Waschnische. Nach einiger Zeit kehrte er in einem alten Pyjama zurück. Panos hob den Ledermantel auf und ging damit zu dem Sofa. Er fühlte, daß Britt ihn unverwandt ansah, ihre Blicke brannten in seinem Rücken. Auf der Fahrt hatte er ihr alles von sich erzählt und sie ihm alles von sich.
Panos wußte so viel über dieses Mädchen, das er erst vor so kurzer Zeit getroffen hatte und das nun in seinem Bett lag, und dies war es, was ihn derart verlegen machte. Hätte er nichts über sie gewußt, hätte er keine Hemmungen gehabt. Unbeholfen setzte er sich auf das quietschende Sofa. Sein Blick und der Britts trafen sich. Ihr Oberkörper war noch unbedeckt. Sie lächelte und sagte auf deutsch: »Sei nicht albern.«
Er stand auf.
»Zieh den Pyjama aus.«
Er zog ihn aus.
»Du bist schön, Panos«, sagte Britt Rending, während die Bettdecke ganz von ihr glitt. »Komm zu mir.«
Er kam zu ihr, und draußen lärmten die Züge auf dem Gare du Nord, und Lastwagen ratterten durch die noch verlassenen Straßen, und es begann leise zu regnen.
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Panos fuhr empor. Ein weißer, billiger Wecker auf dem Nachttisch zeigte neun Minuten nach neun. Durch das Fenster kam graues Licht, Regen trommelte jetzt gegen die Scheiben. Panos starrte Britt an, die neben ihm lag und nun die großen blauen Augen öffnete. »Der Wecker«, sagte Panos. »Ich habe vergessen, ihn aufzuziehen. Ich … ich muß … die erste Vorlesung …« Er sprang nackt aus dem Bett.
»Heute hast du keine Vorlesung«, sagte Britt. Ihr Blick glitt an Panos herab. Er bemerkte, daß sein Körper reagierte, und errötete. »Heute ist Samstag«, sagte Britt.
»Samstag …«
»Ja. Den ganzen Tag. Komm zu mir.«
»Wollen wir nicht … soll ich nicht … ich habe Kaffee hier, und ich kann schnell frische Brioches holen …«
»Später«, sagte Britt.
Sie frühstückten um elf Uhr.
Sie waren beide fröhlich, alberten und scherzten, und sie sprachen deutsch und französisch durcheinander. Es erschien ihnen beiden wahnsinnig komisch, daß Britt das Zimmer nicht verlassen konnte, weil sie buchstäblich kein einziges Kleidungsstück besaß — eine Gefangene, wie Panos konstatierte. »Die glücklichste Gefangene von der Welt!«
Panos sah sie an.
»Du bist glücklich?«
»Sehr. Und du?«
»Ich auch«, sagte Panos ernst. »Ich bin auch sehr glücklich.«
»Mit einer Deutschen.«
Er errötete heftig: »Nicht«, sagte er. »Laß das doch. Bitte! Ich … ich bin ein Idiot … aber ich habe dir doch alles erzählt, wie das war in Athen, nicht, und …«
Sie legte eine Hand auf seinen Mund.
Er küßte die Innenfläche.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Was ich will!« sagte Britt. »Ich bin einundzwanzig. Niemand kann mir mehr etwas sagen. Ein Anwalt ist es, den ich jetzt brauche.«
»Wozu?«
»Du vergißt, daß ich sehr reich bin. Ein Goldfisch! Nun wollen wir einmal sehen, wieviel Geld meines Vaters mir gehört. Und dann, wer weiß, studiere ich auch … hier in Paris … oder ich tue irgend etwas anderes in Paris …«
»Warum in Paris?« fragte er leise.
»Idiot«, sagte Britt. »Oder hast du vor, an der Sorbonne aufzuhören und in Boston weiterzustudieren? Gut, gehen wir nach Boston! Oder nach Princeton? Eigentlich müßtest du nach Princeton. Einstein war auch in Princeton …«
»Du bist verrückt.«
»Natürlich«, sagte Britt. »Du nicht? Ist nicht alles verrückt, was uns passiert?«
Sie sprachen jetzt immer einen Satz deutsch Und einen Satz französisch, und sie lachten noch immer.
»Alles, ja«, sagte Panos. »Total verrückt.«
»Und heute ist Samstag.«
»Und heute ist Samstag. Und ich gehe jetzt zur Garage und bitte, daß man mir einen Wagen leiht«, sagte Panos. Mit den frischen Brioches für das Frühstück hatte er auch Lebensmittel gekauft. »Ich fahre nach Rambouillet und lasse mir zunächst mal deine Sachen geben. Inzwischen kochst du. Kannst du überhaupt kochen?«
»Ich weiß nicht. Man hat es mir in einem der feinsten Schweizer Internate beigebracht.«
»In zwei Stunden bin ich zurück, spätestens. Und dann …«
»Ja«, sagte Britt. »Und dann.«
Eine Lokomotive pfiff. Ununterbrochen ertönten jetzt Lautsprecherstimmen, man hörte das geheimnisvolle Raunen einer großen Menschenmenge und in kurzen Abständen die Schreie der Zeitungsverkäufer und der Männer mit den Erfrischungswägelchen auf den Perrons des Bahnhofs.
»Aber heute abend muß ich wieder fahren«, sagte Panos bekümmert.
»Morgen ist Sonntag«, sagte Britt. »Den ganzen Tag Sonntag.«
»Ich werde spät heimkommen heute«, sagte Panos. »Sehr spät. Da ist ein Mann, der immer mich haben will, wenn er nach Paris kommt.«
»Na hör mal!«
»Er spricht nicht französisch, und ich spreche französisch und deutsch. Er kommt geschäftlich her, immer wieder, alle acht Wochen. Immer wohnt er im ›Scribe‹. Immer kommt er zu einem Wochenende. Dann muß ich zu seiner Verfügung stehen, die ganze Samstagnacht, die ganze Sonntagnacht. Er benützt mich auch als Dolmetscher, verstehst du?«
»Was ist das für ein Mann?«
»Feiner Kerl. Hat eine Bar in Frankfurt. Kommt immer her, um im ›Crazy Horse‹ und all diesen Lokalen die neuesten Nummern anzusehen.«
»Strip-tease?«
»Ja. Was es da Neues gibt. Was die Mädchen sich da Neues ausgedacht haben. Er muß international sein, sagt er. Er engagiert die Mädchen. Oder er klaut ihre neuen Maschen. Netter Kerl. Sehr netter Kerl, gibt gute Trinkgelder, Minski heißt er …«
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»In den drei Koffern befinden sich alle Gegenstände, die Mademoiselle Rending gehören. Wären Sie auch nur eine halbe Stunde später gekommen, hätte ich das Gepäck schon der Polizei übergeben und alles ihr überlassen. Ich warte seit elf Uhr.«
Der Mann, der diese Worte sagte, war ein elegant gekleideter Zwerg mit grauem Haar, schwarzer Hornbrille und stark gerötetem Gesicht, wie es Gewohnheitstrinker besitzen. Der Mann sprach sehr schnell und scharf. Er stand in der Mitte der Bibliothek im Erdgeschoß des kaisergelb gestrichenen kleinen Schlosses der Familie Avignolle vor Rambouillet. Im Kamin brannte Feuer. Ein Stubenmädchen mit unbeweglichem Gesicht hatte Panos ins Haus gelassen und zur Bibliothek geführt. Hier war der Zwerg sogleich auf ihn losgeschossen und hatte zu toben begonnen, ehe Panos auch nur ein einziges Wort sagen konnte.
»Ich heiße Tissot. Jules Tissot. Anwalt.« Der kleine Mann riß eine französische Kennkarte hoch.
Jules Tissot … Plötzlich fiel Panos ein, wo er dieses Gnomengesicht schon gesehen hatte: auf Fotos in Zeitungen! Tissot — einer der ersten Anwälte von Paris. Seine Prozesse waren stets nur mit sensationellen Theaterpremieren zu vergleichen. Jules Tissot …
In der Bibliothek war es dämmrig. Bis zum Plafond verkleideten Bücherreihen die Wände, und gegen die Scheiben der hohen Fenster trieb der Wind starken Regen und nasse Blätter.
»Monsieur Tissot … aber wieso … und was heißt Polizei …«
Jules Tissot hatte sich in wenigen Sekunden ein — völlig richtiges — Bild von Panos Mitsotakis gemacht. Er war ein großer Menschenkenner und deshalb ein großer Menschenverächter. Er mußte schnell zum Ziel kommen, das wußte er. Terror und Aggression waren die geeigneten Mittel, einen jungen, unsicheren Menschen wie Panos in Panik zu versetzen. Das erkannte Tissot auch sogleich. Und handelte entsprechend. Er tippte Panos mit einem Finger grob vor die Brust.
»Ich rede. Sie haben meine Kennkarte gesehen. Wo ist Ihre?« Er hetzte: »Na? Wollen Sie vielleicht die Güte haben … oder besitzen Sie überhaupt keinen Ausweis?«
Tissots Methode hatte Erfolg.
Verwirrt und erschrocken holte Panos seinen Paß hervor.
Menschen, dachte Tissot. Danach dachte er an sein Honorar …
Er öffnete den Paß und grunzte übertrieben verächtlich.
»Auch Ausländer, aha. Befristete Aufenthaltsgenehmigung. Was treiben Sie in Paris?«
»Ich studiere an der Sorbonne. Wollen Sie mir endlich …«
»Sie wissen natürlich, wo sich …« — Tissot machte eine Geste der Abscheu — »… die junge Frau befindet.«
»Ich kam nachts hier mit meinem Taxi vorbei und sah …«
»Taxi? Sie fahren ein Taxi?« (Nicht lockerlassen.)
»Ja.«
»Natürlich haben Sie die Erlaubnis dazu.«
»Hören Sie, Monsieur, ich …«
»Schweigen Sie. Danken Sie Gott, wenn diese Sache für Sie ohne Folgen bleibt.«
Panos stammelte: »Folgen? Wenn das, was hier passiert ist, Folgen hat, dann für Madame Avignolle!«
Der kleine Anwalt nahm die Brille ab, putzte sie und kniff die rotgeränderten Augen zusammen. Der Knabe wehrte sich — auch, aber nur stammelnd, dachte Tissot.
»Sagen Sie das noch einmal!« bat Tissot leise.
»Sie haben es gehört. Wo ist Madame Avignolle?«
»Verreist.«
»Das ist nicht wahr!«
»Junger Mann, ich warne Sie zum letztenmal. Diese kleine deutsche Dirne …«
Panos balle die Fäuste.
»Das hätten Sie nicht sagen sollen. Ich erstatte jetzt Anzeige.«
»Habe ich schon getan«, sagte Tissot gelassen und setzte seine Brille wieder auf. Das Holzfeuer prasselte im Kamin. Panos fror plötzlich. Der Anwalt bemerkte es zufrieden.
»Was haben Sie getan …?«
»Namens meiner Klientin Madame Avignolle habe ich bereits Anzeige gegen diese … gegen Mademoiselle Rending erstattet. Hier in Rambouillet und bei der Fremdenpolizei in Paris, nachts noch. Die junge Frau hat die Gastfreundschaft meiner Klientin wahrlich schlecht gelohnt … nun, ein pathologischer Fall, sie kann nichts dafür … Aber so etwas müssen wir ja nicht unbedingt in Frankreich haben, wie?« Der Anwalt stieß Panos wieder einen dicken Zeigefinger vor die Brust. »Sie halten sich aus dieser Sache heraus. Andernfalls setze ich ebenso schnell durch, daß auch Sie Frankreich binnen achtundvierzig Stunden zu verlassen haben.«
»Daß ich … was?«
»Wie Sie das der Sorbonne oder irgendeiner anderen Universität erklären wollen, weiß ich allerdings nicht.«
»Sie haben ersucht, Mademoiselle Rending abzuschieben?«
»Dem Ersuchen wurde heute früh bereits stattgegeben. In derart eklatanten Fällen des Mißbrauchs unserer Gastfreundschaft arbeitet die Polizei sehr schnell. Sie werden mir sagen, wo Sie wohnen und wo die junge Frau sich aufhält — vermutlich bei Ihnen —, dann bringt der Gendarm, der in der Küche wartet, Sie nach Paris zum Quai des Orfèvres, zur Fremdenpolizei. Ein Kriminalbeamter mit dem Ausweisungsbefehl wird Sie begleiten und dafür sorgen, daß das Fräulein« — das letzte Wort sagte er deutsch — »den Befehl auch erhält. Danach hat sie achtundvierzig Stunden Zeit, aus Frankreich zu verschwinden. Ist sie nach Ablauf dieser Frist noch nicht aus dem Lande, wird man sie ausschreiben, aufgreifen und zwangsweise abschieben.« Der Zwerg holte Luft, aber Panos kam dennoch nicht dazu, etwas zu sagen. Tissot sprach immer schneller, es klang wie das Rattern eines Maschinengewehrs. »Halten Sie den Mund! Ich habe nichts gegen Sie, Monsieur …« Wiederum klopfte der dicke Zeigefinger gegen Panos’ Brust. »Noch nichts! Ich billige Ihnen sogar guten Glauben zu. Ich rate deshalb: Lassen Sie die Finger von dieser … dieser …«
»Hören Sie, Mademoiselle Rending ist die Tochter eines der geachtetsten und reichsten Männer Deutschlands!«
»Was soll das?« kläffte Tissot. »Eine Drohung?«
»Ich …«
»Antworten Sie! Sollte das eine plumpe Drohung sein?«
»Nein … ich … natürlich nicht … aber …«
Es geht noch leichter, als ich dachte, überlegte Tissot, während er Panos stottern ließ. Der griff sich zuletzt an den Kopf.
»Wovon reden Sie eigentlich? Was ist hier los?«
Also denn, dachte Tissot. Wollen wir es dem Knaben gleich ordentlich geben. Ein Ausländer auch er … so was von Glück!
»Der Vater hat mein Mitgefühl. Niemand kann sich seine Kinder aussuchen, gewiß. Aber was sich seine Tochter heute nacht hier in volltrunkenem Zustande geleistet hat, war derart widerwärtig, daß der Beamte, den ich auf den Anruf von Madame Avignolle hin informierte …«
»Britt war nicht betrunken!« schrie Panos. »Sie war nicht die Spur betrunken! Und wenn sich hier jemand etwas geleistet hat, dann …«
Der Zeigefinger des Anwalts stieß so kräftig zu, daß Panos zurücktaumelte. Tissot sagte eisig: »Noch einmal werden Sie hier nicht schreien, verstanden? Das Fräulein war sinnlos betrunken. In diesem Zustand molestierte sie Madame Avignolle, die bereits im Bett lag, in einer Weise, die …«
»Aber das ist doch nicht wahr!«
»Nicht wahr? Auf Hilferufe von Madame Avignolle hin erwachte das ganze Haus — eine Freundin Madames, die Comtesse de la Tournière, der Gärtner, die Köchin, das Stubenmädchen. Sie alle haben eidesstattliche Erklärungen abgegeben, die mit der Erklärung von Madame Avignolle übereinstimmen. Die Polizei ist bereits im Besitz dieser Aussagen. Es sind eidesstattliche Aussagen von lauter Franzosen … hrm.«
»Diese Leuten konnten doch unmöglich aussagen, daß …«
Tissot ging zu einem Telefon, das auf einem Bücherbord stand.
»Ich habe jetzt genug von Ihnen. Zwei Ausländer versuchen eine kleine Erpressung, wie? Ich dachte mir fast so etwas. Da ist es am besten, der Fremdenpolizei auch gleich Sie zu empfehlen …«
Panos’ Gedanken wirbelten.
Eidesstattliche Erklärungen. Ein Anwalt wie Tissot. Lauter Franzosen. Mein Studium. Britts Ausweisung schon angeordnet. Ich bin als nächster an der Reihe. Das darf nicht sein. Zeit. Ich muß jetzt Zeit gewinnen. Dann wird man sehen, ob sich noch etwas machen läßt. Nur nicht die Fremdenpolizei. Nur nicht …
Jules Tissot wählte bereits.
»Bitte, legen Sie den Hörer hin«, sagte Panos leise.
Tissot drehte sich um und musterte den jungen Griechen mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Sie werden vernünftig, eh?«
»Ja«, sagte Panos, »ich werde vernünftig.«
»In letzter Minute … aber immerhin. Ich nehme an, daß Ihnen einfiel, welche Rolle die Familie Avignolle in der französischen Gesellschaft spielt. Auch von der Comtesse de la Tournière haben Sie natürlich bereits gehört. Es wird Sie interessieren zu erfahren, was Sie vielleicht noch nicht wissen: Der Vater der Comtesse ist der bekannte Bankier, sein Bruder avanciert eben wieder einmal im Justizministerium … eine steile Karriere …«
Panos setzte sich auf einen der drei großen Koffer.
»Was haben Sie?«
»Mir ist zum Kotzen.«
»Das kann ich durchaus begreifen«, sagte Tissot grimmig.
»Rufen Sie den Gendarm, der mit mir nach Paris fahren soll.«
»Das ist sehr klug von Ihnen, mein Freund.« Der Anwalt legte Panos eine Hand auf die Schulter. Nun, da dieser saß, war ihm das möglich.
»Ich bin nicht Ihr Freund«, sagte Panos Mitsotakis. »Und nehmen Sie bitte Ihre Hand weg.«
Jules Tissot gehorchte lächelnd.
Fiat justitia, dachte er. Es ist wirklich etwas Erhabenes um die Gerechtigkeit.
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Boris Minski war nicht der krankhafte Typ des Geizhalses, sondern der ökonomische. Wie es in unserem Büro aussah, war ihm egal. Wenn ich ihm sagte, daß wir neue Möbel brauchten, einen Tapezierer, eine andere Entlüftungsanlage, schaute er mich groß an und fragte verständnislos: »Für was?« Ich bewohnte die erste Etage eines alten, schönen Hauses in der stillen Humperdinckstraße am Park Luisa. Die Miete war gar nicht hoch, wenn man bedachte, in welcher guten Lage sich die Wohnung (mit Balkon, Garage, Ölheizung und dem Recht auf Gartenbenutzung) befand. Boris wohnte in zwei Untermietzimmern, wie man sie manchmal in Alpträumen sieht. Seine Wirtin war eine biedere Offizierswitwe, die glaubte, Minski sei Kellner in einem Nachtlokal. Vor ein paar Jahren wurde in der Villa am Park Luisa die zweite Etage frei. Ich sagte Minski, er solle sie doch mieten. »Für was?« fragte Minski.
Er hatte kein Auto, aber drei Smokings und eine ausgezeichnete Garderobe. Er besuchte nur einen der ersten Friseure der Stadt, wickelte seine Geschäfte in der Bar eines der besten Hotels von Frankhirt ab, und wenn er verreiste, dann nur erster Klasse — in Eisenbahn, Schlafwagen oder Flugzeug, dann wohnte er nur in guten Hotels und machte hohe Spesen. Ich hielt mich einmal über eine seiner Reisespesenabrechnungen auf, die er zu den Steuerbelegen warf. »Repräsentieren«, sagte Minski, »man muß repräsentieren. Gehört zum Geschäft. Ist ein Bumerang. Kommt alles wieder zurück.«
Wenn Minski nach Paris fuhr, um neue Attraktionen zu suchen, wohnte er stets im »Scribe«, gab große Trinkgelder und war darum beliebt in allen Nachtlokalen, die er abgraste. Das Wochenende des 2. Oktober 1965 verbrachte er wieder in Paris.
Am Morgen des 3. Oktober, gegen neun Uhr, stieg ein Fräulein Britt Rending, elegant gekleidet und mit der Sicherheit, die angeborener Reichtum verleiht, im »Scribe« ab. Gegen elf Uhr rief sie Minski auf seinem Zimmer an, nannte ihren Namen und sagte, sie müsse ihn dringend sprechen. Er möge zu ihr kommen.
»In zehn Minuten bin ich bei Ihnen«, sagte Minski.
Als er erschien, trug er einen dunkelgrauen Seiden-Mohairanzug, ein weißes Seidenhemd mit Monogramm und eine grausilbern gestreifte Krawatte mit einer Perle, die genau auf einem grauen Streifen saß. Britt trug ein flammendrotes Negligé aus Crêpe Georgette mit roten Spitzen, darunter einen roten Büstenhalter und ein rotes Höschen sowie hochhackige rote, seidene Pantöffelchen mit roten Marabufedern. Sie war sehr geschminkt.
Minski sagte: »Sie sind das Fräulein Rending, von dem mein Taxichauffeur …«
»Ja«, sagte Britt. »Nehmen Sie Platz, Herr Minski.«
»Weiß Panos …«
»Nein«, sagte Britt. Ihre Stimme klang hart und entschlossen.
Minski stand hastig wieder auf.
»Warten Sie doch! Panos schläft. Er war die ganze Nacht mit Ihnen unterwegs und kam erst gegen sieben Uhr heim. Er war sehr müde.«
»Ich bin auch noch sehr müde«, sagte Minski. »Panos hat mir erzählt, was Ihnen passiert ist.«
»Ich muß heute noch Frankreich verlassen.«
»Panos will unbedingt Anzeige gegen diese Frau da in … Sie wissen schon wo, erstatten. Er will, daß Sie bei ihm bleiben. Er will …«
»Ich weiß, was er will«, sagte Britt. »Darum ging ich weg, als er schlief. Einen Cognac?« Sie holte eine Flasche Hennessy aus dem nur halb ausgepackten Koffer, der in einer Ecke des Raumes, nahe der Badezimmertür, stand.
»Ich trinke nie Alkohol, danke.«
»Aber ich. Jetzt zum Beispiel«, sagte Britt, öffnete die Flasche und goß ein Glas, das neben einer Karaffe auf einer Kommode stand, fast halb voll.
Minski betrachtete sie neugierig.
»Zum Wohl«, sagte er.
»Danke.« Britt trank einen großen Schluck. »Ich habe die Flasche gestern nachmittag gekauft. Ich dachte, daß ich sie heute brauchen würde. Die Sachen auch.«
»Welche Sachen?«
»Die ich anhabe. Es gibt da wunderschöne Läden, wo man die tollsten Sachen kaufen kann. Ich habe gewartet, bis Panos zu Ihnen gefahren war, dann bin ich einkaufen gegangen. Hübsch, nicht?«
»Sehr hübsch.« Minski verneigte sich im Sitzen.
Sachlich konstatierte Britt: »Ich gebe auf … gegen diese Avignolles und diese de la Tournières und diesen Staatsanwalt.«
»Würde ich nicht unbedingt tun«, meinte Minski, der Britt dauernd betrachtete. »Es gibt eine Deutsche Botschaft hier. Die Polizei müßte Ihre Version hören. So einfach, wissen Sie, geht das auch nicht.«
»Mit manchen Leuten schon«, sagte Britt. »Mit Leuten wie Panos oder wie mir, zum Beispiel. Der Anwalt hat es gleich erkannt.«
»Das stimmt vielleicht für Panos. Aber Sie …«
»Bei mir stimmt es auch«, sagte Britt. »Ich habe nämlich nicht die Absicht, Panos Schwierigkeiten zu machen. Er ist ein so guter Junge, nicht wahr?«
»Ein sehr guter Junge!« Minski beobachtete Britt aufmerksam. »Braver Kerl. Und so begabt, hör ich.«
»Darum bin ich weggegangen, als er noch schlief. Er muß in Ruhe gelassen werden. Vollkommen in Ruhe. Er muß weiterstudieren. Das ist das Allerwichtigste.«
»Verliebt?« fragte Minski.
»Was ist das?« fragte Britt. Sie trank wieder. »Also, Sie haben noch nichts für Ihr Lokal gefunden.«
»Nein«, sagte Minski, den Britt mehr und mehr interessierte. »Nur eine Amerikanerin im ›Chat Noir‹.«
»Die es mit der langen Zigarettenspitze macht«, sagte Britt. »Panos hat mir davon erzählt, aber die Amerikanerin ist ausgebucht bis achtundsechzig, nicht?«
»Leider.«
»Ich bin volljährig. Können Sie mich engagieren?«
»Darüber denke ich die ganze Zeit nach«, antwortete Minski ernst. »Ob ich kann, meine ich.«
»Sie haben angenommen, daß ich zu Ihnen kommen will?«
»Entschuldigen Sie … nach so einem Empfang? Nach allem, was Panos mir über Sie und Ihren Vater erzählt hat?«
»Natürlich. Und?«
»Der Vater«, sagte Minski. »Das Problem ist der Vater. Natürlich wären Sie für mich als Tochter eines so bekannten Vaters interessanter als andere. Viel interessanter! Aber auch viel gefährlicher! Ich darf nicht riskieren, daß Ihr Vater mir Schwierigkeiten macht, Anzeige erstattet …«
»Das alles wird er niemals tun«, sagte Britt. »Sonst wäre ich doch überhaupt nicht hergekommen.«
Minski nickte zustimmend. Er sagte: »Sie wissen also genau, daß Ihr Vater uns nichts tun kann, wenn Sie zu mir kommen und auftreten.«
»Das weiß ich ganz genau.«
»Ganz genau — die Voraussetzung«, sagte Minski. »Ihre Eltern haben bei der Heirat einen Ehevertrag geschlossen. Psst … lassen Sie mal mich reden. Panos hat mir davon erzählt. Und ich hab mir was ausgerechnet, als Sie hier auftauchten. Also, in dem Vertrag heißt es, daß Ihr Vater die Fabriken und allen Besitz verliert, wenn er schuldig geschieden wird oder wenn ihm auch nur in einem einzigen Fall Ehebruch nachgewiesen werden kann. Hab ich das richtig in Erinnerung?«
Britt setzte sich. »Völlig richtig.« Jetzt sah sie Minski gespannt an.
»Muß aber noch was in dem Ehevertrag stehen. Das allein würde nicht genügen. Steht noch was drin, wie?«
»Ja.«
»Natürlich. Kann man sich ja ausrechnen. Was steht noch drin?«
Britt sagte: »Ich kann die beiden Paragraphen auswendig. Erstens: Wenn der Ehegatte während der Ehe Ehebruch begeht, ihm dieser nachgewiesen werden kann und die Ehe aus diesem Grunde geschieden wird, fällt der gesamte von der Ehefrau in die Ehe eingebrachte Besitz in der dann bestehenden Form an diese zurück. Der Ehegatte hat keinen Anspruch auf seine Pflichtanteile.« Minski nickte. »Zweitens«, fuhr Britt fort, »heißt es: Das gleiche gilt, wenn ein gleichartiger Tatbestand vorliegt, für jeden denkbaren Zeitpunkt der Aufdeckung, also gleichgültig, wann er bekannt wird, und sei es auch nach dem Tode der Ehefrau. Auch für diesen Fall verzichtet der Ehegatte auf Pflichtteilansprüche. Das ist der wichtigste Paragraph.«
»Ja«, sagte Minski, »das ist der wichtige. Und er lautet bestimmt so?«
»Ganz bestimmt.«
»Hm. Ihre Mutter ist tot. Ihr Vater ist nicht schuldig geschieden worden. Aber er hat in zahlreichen Fällen zu Lebzeiten Ihrer Frau Mutter die Ehe gebrochen. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Unter anderm mit der Dame, die nun seine Frau ist«, fuhr Minski fort, die Spitzen der Finger gegeneinander legend. »Ihre Frau Mutter hat das gewußt. Sie hat Ihnen davon erzählt. Sie hat Ihnen erzählt, daß sie ihre Informationen von einem Privatdetektiv erhält. Dieser Detektiv hat Berichte und Fotos geliefert und Zeugen benannt. Alle Unterlagen hat Ihre Frau Mutter knapp vor ihrem Tod Ihnen gegeben und …«
»Woher wissen Sie das?«
»Kann man sich ausrechnen. Wenn Sie die belastenden Unterlagen nicht hätten, säßen Sie auch nicht hier.«
»Sie sind unheimlich«, sagte Britt.
»Unheimlich, ach Gott«, sagte Minski. »Wo sind die Unterlagen?«
»In einem Banksafe in Hamburg … Mein Vater weiß nichts davon.«
»Natürlich nicht.«
»Wieso natürlich nicht?«
»Weil er Sie sonst nie so behandelt hätte, wie er es getan hat. Wenn Sie also vor Gericht gehen und die Unterlagen vorweisen und Ihre Zeugen und den Detektiv aufmarschieren lassen, und so weiter, und so weiter, dann können Sie beweisen, daß Ihr Vater die Ehe mit seiner ersten Frau gebrochen hat und damit den Heiratsvertrag. Und dann ist er die Fabriken und alles andere los. Ich glaube jedenfalls, daß die Rechtsprechung so entscheidet.«
»Sie tut es«, sagte Britt. »Ich habe mich erkundigt, x-mal, seien Sie beruhigt.«
»Ich werde erst beruhigt sein, wenn mein Anwalt sagt, daß es so ist«, erklärte Minski. »Ihre Idee war also: Sie lassen den Vater jetzt wissen, was Sie gegen ihn in der Hand haben … und so kann er Ihnen nichts tun, denn wenn er etwas tut, gehen Sie mit dem Material vor Gericht, und er ist von heute auf morgen ein armer Mann.«
»Genauso habe ich mir das vorgestellt.«
»Auf diese Weise hätten Sie sich doch schon längst rächen können! Warum haben Sie es nicht getan? Warum wollen Sie es auch jetzt nicht tun, sondern nur erreichen, daß Ihr Vater schweigt zu allem, was Sie anstellen?«
Britt sagte heiser: »Weil er mit einem solchen Prozeß allein nie zu ruinieren wäre. Er käme wieder auf die Beine! Seine feinen Freunde wußten doch von seinen Verhältnissen. Taten sie etwas? Schnitten sie ihn? Verachten sie ihn? Keine Spur!« Britts Wangen wurden hektisch rot, ihre Bewegungen fahrig. »Die sogenannte gute Gesellschaft würde ihm helfen, denn er gehört doch zu ihr! Wenn es sich aber mehr und mehr herumspricht, was seine Tochter macht — und was er schweigend duldet —, dann wird er eines Tages einfach untragbar geworden sein für die gute Gesellschaft. Dann wird ihn keiner mehr unterstützen, keiner wird ihm mehr helfen …«
»Sie trinken zuviel«, sagte Minski.
»… dann wird man sich von meinem Vater abwenden und ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. Dann erst, dann erst ist er völlig erledigt, wenn ich zu Gericht gehe! Dann erst habe ich erreicht, was ich will! Ich habe so lange darüber nachgedacht, in welche Situation ich meinen Vater bringen muß, um ihn wirklich zu ruinieren. Es fiel mir nichts ein. Bis gestern. Bis ich von Ihnen hörte! Da war mir plötzlich klar: Jetzt ist es soweit! Jetzt ist es soweit!« Britts blaue Augen waren fast schwarz geworden. Ihre Brüste hoben und senkten sich hastig. »Es kommen doch Leute von überallher zu Ihnen, wie?«
Minski nickte, halb betrübt, halb fasziniert.
»Auch aus Hamburg natürlich.«
»Natürlich …«
»Also! Die werden mich sehen. Und reden. Reden! Mein Vater? Der wird schweigen. Schweigen müssen! Die Unterlagen kann ich Ihnen sofort zeigen, wenn ich in Deutschland bin. Sie haben nichts mit der Erpressung zu tun. Ich werde Herrn Rending mitteilen, was ich mache und wo ich bin und was ich gegen ihn in der Hand habe.«
»Zuerst muß mein Anwalt …«
»Ihr Anwalt wird dasselbe sagen wie meiner. Hamburg ist eine so vornehme Stadt. Mein Vater hat nicht nur Freunde! Wenn ich immer weitermache und er nichts unternimmt, dann muß die gute Gesellschaft ihn schneiden, dann muß … warum sehen Sie mich so an?«
»Ich glaube, ich hab immer noch nicht wirklich gewußt, wie groß Haß sein kann«, sagte Minski.
»Jetzt wissen Sie es«, sagte Britt. »Ich weiß es seit vielen Jahren. Seit ich ein Kind war! Ich bin schön — finden Sie nicht? Was dieses Mädchen im ›Chat Noir‹ kann, kann ich sicherlich auch. Haben Sie eine Zigarettenspitze?«
»Ich … ich rauche nie …«
Britt ging zu einem Leuchter und nahm eine Kerze. Danach zog sie sich aus.
»Die Tür …«
»Habe ich abgeschlossen, als Sie hereinkamen. Wo darf ich … vorsprechen?«
»Auf dem Teppich«, sagte Minski, sein Kinn reibend.
Eine Viertelstunde später saß Britt ihm, wieder im Negligé, gegenüber.
»Also?«
»Also«, sagte Minski, »zuerst muß mein Anwalt — ein paar Anwälte müssen! — mir sagen, daß Ihr Vater wirklich den Prozeß verlieren würde. Wenn es so ist, hält er auch den Mund, davon bin ich überzeugt. Aber das hat felsenfest zu stehen.«
»Ich muß hier fort!«
»Ich sag ja nicht, daß Sie hierbleiben sollen. Nur, solange ich nicht grünes Licht von den Anwälten hab, kann ich nicht mit Ihnen anfangen, kapiert?«
»Sie werden sehr schnell grünes Licht haben.«
»Hoffentlich.«
»Und Sie müssen keine Skrupel haben, Herr Minski.«
»Skrupel? Jetzt, wo Sie auf die Idee gekommen sind, würden Sie so was doch auf jeden Fall tun — wenn nicht bei mir, dann bei der Konkurrenz!«
»Bestimmt!«
»Also dann natürlich bei mir! Weiter: Sie waren nicht schlecht … hm, nein, gar nicht schlecht … Sie können sich bewegen …«
»Ich erhielt im Internat auch Ballettunterricht«, sagte Britt und lachte.
»Trotzdem … das genügt nicht … Sie werden noch lernen müssen, schwer arbeiten.«
»Mit Freuden.«
»Drittens: Vor mir allein in einem Hotelzimmer ist so etwas anders als in einem Lokal vor vielen Menschen. Sehr die Frage, ob es dort auch gehen wird!«
»Ich will dabei stets an meinen lieben Vater und meine liebe Stiefmutter denken, dann wird es auch vor noch so vielen Leuten gehen. Angenommen also, Ihre Anwälte sagen okay, und ich lerne gut. Wieviel zahlen Sie? Geld ist mir im allgemeinen gleich, aber ich werde bis auf weiteres kaum mit Schecks meines Vaters rechnen können, und ich muß ja schließlich leben.«
»Langsam«, sagte Minski, »langsam. Viertens muß ich sehen, ob wir Sie wirklich groß aufbauen können.«
»Wer ist wir?«
»Ich und Ritchie Mark, mein Partner.«
»Richard Mark?«
»Ja, so heißt er.«
»Es gibt einen Schriftsteller, der heißt Richard Mark!«
»Nein, Werner heißt er. Das ist der Schriftsteller«, sagte Minski schnell. »Der große Schriftsteller. Werner Mark, den meinen Sie, den Bruder von Ritchie.«
Britt sah ihn verwundert an. »Ich meine nicht seinen Bruder Werner! Natürlich kenne ich den auch. Ich habe paar Bücher von ihm gelesen … aber der Roman, an den ich denke, heißt ›Steh still, Jordan!‹, und der ist von Richard Mark. Den hat er geschrieben, Ihr Ritchie!«
Minski nickte verlegen.
»Na also! Meine Mutter hat mir den Roman geschenkt — es ist schon lange her …«
»Es ist auch schon lange her, daß Ritchie einen Roman geschrieben hat.«
Minski zerrte an seinem Kragen.
»Was haben Sie?«
»Nichts. Warum?«
»Sie sind nervös.«
»Überhaupt nicht.«
»Natürlich nicht.« Britt runzelte die Stirn. »Warum schreibt Richard Mark nicht mehr?«
»Warum wollen Sie bei mir Strip-tease machen?« fragte Minski.
»Ach!« sagte Britt Rending. »Er hat auch einen Grund, ja? Einen so guten Grund wie ich?«
»Mindestens einen so guten«, antwortete Minski.
»Ich glaube, ich werde mich mit Ihrem Partner ausgezeichnet verstehen«, sagte Britt Rending.
Minski hob die Hand. »Moment! Also gut, die Anwälte sagen ja — dann bin ich bereit, Sie ausbilden zu lassen. Ich bin bereit, die Ausbildung und Ihren Lebensunterhalt zu bezahlen. Natürlich werden Sie in einer Pension wohnen und nicht im Frankfurter Hof …«
»Das ist mir egal.«
»Wenn wir sehen, ob Sie wirklich etwas taugen, reden wir über den Vertrag. Vergessen Sie nicht: Sie haben es eiliger als ich. Also: ja oder nein?«
»Natürlich ja!«
Boris stand auf.
»Ich fliege erst morgen zurück. Wann wollen Sie weg?«
»So schnell wie möglich.«
»Gut.« Minski ging zur Tür.
»Was ist?« fragte Britt verblüfft.
»Was soll sein?«
Britt sah zum Bett, dann zu Minski.
»Ich dachte, es sei üblich, daß …«
»Bei mir nicht«, sagte Minski.
»Sind Sie krank?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich hab eine Frau …«
»Und …?«
»Und die ist krank«, sagte Minski. »Und ich bin abergläubisch.«
Britt Rending biß sich auf die Lippe. Dann trank sie ihr Glas leer und sah zum Fenster. Es regnete immer noch.
»Wie lange ist Ihre Frau krank?«
»Oh … viele Jahre. Aber es geht ihr schon enorm besser!«
»Und … und … und trotz der vielen Jahre haben Sie nie …«
»Selten«, sagte Minski. »Sehr selten. Nur wenn ich unbedingt … ein Mann ist manchmal …«
»Aber Sie sagen sehr selten.«
»Ich bin gräßlich abergläubisch, wissen Sie.«
»Ihre Frau wird bestimmt wieder ganz gesund werden«, sagte Britt.
»Gott soll nur geben«, sagte Minski, »daß sie nicht kränker wird. So bin ich schon zufrieden.« Er hatte es eilig, fortzukommen. »Ich buch also einen Platz für die nächste Maschine nach Frankfurt, die Sie noch erreichen können. Und ich ruf sofort Ritchie an, damit er Sie am Flughafen abholt. Warten Sie, bis er Sie ausrufen läßt. Er wird beim Informationsschalter sein.«
»Ich danke Ihnen, Herr Minski«, sagte Britt. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Das wissen Sie doch noch gar nicht«, sagte Minski.
»Ich weiß es schon jetzt genau. Danke.«
Minsk: fragte: »Und was wird mit Panos?«
»Dem habe ich einen Brief geschrieben«, antwortete Britt Rending und blickte wieder in den Herbstregen und auf den verlassenen Boulevard de la Madeleine hinaus.
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»Mein Liebster,
jetzt schläfst Du tief. Jetzt kann ich gehen. Zu Herrn Minski. Sei nicht böse, und fahre weiter für Herrn Minski, er gibt doch so gute Trinkgelder. Hast Du erzählt. Und er kann nichts dafür.
Ich werde bei Herrn Minski arbeiten. Er weiß es noch nicht, aber sicherlich nimmt er mich. Ich schreibe Dir aus Frankfurt. Sofort. Ich hätte auf jeden Fall weg müssen. Du mußt weiterstudieren. Natürlich kannst Du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben. Aber ich bekomme nie mehr eine solche Chance, meinen Vater zu treffen, meine Mutter zu rächen. Du wirst das nicht verstehen. Sag Dir, ich sei eben verrückt, eine verrückte boche. Nein, keinesfalls kannst Du jetzt noch etwas mit mir zu tun haben. Aber schreiben könntest Du mir. Bitte Panos! Ich werde Dir viele Briefe schreiben. Es hätte doch ganz hübsch werden können mit uns, nicht?
Meine Adresse wird in meinem ersten Brief stehen. Schreib bitte wirklich. Manchmal. Damit vergibst Du Dir nichts. Und ich wäre so froh. Ich danke Dir für — ich weiß nicht, wofür — für alles.
Werde ein großer und guter Mann, Panos. Ich habe noch nie für jemanden gebetet, immer nur für meine Mutter. Jetzt werde ich es auch für Dich tun. Ich umarme Dich. Britt.
P. S. Den Zettel mit dem Ausspruch von Einstein habe ich mitgenommen. Das ist kein großer Diebstahl, oder? Du kannst den Satz noch einmal aufschreiben, Du kannst Griechisch. Ich nicht. Und Griechisch sieht so schön aus.«
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Panos Mitsotakis ließ den Brief sinken. Es war fast sechzehn Uhr, und er saß in seinem alten Pyjama vor dem vollgeräumten Arbeitstisch, auf dem er den Brief gefunden hatte. Nun peitschte Sturm den Regen gegen das Fenster. Panos saß reglos. Zuerst dachte er: Das ist schlimm. Das hätte sie nicht tun sollen. Es tut weh. Komisch. Es hat noch nie weh getan — bei keinem Mädchen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich diesen Minski noch einmal fahre! Natürlich erreiche ich sie nicht mehr, bestimmt ist sie schon in Deutschland …
Er kochte Kaffee auf seinem Bidet-Rechaud, schlürfte die heiße, bittere Flüssigkeit — er nahm nie Zucker, um zu sparen —, und da war es zwanzig Minuten später, und Panos Mitsotakis dachte so: Warum soll ich diesen Minski eigentlich nicht fahren? Er gibt wirklich gute Trinkgelder. Und er kann wirklich nichts dafür. Deutsche Weiber. Haben ihren Ruf schon zu Recht. Als ich Britt zwei Stunden kannte, lag ich schon mit ihr im Bett. Ihre Geschichte? Alles erlogen vielleicht. Was sie über Rambouillet erzählt hat? Vielleicht genauso erlogen. Dieser Anwalt hat möglicherweise die Wahrheit gesagt — und Britt gelogen! Den Zettel mit dem Ausspruch von Einstein — tatsächlich, sie hat ihn mitgenommen. Kleine Hure. Große Hure. Ein Segen, daß alles so gekommen ist! War doch wahrhaftig im Begriff, mich zu verlieben. Hatte doch wirklich die verrückte Idee, ihr zu helfen, zu Gericht zu laufen. Und dann? Ich wäre von der Sorbonne geflogen! Meine arme Mutter! Bevor ich Minski abhole, muß ich ihr noch schreiben. Ich schreibe ihr doch jeden Sonntag. Britt? Verflucht will ich sein, wenn ich ihr auch nur ein einziges Mal schreibe, wenn ich einen einzigen ihrer Briefe auch nur lese. Aber sie wird ja auch gar nicht schreiben …
Panos Mitsotakis’ Blick fiel auf ein geöffnetes Buch, das vor ihm lag, und während er langsam den bitteren Kaffee schlürfte, während der Sturm an dem Fenster rüttelte und das Licht verfiel, dachte und las er zugleich.
… es läßt sich nun nicht verkennen, daß die bisher geschilderte Durchführung der Idee, das Elektron im Atom als Welle aufzufassen, unzureichend ist. Eine Nymphomanin. De Broglie betrieb eigentlich noch Strahlenoptik, er ließ diese Wellen als gekrümmte Strahlen an Kreisen entlanglaufen, gekrümmt durch die Kraft — vielleicht ist sie frigid, das würde manches erklären —, die der elektrisch geladene Kern auf die Ladung ausübt. Aber sie ist schön. So schön. Und ich dachte wirklich zuerst … Das aber ist noch keine wahre Wellenmechanik. Die »Strahlenmechanik«, die mit Korpuskeln arbeitet, ich werde sie vergessen, ganz schnell, diese hochherrschaftliche Nutte, wenn sie hochherrschaftlich ist. Was längs Strahlen fortschreitet, wäre im Atomaren vielmehr durch eine Welle zu ersetzen, die, ohne daß man von Strahlen noch sprechen kann, im ganzen Raum, der den Kern umgibt, ausgebreitet ist. Was heißt, ich werde sie vergessen? Ich habe sie schon vergessen. Ich weiß schon überhaupt nicht mehr, wie sie aussieht. Die Frequenz dieser Wellen …
Panos legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Wenn es nur nicht so weh täte, dachte er.
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Britt Rending flog nach Hamburg und holte alle Dokumente aus ihrem Banksafe. Minskis Anwalt und noch zwei andere prüften die Schriftstücke genau. Auch wenn Britt erst jetzt oder noch später einen Prozeß gegen den Vater anstrengte, mußte sie ihn gewinnen, sagten die Anwälte.
Britt schrieb nun dem Vater — ausführlich.
Zurück kam ein jammervoller Brief, ihn doch nicht zugrunde zu richten, ihm doch endlich seinen Frieden zu lassen. Der Brief überzeugte nicht nur uns, sondern auch die Anwälte davon, daß Rending nichts unternehmen würde, um ein Auftreten seiner Tochter zu verhindern. Thomas Rending sah voll Bangen einer dunklen Zukunft entgegen …
Nun ließ Minski das Mädchen von zwei erfahrenen Stripperinnen unterrichten. Sie arbeiteten viel und angestrengt. Britt war ehrgeizig. In den ersten vier Wochen, die sie in Frankfurt verbrachte, schrieb sie fünf Briefe an Panos Mitsotakis, dann gab sie es auf, denn die Briefe kamen allesamt ungeöffnet mit dem Stempelvermerk ANNAHME VERWEIGERT zu ihr zurück. Britt war unglücklich darüber. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber am Abend, wenn sie mit mir zusammen in unserem Büro hinter dem Spiegelzimmer saß, in dem sich ein anderes Mädchen produzierte, das Britt genau beobachten sollte, an vielen solchen Abenden, die ich mit ihr verbrachte, war sie doch deprimiert und trank. Ich ließ sie trinken und paßte nur auf, daß das nicht ausartete, damit sie fit für das Training blieb.
In jenen Nächten erzählte Britt mir von sich, und ich erzählte ihr von mir. Sie wollte natürlich wissen, warum ich seit so vielen Jahren kein Buch mehr geschrieben hatte und statt dessen mit Minski das »Strip« führte, und sie wollte alles über meinen Bruder Werner wissen und alles über Lillian Lombard und überhaupt alles über mein Leben. Ich erzählte ihr nicht alles, aber sie wußte zuletzt, als wir sie fest engagiert hatten, eine Menge.
Sie dachte immer noch an Panos. Sie war so allein. Weil sie so allein war, klammerte sie sich an mich. Sie tat mir leid. Ich besorgte ihr ein kleines Apartment in einem Neubau an der Borkheimer Landstraße, ich führte sie aus, wir gingen essen, tanzen, ins Kino. Ein paarmal schliefen wir miteinander, denn gerade da hatte ich eine Zeit, in der auch ich mich elend fühlte.
Natürlich sind solche Gemütszustände nicht die Grundlage für eine glückliche Liebe. Es wurde auch keine. Wir gaben die Schlaferei wieder auf und wurden gute Freunde. Arme Britt, sie hatte kein Glück mit Männern!
Sie fing an, mich zu verehren, weil ich einmal Bücher geschrieben hatte, und heute weiß ich, daß diese Verehrung sie eifersüchtig werden ließ — eifersüchtig auf jede Frau, die ich kannte, vor allem aber auf Lillian, auf Lillian Lombard, der Britt die Schuld an allem gab, was in meinem Leben geschehen war, ihr allein. Sie haßte Lillian Lombard zuletzt sehr. Arme Britt …
Ihre Nummer schlug sofort ein — wie keine zuvor! Ganz schnell wurde Britt die Seele des »Strip«. Gäste strömten herbei. Natürlich kamen auch Leute aus Hamburg und natürlich auch solche, die Britt kannte, und das waren dann immer ihre großen Abende.
Thomas Rending tat nichts, um ihr Auftreten zu verhindern. (Die Kultusgemeinde tat mehr!) Thomas Rending schwieg so beharrlich, wie wir alle es erwartet hatten. Wochen vergingen, Monate vergingen, und wir hörten aus Hamburg, daß da oben nun schon sehr viel über den Konservenmillionär gesprochen wurde, daß sich einige der vornehmsten Familien der Stadt von ihm abwandten, daß man ihn und seine Frau immer öfter schnitt — im Theater, in Restaurants, auf Gesellschaften. Angeblich gab es Anlässe besonders exklusiver Natur, zu denen das Ehepaar Rending nicht mehr geladen wurde. Das waren Gerüchte, aber wir bauschten sie noch auf, wenn wir sie Britt erzählten, denn wir machten sie glücklich, so glücklich damit!
»Seht ihr«, sagte sie dann immer, »sehr ihr …«
Die Bezeichnung »Candle-Act« hatte sie erfunden. Sie fand den Ausdruck komisch. Wir fanden ihn hervorragend. Nun, da Britt viel Geld verdiente — wir bezahlten sie gut —, kaufte sie sich einen roten Karmann-Ghia, Kleider, Schallplatten und sehr viele Bücher, Belletristik, Biographien, Bildbände über Griechenland und Paris, alle Romane eines gewissen Richard Mark und populärwissenschaftliche Werke über Physik, die sie nicht verstand. An die Wände ihrer Einzelgarderobe klebte sie Plakate, Fotografien, die sie aus den Kunstbänden über Griechenland und Paris und aus amerikanischen Zeitschriften riß — und über die Couch den Zettel mit dem griechisch hingemalten Ausspruch Einsteins, diesen Zettel, der einst in Panos’ Stundenhotelzimmer gehangen hatte:
DER MENSCH HAT WENIG GLÜCK
Britt war ein wirklicher Kamerad. Minski und ich schlossen sie schnell ins Herz — wir wurden eine kleine, seltsame Familie, die zusammenhielt wie Pech und Schwefel. Unter Menschen lachte Britt oft und war scheinbar fröhlich, doch sobald sie sich unbeobachtet glaubte, nahm ihr Gesicht den melancholischen und verschlossenen Ausdruck an, der dieses Gesicht schon gezeichnet hatte, als Britt noch ein ganz junges Mädchen war.
Sie hatte sich unter ihrem richtigen Namen polizeilich gemeldet. Die Mieter des Apartmenthauses hielten sie für eine wohlsituierte Nachtklubsängerin.
Britts Künstlername stammte von Minski.
Zu den Schmetterlingen, die er besonders gern mochte, gehörte der Admiral, und die lateinische Bezeichnung für diesen Falter lautet Vanessa atalanta.
»Wir werden sie Vanessa nennen, dos arme Menschele«, sagte Minski zu mir.
Nun, in jener Novembernacht, da ich versuchte herauszufinden, ob es in der mir unbekannten Stadt Treuwall in der Lüneburger Heide ein Krankenhaus gab, da ich darauf wartete, daß das Telefonfräulein der Auskunft sich meldete, da Boris neben der erkälteten Vanessa kniete, die auf dem schmutzigen Ledersofa unseres Büros lag, ermattet noch von ihrem Brechkrampf — in dieser Nacht sagte Minski jene jiddischen Worte wieder einmal.
»Dos arme kleine Menschele …«
Ich preßte die Hörer beider Apparate an die Ohren, und aus dem einen kam von Zeit zu Zeit ein Stöhnen, und das beruhigte mich, denn es zeigte, daß Lillian Lombard noch lebte, und ich sah zu Minski, sah die totenbleiche Vanessa, sah durch den Einwegspiegel hinaus in den Raum, in dem unsere Gäste lachten und tranken und trunkene Brüderschaften schlossen.
»Hallo«, sagte die Stimme des Mädchens von der Auskunft, »hören Sie mich?«
»Ja!«
»Es gibt in Treuwall ein Kreiskrankenhaus. Die Nummer ist 2222 bis 2225 mit allen Nummern dazwischen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte ich. »Ich danke Ihnen …«
»Hoffentlich hilft’s noch was«, sagte das Mädchen von der Auskunft. Dann war diese Verbindung unterbrochen.
Ich sah auf meinen Notizblock und wählte auf Minskis Apparat eine lange Nummer.
Sofort meldete sich eine Männerstimme: »Kreiskrankenhaus Treuwall!«
»Die Rettungsstelle!«
»Einen Moment.«
Es klickte in der Verbindung.
Eine andere Männerstimme erklang: »Rettungsbereitschaft, Doktor Hess.«
Meine Worte überstürzten sich : »Doktor, ich heiße Richard Mark. Ich spreche aus Frankfurt.« Ich gab ihm die Adresse und die Telefonnummer des »Strip«. »Ich wurde vor ein paar Minuten von einer Dame angerufen …«
»Dame!« sagte Vanessa, die besudelt auf dem Sofa lag, stützte sich auf und sah mich bitter an.
»… die in Ihrer Stadt wohnt. Sie hat eine Überdosis Schlafmittel oder Gift genommen, jedenfalls versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie kam noch einmal zu sich und rief hier an. Bitte schicken Sie sofort einen Wagen los!«
»Die Adresse?«
»Lillian Lombard«, begann ich und hörte den Arzt Atem holen.
»Was ist?«
»Nichts …«
»Kennen Sie die Dame?«
»Nein … das heißt … Waldpromenade 24, nicht wahr?«
Nun holte ich Atem. »Woher wissen Sie …«
»Keine Zeit für Erklärungen. Wir fahren sofort los. Danke für den Anruf.«
»Moment!« rief ich schnell. »Ich fahre auch sofort los!«
Vanessa spuckte nach mir. Sie traf nicht.
Minski sagte: »Laß ihn, Kind. Kannst du nichts machen. Geht’s wieder halbwegs?«
Vanessa nickte, Boris stand auf, zog die schmutzige Jacke aus, warf sie auf den schmutzigen Boden und lief zu seinem Schreibtisch.
Unterdessen hatte der Arzt gesagt: »Das ist aber ein schönes Stück Weg von Ihnen bis zu uns herauf.«
»Ich habe einen schnellen Wagen.«
»Wollen Sie nicht wenigstens warten, bis ich zurückrufe?«
Ich konnte auf einmal nur noch an Lillian denken und Lillian sehen und Lillian spüren.
»Nein! Auf der Autobahn, von einer Raststätte, darf ich da anrufen?«
»So schnell …«
»Ich rufe an.«
»Gut. Ende.«
Damit war diese Verbindung unterbrochen, und ich lauschte noch einmal an dem anderen Hörer und vernahm noch immer Lillians Röcheln, leise, sehr leise, dann legte ich beide Hörer in ihre Gabeln und erhob mich, um Minskis Apparat zurückzutragen. Dabei mußte ich an Vanessa vorbei. Ihre blauen Augen funkelten mich an. So sah sie aus, wenn sie von ihrem Vater sprach. Ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, etwas zu fragen, ging zu Minski und stellte das Telefon auf dessen Schreibtisch. Boris hatte sich mittlerweile über die große Karte von Deutschland geneigt, die neben dem Pauspapier lag, jenen beiden Utensilien, mit deren Hilfe er die NPD-Siege in Bayern ausgerechnet hatte.
»Da«, sagte er und wies mit dem Daumen auf eine Stelle der Karte.
Mir wurde ein wenig flau, als ich sah, daß dieses Treuwall wirklich ein Ende weit weg war.
Minskis Finger fuhr über die Karte.
»Autobahn Nord. Hersfeld, Kassel, Göttingen, Hildesheim, Hannover. Bei Hannover rechts. Autobahn bis Braunschweig. Dann rein in die Heide über die B 4. Das ist der kürzeste Weg, hab’ es schon ausgerechnet.«
»Kürzester Weg«, sagte Vanessa erstickt. »Vierhundert, fünfhundert Kilometer. Dieser blödsinnige Hund!«
»Der Thunderbird macht 180 in der Stunde spielend«, sagte ich. »Gar nicht so arg.«
»Gar nicht so arg«, sagte Minski. »Regnet in Strömen, wo es Nebel gibt, wissen wir nicht, aber gar nicht so arg.« Er sah von mir weg und legte in Gedanken das bezeichnete Pauspapier über die Landkarte. Ich rührte mich nicht. Ich war wirklich ein blödsinniger Hund, dachte ich. Lillian Lombard — hatte ich nicht Gott gedankt, als es endlich, endlich aus gewesen war mit uns? Und nun …
»Schau«, sagte Minski, »kommst in eine herrliche Gegend. Naturschutzgebiet! Landtagswahlen werden sie in der Lüneburger Heide am 4. Juni 1967 haben.« Ich bemerkte, daß die Fläche des Landes Niedersachsen doppelt schraffiert war, an vielen Stellen dreifach. »1930 haben die Nazis da überall mehr als zwanzig Prozent der Stimmen gekriegt«, sägte Minski. »Da und da und da und da sogar mehr als fünfundzwanzig Prozent. Braun ist die Heide, die Heide ist braun.«
»Du weißt ja, was du mich kannst«, sagte ich.
»Weiß ich. Immer, wenn ich mich anzieh, hab ich Sehnsucht nach dir«, antwortete er. »Da, nimm die Autokarte.« Er faltete sie zusammen. »In Treuwall haben sie damals fünfundzwanzig Prozent gekriegt«, sagte er dazu.
Ich sah ihn bittend an.
»Boris, versteh doch …«
»Hau schon ab«, sagte Minski. »Ich bleib heute nacht hier. Muß mich um Vanessa kümmern. Ruf an. Von der Autobahn. Von oben. Ich bin immer da.«
Er nahm meinen schweren blauen Kamelhaarmantel, der keine Knöpfe, sondern nur einen breiten Gürtel besaß, von einem Wandhaken und half mir hinein.
»Danke«, sagte ich. »Wiedersehen, Boris. Wiedersehen, Vanessa.«
»Du … du …«, begann diese, aber Minski winkte ab.
»Sei ruhig. Schade um jedes Wort. Er kann nicht anders. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Auch einer von unsere Leut’! Lauf, Ritchie, lauf!«
Vanessa nieste, dann schrie sie: »Ja, lauf, du Idiot! Lauf, so schnell du kannst! Renn in dein Unglück! Renn!«
Ich rannte.
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Vor Kassel hörte der Regen auf, aber nun ging es bis nach Göttingen immer wieder durch Nebelzonen. Hinter Göttingen wehte starker Nordwind, der an dem Thunderbird rüttelte. Ich fuhr — mit Ausnahme des Nebelgebietes natürlich — immer hundertsechzig Stundenkilometer. Mein Rücken schmerzte, und ich fror.
Zweimal rief ich von Raststätten aus das Krankenhaus Treuwall an.
»Ich kann Ihnen gar nichts sagen«, erklärte mir jener Dr. Hess von der Rettungsbereitschaft.
»Was heißt gar nichts? Ist sie …«
»Nein. Dann könnte ich Ihnen ja etwas sagen. Aber wir wissen noch nicht, ob sie auch am Leben bleiben wird. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe«, erwiderte ich und rief in Frankfurt an, um Minski zu benachrichtigen. Dann fuhr ich weiter, etwa eineinhalb Stunden, blieb vor einem anderen Rasthaus stehen und telefonierte wieder mit Treuwall. Dr. Hess’ Stimme klang nun schon gereizt: »Was stellen Sie sich vor? Wir tun, was wir können … Es hat sich noch nichts geändert. Wo sind Sie denn eigentlich?«
»Bei Hannover …«
»Kommen Sie her. Aber rufen Sie nicht mehr an!«
Ich rief noch einmal im »Strip« an.
Vanessa meldete sich.
»Du? Wieso du? Wo ist Boris?«
»Eingeschlafen. Na?«
»Nichts Neues … ich fahre jetzt bis Treuwall durch und melde mich erst von dort wieder.«
Vanessa sagte etwas Unverständliches.
»Wie?« fragte ich.
Darauf hängte sie einfach ein.
Ich rannte zum Wagen und raste weiter.
Schwarze Wolken hingen tief über dem Land. Als ich wieder auf der B 4 war und in die Heide hineinfuhr, begann es zu schneien — kleine, harte Flocken, die liegenblieben.
Das Schneetreiben wurde heftiger. Es war jetzt knapp nach sieben Uhr früh.
Die B 4 lief gerade nach Norden. Die sogenannte Harz-Heide-Straße war die einzige in dieser Naturschutzgegend, die immer befahren werden konnte, las ich auf Tafeln. Auf Tafeln las ich auch, daß rechts und links der B 4 Truppenübungsplätze lagen, die nicht betreten werden durften.
Laster begegneten mir. An der rechten Straßenseite lag dichter Wald. Soweit ich es im Licht der Scheinwerfer zu erkennen vermochte, standen dort Eichen, Kiefern und Buchen, ab und zu auch eine Birkengruppe, ich sah weiße, dünne Stämme. Auf der linken Seite der B 4 gab es Sträucher und stachliges Unterholz und dahinter Tümpel und Schilf und Moor. Das konnte ich natürlich nicht sehen, aber riechen konnte ich es. Es war ein ganz bestimmter Geruch, und ich hatte ihn gern. Die Straße stieg und fiel andauernd. Das überraschte mich. Ich war noch nie in dieser Gegend gewesen und hatte mir die Lüneburger Heide anders vorgestellt — wie eine sandige Steppe etwa, durch die man stundenlang laufen konnte, ohne ein Haus oder einen Baum zu sehen. Ich sah sehr viele Bäume, und ich sah viele Häuser in den Städten Gifhorn und Uelzen. Hier waren schon Menschen unterwegs.
Steppe! Die Lüneburger Heide war nicht gerade ein Gebirge, aber nach den Mittelgebirgen, durch die ich heraufgekommen war, konnte man diese Landschaft zumindest ein Niedergebirge nennen. Bei Klarsicht mußte es hier etwa so aussehen wie in den flacheren Teilen des Harzes oder in Thüringen. Ohne Felsen. Felsen hatte ich noch nicht gesehen. Was natürlich nicht sagte, daß es keine gab. Es fiel mir ein, daß in der Heide Hünengräber und Findlinge standen. Aber Findlinge sind keine Felsen. Ob Lillian schon tot war?
Hinter Jelmstorf bog ich rechts ab. Nach drei Kilometern erreichte ich, von Süden kommend, Treuwall. Hier schneite es stark. Ich sah an diesem Morgen wenig von Treuwall. Alle Straßenlampen brannten noch, die Scheiben des Thunderbird beschlugen sich dauernd, die Wischer glitten hin und her und oft desgleichen mein schwerer Wagen.
Es erstaunte mich zu sehen, wie groß Treuwall war. Hier lebten gewiß 40000 oder 50000 Menschen. Bald erblickte ich den ersten Wegweiser mit der Aufschrift KREISKRANKENHAUS. Es gab sehr viele Wegweiser und Tafeln und Ampeln in Treuwall. Ich mußte durch die ganze Stadt fahren, denn die Klinik lag im Nordwesten. Unten im Süden hatte Treuwall noch einen recht armseligen Eindruck gemacht. Häßliche Häuser standen da, schmutzige Fabriken, eine alte Brücke führte über einen angeschwollenen Fluß. Dann wurde die Stadt feiner: mit großen Parkanlagen und alten Bäumen. Durch das Schneetreiben und die beschlagenen Fensterscheiben sah ich im Licht schwankender Bogenlampen prächtige Giebelhäuser, zwei große Kirchen mit hohen Türmen, ein mächtiges Rathaus — alles, wie mir schien, in dieser niederdeutschen Backsteingotik erbaut —, aber auch viele neue, moderne Gebäude, darunter ein Theater.
Im Nordwesten wurde Treuwall geradezu vornehm. Hier gab es alte Villen in Gärten, neue Bungalows, breite, stille Straßen. Ich fuhr durch eine entlaubte Kastanienallee, und auf einmal wurde es sehr hell. Vor mir lag, strahlend beleuchtet, ein großer verschneiter Parkplatz und dahinter ein Riesengebäude mit Seitenflügeln, die über verglaste Holzbrücken vom Haupthaus aus zu erreichen waren.
Ich wußte, daß viele Kreisstädte in den letzten Jahren ihre eigenen Krankenhäuser gebaut hatten, modern und teuer. Dieses Krankenhaus hier war besonders modern, und es mußte besonders viel gekostet haben.
Ich parkte den Thunderbird, der vor Dreck starrte, und lief durch den eisigen Wind und den Schnee zum Eingang der Klinik und in eine große Halle hinein, in der die übliche Hinweistafel hing. Ich sah sie mir an. Telefonzentrale, Verwaltung und Rettungsstation befanden sich im Erdgeschoß. Darüber war das Krankenhaus auf der einen Seite für Männer, auf der anderen für Frauen eingerichtet. Im ersten und zweiten Stock befanden sich interne Abteilungen, Laboratorien und Untersuchungsräume. Im dritten und vierten Stock lagen Operationssäle und chirurgische Stationen, im fünften Stock gab es, beidseitig, Abteilungen für Frauenkrankheiten und Kreißsäle. In den Seitenflügeln waren eine Kinderklinik, eine Augenabteilung und eine Zahnklinik untergebracht. Das alles, las ich, hatte man in den Jahren 1957 bis 1960 erbaut. Am oberen Ende der Tafel stand:
KREISKRANKENHAUS TREUWALL
VORSTAND: PROFESSOR DR. CLEMENS KAMPLOH.
Überall brannte Neonlicht.
Ich ging zur ersten Rettungsstation. Hier saß eine ältliche Schwester mit Brille hinter einem weißen Schreibtisch. Als ich meinen Namen nannte, musterte sie mich streng.
»Sie haben heute nacht zweimal angerufen wegen Frau Lombard, Herr Mark.«
Sie ist tot! dachte ich plötzlich. Lillian ist tot. Gleich wird die Schwester es mir sagen.
Die Schwester sagte: »Doktor Hess erwartet Sie.«
»Was ist mit Frau Lombard?«
Die Schwester rückte an ihrer Brille.
»Ich werde Doktor Hess melden, daß Sie da sind. Es wird ein paar Minuten dauern. Gehen Sie einstweilen da hinein.« Sie wies zu einer Tür mit der Aufschrift WARTEZIMMER.
»Schwester, bitte, was ist mit Frau Lombard?«
»Herr Mark«, sagte die Schwester, »bitte warten Sie da drinnen. Ich lasse Doktor Hess rufen.« Sie griff nach einem Telefonhörer.
»Schwester …«
Es war sinnlos.
Ich existierte nicht mehr für sie.
Ich ging in das grüngestrichene Wartezimmer, in dem es grüngestrichene Stühle und Tische und einen grünen Linoleumfußboden und hellgrüne Wände gab. Die Fenstervorhänge, bunt bedruckt, waren noch zugezogen. Die Luft war schlecht in diesem Raum, das Neonlicht hier besonders stark. Aber das kam mir natürlich nur so vor, weil ich lange durch Dunkelheit und Schneetreiben gerast war und nun endlich stillstand, am Ziel. Was war das für ein Ziel?
Über der Eingangstür hing ein kleines Kruzifix. Ich sah es an und versuchte zu beten, aber es ging nicht. Also zog ich die Fenstervorhänge auf und versuchte, das Fenster zu öffnen, damit frische Luft in diesen Raum kam, aber ich brachte das Fenster nicht auf. Ich zog meinen Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Ich zündete eine Zigarette an und drückte sie wieder aus, weil mir von dem Tabakrauch übel wurde. Ich hatte Kopfschmerzen. Ich sah durch das Fenster in das Schneetreiben auf dem großen Parkplatz hinaus, als sich die Tür hinter mir öffnete.
Ich drehte mich um und wollte Doktor Hess entgegengehen.
Ich machte nur einen einzigen Schritt.
Es war nicht Doktor Hess, der vor mir stand.
Es war mein Bruder Werner.