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Vor Jahren, ehe der Münchner Hof erbaut wurde, galt der Goldene Hirsch, der einem Franzosen namens Havard gehörte, als das beste Hotel in München. Hier stiegen alle gekrönten Häupter und Personen von Rang ab, und regelmäßig mussten englische Familien unter empörtem Protest ihre Gemächer aufgeben, um einem Kaiser, König oder Erzherzog Platz zu machen. Im August wurden derart hohe Gäste jedoch selten erwartet, und ein junger englischer Tourist konnte daher eine ganze Woche lang ungestört eines der Zimmer bewohnen. Der Gast konnte den Komfort des Hauses an diesem Nachmittag jedoch nicht recht genießen, er ging unruhig im Zimmer auf und ab, blickte lange angestrengt aus dem Fenster und las schließlich noch einmal den Brief, den er geschrieben hatte.
„Liebe Schwester, ich habe seit meiner Abreise sorgfältig alles notiert, was ich gesehen und gehört habe. Aber ich fürchte, dass ich meine Pläne, meine Reiseberichte zu veröffentlichen, aufgeben muss, denn heutzutage kann man von London bis nach Timbuktu reisen, ohne wirklich etwas zu sehen, was nicht bereits in allen Reisebüchern zu lesen ist. Ich dachte, dass unser Bruder John von seinen Aufenthalten im Ausland nur deshalb nichts Spannendes zu erzählen hätte, weil er erbärmlich Französisch und kaum Deutsch spricht. Aber ich habe ihm Unrecht getan. Denn obwohl ich sechs Jahre lang Deutsch gelernt habe und leidlich gut Französisch kann, weiß bisher beim besten Willen nichts Besonderes von meiner Reise zu berichten. Ich bin vor drei Wochen aus England abgereist und mit Ausnahme der fantastischen Explosion eines Dampfkessels bei meiner Abfahrt aus Köln ist nichts Bemerkenswertes passiert. Ich muss mich bemühen, einige Einheimische kennen zu lernen, um endlich etwas über die Sitten und Gewohnheiten in Deutschland zu erfahren. Man hat mir gesagt, dass die vornehme Welt Münchens im Sommer auf dem Land lebe, und so muss es sein, denn es kann nichts Verlasseneres geben als die Straßen hier am Abend ...“
Alexander Hamilton faltete den Brief sorgfältig, steckte ihn in ein Kuvert, verließ das Zimmer und schlenderte die Treppe hinab. Da er nichts Besseres vorhatte, würde er ihn selbst zur Post bringen. Als er zurückkehrte, sprang er leichtfüßig die Stufen hinauf, gefolgt von einem Bediensteten des Hotels, der die Lichter anzündete und sich bereit hielt, ihm beim Ausziehen seines engen Gehrockes behilflich zu sein. Hamiltons Blick fiel auf einen Briefumschlag, der mitten auf dem Tisch lag.
„Wann ist der Brief gekommen?“
„Heute früh, gnädiger Herr! Herr Havard hat mir den Auftrag gegeben, ihnen zu sagen, dass er versehentlich in ein falsches Zimmer gebracht wurde.“
Hamilton riss hastig den Umschlag auf und las: „Lieber Mr. Hamilton! Ich habe gerade erst Ihren Namen in dem Verzeichnis der in München abgestiegenen Fremden gesehen und schreibe sogleich, um Ihnen mitzuteilen, dass wir gegenwärtig in Seeon sind, was nicht allzu weit entfernt ist. Unser Haus ist momentan nicht bewohnbar und wir haben das alte Kloster als unser Quartier gewählt. Seeon ist ein recht gut frequentiertes Bad; da die Hauptsaison fast vorüber ist, wird es sicher möglich sein, Ihnen ein Zimmer zu besorgen. Wir würden uns sehr freuen, Sie zu sehen und Ihnen die Schönheit unserer Gegend zu zeigen. Vielleicht können wir auch zusammen eine Tour nach Tirol unternehmen. Ich nehme an, dass Sie in Begleitung von Mrs. Hamilton reisen, die selbstverständlich ebenfalls herzlich willkommen ist. Mit herzlichen Grüßen ...“ Die Unterschrift war leider unleserlich.
„Wie weit ist es von München nach Seeon?“, fragte Hamilton den Angestellten.
„Es tut mir leid, Ihnen keine Auskunft geben zu können, gnädiger Herr. Seit ich hier bin, ist noch kein Reisender nach Seeon gegangen.“
„Gibt es keine Eilpost-Kutsche dorthin? Es muss eine Poststation oder etwas Ähnliches sein.“
„Das weiß ich wirklich nicht, gnädiger Herr.“
„Schauen Sie, ob Sie den Poststempel entziffern können“, sagte Hamilton, indem er ihm ungeduldig den Brief reichte.
„Ich glaube, es heißt Altenmarkt, aber ich bin nicht sicher.“
„Seien Sie so gut und holen Sie mir eine Landkarte. Und sagen Sie Herrn Havard, dass ich ihn kurz sprechen möchte.“
Als der Bedienstete das Zimmer verlassen hatte, wendete Hamilton den Brief hin und her, betrachtete das Siegel, das ein kleines Wappen mit den Initialen A und Z erkennen ließ, las ihn fünf- oder sechsmal und ging in Gedanken seinen Bekanntenkreis durch. Nein, er kannte wirklich niemanden, der A. Z. hieß!
„Aber der Brief ist an mich adressiert“, murmelte er. „Jedenfalls an einen A. Hamilton, Hotel Goldener Hirsch. Offensichtlich glaubt der Absender, dass ich mit meiner Tante reise. Warum nicht? Vielleicht ist es ein Freund meines Vaters, und in diesem Falle wäre es gewissermaßen meine Pflicht, nach Seeon zu reisen.“
Noch hatte er keinen festen Entschluss gefasst, als auch schon Herr Havard in sein Zimmer trat.
„Oh Herr Havard! Können Sie mir sagen, wie weit es von hier nach Seeon ist?“
„Eine Tagesreise, wenn Sie mit einem Lohnkutscher reisen, mit der Extrapost nur einen halben Tag.“
„Können Sie die Reise mit einem Lohnkutscher empfehlen?“
„Durchaus, wenn Sie nicht viel Gepäck haben. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen einen Wagen mit passablen Pferden besorgen.“
„Ich danke Ihnen. Morgen früh um sechs Uhr möchte ich abreisen, wenn das möglich wäre. Ach, da fällt mir noch etwas ein. Vielleicht können Sie mir sagen, ob hier vor kurzem Reisende abgestiegen sind, die ebenfalls Hamilton heißen, so wie ich?“
„Hamilton – Hamilton!“, wiederholte Havard nachdenklich. „Hier steigen viele Hamiltons ab. Ich werde in unserem Gästebuch nachsehen.“
Die Nachforschungen des freundlichen Hotelbesitzers ergaben, dass vor kurzem ein Alexander Hambleton hier logiert hatte, die letzten Hamiltons waren aber bereits vor zehn Tagen abgereist. Der Brief war also offenbar wirklich für ihn bestimmt.
Der Morgen war sonnig und wolkenlos, und Hamilton freute sich darauf, endlich die ausgetretenen Pfade des gewöhnlichen Reisenden zu verlassen und etwas Unerwartetes zu sehen. Selbst die etwas ältliche Kutsche mit schläfrig aussehenden Pferden beeinträchtigte seine gute Laune nicht, und der Lohnkutscher in seinem dunkelblauen Leinenhemd, mit einer kurzen Pfeife unter einem buschigen Schnurrbart, kam ihm geradezu malerisch vor. Er schien sehr auf seine Pferde zu achten, denn er hatte kaum die Münchner Vorstadt verlassen, als er vom Bock herabstieg, um eine kleine Anhöhe zu Fuß zu gehen, ohne auf Hamiltons Proteste zu achten. Immerhin stieg er auf der anderen Seite wieder auf.
Wenn es nicht so schwül gewesen wäre, hätte Hamilton darauf bestanden, dass das Verdeck zurückgeschlagen und die abscheulich klappernden Fenster ihm gegenüber entfernt würden. So aber fügte er sich in seine Lage und schlief durch das gleichmäßige Rütteln und Schütteln der Kutsche schließlich ein. Er erwachte erst, als der Wagen vor einem Wirtshaus anhielt. Der Kutscher ließ ihn wissen, dass man hier zwei Stunden rasten werde, um auszuruhen und zu Mittag zu essen. Es war zwölf Uhr. Das Wirtshaus versprach nicht viel, aber vor der Tür entdeckte er einen Wagen, der seinem glich wie ein Ei dem anderen, nur mit dem Unterschied, dass er bis oben hin beladen war mit Hutschachteln und weiteren Gepäckstücken, die weibliche Reisende verrieten. Hamilton gab sich einen Ruck und sprang aus dem Wagen. Unwillkürlich fuhr er sich durch das volle Haar, ehe er das Wirtshaus betrat. Er durchquerte den großen Gastraum voller Bauern und gelangte in ein angrenzendes, kleineres Zimmer mit wenigen Tischen. An einem davon saßen drei Frauen und ebenso viele kleine Knaben. Seine höfliche Verbeugung wurde erwidert, doch nahm man sonst keine Notiz von ihm; genau genommen ignorierte man ihn. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, die Damen einer kleinen Musterung zu unterziehen.
Diejenige, welche vermutlich die Mutter der Kinder war, eine lange schmale Person, hatte ein Tuch um ihren Kopf geschlungen und schien an Zahnschmerzen zu leiden – anders konnte Hamilton sich diesen Aufzug nicht erklären. Die beiden anderen Frauen waren sehr jung und ausgesprochene Schönheiten: blaue Augen, rosige Wangen, volle Lippen und geflochtenes brünettes Haar. Es musste sich um Schwestern handeln, denn sie sahen sich auffallend ähnlich.
Zu seinem Erstaunen sah Hamilton, wie die jungen Damen das von ihnen bestellte Brathuhn ungeniert mit den Fingern zerlegten und das Fleisch der Hühnerbeine mit den Zähnen abnagten. Sofort war er davon überzeugt, dass sie aus sehr einfachen Verhältnissen stammten, da sie offensichtlich nicht mit Besteck umzugehen wussten. Nun kam seine eigene Bestellung, und er beschloss, die Reisegruppe am Nachbartisch nicht weiter zu beachten.
Die Dame mit dem verbundenen Kopf klopfte ans Fenster und fragte ihren Kutscher, ob er zum Anspannen bereit sei. Die Antwort war undeutlich, aber die Worte „spät genug“ und „Seeon“ drangen an Hamiltons Ohren. Es wurden Hüte, Handschuhe und Halstücher zusammengesucht und die Kinder dem Mädchen übergeben, um sie in den Wagen zu verfrachten.
„Lasst uns einsteigen“, sagte die Ältere der beiden Schwestern, „je eher wir weiterkommen, desto eher sind wir in Seeon.“
„Wären wir doch schon dort!“, rief die Andere. „Wir sitzen in diesem Wagen eingepfercht wie die Schafe im Gatter.“
„Es wäre nicht ganz so schlimm, wenn Peppi nicht dauernd auf meinen Knien herum klettern und mit den Füßen um sich treten würde“, bemerkte ihre Schwester.
Kurz entschlossen trat Hamilton auf die jungen Damen zu und erklärte, dass er dasselbe Ziel habe und sein Wagen ihnen selbstverständlich zur Verfügung stehe. Sie erröteten, worauf er hinzufügte, dass er versprechen könne, sich auf der Fahrt völlig ruhig zu verhalten und keinesfalls den Versuch unternehmen werde, auf jemandem herum zu klettern. Dieser Scherz verfehlte die beabsichtigte Wirkung jedoch vollkommen, denn die Schönen murmelten ein paar unverständliche Worte und beeilten sich, nach draußen zu kommen. Er folgte ihnen in einigem Abstand und sah sie in den Wagen steigen; umständlich versuchten die Insassen, noch einen Platz für das Dienstmädchen zu finden. Hamilton wandte sich nun an die ältere Dame, die von seinem Angebot nichts mitbekommen hatte, erklärte ihr, dass er ganz allein nach Seeon reise, kaum Gepäck habe und gerne bereit sein, einige Personen und auch Koffer in seinem Wagen aufzunehmen. Sie dankte ihm, gab aber zu bedenken, dass ihre Knaben sehr lebhaft seien; vielleicht könne er aber so gütig sein, ihre Magd mitzunehmen.
Das war nun nicht gerade das, was Hamilton sich versprochen hatte, doch machte er gute Miene und willigte ein. Als das Dienstmädchen ausstieg, begann einer der Jungen aber augenblicklich zu schreien und behauptete, ohne sie fahre er nicht mit. Er wurde aus der Kutsche gehoben und Hamilton unter zahlreichen Entschuldigungen übergeben: Es war Peppi, der Kletterer. Aber der Kleine war noch nicht zufrieden, er bestand darauf, auf dem Schoß seiner Schwester Sophie zu reisen, die schließlich klein beigab und ebenfalls das Gefährt wechselte. In diesem Fall hielt Hamilton die Entschuldigungen der Mutter wirklich für völlig überflüssig. Er musste längere Zeit warten, ehe es sein Kutscher für angemessen hielt, wieder auf dem Bock Platz zu nehmen und abzufahren, und versuchte, die Wartezeit mit einer kleinen Plauderei angenehm zu verkürzen. Aber Sophie schien die Situation ausgesprochen peinlich zu sein, vielleicht war sie auch überaus schüchtern, jedenfalls blieb sie reserviert und einsilbig. Sobald sie losgefahren waren, suchte Hamilton deshalb seine Bücher hervor, bot ihr das eine an und nahm selbst das andere. Sie wendete die Blätter mit einer Gleichgültigkeit um, die ihn sofort davon überzeugte, dass sie keine große Leserin war, weshalb er sich erneut um ein Gespräch bemühte. Dabei tat er so, als kenne er verschiedene Worte der deutschen Sprache nicht und benötige eine Übersetzerin. Dieser Trick verfehlte die gewünschte Wirkung nicht, denn Sophie taute allmählich auf. Sie erzählte ihm, dass ihr Vater ein Amt habe, das es ihm nur selten erlaube, München zu verlassen. Sie und ihre Schwester hätten ihre Mutter verloren, als sie noch Kinder waren, und seien in ein Internat geschickt worden, als ihr Vater sich wieder verheiratete. Erst seit einigen Wochen seien sie wieder zuhause in München, und ihre Stiefmutter, welcher Luftveränderung verordnet worden sei, habe Seeon gewählt, weil sie dort schon einmal war. Sie freue sich wirklich sehr darauf, aufs Land zu gehen – besonders nach Seeon.
„Und warum gerade nach Seeon?“, fragte Hamilton.
„Oh, weil ich von einer meiner Schulfreundinnen schon viel darüber gehört habe.“
„Vielleicht können Sie mir dann ein paar Auskünfte geben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was für ein Ort das ist.“
„Ich glaube, es gibt dort ein altes Kloster mit langen Gängen, in denen man erwarten könnte, den umgehenden Geistern der verstorbenen Mönche zu begegnen – und die Fenster gehen auf finstere Höfe hinaus – und im Mondschein ist es ganz romantisch, im Kreuzgang spazieren zu gehen.“
„Und Ihre Freundin ist ganz allein bei Mondschein an einem solchen Ort umhergewandert?“
„Oh, sie war nicht allein.“ Sophie kicherte.
„Das dachte ich mir. – Wahrscheinlich war sie mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester dort.“
„Ihre Mutter war nicht da, und ihr Schwager wollte ihrer Schwester nicht erlauben, bei Mondschein spazieren zu gehen.“
„Also werden Sie womöglich Ihre Freundin in Seeon wiedersehen?“
„Nein, leider nicht. Sie hat inzwischen geheiratet. Einen merkwürdigen alten Doktor. Ich war bei der Hochzeit die Brautjungfer, und weil ich von ihrer heimlichen Liebe zu Theodor wusste, habe ich sie gefragt, ob sie nicht sehr unglücklich sei. Aber ob Sie es glauben oder nicht, sie behauptete, alles was sie mir von Seeon und ihrer ersten Liebe erzählt habe, sei nichts als dummes Zeug gewesen.“
„Dann war die Sache mit Theo also nichts weiter als ein kleiner Flirt?“
„Ein … was ist denn ein – ein Flirt?“ fragte sie. „Etwas Englisches?“
„Sie haben recht, etwas sehr Englisches“, lachte Hamilton. „Aber Ihre Freundin scheint zu wissen, was es ist.“
„Dabei war sie nie in England und kann auch gar kein Englisch“, sagte Sophie nachdenklich. „Aber ich erinnere mich noch, dass sie im Internat zu mir sagte, sie wolle ins Kloster gehen, wenn man ihr nicht erlaube, Theodor zu heiraten! Und dann hat sie doch den Antrag von diesem Doktor Berger angenommen.“
„Sie hätten das an ihrer Stelle nicht getan?“, fragte Hamilton.
Sophie wollte gerade antworten, als ihr Blick auf das Kindermädchen fiel, das ihnen gegenüber saß; sie errötete leicht und blieb stumm. Hamilton wünschte, die Magd säße im anderen Wagen, auch wenn sie ständig mit dem kleinen Peppi beschäftigt war und vermutlich nicht alles von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. Dann hatte er den Einfall, es mit Französisch zu versuchen, und siehe da, die junge Dame beherrschte diese Sprache besser als er selbst. Sie unterhielten sich so angeregt wie alte Bekannte und waren beide völlig überrascht, als die Kutsche vor dem alten Kloster anhielt.
Sophies Stiefmutter wartete bereits auf sie und überschüttete Hamilton mit Dank, während er seiner Reisegefährtin zuflüsterte: „Ich werde Sie doch sicher wiedersehen, selbst wenn ich mich entschließen sollte, Seeon morgen schon wieder zu verlassen.“ Und als er ihr aus dem Wagen half, fügte er leise hinzu: „Wir müssen uns unbedingt den Kreuzgang bei Mondschein ansehen.“
Sie antwortete nicht, auch nicht mit einem Lächeln; sobald ihre Füße den Boden in Seeon berührten, schien Sophie wie verwandelt. Sie reichte ihm die Hand und machte einen Knicks, wie er ihn nur von kleinen Mädchen kannte.
„Ich danke Ihnen sehr für die Freundlichkeit, uns in Ihrem Wagen mitzunehmen“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme, wobei sie seinem fragenden Blick auswich.
„Sieh mal an“, dachte er bei sich, „so jung und schon eine solche Schauspielerin …“
Kurz darauf folgte er der Wirtin durch einen Seiteneingang und eine Treppe hinauf, die zu einem langen Korridor führte, an dessen Ende sich der Eingang zu seinem Zimmer befand; zu seiner Enttäuschung machte es überhaupt keinen altertümlichen Eindruck. Die Besitzerin erklärte ihm, dass das Kloster in der Vergangenheit gleich zweimal bis auf die Grundmauern abgebrannt sei und nur noch wenig von dem ursprünglichen Gebäude vorhanden sei. Sein Zimmer war das modernste von allen und vor der Säkularisation die Wohnung des Abts gewesen.
„Sind viele Zimmer belegt?“, fragte Hamilton interessiert.
„Nicht viel, heut' in der Früh sind mehrere Gäste abgereist ...“
„So, abgereist ...“, sagte er mit leichter Bestürzung. „Können Sie mir vielleicht sagen, ob noch andere Gäste aus England ...“
In diesem Moment wurde er durch laute Geräusche unten aus dem Hof unterbrochen; Hamilton sah aus dem offenen Fenster. Eine kleine offene Kutsche und der mit Staub bedeckte Fahrgast weckten seine Neugier, so dass er fragte: „Wer ist das?“
„Ach, der Herr Baron!“, rief die Wirtin, die ebenfalls aus dem Fenster gesehen hatte und ohne weitere Umstände das Zimmer verließ.
Der als Baron Titulierte trug einen grauen Jagdrock und einen dunkelgrünen Filzhut. Ein Diener in Livree stürzte im Laufschritt auf den Wagen zu, gefolgt von einem halben Dutzend Männern und Frauen, die bald alle mit Gepäck beladen waren. Jemand an einem Fenster oberhalb von Hamilton brach in schallendes Gelächter aus; der Reisende blickte in die Höhe, lachte ebenfalls und schwenkte seinen Hut. „Du siehst aus wie ein Staubwedel!“, rief die unsichtbare Frauenstimme. „Hast du keine Trophäe mitgebracht? Kein Wild für unsere Wirtin?“
„Die Gemsenjagd war unglücklich, obwohl ich die ganze Nacht draußen geblieben bin; aber meine neue Büchse hat beim Scheibenschießen Wunder getan.“
Ein erneutes Lachen aus dem Fenster bewog ihn, sein Gewehr zu ergreifen und scherzhaft damit nach oben zu zielen. Er setzte es jedoch gleich wieder ab, während er entschuldigend ausrief: „Keine Sorge, es kann nicht losgehen, es ist gar nicht geladen.“
Unterdessen hatte Hamiltons Kutscher sein Gepäck heraufgebracht, und ein Zimmermädchen verlangte zu wissen, ob er unten speisen wolle. Das Abendbrot werde in dem kleinen Zimmer serviert, durch welches er vorhin gekommen war, weil für den großen Speisesaal nicht genug Gäste im Haus seien. Vielleicht wünsche er aber, lieber auf seinem Zimmer zu speisen?
„Keineswegs! Ich ziehe die table d'hôte stets vor. Können Sie mir nicht die Namen von einigen Gästen sagen, die hier logieren? Vielleicht habe ich Bekannte unter ihnen.“
„Major Stutzenbacher aus München; die Familie, die gerade angekommen ist, sind die Rosenbergs aus München … dann der Landschaftsmaler, Herr Schneider, und Graf Zedwitz mit Frau und Tochter.“
Zedwitz … Der Name fing mit Z an, so wie der Absender des geheimnisvollen Briefes.
„Graf Zedwitz – spricht er Englisch?“
„Oh bestimmt, er spricht auch Französisch. Er spricht mehrere Sprachen.“
„Sie sind aber doch nicht krank, also sie sind nicht der Bäder wegen hier?“
„Nein, ich glaube, dass sie hergekommen sind, um einige Freunde zu treffen. Ich habe den Diener sagen hören, dass ihr Haus oder das des Barons gerade voller Maurer und Tüncher ist.“
„Ja, ich erinnere mich ...“
„Aber die alte Gräfin nimmt Bäder“, fuhr das Zimmermädchen fort, „und findet sie auch sehr wohltätig. Der Graf ist ein Anhänger der Wasserkur, und wenn er nicht nach Gräfenberg geht, so sind ihm alle Orte, wo es genug Wasser gibt, gleich lieb.“
„Und seine Tochter?“, fragte Hamilton, der jetzt überzeugt war, den Absender des Briefes gefunden zu haben.
„Oh, seine Tochter springt ihm zu Gefallen jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen in einen Zuber mit kaltem Wasser, um sich abzuhärten. Aber ich habe nie davon gehört, dass sie im Bett geschwitzt hätte ...“
„Dass sie was getan hätte?“
„Geschwitzt! Der Graf hat vor seiner Ankunft sein Schwitzbett und seine Wanne hierher geschafft, und sein Diener muss ihn jeden Morgen einwickeln und zubinden.“
„Und das Fräulein schwitzt also nicht?“, fragte Hamilton und biss sich auf die Lippen, um ernst zu bleiben.
„Ich glaube, dass sie nie einen Rheumatismus gehabt hat; aber eines Morgens, als sie Kopfschmerzen hatte, hatte sie ihre Füße in einer Wanne mit kaltem Wasser, und sie hatte nasse Tücher um den Kopf.“
In diesem Augenblick klopfte es. „Herein!“, rief Hamilton, und zu seinem nicht geringen Erstaunen erblickte er Sophie. Sie errötete, was ihn verlegen machte, und dann ärgerte er sich über seine alberne Verlegenheit und versuchte, sie durch gespielte Gleichgültigkeit zu verbergen. Sie stammelte etwas von ihrem Stickbeutel und einem Halstuch, als sie mit Hilfe des Zimmermädchens seine Habseligkeiten untersuchte und seinen Mantel hin- und herwendete. Es fand sich nichts und sie wollte eben das Zimmer verlassen, als Hamilton die vermissten Besitztümer unter seiner Toilettentasche bemerkte. Als er ihr die Sachen übergab und die Tür aufhielt, um sie hinaus gehen zu lassen, benutzte er die Gelegenheit, ihren Knicks von vorhin mit einer so tiefen Verbeugung zu erwidern, dass sie zum Spott wurde, was sie auch so verstand; das Blut stieg ihr bis in die Haarwurzeln und überzog selbst Nacken und Ohren mit tiefem Rot, als sie, gefolgt vom Zimmermädchen, aus dem Raum eilte.
Hamilton war über sein eigenes Benehmen so beschämt, dass er versucht war, Sophie nachzulaufen und sich zu entschuldigen, und wenn sie allein gewesen wäre, so hätte er es sicher getan. Möglicherweise war ihre Suche nach dem Halstuch nur ein Vorwand gewesen, um ihm ihr förmliches Benehmen von vorhin zu erklären, und die Anwesenheit des Zimmermädchens hatte sie daran gehindert. Er blickte aus dem Fenster, um zu sehen, ob er ihr vielleicht begegnen würde, wenn er den erwähnten Kreuzgang durchwanderte. Aber am Himmel zeigten sich anstelle des aufgehenden Mondes drohende Gewitterwolken und es wurde beinahe schlagartig finster. Die Wetteränderung machte seine Hoffnung auf eine romantische Begegnung bei Mondschein zunichte, und wie die Dinge gerade standen, wäre ein Rendezvous bei Blitz und Donner ganz sicher keine gute Idee. Immerhin bestand die Aussicht, Sophie beim Abendessen zu sehen, und gleichermaßen von Reue wie von Hunger angetrieben, beschloss er, sich sofort nach unten zu begeben. Er trat hinaus auf den langen Korridor und suchte die Treppe, die hinunter in den Speiseraum führte. Unverhofft stand er plötzlich in einer kleinen hohen Kapelle. Es war dunkel und nur schemenhaft konnte er den Altar erkennen. Neugierig tastete er sich vorwärts, bis er einen Wandelgang erreichte, den er instinktiv als den Ort erkannte, an dem man bei Mondschein romantische Gefühle entwickeln könnte. Die ihm gegenüber liegenden Türen hatten früher wahrscheinlich zu den Kammern der Mönche geführt. Er entdeckte eine breite Treppe in der Nähe, aber da er fürchtete, sich zu verlaufen, begnügte er sich damit, aus einem Erkerfenster einen Blick auf den Garten und einen See zu werfen. Die Wolken waren noch dunkler als vorhin, Wind war aufgekommen. Gedankenverloren blickte er auf die unruhige Wasserfläche, als er von herannahenden Schritten und Stimmen aufgeschreckt wurde.
Hamilton schritt den Gang entlang, bog nach links ab und trat in einen kleinen Hof, der einst ein Garten mit Bäumen und Springbrunnen gewesen sein mochte. Er stieg einige Stufen hinauf und gelangte auf ein Plateau, von dem aus er in das Innere der Kapelle schauen konnte. Die vor dem Altar hängende Lampe warf ein flackerndes Licht auf die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Nähe, alles übrige lag im Dunkel. Gerade als er diesen interessanten Ort verlassen wollte, um das Speisezimmer zu suchen, näherten sich zwei Personen, und da er die Stimme seiner Reisegefährtin erkannte und vermutete, dass sie von ihrer Schwester begleitet wurde, entfernte er sich hastig durch einen anderen Eingang. In der Eile stolperte er jedoch und seine Füße verhedderten sich unglücklich in einem Seil, das offensichtlich zum Glockenturm gehörte – bei einer einzigen unbedachten Bewegung würde er das gesamte Haus alarmieren. Während er versuchte, sich vorsichtig zu befreien, wurde er unfreiwillig zum Zuhörer eines nicht für seine Ohren bestimmten Gesprächs.
„Du findest also nicht, dass er gut aussieht?“, fragte Sophie gerade.
„Ich könnte nicht sagen, dass er mir besonders gefällt – aber ich habe ihn auch nur kurz beim Mittagessen gesehen. Ich glaube, er ist ziemlich eingebildet.“
„Auf alle Fälle war es sehr nett von ihm, uns in seinem Wagen mitzunehmen“, erwiderte Sophie. „Ich bin überzeugt, dass du ganz anders über ihn reden würdest, wenn du an meiner Stelle mit ihm gereist wärst.“
„Liebe Sophie, ich bezweifle gar nicht, dass er ein guter Unterhalter ist, wenn du es sagst, er hat auch sicher gute Manieren et cetera, aber du kannst mich nicht dazu zwingen, ihn anziehend zu finden.“
„Ich habe auch nicht gesagt, dass ich ihn anziehend finde“, protestierte Sophie.
„Nein, aber etwas Ähnliches – der interessanteste Mann, dem du je begegnet bist, das sagtest du doch, oder? Nun gut, dunkle Haare, braune Augen, kräftige Augenbrauen, schöne Zähne, gepflegte Hände, gute Manieren … Für mich ist er trotzdem einfach ein etwas übermütiger, eitler Jüngling ...“
„Natürlich, ich hätte wissen müssen, dass er vor deinen Augen keine Gnade findet“, unterbrach Sophie ihre Schwester, „für dich muss es unbedingt ein Offizier sein in einer schneidigen Uniform und mit einem Säbel.“
„Ob mit Uniform oder ohne“, erwiderte die Angesprochene lachend, „das würde bei ihm keinen großen Unterschied machen, er würde darin doch nur aussehen wie ein verkleideter Student.“
Hamilton biss sich in seinem Versteck wütend auf die Lippen.
„Ich wollte dir eigentlich etwas sagen“, begann Sophie zögernd, „aber du scheinst so gegen ihn eingenommen zu sein, dass ...“
„Gegen ihn eingenommen? Überhaupt nicht! Ich halte ihn nicht für besonders anziehend, das ist alles.“
„Nun, du weißt, dass wir auf der Fahrt hierher sehr viel miteinander geredet haben und … und … also, als wir nach Seeon hineinfuhren, sagte er, dass er mich gerne bei Mondschein im Kreuzgang treffen würde.“
„Ja, das sieht ihm ähnlich!“, rief ihre Schwester aufgebracht. „Wie dreist nach einer so kurzen Bekanntschaft!“
„Er ist Engländer“, sagte Sophie entschuldigend, „er hat gewiss keine schlechten Absichten gehabt. Er war auch ganz unbefangen, als wir ausgestiegen sind, während ich die ganze Zeit Angst hatte, man könnte mir irgendetwas anmerken. – Still, Isabelle – hast du das auch gehört? Was ist das?“
„Ich habe nichts gehört.“ Es entstand eine Pause.
„Es ist wohl nichts, nur das Gewitter“, sagte Isabelle dann.
„Ich habe aber gehört, dass jemand geatmet hat“, sagte Sophie ängstlich. „Und wie dunkel es ist! Man sieht kaum die Hand vor Augen.“
Hamilton wagte nicht, sich zu bewegen. Sie standen jetzt nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sie tasteten sich offenbar an der Wand entlang, doch während eine sicher das Ende des schmalen Ganges erreichte, stolperte die andere an der Treppe, und da Hamilton unwillkürlich eine Bewegung machte, ließ ihn ein aufzuckender Blitz für Sekunden sichtbar werden. Obwohl er sofort einen Schritt zurücktrat, hatte Sophie ihn gesehen und schrie erschreckt auf: „Ich habe ihn gesehen! Ich habe ihn gesehen! Er ist hier!“
„Wer? Von wem sprichst du?“
„Der Engländer! Er ist dort drüben!“
„Unmöglich, das bildest du dir ein! Wie kannst du nur so töricht sein!“
„Ich habe ihn gesehen, als es geblitzt hat, und er sah aus, als ob er tot wäre! Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn wirklich gesehen!“, rief Sophie und fing an zu schluchzen.
Hamilton war zutiefst erschrocken. Da er glaubte, dass der Beweis seiner Lebendigkeit sie von ihrer Angst befreien würde, ihn als Geist gesehen zu haben, trat er aus seinem Winkel hervor und erklärte, so gut er konnte, warum er sich dort verborgen hatte. Vor lauter Besorgnis ergriff er Sophies Hand, nannte sie beim Vornamen und redete allerlei Unsinn, um sie zu beruhigen. Seine Bemühungen waren jedoch vergeblich, laut rief sie: „Gehen Sie! Lassen Sie mich!“
„Sophie, sei doch still“, zischte ihre Schwester. „Willst du, dass wir hier entdeckt werden?“
Ihre Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten, denn schon hörte man Türen klappern, irgendwo flammten Lichter auf.
„Gleich wird die Mama kommen und wir können uns darauf gefasst machen, gleich morgen wieder nach München zurückzukehren“, sagte Isabelle.
Hamiltons Situation wurde immer unangenehmer. Wie sollte er das Ganze Frau Rosenberg oder auch anderen Gästen erklären; seine Gedanken wirbelten wild durcheinander.
„Was Sie betrifft, Herr Engländer“, sagte Isabelle eisig, „so wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie sich möglichst schnell entfernen würden, um uns nicht in Verlegenheit zu bringen. Gehen Sie!“
Automatisch wandte er sich um.
„Nicht dorthin, nicht dorthin“, rief sie heftig, „man könnte Sie wirklich für einen Narren halten!“
Durch diese unhöfliche Bemerkung getroffen, zischte Hamilton wütend: „Wo zum Teufel soll ich denn hingehen, Mademoiselle? Soll ich etwa diesen Lichtern entgegen gehen?“
„Gehen Sie, gehen Sie!“, rief sie mit zunehmender Heftigkeit und stampfte mit dem Fuß auf. „Wenn Sie sich beeilen, können Sie durch den Korridor entkommen, ohne dass man Sie entdeckt.“
Er eilte durch den Gang, stolperte zwei Treppen hinauf, gelangte zu einer Tür, die glücklicherweise unverschlossen war und fand sich – in der Kirche wieder. Völlig verwirrt und von Scham erfasst, sank er in einen Sitz nieder und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Das Ganze war ein Albtraum.
Schritte und Stimmen kamen näher, er hörte mehrere Personen sprechen, dann war alles ruhig, nur Sophies Schluchzen war noch zu hören. Unterdessen hatte draußen der Sturm zugenommen, einem Blitz folgte augenblicklich ein so lauter Donner, dass er die Grundmauern des Gebäudes zu erschüttern schien. Die Versammlung löste sich daraufhin offenbar auf; Hamilton konnte hören, wie sich Schritte entfernten und die Stimmen leiser wurden, Türen sich öffneten und wieder schlossen. Sobald alles still war, erhob er sich aus seinem Sitz und bewegte sich zum Ausgang. Leider hatte er jegliche Orientierung verloren und keine Ahnung, in welche Richtung er gehen musste, um zum Speisezimmer zu gelangen. So lautlos wie möglich durchquerte er einen Korridor und warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen sah er die Kutsche des Barons. Diese Aussicht diente ihm gewissermaßen als Kompass, denn die Fenster seines Zimmers gingen zur selben Seite hinaus. Trotzdem hielt er es für ratsam, Licht zu machen. Bis er die Lampe im Gang entzündet hatte, vergingen einige Minuten, und als er weiterging, sah er auf einmal Isabelle und ihre Stiefmutter in einiger Entfernung vor sich. Die Letztere redete laut auf jene ein und schien eine begonnene Strafpredigt fortzusetzen:
„Du kannst dich darauf verlassen, dass dein Vater einen ausführlichen Bericht von dieser Geschichte erhält! Was für eine peinliche Szene! Graf Zedwitz hat seinen Diener zu mir geschickt, um zu fragen, ob er helfen könne, und Eintauchen in kaltes Wasser als probates Gegenmittel bei überreizten Nerven empfohlen. Vielleicht würde ein kaltes Bad Sophie in der Tat am schnellsten wieder zu Vernunft bringen. Wie soll ich mich erholen, wenn ich für dich und deine Schwester die Gouvernante spielen muss? Vergiss nicht, dass ich dir streng verbiete, nach Sonnenuntergang noch einmal in diesem Gang herumzuwandern, hörst du?“
„Ja, Madame!“
„Und dass Sophie sich derart vor Gewittern fürchtet, ist nun wirklich albern. Ich möchte wissen, ob alle jungen Damen im Internat laut schreien, sobald es anfängt zu donnern und zu blitzen.“
„Der Donner war sehr laut“, begann Isabelle, „und außerdem hat sie gesehen ...“
„Wie auch immer“, unterbrach ihre Mutter sie zu Hamiltons Erleichterung, „es mag Blitz und Donner oder was auch immer gewesen sein, aber das ist keine Entschuldigung für einen derartigen Aufruhr, und sollte sich etwas Ähnliches wiederholen, so wird das ernste Konsequenzen haben. Ich bin hier, um mich zu erholen, und jede Nervenreizung ist mir vom Arzt ausdrücklich untersagt worden.“
Hamilton folgte ihnen unauffällig in einiger Entfernung bis zum Speisezimmer. Es war spät geworden, die meisten Gäste hatten längst gegessen. Der Baron, dessen Anreise er vom Fenster aus miterlebt hatte, zündete sich gerade eine Zigarre an und verließ den Raum. Ein anderer Herr, neben dem ein Bierkrug stand, war, wie er bald herausfand, Major Stutzenbacher. Er saß neben einem hageren jungen Mann, bei dem es sich offensichtlich um den Maler handelte.
Isabelle und ihre Stiefmutter saßen ihm beinahe gegenüber. Die Erstere heftete, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen hatte, der auch sehr gut eine Ohrfeige hätte begleiten können, ihre Augen unverwandt auf das Tischtuch, Letztere nickte ihm freundlich zu und begann ein unverbindliches Gespräch über das Klima, das Wetter und ihre Abneigung gegen Gewitter im Allgemeinen. Als diese Themen erschöpfend behandelt waren, kam am Nebentisch die Rede auf das Münchner Bier; der Bock sei dieses Jahr besonders gut gewesen, hieß es.
„Bock!“, rief Major Stutzenbacher enthusiastisch. „Bock ist besser wie Champagner, besser wie ...“ Offenbar fehlten ihm die Worte, um seiner Begeisterung für dieses Getränk den gebührenden Ausdruck zu verleihen, denn er blickte nur in stummer Verzückung hinauf zur Decke. Dann ließ er seinen Blick weiter schweifen und schließlich wohlgefällig auf Isabelle ruhen.
„Wollen Sie vielleicht die Zeitung haben, Madame?“, fragte er höflich, indem er ihrer Stiefmutter die aktuelle Ausgabe hinhielt.
„Ich danke Ihnen, aber ich lese nie Zeitung, obgleich ich mit einigen Bekannten den Eilboten halte, aber nur weil er zu uns immer zuletzt kommt; mit dem Papier kann man ganz wunderbar die Spiegel und Fenster putzen, es schmiert nicht.“
„Es stehen mitunter aber auch recht hübsche Geschichten im Eilboten. Junge Damen lesen solche Dinge ganz gern“, bemerkte er mit einem Blick auf Isabelle.
„Meine Töchter dürfen nur Französisch lesen, und ich habe für sie in einer Leihbibliothek abonniert. Sie beherrschen die Sprache mittlerweile wirklich wie ihre zweite Muttersprache“, sagte sie nicht ohne Stolz.
„Ich würde nichts dagegen haben, von einer solchen Lehrerin Französisch zu lernen“, sagte der Major galant.
„Ich glaube nicht, dass Isabelle zur Lehrerin geeignet wäre“, erwiderte Madame Rosenberg streng. „Aber ihre Schwester Sophie wird mit meinen Knaben demnächst Französisch sprechen, damit sie die Sprache früh lernen.“
„Sie haben zwei Töchter?“, rief der Major.
„Stieftöchter“, stellte sie richtig.
„Natürlich, anders habe ich es auch nicht gemeint“, erklärte er mit einer kleinen Verbeugung, wohl um zu zeigen, dass das als Kompliment gemeint war. „Die jungen Damen werden Ihnen im Haushalt sicher von großem Nutzen sein.“
„Das ist es eben, was bei ihrer Erziehung vernachlässigt worden ist; wenn sie eben so gut einen Haushalt führen könnten wie Französisch sprechen, dann wäre ich wirklich zufrieden. Sobald wir nach München zurückkehren, werden beide das Kochen lernen. Außerdem sollen sie sich natürlich um die Kinder kümmern.“
„Sie werden die jungen Damen sicher so gut auf ihre Bestimmung vorbereiten, dass sie nicht lange unverheiratet bleiben werden.“
„Das will ich doch hoffen. Aber die Männer laufen jungen Mädchen, die kein Vermögen haben, nicht gerade in Scharen nach!“, bemerkte Madame Rosenberg scherzhaft.
Hamilton beobachtete, wie Isabelle auf den Verlauf dieses Gesprächs reagierte. Sie drehte dem Major mehr oder weniger den Rücken zu und schien ganz in die Betrachtung eines Bierglases versunken zu sein … Wäre es ihre Schwester gewesen, dann hätte er angenommen, sie wolle auf diese Weise ihre Verlegenheit verbergen – aber Isabelle war nicht schüchtern, bei ihr vermutete er andere Gründe. Ihre zusammengepressten Lippen und ihre leicht gekräuselte Stirn verrieten einem aufmerksamen Beobachter heftigsten Unmut, der sich noch steigerte, als ihre Stiefmutter den Major Stutzenbacher unumwunden fragte, ob er verheiratet sei, was dieser lächelnd verneinte. Durch eine plötzliche heftige Bewegung des Mädchens fiel das gefüllte Bierglas vor ihr um, und der Inhalt ergoss sich über das Tischtuch und Hamiltons linken Ärmel.
„Mille fois pardon!“, rief Isabelle, die in diesem Moment wirklich so aussah, als täte ihr das vermeintliche Missgeschick leid.
„Du albernes, ungeschicktes Ding!“, rief ihre Stiefmutter, besann sich jedoch sofort aus naheliegenden Gründen und fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Es wird am besten sein, wenn du jetzt zu Bett gehst; ich sehe, dass du dich von der Aufregung wegen des heftigen Gewitters vorhin noch nicht wieder erholt hast.“ Isabelle erhob sich schnell und verließ mit einer leichten, aber etwas hochmütigen Verbeugung in Richtung der Tischgenossen das Zimmer. Madame Rosenberg beeilte sich, sich für die Ungeschicklichkeit ihrer Stieftochter sowohl bei Hamilton als auch bei Major Stutzenbacher zu entschuldigen. Der Major nickte bei ihren Worten nachsichtig und gutmütig mit dem Kopf, aber Hamilton fühlte sich wegen seines durchnässten Ärmels, aber auch aus anderen Gründen nicht besonders wohl und zog es vor, sein Abendessen so schnell wie möglich zu beenden und der Gesellschaft eine gute Nacht zu wünschen.
2
Für Hamilton gab es nur wenige Dinge, die ihm lästiger waren, als morgens aufzustehen. Er war ein notorischer Morgenmuffel, und wenn er keinen wichtigen Termin hatte, konnten ihn nur besonders gute Laune und verlockende Sonnenstrahlen, die durch die leichten Musselinvorhänge drangen, dazu bewegen, schon vor sieben Uhr morgens freiwillig das Bett zu verlassen und sich vollständig anzukleiden. So war er nicht wenig erstaunt, dass er Sophie und ihre Schwester schon vor acht im Garten entdeckte. Eine Begegnung schien ihm jedoch wenig ratsam, und so schlenderte er langsam hinüber zum Ufer des Sees, wo einige Kähne lagen. Er sprang in einen hinein, ergriff die Ruder und war in wenigen Minuten draußen auf dem Wasser; dann hielt er in seinen Anstrengungen inne und sah sich in aller Ruhe um.
Das Kloster war vor fast neunhundert Jahren auf einer Insel mitten im Seeoner See erbaut worden, nicht weit entfernt vom Chiemsee. Sie war durch eine Brücke mit dem Festland verbunden, die später durch einen Damm ersetzt wurde. Von Mönchen bewohnt wurde das Kloster bis 1803, seitdem diente es als vornehmes Hotel. Von dem ursprünglichen Gebäude aus dem Jahr 994 war nur der Kreuzgang vorhanden; alles übrige war 1561 von einem Feuer zerstört worden.
Vorhin hatte die freundliche Wirtin Hamiltons Bitte um Auskünfte über ihr Haus und die heilende Quelle mit der Aushändigung eines Büchleins beantwortet, das den Titel Die Mineralquellen des Königreichs Bayern trug. Er zog es aus der Innentasche seiner Jacke und las: „Die Quelle von Seeon soll, wie man im Kloster allgemein behauptet, unter dem Hochaltar der Klosterkirche entspringen. Sie ist erst seit der Aufhebung der Klöster mehr bekannt geworden, denn der Prälat von Seeon hatte im Einverständnis mit den übrigen Geistlichen die Existenz der Quelle stets geheim zu halten gesucht. Der erste Besitzer des Klosters Seeon, Herr Destler, hatte dem Mineralwasser nicht die geeignete Aufmerksamkeit gewidmet, aber der jetzige Eigentümer, Herr Reichenwallner, ist seit einigen Jahren bemüht, die Quelle mehr bekannt zu machen und in Aufnahme zu bringen, was auch mit sehr glücklichem Erfolge geschehen ist … Die Lage des Klosters ist eine der schönsten, welche man sehen kann. Ein großes Gebäude, unmittelbar am See gelegen … es befinden sich dort 18 wohl eingerichtete Zimmer … Man badet zu ebener Erde in kleinen abgeschlossenen Zellen … Es sind dort 30 Badewannen, welche im Sommer viel benutzt werden … Das Wasser riecht stark nach Schwefelwasserstoffgas und hat einen auffallenden Geschmack nach Eisen.“
Hamilton ließ das Buch sinken. Vom See aus konnte er bis in die parkähnliche Gartenanlage hinein sehen; so konnte er beobachten, wie Sophie und ihre Schwester auf und ab gingen, wobei sie sich eifrig unterhielten und so häufig in seine Richtung blickten, dass er überzeugt war, der Gegenstand ihrer Gespräche zu sein. Wenig später wurde ihre Zweisamkeit durch das Erscheinen ihrer drei kleinen Stiefbrüder jäh beendet, und Sophie ließ sich dazu bewegen, mit ihnen Fangen zu spielen. Isabelle kümmerte sich nicht um die Kinder, sondern ging auf das Ufer zu und blickte auf den See hinaus.
„Vielleicht bereut sie, mich gestern Abend so unhöflich behandelt zu haben“, dachte er nicht ohne eine gewisse Eitelkeit. „Sie scheint reifer zu sein als ihre Schwester, außerdem ist sie ohne Zweifel die Hübschere der Beiden.“
Hamilton ruderte zurück an den Landungsplatz, band den Kahn fest und ging langsam auf sie zu; doch sie schien in Wirklichkeit keinerlei Interesse an ihm zu haben, denn sie blickte weiterhin regungslos auf den See hinaus, auf irgendeinen imaginären Punkt in der Ferne, und selbst beim Klang seiner Stimme, als er andere Gäste grüßte, drehte sie sich nicht zu ihm um.
Er sah auf die Uhr und fand, dass es an der Zeit sei, das Frühstück einzunehmen, um danach Graf Zedwitz zu besuchen, denn ohne Zweifel war er der Absender des Briefes, der ihn nach Seeon gebracht hatte. Er fragte nach der Wirtin und erfuhr, dass sie in der Küche mit der Bereitung von Kaffee und Semmeln beschäftigt sei. Zu seiner freudigen Überraschung ordnete sie an, sein Frühstück in die Laube zu tragen, wo die Gräfin Zedwitz und ihre Tochter frühstückten, weil sonst alle Plätze im Garten belegt seien. Er folgte ihr mit einer Mischung aus Nervosität und Neugier. Während das Frühstück auf dem Tisch der Frauen abgestellt wurde, stellte die ältere Dame halblaut eine kurze Frage, die offenbar zu ihrer Zufriedenheit beantwortet wurde, denn sie nickte zustimmend mit dem Kopf. Seine Verbeugung wurde mit einem freundlichen Lächeln quittiert.
„Sie weiß, wer ich bin“, dachte er. Beim Anblick der Tochter, die ausgesprochen frisch aussah, fiel ihm die Erzählung des Zimmermädchens ein – vermutlich war sie vorhin gerade einem Zuber mit kaltem Wasser entstiegen.
„I beg your pardon Madam“, sagte Hamilton höflich und bat um Verzeihung, dass er sie beim Frühstück störe.
„Oh you're very welcome“, erwiderte die Gräfin freundlich in seiner Muttersprache. „Ich freue mich immer über eine Gelegenheit, Englisch zu sprechen. Ich schätze mich glücklich, ihre Bekanntschaft zu machen.“
Hamilton erwiderte sinngemäß, die Freude sei ganz auf seiner Seite und er hoffe, ein recht interessanter Gesprächspartner für sie zu sein, worauf sie huldvoll lächelte und nickte. Die Antwort auf seine Frage, ob sie seinen Vater jemals persönlich kennen gelernt habe oder welchen Anlass ihre freundliche Einladung sonst habe, blieb sie jedoch schuldig. Wie die meisten Deutschen, die zu jener Zeit Englisch lernten, verstand sie selten wirklich, was man in dieser fremden Sprache zu ihr sagte, weil sie ihre Kenntnisse nur aus Büchern hatte. So konnte sie zwar Englisch lesen und leidlich sprechen, ganze Sätze verwandelten sich in ihren Ohren aber in ein undurchdringliches Dickicht fremder Laute. Folglich zog sie es vor, selbst etwas zu sagen statt auf irgendetwas zu antworten. Auf die Frage nach dem Anlass für ihren Brief sagte die Gräfin schließlich nach einer kleinen Pause: „Wir haben hier eine wunderbare Natur. Es ist so ruhig.“
Hamilton war verblüfft – sie hatte ihn nach Seeon gebeten, weil es hier ruhig war, sonst nichts? Oder war sie vielleicht schwerhörig?
„Die Mama will sagen, dass die Aussicht hier sehr gut ist“, sagte ihre Tochter erklärend.
„Ah ja – die Aussicht!“, wiederholte er.
„I mean the landscape – or paysage? Landschaft – heißt es nicht so auf Englisch?“
„Doch, doch“, erwiderte er schnell und sah sich um. Aber sie befanden sich eben in einer Laube, die vollständig von dichten grünen Zweigen umgeben war, um die darin Sitzenden vor Sonneneinstrahlung zu schützen, und der kleine Eingang führte in den Garten – es war also gar keine Aussicht vorhanden, die diesen Namen verdient hätte. Hamilton wusste nicht, was er sagen sollte und begann, sich leicht unbehaglich zu fühlen. Glücklicherweise erschienen in diesem Moment die Rosenbergs im Garten und sorgten für Ablenkung. Sophie und ihre Schwester gingen ihrer Stiefmutter entgegen. Sie trug ein nicht besonders vorteilhaftes Kleid aus dunklem Stoff und hatte einen leichten Schal über die Schultern geworfen; zu Hamiltons Erstaunen hatte sie noch diese merkwürdigen Dinger aus Leder im Haar, die Frauen benutzten, um widerspenstige Locken in Form zu bringen.
„Wer ist das?“, fragte die Gräfin, zu seiner großen Erleichterung auf Deutsch. „Wer ist diese Person?“
„Soweit ich weiß, ist ihr Name Rosenberg“, antwortete er. „Sie ist gestern Abend aus München angereist.“
„Ach, ich weiß, das ist die Person, die gestern wegen des Gewitters im Gang so laut geschrien hat.“
„Nein, ich glaube, das war eine ihrer Töchter.“
„Oh, eine von ihren Töchtern? Sie sind sehr hübsch“, sagte die Gräfin, indem sie ihr Lorgnon an die Augen hob. „Wirklich ausgesprochen hübsch, und ich glaube, ich habe sie schon einmal irgendwo gesehen – aber wo? Ich kann mich nicht erinnern.“
„Oh Mama, ich weiß, woher Sie sie kennen; sie waren im selben Internat wie meine Cousine Therese, und wir haben sie vergangenes Jahr beim Examen gesehen. Erinnern Sie sich nicht mehr an die beiden Schwestern, die sich so ähnlich sahen? Und als wir mit der Fürstin Radolny nach Hause fuhren, sagte sie, dass sie ihre Mutter gekannt habe, die in ihrer Jugend ebenfalls eine Schönheit war.“
„Diese Person in dem abscheulichen Negligé? Das hast du sicher falsch verstanden, Kind.“
„Nein, nein – ihre leibliche Mutter war von Adel! Sie war eine Raimund, hatte kein Vermögen und heiratete einen Bürgerlichen, weil sie nicht nur schön, sondern auch klug war. Ihre Verwandten haben ihr diesen Fehltritt nie wirklich verziehen, aber nach ihrem frühen Tod boten sie an, ihre beide Töchter zu Gouvernanten ausbilden zu lassen. Ihr Vater war zuerst nicht damit einverstanden, aber dann hat eine reiche Handwerkertochter geheiratet und auf ihr Drängen hin hat er dann doch eingewilligt.“
„Ja, jetzt erinnere mich mich, Agnes – wahrscheinlich eine Schwester von Graf Raimund ...“
„Gnädiges Fräulein, Ihr Name ist Agnes?“, fragte Hamilton überrascht. „Dann sind Sie vielleicht die Absenderin des Briefes, den ich in München erhalten habe?“
„Was für ein Brief?“, fragte die Gräfin und runzelte die Stirn.
„Ein Irrtum, Mama.“
„Aber er hat doch gesagt, dass du an ihn geschrieben hast?“
„Nein, Mama, ich habe nicht an ihn geschrieben. Aber es ist sehr gut möglich, dass es der Papa getan hat. Ich weiß, dass er vor kurzem an einen Engländer in München geschrieben hat. – Er wird sich sicher sehr freuen, Sie zu sehen“, fügte sie zu Hamilton gewandt hinzu, „denn obwohl er ganz leidlich Englisch spricht, bereitet ihm das Schreiben große Mühe, und für den Brief, von dem Sie sprechen, hat er beinahe eine Stunde gebraucht. Wenn Sie gefrühstückt haben, kann ich mit Ihnen auf sein Zimmer gehen.“
Hamilton setzte seine Kaffeetasse ab und stand augenblicklich auf.
„Agnes! Du weißt, dass der Vater schwitzt“, sagte ihre Mutter.
„Ja, Mama, das weiß ich. Aber der Papa wird sehr erfreut sein zu hören, dass Herr Hamilton aus London angekommen ist. – Sie kommen wahrscheinlich gerade aus Gräfenberg zurück? Haben Sie einen Brief von Prießnitz dabei?“
„Einen Brief von Prießnitz? Ich bedaure“, erwiderte Hamilton.
„Vielleicht möchten Sie mit dem Papa sprechen, ehe Sie sich entschließen, nach Gräfenberg zu gehen?“
„Ich? Ich habe nicht die geringste Absicht, dorthin zu gehen, mein Fräulein“, sagte Hamilton, der keine Ahnung hatte, wovon sie überhaupt sprach; in England kannte niemand Vincenz Prießnitz und seine Wasserkuren, den Wegbereiter des später legendären Sebastian Kneipp.
„Nun, auf alle Fälle sollten Sie mit dem Papa sprechen, ich bin mir sicher, dass er Sie erwartet.“
„Es wird mich sehr freuen, seine Bekanntschaft zu machen. Ich fürchte nur, dass er eigentlich hofft, meinen Vater zu treffen, der vor Jahren in Deutschland war.“
„Ich denke, das wird ihm gleich sein“, sagte das Fräulein, als sie neben ihm herging. „Sie können Ihrem Vater ja Grüße ausrichten. Es tat dem Papa nur leid, dass er Sie nicht zuhause empfangen konnte, weil unser Haus gerade renoviert wird ...“
„Ja richtig, das hat er in seinem Brief geschrieben.“
„Warten Sie hier, bis ich ihm gemeldet habe, dass Sie angekommen sind“, sagte sie und klopfte an eine der Zimmertüren, die sich öffnete und gleich wieder hinter ihr schloss. Kurz darauf erschien ein langer schmaler Diener, um ihn in das Zimmer des Grafen zu führen. Bei seinem Eintritt bemerkte er, dass auf dem Bett eine Gestalt lag, die so in Decken gewickelt und unter Federbetten begraben war, dass man nur das Gesicht sehen konnte, über das der Schweiß in Strömen rann. Auf seiner Brust lag ein Lesepult, und eine lange, fest zwischen seine Lippen gepresste Gänsefeder diente dazu, die Seiten eines Buches umzuwenden, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen.
„Sehr erfreut, Sie zu sehen – sehr erfreut, dass Sie meinen Brief bekommen haben. Sind Sie wieder gut auf den Beinen?“
„Ich danke Ihnen, ganz leidlich“, sagte Hamilton, einigermaßen erstaunt über diese Anrede.
„Sie sind in Gräfenberg gewesen, nicht wahr?“
„Nein.“
„Sie sind ohne Prießnitz wieder gesund geworden?“
„Gesund geworden?“, wiederholte Hamilton. „Verzeihen Sie, aber ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht ernsthaft krank gewesen, von Erkältungen und anderen Kleinigkeiten mal abgesehen.“
„Kleinigkeiten! Ihr Engländer habt einen besonderen Humor. Rheuma ist nun wirklich keine Kleinigkeit!“
„Die Gicht kommt bei uns häufiger vor“, bemerkte Hamilton belustigt, der sich vorkam wie in einer Komödie.
„Also Gicht, Podagra, Rheumatismus, was Sie wollen – das sind keine Kleinigkeiten! Sie haben also die Gicht gehabt?“
„Noch nicht, aber ich werde sie wohl irgendwann bekommen, sie ist in unserer Familie erblich. Mein Vater hat jedes Jahr zwei oder drei Anfälle.“
„Also Ihr Vater hat die Gicht?“
„Ja, und ich vermute, dass Sie eigentlich auch an meinen Vater schreiben wollten. Ich bin vermutlich nicht der, für den Sie mich halten.“
„Was – wie meinen Sie das?“, rief der eingewickelte Graf in offenkundiger Bestürzung und versuchte vergeblich, sich aufzurichten.
„Ich meine, dass ich gestern einen Brief bekommen habe, der mich einlud, hierher zu kommen. Die Unterschrift ist nicht zu lesen, das Siegel zeigt ein Krönchen und die Buchstaben A und Z. Ich kam an, erkundigte mich nach den Gästen des Hauses und hielt es für möglich, dass Graf Zedwitz oder ein Mitglied seiner Familie an mich geschrieben habe. Ihre Tochter versicherte mir vorhin, dass Sie an einen Engländer in München geschrieben hätten und wünschten, ihn zu sehen.“
„Hm, sehr merkwürdig“, murmelte der Graf und musterte ihn. „Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“
„Hamilton“, erwiderte er.
„Ich habe nicht die Ehre, eine Person dieses Namens zu kennen“, sagte der Graf. „Ich bin erstaunt, Sir, dass Sie davon ausgingen, der Brief stamme von mir.“
Hamilton bemühte sich, seine Verlegenheit zu verbergen. „Ich hielt es immerhin für möglich – mein Vater hat Bekannte in Deutschland. Ich bedauere, Sie belästigt zu haben. Vermutlich bin ich umsonst nach Seeon gekommen, jedenfalls werde ich wohl nie erfahren, wer nun wirklich der Absender des Briefes ist.“
„Warten Sie“, sagte der Graf. „Wenn ich es recht bedenke, dann ist es gut möglich, dass der Brief von Baron Zander ist; seine Frau ist Engländerin. Er ist noch nicht abgereist. Und falls Sie doch etwas über Prießnitz und die Wasserkur lernen möchten, so will ich Ihnen gerne ein paar Bücher leihen. Nehmen Sie doch vorerst die kleine Broschüre mit, die dort drüben auf dem Tisch liegt. Lesen Sie, was darin über das Schwitzen, das Baden in kaltem Wasser und das Wassertrinken gesagt wird, und bilden Sie sich selbst ein Urteil; ich werde Sie beim Mittagessen sehen.“
Hamilton nahm das Büchlein an sich und dankte. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, den Vormittag jemals als schwitzende Mumie zu verbringen, war er vielleicht immerhin gerade dabei, etwas über die Sitten und Bräuche in diesem Land zu erfahren.
3
Als Hamilton auf dem Weg zu seinem Zimmer war, kam er auf die Idee, ein Zimmermädchen nach Baron Zander zu fragen. Er gab ihm seine Visitenkarte und es kam wenig später zurück und sagte, der Baron freue sich, ihn zu empfangen. Hamilton folgte der freundlichen Einladung augenblicklich und war nicht weiter erstaunt, den „Herrn Baron“ von gestern anzutreffen, dessen Anreise er miterlebt hatte. Er war der einzige Baron, der zurzeit im Kloster logierte. Er trat sehr herzlich auf Hamilton zu, schüttelte ihm die Hand und rief: „Mister Hamilton, I'm very glad to see you – sehr erfreut, Sie zu sehen. Meine Frau und ich haben Ihre Ankunft sehnlichst erwartet, denn wir müssen Seeon heute Nachmittag verlassen, um nach Berchtesgaden zu gehen. Aber nun lässt sich alles leicht arrangieren, Sie gehen mit uns, Sie bewundern die schönen Berge, Sie sehen die Salzwerke, und dann arrangieren wir eine Alpenpartie oder eine Gamsjagd. Sind Sie ein guter Schütze?“
„Nein, das bin ich leider nicht“, antwortete Hamilton mit einiger Verlegenheit, denn seine mangelhaften Schießkünste sorgten im Freundeskreis immer wieder für spöttische Bemerkungen.
„Na, vielleicht bevorzugen Sie eine Hetzjagd zu Pferde?“
Hamilton gab zu, dass ihm eine Parforcejagd lieber wäre, weil er wesentlich besser reiten als schießen könne.
„Bei mir ist es genau umgekehrt“, erwiderte der Baron lachend. „Ich dachte, es wäre für Sie interessant, mich auf eine Jagd zu begleiten ...“
„Das würde ich natürlich sehr gerne tun, aber am liebsten als Zuschauer“, sagte Hamilton eifrig.
Zander trug seinem Diener auf, seiner Frau zu melden, dass Mr. Hamilton, der erwartete Engländer, angekommen sei. War sie die Absenderin des Briefes? Als sie ins Zimmer trat, begrüßte sie ihn sehr freundlich, aber reserviert. Hatte sie einen anderen erwartet? Als er ihren Brief und die Einladung erwähnte, sagte sie zunächst nichts, und das Blut stieg ihm langsam zu Kopf.
„Wissen Sie, ich hatte eigentlich mit Ihrem Vater gerechnet, deshalb bin ich jetzt etwas enttäuscht. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Sie waren noch ein Kind, als ich Sie das letzte Mal gesehen habe John, ich kann mich an Sie kaum noch erinnern. Aber es freut mich, dass Sie erst einmal eine längere Auslandsreise unternehmen, ehe Sie zu Ihrem Regiment gehen. Jedenfalls muss Ihnen das alles keineswegs unangenehm sein, Sie sind uns selbstverständlich herzlich willkommen. Ich bin schon ganz gespannt, was Sie mir über London erzählen werden.“
Hamilton bewegte sich auf ihre einladende Handbewegung hin mechanisch auf das Sofa zu. Er war verwirrt, gleichzeitig aber auch sehr erleichtert. Der Brief war also tatsächlich eigentlich für seinen Vater bestimmt gewesen. Außerdem hielt sie ihn für seinen Bruder John, aber das war ein Irrtum, der schnell aufzuklären war. Jedenfalls war die Baronin offenbar eine alte Freundin seines Vaters, und so hatte es sich auf jeden Fall gelohnt, hierher zu kommen.
Während er seine Gedanken ordnete, sagte jene gerade leise zu ihrem Mann: „Wie groß er ist, der längste Engländer, den ich je gesehen habe! Aber gut sieht er aus, und wenn er nicht so schüchtern wäre, wäre er garantiert ein echter Gentleman. Wir müssen ihn mit nach Berchtesgaden nehmen, Bernhard.“
„Ich habe bereits alles arrangiert“, antwortete er zustimmend. „Ich werde ihn mitnehmen auf eine Gemsenjagd.“
„Sind Sie Jäger?“, fragte sie Hamilton auf Englisch und setzte sich zu ihm aufs Sofa.
„Überhaupt nicht“, antwortete er und rückte ihr höflich einen Fußschemel zurecht. „Aber ich würde trotzdem sehr gerne eine Gemsenjagd sehen.“
„Wenn Sie kein guter Schütze sind, dann wird eine Gemsenjagd nicht das Richtige sein“, entgegnete die Baronin. „So eine Jagd dauert lange und ist sehr anstrengend. Wahrscheinlich wäre es interessanter für Sie, auf einen Berg zu steigen.“
„Alles Neue wird mir willkommen sein“, antwortete Hamilton, „ich möchte in Deutschland so viel über Land und Leute erfahren wie nur möglich. Es wäre schön, wenn ich mit einigen Familien näher bekannt werden könnte.“
„Ja, ich erinnere mich, dass Ihr Vater in einem Brief vor längerer Zeit erwähnt hat, dass Sie gerne eine Zeitlang in München wohnen würden ...“
„Mein Vater?“, fragte er verblüfft. „Davon weiß ich gar nichts. Vor meiner Abreise schien es ihm völlig gleichgültig zu sein, ob ich den kommenden Winter in München oder in Wien verbringen würde, er hat mir bei der Wahl der Stadt völlig freie Hand gelassen.“
„Vielleicht weil er wusste, dass ich nicht mehr in München bin.“
„Aber er hat seltsamerweise nie von einer deutschen Baronin gesprochen. Ich bin mir eigentlich sicher, dass er nie Ihren Namen erwähnt hat ...“
Sie seufzte. „Es scheint, dass er mich völlig vergessen hat. Das ist schade, aber es liegt natürlich auch daran, dass ich schon lange nicht mehr in England war. Ich darf mich also nicht beklagen. Tatsächlich habe ich früher aber sogar eine Zeitlang im Hause Ihrer Eltern gewohnt, als Sie noch ein Kind waren und zur Schule gingen.“
„Davon weiß ich leider gar nichts“, sagte Hamilton bedauernd. „Aber die Idee, eine Weile in München zu leben, gefällt mir ausgesprochen gut. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen könnten, eine Gastfamilie zu finden.“
„Das will ich gerne tun, aber Sie sollten warten, bis Sie sicher wissen, ob Sie zum Offizier ernannt werden ...“
„Ich gehe nicht in die Armee! Mein Onkel will nicht erlauben, dass ich nach Indien reise und deshalb ist es der Wunsch meines Vaters, dass ich in den diplomatischen Dienst gehe. Ich möchte meine deutschen Sprachkenntnisse deshalb weiter verbessern. Wenn sich eine geeignete Familie finden würde, die bereit wäre, mich für einige Zeit aufzunehmen, würde mir das sehr entgegen kommen.“
„Ein Diplomat! Wenn Sie diese Laufbahn einschlagen wollen, dürfen Sie freilich nicht schüchtern sein und nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen. Wie Sie vorhin so vor mir standen und kaum wagten, mir in die Augen zu sehen, haben Sie mir wirklich leid getan.“
„Ich befand mich auch in einer etwas unangenehmen Situation, denn ich habe natürlich gleich bemerkt, dass Sie nicht wissen, wer ich bin. Es hätte sein können, dass Sie diesen Brief gar nicht geschrieben haben oder eine völlig andere Familie Hamilton gemeint haben, und da ich heute früh bereits eine peinliche Szene hinter mich gebracht habe, so wünschte ich keine zweite, zumal ich nicht sicher sein konnte, ob die Aufklärung der Sache bei Ihnen auch so unterhaltsam sein würde wie bei Graf Zedwitz.“
Hamilton berichtete ihr recht ausführlich von seinem kleinen Abenteuer, das die Baronin so amüsierte, dass sie davon auf Deutsch ihrem Gatten erzählte, ehe er das Zimmer verließ. Ihr Benehmen ihm gegenüber flößte ihm großes Vertrauen ein, sie verhielt sich ganz so wie eine alte Bekannte der Familie. Natürlich kam es ihm entgegen, dass er mit ihr in seiner Muttersprache sprechen konnte, aber er war sich sicher, sie hätte ihn auch in einer anderen Sprache mühelos verstanden. Und so erzählte er ihr auch, dass er die Absicht habe, ein Buch zu schreiben. Sie zeigte keinerlei Erstaunen, so als sei das eine ganz naheliegende Idee, und fragte, was denn das Thema sein werde.
„Deutschland und die häuslichen Sitten oder etwas in dieser Art“, antwortete er zögernd.
„Dann hoffe ich, dass Ihre Sprachkenntnisse ausreichen, um mühelos einem Gespräch in dieser Sprache zu folgen und auch selbst etwas sagen zu können. Es ist in meinen Augen unverzeihlich, wenn Leute über die Bewohner eines Landes schreiben, ohne in der Lage zu sein, sich mit ihnen zu unterhalten.“
„Mein Deutsch ist auf jeden Fall gut genug, um mich zu unterhalten, normalerweise verstehe ich fast alles. Mir fehlt ein wenig die Übung, aber je länger ich hier bin, desto besser wird es werden. – Darf ich fragen, an welche Familien in München Sie gedacht hatten?“
„Ich hatte Kontakt zu zwei Familien, die in Frage kämen, aber ...“ Sie zögerte.
„Aber was?“
„Als mit der einen bereits alles soweit besprochen war, dass ich an Ihren Vater schreiben wollte, kam heraus, dass eigentlich nur ein Mitglied der Familie wirklich bereit war, sie aufzunehmen, und das war die Person, auf die es in diesem Falle am wenigsten ankam – ich meine der Herr. Er wünschte Ihre Gesellschaft, um Gelegenheit zu haben, Englisch zu sprechen; da er aber den größten Teil des Tages im Büro verbringt und jeden Abend ausgeht, so wären Sie natürlich auf das Entgegenkommen der Frau angewiesen gewesen, und sie sagte mir rundheraus, dass sie keinen fremden Logiergast im Hause wünsche und dass es ihr lieb wäre, wenn ich Sie anderweitig unterbringen würde.“
„Und die andere Familie?“
„Das war die Familie eines Professors an der Universität.“
„Ein Professor! Nun, das heißt nicht viel, und wahrscheinlich würde ich von dem gewöhnlichen häuslichen Leben hier wenig oder nichts sehen.“
„Da irren Sie sich. Ich befürchtete eher, Sie könnten vielleicht zu viel davon sehen, denn er ist verheiratet und hat fünf Söhne.“
„Hat seine Frau keinen Protest eingelegt?“
„Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Da sie aber nicht wohlhabend sind und bereits fünf Kinder im Haus sind, so dachte ich, dass es auf eine Person mehr oder weniger vielleicht nicht ankommen würde.“
„Fünf Kinder – also ehrlich gesagt, wenn Sie eine andere Familie finden könnten, dann wäre mir das sehr recht.“
„Der Professor ist inzwischen auch nicht mehr in München. Mir wurde noch eine andere Familie genannt, aber sie kommt aus verschiedenen Gründen nicht in Frage.“
„War der Mann dagegen oder die Frau?“
„In diesem Falle war ich dagegen – es leben unverheiratete Töchter im Haus.“
„Nun, das wäre kein Problem, im Gegenteil ...“
„Ich halte es für ein großes Problem“, sagte die Baronin ernst.
„Ich verstehe, was Sie meinen. Aber Sie glauben doch wohl nicht, dass ich ein solcher Narr bin, dass ich mich in jedes Mädchen verliebe, mit dem ich zufällig im selben Haus wohne? Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht derart leicht entflammbar bin.“
„Mag sein. Da ich aber nicht meine Hand dafür ins Feuer legen kann, dass Sie für weibliche Reize unempfänglich sind, und weil deutsche Mädchen das Wort Flirt nicht verstehen und bei jeder noch so unverbindlichen Annäherung auf einen Heiratsantrag hoffen, halte ich es für das Beste, Sie gar nicht erst in Versuchung zu führen. Aber ich habe einen großen Bekanntenkreis in München und ich bin mir sicher, eine Familie zu finden ...“
„Wo fünf dressierte Tanzbären im Hause sind“, unterbrach Hamilton sie schnippisch.
„Dann würden Sie ja das halbe Dutzend vollmachen, John“, antwortete sie lachend. „Aber jetzt im Ernst: Eine Familie, die einen jungen Mann als Hausgenossen aufnehmen würde, ohne mit seiner Familie in irgendeiner Form verwandt oder zumindest gut bekannt zu sein, und bereit wäre, eine verbindliche Abmachung über Kost und Logis einzugehen, ist entweder in finanziellen Schwierigkeiten oder sie gehört nicht zu den Kreisen, in denen wir beide üblicherweise verkehren. Eine alleinstehende Witwe wäre jedenfalls ebenso unpassend wie eine mit drei unverheirateten Töchtern. Und auch wenn ich Sie keineswegs für einen Narren halte, so können Sie eben vorher nicht wissen, ob Sie nicht doch Gefühle für ein Mädchen entwickeln würden, das sie täglich sehen, und es lässt sich nicht vorhersagen, welche Verwicklungen und Enttäuschungen sich daraus ergeben könnten. Es ist ja nun auch nicht so, dass junge Mädchen in heiratsfähigem Alter nicht durchaus versuchen würden, einem Burschen zu gefallen und kokett zu sein, und sei es nur, um ihre Schwester oder eine Freundin neidisch zu machen.“
„Aber ich versichere ihnen ...“
„Natürlich werden Sie mir versichern, dass Sie ein Herz aus Stein haben und ein Mann mit Prinzipien sind und auf gar keinen Fall ein Verhältnis mit einer Person anfangen würden, die gesellschaftlich unter Ihnen steht und nicht würdig wäre, den Namen Hamilton zu tragen und in Ihre Familie aufgenommen zu werden. Aber da Sie das Glück haben, der Erstgeborene zu sein und damit auch der Erbe ...“
„Verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber in diesem Punkt irren Sie: Ich bin der Zweitgeborene.“
„Sie sind nicht John?“, fragte sie erstaunt.
„Nein. Würde ich John heißen, dann hätte ich Ihren Brief nicht geöffnet, denn er war nicht an John Hamilton adressiert, sondern an …“
„ … an Archibald Hamilton“, sagte sie.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Er war an A. Hamilton, Hotel Goldener Hirsch, adressiert.“
„Tatsächlich?“ Die Baronin musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte dann: „Es ist wirklich kaum möglich, dass Sie der kleine Archy sind ...“
„Ich bin auch nicht der kleine Archy“, rief Hamilton, der sich plötzlich ausgesprochen unbehaglich fühlte.
„Dann bitte ich Sie, mir zu sagen, wie Sie nun eigentlich heißen“, sagte die Dame kühl und sah ihn dabei an, als formuliere Sie im Geist schon eine Anzeige wegen Hochstapelei.
„Alexander – Alexander Hamilton“, stieß er mit rotem Kopf hervor, und außerstande, eine derart peinliche Situation noch eine Sekunde länger zu ertragen, ergriff er seinen Hut und ein Paar Handschuhe, das ihr gehörte, wie er später erfahren sollte, und flüchtete aus dem Zimmer. Er glaubte, hinter sich ein unterdrücktes Lachen zu hören, doch das war ihm egal – mochte sie lachen, wenn ihr danach war. Ihm war überhaupt nicht nach Lachen zumute; in seinem Zimmer angekommen, ließ er sich schwer atmend auf einen Stuhl fallen, nur um wenig später unruhig auf und ab zu gehen.
„Was für eine Blamage! Wie stehe ich denn jetzt da? Was sollte ich denn anderes tun, als meine Visitenkarte abzugeben? Mein Name steht dort schwarz auf weiß. Aber die hat natürlich nur der Baron gesehen … Die Baronin hat mir wirklich gefallen in ihrer Art, fast habe ich mir schon eingebildet, sie als Kind gesehen zu haben. Sie hat mir die Bekanntschaft doch förmlich eingeredet. Wahrscheinlich wusste sie sofort, als sie mich gesehen hat, dass ich ein völlig Fremder bin, und sie hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich zum Narren zu halten. Natürlich wird sie die Geschichte in ihrem Bekanntenkreis erzählen und mich zum Gespött der Leute machen. Ich werde Seeon sofort verlassen … Aber vermutlich tue ich ihr Unrecht, sie hielt mich wirklich für John, den Sohn ihres Bekannten. Dieses ganze Missverständnis ist meine Schuld. Wieso habe ich geglaubt, der Brief könnte für mich bestimmt sein?“
Wütend zerriss er den ominösen Brief in kleine Fetzen.
Um zwölf Uhr läutete die große Glocke, und Hamilton wusste, dass es Zeit war, zum Essen hinunter zu gehen. Er war gerade dabei, einen Brief zu schreiben, als es an der Tür klopfte. „Herein!“ rief er und zuckte zusammen, als Baron Zander eintrat. Er lachte laut, als er Hamiltons erschrockenes Gesicht sah und versicherte ihm, dass er ihn für einen famosen Kerl halte und überhaupt keine Zweifel habe, dass aus ihm einmal ein ausgezeichneter Diplomat werde.
„Wirklich, Herr Baron, ich hatte nie die Absicht … Sie dürfen wirklich nicht glauben, dass ich vorsätzlich ...“
„Erklären Sie nichts, bitte erklären Sie nichts!“, rief er. „Ich bin Ihnen wirklich außerordentlich dankbar! Meine Frau hält sich für ungemein gescheit, sie hält mir immer Vorträge, weil ich mich angeblich nicht verständlich ausdrücke – aber den Brief, den sie geschrieben hat, wer hätte den wirklich verstehen sollen? Er hätte für diesen Mister Hamilton bestimmt sein können oder für jenen – aber sie hält sich ja immer für so gescheit.“
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Natürlich hätte ich Sie gerne begleitet, unter anderen Umständen … Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen – ich verlasse Seeon heute noch, sobald es geht.“
„Ja, wir verlassen Seeon so schnell wie möglich. Ich schicke gleich meinen Diener Joseph, damit er Ihre Sachen einpackt, während wir zu Mittag essen.“
„Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Einladung trotz allem immer noch gilt – obwohl Sie mich gar nicht kennen?“, fragte Hamilton ungläubig.
„Warum nicht? Sie sind ja kein schlechter Mensch, soviel weiß ich schon. Meine Frau hat einen Mister Hamilton eingeladen und Sie sind ein Mister Hamilton – also sind Sie uns willkommen. Und nun wollen wir zu Tisch gehen.“
„Aber ich möchte Ihnen wirklich erklären ...“
„Oh, aber bitte nicht mir, sondern meiner Frau!“
„Hier“, rief der Baron, als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, „hier komme ich, um meinen neuen Freund Mr. A. Hamilton vorzustellen. Er möchte dir für deinen freundlichen Brief danken, der an alle A. Hamiltons dieser Welt gerichtet war, und dir die Hand küssen.“
„Das hast du dir jetzt ausgedacht, Bernhard!“, antwortete sie lachend. „Mr. Hamilton weiß sicher noch nicht genug über die häuslichen Sitten der Deutschen, um zu wissen, dass ein Handkuss hier etwas sehr Alltägliches ist – aber Sie brauchen deshalb wirklich nicht rot zu werden.“
An Stelle von Hamilton ergriff der Baron beide Hände seiner Gattin und versicherte, dass er sich glücklich schätze, eine so wunderbare und vor allem so gescheite Frau zu haben.
4
„Rauchen Sie, Mr. Hamilton?“, fragte der Baron, als er seiner Frau in die Kutsche half.
„Ab und zu rauche ich ganz gerne eine Zigarre.“
„Ich frage Sie, denn wenn Sie jetzt zu rauchen wünschen, dann sollten Sie sich zu mir setzen“, sagte er, indem er den Vordersitz des Wagens erklomm. „Meine Frau ist zwar sonst in jeder Beziehung eine vollkommene Deutsche, aber den Tabakrauch hat sie noch nicht lieben gelernt.“
„Daran werde ich mich auch nicht mehr gewöhnen. Genau so wenig wie daran, ständig irgendwelche Gewehre neben mir zu haben. Ich will hoffen, dass sie nicht geladen sind“, sagte sie mit einem misstrauischen Seitenblick. „Ich habe wirklich nicht die Absicht, meinen Tod in den Zeitungen unter der Überschrift Tragisches Unglück anzeigen zu lassen.“
„Sie sind nicht geladen“, versicherte ihr Gatte und zog genüsslich an seiner gerade entzündeten Zigarre.
„Sag Bernhard, hast du heute beim Mittagessen die Gesellschaft am Nachbartisch bemerkt? Die Dame mit den beiden hübschen Mädchen?“
„Ja, eine Dame aus München mit ihren Töchtern. Ich glaube, sie heißen Rosental oder Rosenberg oder so ähnlich.“
„Die eine, die bei Tisch neben Major Stutzenbacher saß, war wirklich ganz reizend, meinst du nicht auch?“
„Ja, und der Major würde sich dieser Meinung sicher anschließen. So höflich und zuvorkommend wie heute Mittag habe ich ihn noch nicht erlebt. Allerdings hat ihn das hübsche Ding beim Essen kaum beachtet. Ich hätte es an seiner Stelle mit der Zweiten versucht, die nicht weniger hübsch ist, aber bei weitem freundlicher und zugänglicher als ihre Schwester. Sie hat mehrmals zu unserem Tisch hinüber geschaut, aber vermutlich galt ihre Aufmerksamkeit nicht mir, sondern eher unserem jungen Freund.“
„Diesen Eindruck hatte ich auch“, erwiderte die Baronin. „Und ich bin mir sicher, Sie haben diese Blicke auch bemerkt, Mr. Hamilton. Geben Sie es ruhig zu.“
„Ich … ich habe eigentlich nicht besonders darauf geachtet“, antwortete Hamilton und bemühte sich, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. „Ich kenne die junge Dame wirklich nur flüchtig.“
„Ich wusste nicht, dass Sie sie überhaupt kennen“, sagte die Baronin.
„Das ist auch wirklich reiner Zufall. Wir sind einen Teil des Weges von München hierher zusammen gereist. Der Wagen der Familie war hoffnungslos überfüllt, und so bot ich an, einige der Reisenden in meiner Kutsche mitzunehmen. Mademoiselle Sophie, das Kindermädchen und ein lebhafter kleiner Knabe wurden meiner Obhut übergeben.“
„Soviel Aufmerksamkeit ist man von englischen Reisenden kaum gewöhnt. Jedenfalls hält man unsere Landsleute allgemein für ziemlich egoistisch, wenn sie auf Reisen sind“, bemerkte die Baronin.
„Vielleicht waren die Gründe für meine Aufmerksamkeit auch nicht ganz frei von Egoismus, das gebe ich zu. Ich fürchtete die Langeweile eines langen Nachmittags allein in einem unbequemen Wagen, und ich war einem kleinen harmlosen Flirt nicht abgeneigt.“
„Und wie ist es ausgegangen?“
„Oh, wir kamen wunderbar miteinander aus, jedenfalls bis wir in Seeon waren, aber von dem Moment an, in dem Mademoiselle Sophie ihre Stiefmutter wiedersah, veränderte sich ihr Benehmen auf seltsame Weise. Ich hatte den Eindruck, dass ich ihr völlig gleichgültig war, da sie von mir nun keinen Nutzen mehr hatte.“
„Ihr Urteil zeigt, dass Sie über die Erziehung deutscher Mädchen aus gutem Hause wenig wissen.“
„Mag sein. Aber ihre Schwester scheint eine ganz andere Erziehung genossen zu haben. Unsere Bekanntschaft begann damit, dass sie mich einen Narren nannte, und ich habe sie zu ihrer Schwester sagen hören, dass sie mich für eingebildet hält. Jedenfalls nimmt sie mich nicht einmal ernst. Sie meinte, ich sehe aus wie ein Student.“
Die Baronin unterdrückte ein amüsiertes Lachen. „Vielleicht sollten Sie wirklich erst etwas mehr über das Leben in Deutschland lernen, ehe Sie versuchen, Damenbekanntschaften zu machen, Mr. Hamilton.“
„Ich will Deutschland und seine Bewohner gerne studieren – im Kreis einer Privatfamilie ...“
„Ohne Kinder?“
„Als Beweis meiner Achtung Ihrer Ansichten werde ich selbst gegen fünf halbwüchsige Knaben keine Einwendungen machen, und ich verspreche Ihnen auch, eine Witwe mit unverheirateten Töchtern zu meiden.“
„Das höre ich gerne“, sagte sie. Und nach einer kurzen Pause: „Falls Sie etwas lesen möchten – ich habe hier die neueste Ausgabe der Allgemeinen Zeitung und Blackwood's Magazine.“
„Halten Sie den Blackwood?“, fragte Hamilton.
„Ich leihe ihn und alle möglichen Bücher aus der königlichen Bibliothek in München.“
„Lesen Sie viel?“
„Früher habe ich mehr gelesen, aber in den letzten Jahren komme ich nicht mehr so häufig dazu – einige Memoiren, Reisebeschreibungen und von Zeit zu Zeit ein Roman füllen meine Zeit vollkommen aus. Aber Sie müssen jetzt wirklich ein Buch nehmen oder die Gegend schweigend bewundern, denn ich kann meine Allgemeine nicht länger ungelesen lassen. Ich schaffe jeden Tag nur eine Ausgabe und gerate in Verzweiflung, wenn sich die Zeitungen anhäufen.“
„Ich denke, dass ich eine Zigarre rauchen könnte, während Sie die Zeitung lesen.“
„Eine vortreffliche Idee! Nehmen Sie den Kutschersitz neben Bernhard ein, der sicher gern das Vergnügen Ihrer Gesellschaft genießen wird. Sie können über den geplanten Ausflug sprechen oder mit der Zahl der Moorhühner prahlen, die Sie schießen würden, wenn Sie diesen Herbst in England wären.“
Es wurde bereits dunkel, als sie das Dörfchen Siegsdorf erreichten. In den Fenstern der Häuser schimmerten Lichter und aus einem kleinen Wirtshaus drangen Gesang und Gelächter.
„Ich glaube nicht, dass wir etwas Besseres tun könnten als hier zu übernachten“, bemerkte Baron Zander zu seiner Frau.
Die kleine Reisegesellschaft durchquerte den gut gefüllten Gastraum und wurde von der Wirtin in ein kleines Nebenzimmer gebeten. Ein Tisch war noch unbesetzt, und die Wirtin fegte mit ihrer Schürze ein paar Brotkrümel weg und fragte, was sie zu Abend essen wollten. Sie gab einem Mädchen die nötigen Befehle und setzte sich dann auf eine Bank am anderen Ende des Tisches, wo sie offenbar darauf wartete, angesprochen zu werden.
„Nun, was gibt es Neues bei euch?“, fragte der Baron. „Sind die Kinder alle wohlauf?“
„Ich danke Ihnen, sie sind alle gesund.“
„Wo ist mein alter Freund Ferdinand?“
„Er ist heute auf die Jagd gegangen.“
„Besteht denn Aussicht, dass ich morgen zum Schuss kommen werde, wenn ich hierbleibe?“
„Die Wildsaison ist heuer nicht so gut, leider. Ich fürchte, Sie würden enttäuscht sein.“
„Ich bin auf dem Weg nach Reichenhall und Berchtesgaden und an dem ein oder anderen Ort hoffe ich, auf die Gemsenjagd zu gehen – mein junger Freund hier würde gern einmal eine erleben.“
„Also ich habe ein Stück Gamsfleisch im Haus – vielleicht möchte der Herr einmal ein Ragout davon probieren.“
„Möchten Sie Gemsenfleisch zum Abendessen haben?“, fragte die Baronin Hamilton.
„Oh, sehr gerne“, antwortete er eifrig.
„Das Fleisch ist etwas trocken“, erklärte sie. „Ich habe es bisher nur zweimal gegessen: ein Mal aus Neugier und das zweite Mal, weil es nichts Anderes gab.“
„Ich denke, wir sollten mit Mr. Hamilton morgen einen Ausflug auf die Alm machen“, sagte der Baron. „Für ihn wäre das etwas völlig Neues und für uns kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. Die Wirtin wird uns die Schlüssel für das Forsthaus besorgen.“
„Das wäre großartig“, sagte Hamilton, der nur das Wort Ausflug verstanden hatte.
„Herr Baron“, rief ein langer Bauer, der in der Tür lehnte, „Sie haben mir versprochen, mich das nächste Mal, wenn sie hinaufgehen, als Führer zu engagieren. Ich könnte noch heute Abend nach Traunstein gehen, um den Schlüssel zu holen, und morgen früh in Ruhpolding auf Sie warten.“
„Dann fort mit dir“, rief Zander, „und versäume nicht, morgen früh um fünf Uhr da zu sein.“
Der Mann nickte und verschwand.
Als Hamilton eine Woche später nach Seeon zurückkehrte, fand er einen Neuankömmling vor, nämlich den Sohn von Graf Zedwitz, einen Offizier, der einen Teil seines Urlaubs mit seinen Eltern verbringen wollte. Seinem Äußeren nach kamen seine Vorfahren nicht aus Bayern, denn er hatte feines blondes Haar und einen imposanten rotblonden Schnurrbart, der seinen großen Mund zu seinem Vorteil fast völlig verdeckte. Seine Zähne waren ungewöhnlich groß und unregelmäßig, dafür aber strahlend weiß. Auch seine Nase war recht groß und von unbestimmter Form. In gewisser Weise erinnerte er an einen Nussknacker. Er war ziemlich groß, beinahe so groß wie Hamilton, allerdings nicht ganz so schlank.
Hamilton freundete sich recht schnell mit Zedwitz an; er schien überhaupt allgemein beliebt zu sein, sogar Isabelle bedachte ihn hin und wieder mit freundlichen Blicken. Aus irgendeinem Grund schienen beide Schwestern seine Gesellschaft dagegen zu meiden, wie er schnell merkte. Sophie sah zwar hin und wieder in seine Richtung, wandte ihren Blick aber schnell ab, sobald er den seinen traf. Isabelle beachtete ihn überhaupt nicht. Sie tuschelten häufig miteinander, unternahmen lange einsame Spaziergänge und schienen an nichts mehr wirklich Anteil zu nehmen. Ihr Benehmen erschien Hamilton von Tag zu Tag sonderbarer und er nahm sich vor, Sophie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auszufragen.
Es war jedoch nahezu unmöglich, Sophie allein anzutreffen, weil Isabelle ständig an ihrer Seite war, und in ihrer Gegenwart würde er überhaupt nichts in Erfahrung bringen, soviel stand fest. Immerhin gelang es Hamilton, ein paar belanglose Sätze mit Sophie zu wechseln, während ihre Schwester gerade abgelenkt war. Er fragte sie, ob sie sich in Seeon langweile, ob sie etwa München vermisse und dann mit leiser Stimme, warum sie so traurig aussehe. Ihre einzige Antwort war ein vorwurfsvoller Blick, und schon zog Isabelle sie wieder mit sich fort. Er zerbrach sich den Kopf und beschloss, seine Beobachtungen auf die Stiefmutter der Mädchen auszudehnen, deren Benehmen er sich ebenfalls nicht recht erklären konnte. Sie war sehr nachsichtig gegenüber Sophie, während Isabelle ihr scheinbar überhaupt nichts recht machen konnte.
Eines Tages kam Sophie mit vom Weinen fast zugeschwollenen Augenlidern zum Mittagessen hinunter, und ihre Schwester war so blass, dass Hamilton befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden. Wenig später standen sie auf, ohne wirklich etwas gegessen zu haben, und verließen wortlos den Raum. Madame Rosenberg, die neben Major Stutzenbacher saß, sprang auf und folgte ihnen. Nach wenigen Minuten kehrte sie mit Isabelle im Schlepptau zurück, deutete zornig auf ihren Platz am Tisch und befahl ihr, sich hinzusetzen und ihre Schwester in Ruhe zu lassen. Sie gehorchte, machte jedoch keinen Versuch, zu essen.
Es war ein sonniger Nachmittag und Hamilton brannte vor Neugier zu erfahren, was all das wohl zu bedeuten hatte. Zu seinem Missvergnügen lief er jedoch direkt dem alten Graf Zedwitz in die Arme, der ihn auf sein Zimmer bat, damit er ihm seine Dissertation über die Wasserkur vorstellen könne, als Belohnung oder vielmehr als Strafe für seinen vormittäglichen Besuch neulich. Der Graf begann sogleich, das Manuskript laut vorzulesen, wobei er von Zeit zu Zeit inne hielt, um Korrekturen vorzunehmen, während Hamilton sehnsüchtig aus dem offenen Fenster nach draußen blickte, und seine Gedanken zu Sophie und ihrer Schwester wandern ließ. Wahrscheinlich unternahmen sie wieder einmal einen ausgiebigen Spaziergang und würden erst zum Abendessen wieder zurückkehren. Der junge Zedwitz hatte sich ihnen vermutlich angeschlossen, da er offenbar ein Auge auf Isabelle geworfen hatte. Er seinerseits fand ihre Schwester eindeutig sympathischer, die er vielleicht doch noch zu einem Rendezvous im Kreuzgang überreden könnte. Fünf Minuten – nur fünf Minuten ohne ihre Schwester! Er formulierte in Gedanken bereits die passenden Worte, während der Graf im Hintergrund weiter ahnungslos sein Manuskript vortrug. Als er Stimmen aus dem Garten hörte, verlor Hamilton endgültig die Geduld. Er sprang auf, presste die Hände an die Schläfen und behauptete, so heftige Kopfschmerzen zu haben, dass er dem Vortrag leider nicht länger folgen könne.
„Kopfschmerzen! Mein lieber Herr, wenn Sie mich nicht für gefühllos halten würden, dann würde ich sagen, dass ich mich freue, das zu hören. Sie können jetzt nämlich am eigenen Leib erfahren, wie wirksam eine Behandlung mit kaltem Wasser ist. Kopfschmerzen, egal ob sie nervös oder rheumatisch sind, können dadurch geheilt werden, dass man die Füße in einen Zuber mit kaltem Wasser steckt und den Kopf mit nassen Tüchern umwickelt.“
„Ich glaube, dass ein Spaziergang an frischer Luft mich in kurzer Zeit wieder kurieren wird, und da ich Ihren Sohn im Garten höre, so werde ich ihn vielleicht überreden, mir Gesellschaft zu leisten.“
„Wenn Sie das Fußbad nicht lieben, so versuchen Sie, ein wenig in Wassertüchern zu schwitzen – es wird Ihnen helfen, glauben Sie mir.“
„Mein lieber Graf, meine Kopfschmerzen sind von eigentümlicher Art. Ich bin davon häufiger betroffen und weiß aus Erfahrung, dass es in diesem Fall nichts Besseres gibt als Bewegung an frischer Luft.“
„Aber ich versichere Ihnen, dass kaltes Wasser dieselbe Wirkung haben wird. Und ich möchte Ihnen immer noch, nur um Sie zu überzeugen, das Schwitzen empfehlen.“
„Entschuldigen Sie mich bitte für heute“, sagte Hamilton, „wenn Sie morgen die Güte haben wollen, mir Ihr Manuskript vorzulesen, dann werde ich sicher in der Lage sein, Ihre Arbeit gebührend zu würdigen.“
Während der Graf seine Lesebrille abnahm, verließ Hamilton mit an die Schläfen gepressten Händen das Zimmer, als ob er Folterqualen erleide. Es war ein Glück, dass der Rheumatismus den alten Herrn daran hinderte, ihm nachzugehen, denn sonst hätte er gesehen, wie er eiligen Schrittes den Korridor durchquerte und völlig unbeschwert die Stufen zum Garten hinunter sprang. Der junge Zedwitz war nicht mehr dort, dafür standen seine Mutter und seine Schwester so dicht hinter der Tür, dass Hamilton sie in seinem Schwung beinahe umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich und fragte nach Graf Max.
„Er war eben noch hier“, erwiderte die Gräfin, „aber er ist fortgegangen, um nach Jemandem oder Etwas zu sehen, ich habe nicht ganz verstanden, was er gesagt hat.“
„Es ist unfreundlich von Max, dass er nicht mit uns geht“, bemerkte seine Schwester leicht gereizt, „er weiß doch, wie sehr ich mich vor den Kühen und den Hunden fürchte.“
Hamilton hatte den Eindruck, dass sie ihn bei diesen Worten anblickte, als erwarte sie, dass er anbiete, ihren Bruder als Beschützer zu vertreten. Er beschloss, diesen Blick einfach zu ignorieren, aber schon sagte die Gräfin: „Oh Mr. Hamilton, wenn Sie nichts anderes vorhaben, würden Sie uns vielleicht auf unserem Spaziergang begleiten? Meine Tochter ist so ängstlich, dass sie freiwillig nie weiter als hundert Meter geht, wenn sie keinen Begleiter hat, der die Tiere verscheucht.“
Hamilton fühlte, dass ihm das Glück an diesem Tag nicht hold war. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Der Gedanke, dass der junge Zedwitz vielleicht in diesem Augenblick mit den beiden Schwestern spazieren ging, versetzte ihn nicht gerade in Hochstimmung, und so war er ziemlich schlecht gelaunt, als er sich den beiden Damen wohl oder übel anschloss. Seine Stimmung besserte sich allerdings schnell wieder, denn seine Begleiterinnen waren ausgesprochen liebenswürdig und unterhaltsam. Die Gräfin wohnte auf einem ihrer Güter in der Nähe von München, hatte aber die letzten beiden Winter ihrer Tochter zuliebe in der Stadt verbracht. Der Graf schätzte das Stadtleben allerdings nicht sonderlich, und da ihre Tochter nun verlobt war, würden sie in Zukunft nur noch auf dem Land leben.
„Nun, Ihrem Sohn scheint es in München recht gut zu gefallen, wie er mir erzählt hat. Er hat mir jedenfalls dazu geraten, den kommenden Winter dort zu verbringen.“
„Und was sagen Ihre Eltern zu diesen Plänen?“
„Sie lassen mir die freie Wahl, ob ich den Winter in Wien, Berlin, Dresden oder München verbringe.“
Das Gespräch kam auf ein anderes Thema und Hamilton fühlte sich von seinen Begleiterinnen auf dem Spaziergang bestens unterhalten. Es tat ihm beinahe leid, als sie wieder am Kloster angelangt waren und es bereits Zeit war, das Abendessen einzunehmen.
„Wo sind meine Töchter? Haben Sie sie vielleicht unterwegs getroffen?“, fragte Madame Rosenberg, die bereits am Tisch saß.
Niemand hatte sie gesehen.
„Sie sind den ganzen Nachmittag über bei mir gewesen und erst vor einer halben Stunde nach der Kirche auf der anderen Seite des Sees gegangen. Vielleicht wird Herr Hamilton so freundlich sein, sie zum Abendessen zu rufen?“
„Lassen Sie mich mitgehen“, sagte der junge Zedwitz und sprang von seinem Stuhl auf.
„Ich danke Ihnen, aber ich werde es auch ohne Begleitung schaffen“, sagte Hamilton und fügte mit ironischem Lächeln hinzu: „Ich weiß, dass Sie den ganzen Nachmittag um den See herum gewandert sind, Sie werden sicher ziemlich müde sein.“
Zedwitz lachte, aber so leicht ließ er sich nicht abschütteln. Er folgte Hamilton auf dem Fuß.
„Sie sind heute lange auf Ihren Posten gewesen, Zedwitz, vom Mittagessen bis jetzt.“
„Wie hat es Ihnen gefallen, als Sie eingefangen wurden, um die Kühe aus dem Weg zu treiben? Ich habe gesehen, wie Sie abgeführt wurden.“
„Ach, ehrlich gesagt habe ich mich recht gut amüsiert. Ihre Mutter ist wirklich sehr liebenswürdig und Ihre Schwester steht ihr in nichts nach.“
„Meine Schwester ist in der Tat eine zauberhafte kleine Person und es ist wirklich schade, dass sie schon so bald heiraten wird. Ohne sie wird es bei uns zu Hause entsetzlich langweilig sein. Über kurz oder lang werde ich mich wohl auch nach einer passenden Frau umsehen müssen.“
„Ihre Mutter sagte mir, sie erwartet, dass Sie eine sehr gute Partie machen werden.“
„Ihr Optimismus in allen Ehren – aber so wahrscheinlich ist das nicht.“
„Aber sie sagte mir, dass Sie schon so gut wie verlobt sind.“
„Keineswegs – davon kann keine Rede sein!“, rief der junge Zedwitz mit einer für Hamilton unerwarteten Heftigkeit. „Sich zu verheiraten, nur um Güter zu verbinden, ist nicht nach meinem Geschmack.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
Es entstand eine kleine Pause, dann sagte Zedwitz: „Meine Eltern wünschen, dass ich die Armee verlasse und heirate. Aber ich bin sicher, dass sie schließlich gegen die Frau, die ich mir aussuche, alle möglichen Einwände erheben werden. Und auch wenn ich selbst nicht gerade ein Adonis bin, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, eine hässliche Frau zu heiraten – Sie doch vermutlich auch nicht?“
„Ich habe darüber noch nicht weiter nachgedacht“, sagte Hamilton leichthin. „Meine Eltern haben mir nahegelegt, mit dem Heiraten noch eine Weile zu warten, mindestens bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr.“
Sie überquerten jetzt einen kleinen schmalen Steg, der über den seichten Teil des Sees führte. Als sie den steilen Pfad hinunter zur Kirche erreicht hatten, blieb Hamilton stehen und fragte Zedwitz, ob er wisse, warum sich die beiden Schwestern Rosenberg so seltsam verhalten.
„Es gibt irgendein Geheimnis in der Familie, meinen Sie nicht auch?“, fragte Hamilton.
„Davon bin ich überzeugt. Die Mädchen scheinen sich in einer ziemlich unglücklichen Lage zu befinden. Sie tun mir wirklich leid“, antwortete Zedwitz.
„Das geht mir ganz ähnlich. Und ich würde wirklich gerne hinter dieses Geheimnis kommen. Was halten Sie davon, wenn wir es beide versuchen – mal sehen, wer von uns als Erster etwas in Erfahrung bringt.“
„Abgemacht!“
„Meine Aussichten sind allerdings eher gering“, sagte Hamilton. „Mir gegenüber sind beide Damen ausgesprochen zurückhaltend und ich selbst bin auch eher schüchtern.“
„Sie und schüchtern!“, rief Zedwitz lachend.
„Glauben Sie mir nicht? Natürlich nicht, wenn ich mit Ihnen rede, aber wenn es um Frauen geht, fehlen mir oft die richtigen Worte.“
„Das kann ich mir wirklich kaum vorstellen, Sie sind doch sonst nie um eine Bemerkung verlegen.“
Zedwitz blieb stehen und machte eine Handbewegung in Richtung der benachbarten Wiese. Die beiden Schwestern saßen auf einem Baumstamm und hielten sich schweigend an den Händen. Sophie schien von irgendeinem Schmerz überwältigt zu sein, sie saß zusammengesunken und weinte lautlos. Isabelle hielt einen Brief in der Hand und blickte in stummer Verzweiflung gen Himmel, wobei auch sie mit den Tränen zu kämpfen schien. Dann beugte sie sich zu ihrer Schwester und schien ihr einige Worte des Trostes zuzuflüstern, denn diese blickte auf und versuchte, zu lächeln.
„Hamilton, wir sollten zum See zurückgehen, es wäre taktlos, sie so zu überraschen. Wir müssen uns möglichst laut unterhalten, damit sie uns rechtzeitig bemerken.“
Die beiden Männer gingen also leise ein Stück des Weges zurück und kehrten dann umso geräuschvoller zurück; der Plan funktionierte bestens, denn als sie die Schwestern wieder erblickten, standen diese scheinbar ganz unbekümmert auf der Wiese, und als sie hörten, dass man sie zum Abendessen erwarte, gingen sie den Beiden in Richtung der Brücke voraus. Die Männer hatten sie jedoch rasch eingeholt, und scheinbar zufällig ergab es sich, dass Zedwitz Isabelle in ein Gespräch verwickelte, während Hamilton absichtlich langsamer ging, um ungestört ein paar Worte mit Sophie wechseln zu können.
Hastig flüsterte er: „Was ist passiert? Warum sind Sie so unglücklich? Was in aller Welt hat sich während meiner Abwesenheit in Seeon ereignet?“
„Nichts, gar nichts! Es ist nichts vorgefallen, was für Sie von besonderem Interesse wäre“, sagte sie abweisend und ging etwas schneller.
„Sie sind sehr unfreundlich, Mademoiselle“, sagte Hamilton vorwurfsvoll, „unnötig unfreundlich. Seit dem Beginn unserer Bekanntschaft, so kurz sie auch ist, habe ich an allem, was Sie betrifft, regen Anteil genommen. Ich sehe, dass Sie unglücklich sind – ich würde Ihnen gerne irgendwie beistehen – und werde behandelt wie ein lästiger Hausierer.“
„Ich habe Sie nicht beleidigen wollen“, sagte Sophie und ging etwas langsamer.
„Ich bin mir sicher, dass Ihre Schwester Graf Zedwitz freundlicher behandelt“, bemerkte Hamilton und diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung.
„Was möchten Sie wissen?“, fragte sie leise.
„Ich möchte wissen, warum Sie unglücklich sind und warum Sie mir aus dem Weg gehen.“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen! Sie werden vielleicht hören – aber Sie werden es nicht verstehen, warum wir … also ich meine … ich wollte sagen, warum ich mich nicht weigern kann. Ich … ich kann es Ihnen nicht sagen“, rief sie, während sie in Tränen ausbrach und so schnell weiterging, dass sie beinahe ihre Schwester und Zedwitz erreicht hätte, ehe Hamilton ihr zuflüstern konnte: „Heute Abend, am Fuße der breiten Treppe, die zum Kreuzgang führt – darf ich Sie erwarten?“
„Nein, nein!“
„Der Mond wird scheinen, um zehn Uhr werde ich dort sein.“
„Nein, auf keinen Fall!“
„Die Treppe ist ganz dicht an Ihrem Zimmer, geben Sie mir nur fünf Minuten!“
Und leicht theatralisch fügte Hamilton hinzu: „Sie müssen kommen, sonst werde ich die ganze Nacht im Kreuzgang auf Sie warten.“
Sie gingen jetzt so dicht hinter Isabelle und dem jungen Zedwitz, dass eine weitere Unterhaltung unmöglich war.
Ehe sie ins Haus traten, flüsterte der Graf triumphierend: „Ich werde morgen alles erfahren.“
„Und ich heute Abend.“
„Was? Wann? Wie? Wo?“
„Das geht Sie überhaupt nichts an!“
„Ich werde es herausfinden, darauf können Sie sich verlassen.“
„Ja, tun Sie das!“, rief Hamilton lachend.
Aber schon im nächsten Augenblick bedauerte er seine unbedachte Bemerkung. Er überlegte kurz, ob er Zedwitz in seinen Plan einweihen sollte, aber er wollte Sophie nicht in eine peinliche Lage bringen, und deshalb schwieg er. Wenn er Glück hatte, würde der Graf seine Äußerung einfach vergessen.
Nach dem Abendessen holte Madame Rosenberg wie gewöhnlich ihr Strickzeug hervor und Hamilton verwickelte sie in ein harmloses Gespräch, bis ihre Töchter das Zimmer verlassen hatten. Er wollte sich eigentlich möglichst schnell ebenfalls zurückziehen, als Madame ihn wissen ließ, dass sie Engländer allgemein als angenehme Gesellschafter schätze; sie seien zudem erfreulich unkompliziert und überhaupt nicht anstrengend. Das wisse sie, weil sie in ihrem Hause zwei möblierte Zimmer vermiete, die in den letzten Jahren stets von Engländern bewohnt wurden, mit denen sie sehr zufrieden gewesen sei. Natürlich war Hamilton über diese Mitteilung mehr als erfreut, kam sie seinen Wünschen doch unerwartet entgegen, und sie einigten sich in kurzer Zeit auf einen angemessenen monatlichen Preis für Kost und Logis. Madame Rosenberg schien hoch erfreut, dass erneut ein Engländer bei ihr wohnen werde und fragte ihn, ob er einen Mr. Smith kenne. Hamilton kannte einige, schließlich war Smith einer der häufigsten Familiennamen in London.
„Ich meine einen Mr. Howard Seymour Smith.“
Hamilton verneinte.
„Aber vielleicht kennen Sie Captain Black? Er hat voriges Jahr bei uns logiert, allerdings bei Havard im Hotel gegessen. Sie werden der Erste sein, der quasi ein Mitglied unserer Familie sein wird, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich bin gespannt, was mein Mann zu diesem Arrangement sagen wird.“
„Darf ich Sie bitten, gleich morgen an ihn zu schreiben, da ich sonst mit der Baronin sprechen würde ...“
„Ach du lieber Himmel, ich brauche ihm nicht zu schreiben – solche Angelegenheiten regele ich grundsätzlich allein, Sie haben mit ihm gar nichts zu tun.“
„Wenn das so ist, dann bin ich ganz beruhigt“, erwiderte Hamilton, indem er aufstand und seine Kerze von einem Seitentisch nahm. Frau Rosenberg nahm die ihre und sie stiegen zusammen die Treppe hinauf.
Als er in sein Zimmer trat, zeigte die Wanduhr fast halb zehn. Da er an den jungen Zedwitz und seine Neugier dachte, stellte er sein Licht vorsorglich hinter den Kamin, damit draußen auf dem Korridor kein Lichtschein zu sehen war.
„Er wird vielleicht denken, dass ich schon im Bett liege und schlafe, wenn er auf sein Klopfen keine Antwort erhält“, dachte Hamilton, als er eine halbe Stunde später leise das Zimmer verließ und die Tür abschloss. Zu seiner Erleichterung begegnete ihm auf dem Weg nach unten zum Kreuzgang niemand. Er versteckte sich hinter einem dort abgestellten alten Bierfass und wartete geduldig, bis er Schritte auf der Treppe hörte.
Er flüsterte: „Ich bin hier, geben Sie mir Ihre Hand.“
Einen Moment war alles ruhig, doch dann hörte er zu seiner Überraschung, dass sich die Schritte wieder entfernten; es klang so, als würde jemand hastig mehrere Stufen auf einmal nehmen, um schnell wieder nach oben kommen. Hamilton vermutete, dass Sophie irgendein Geräusch gehört habe und deshalb auf eine bessere Gelegenheit hoffen musste. Also blieb er in seinem Versteck und wartete, wohl eine halbe Stunde lang. Einmal hörte er ein raschelndes Geräusch aus der Ecke, wo allerlei Gerümpel herumlag. „Ratten“, murmelte er, nahm einen Rechen, der neben dem Fass stand, und warf ihn in Richtung des Gerümpels. Darauf war alles wieder still. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass er hinter dem Fass hervortreten und sich direkt neben die Treppe stellen konnte. Endlich konnte er Sophie oben im Gang erkennen.
„Ich bin hier, keine Angst, es ist niemand in der Nähe“, rief er leise.
„Ich – ich bin nur gekommen, um … um Ihnen zu sagen, dass … dass ich nicht kommen kann.“
Hamilton biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen.
„Würden Sie mir wenigstens sagen, warum?“
Sie stieg zögernd einige Stufen hinab.
„Nun, warum?“
„Weil – weil ich Angst habe. Ich fürchte mich im Dunklen.“
„Aber im Kreuzgang ist es nicht dunkel, wir haben fast Vollmond. Kommen Sie!“ „Aber wir könnten uns morgen im Garten sehen ...“
„Sie müssen näher kommen, ich kann Sie kaum verstehen ...“
„Morgen früh im Garten“, flüsterte sie, während sie noch einige Stufen hinabstieg.
Hamilton zog es vor, darauf nicht einzugehen. Stattdessen sagte er vorwurfsvoll: „Ich habe fast eine Stunde auf Sie gewartet.“
„Es ging nicht früher, Isabelle ist eben erst eingeschlafen.“
„Wir können nicht hierbleiben, hier könnte uns jemand sehen, kommen Sie!“, flüsterte er und nahm ihren Arm.
„Ich kann nicht – ich kann wirklich nicht … Morgen früh vor dem Frühstück, wenn Sie wollen, aber nicht jetzt! Ich muss gehen!“
Hamilton zögerte, aber er war sich sicher, dass es ihm morgen früh nicht gelingen würde, sie allein anzutreffen. Ihm kam der Gedanke, er könnte sie einfach hochheben und davontragen, aber das erschien ihm dann doch etwas zu gewagt. Deshalb begnügte er sich damit, ihre Hände festzuhalten, um ihre Flucht zu verhindern, und vorwurfsvoll zu sagen: „Nachdem ich hier eine volle Stunde gewartet habe, nur um Sie zu treffen, wollen Sie mich einfach so stehen lassen? Es passiert Ihnen doch nichts. Alle liegen im Bett, im Kreuzgang wird uns niemand begegnen. Geben Sie mir nur fünf Minuten, um ungestört mit Ihnen zu sprechen.“
Während er sprach, zog er sie langsam vorwärts durch den Gang, und wenig später standen sie im Innenhof, der im fahlen Mondschein einen unwirklichen Eindruck machte. Hamilton zog Sophie zu einer Bank in der Nähe des Denkmals für den Gründer der Abtei, Graf Aribo, und wartete, ob sie etwas sagen würde. Sie saß jedoch nur schweigend da und blickte zu Boden, als gäbe es dort etwas ungemein Interessantes zu entdecken.
Schließlich sagte Hamilton leise und mit einiger Ungeduld: „Wir haben nicht viel Zeit, also sagen Sie mir einfach ohne längere Vorrede, was passiert ist.“
Sophie seufzte tief, blieb jedoch stumm.
„Um Himmels willen, sagen Sie mir endlich, was mit Ihnen los ist.“
„Ich bin sehr unglücklich“, flüsterte sie.
„Das sehe ich seit Tagen – aber warum?“
„Weil – weil ich heiraten muss.“
„Sie müssen heiraten? Wen denn?“
„Major Stutzenbacher.“
„Den Major – das ist nun wirklich überraschend. Sie kennen ihn doch erst seit einer Woche. Warum diese Eile? Vor meiner Abreise schien er sich eher für Isabelle zu interessieren.“
„Oh natürlich, er hätte sich auch viel lieber mit Isabelle verlobt, sie ist ja viel hübscher als ich. Aber sie wollte ihn nicht nehmen, er gefällt ihr überhaupt nicht.“
„Ich bewundere Ihre Aufrichtigkeit“, sagte Hamilton.
„Ja, und als er seinen Antrag wiederholte, da wurde sie wütend und hat ihn geohrfeigt.“
„Sie hat ihn geohrfeigt?“
„Ja, als er ihre Hand küssen wollte, jedenfalls behauptet er das, und Isabelle sagt, sie könne sich nicht genau erinnern, aber es könne sein, weil sie so wütend war und er ihre Hand einfach nicht loslassen wollte. Da hat er der Mama gesagt, dass er sie auf keinen Fall heiraten würde, selbst wenn sie das schönste Mädchen in ganz Bayern wäre und eine Gräfin von der Dings.“
„Ihre Schwester scheint leicht reizbar zu sein.“
„Reizbar? Ja, sie kann schon manchmal aufbrausen, aber sie beruhigt sich auch sehr schnell wieder, eigentlich ist sie sehr umgänglich. Sie hat viele gute Eigenschaften. Niemand kennt sie so gut wie ich, nicht einmal der Papa, der sehr viel von ihr hält. Ich komme mit ihr immer gut aus.“
„Ja, aber vielleicht deshalb, weil Sie ihr auch einfach immer nachgeben. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich frage mich, warum Sie den Antrag von Major Stutzenbacher angenommen haben, wenn Sie ihn doch auch nicht heiraten wollen?“
„Er hat mich gar nicht gefragt. Er hat mit der Mama gesprochen und an den Papa geschrieben und beide sind einverstanden – wie soll ich mich da weigern? Aber denken Sie, er ist schon zweiundvierzig und ich werde demnächst erst siebzehn.“
„Das ist natürlich ein großer Altersunterschied.“
„Aber es ist nicht nur das Alter. Er gefällt mir einfach überhaupt nicht. Ich hasse Männer mit Schnurrbart und bald wird er auch eine Glatze haben.“
„Wenn er Ihnen zuliebe sein Äußeres verändern könnte, würde er es sicher tun“, bemerkte Hamilton lächelnd.
„Isabelle kann Männer mit großem Schnurrbart auch nicht leiden“, sagte Sophie schnippisch.
„Isabelle wird für ihre Meinung sicher gute Gründe haben“, sagte Hamilton leicht ironisch. „Allerdings ist mir noch nicht aufgefallen, dass sie eine Abneigung gegen den jungen Graf Zedwitz hat, und der hat ja nun auch einen ziemlich großen Schnurrbart.“
„Isabelle sagt, dass der Graf sehr gute Manieren habe und es nie wagen würde, sich zu viel herauszunehmen.“
„So, sagt sie das. Und wer nimmt sich nach Isabelles Meinung zu viel heraus?“
„Sie meint, dass Sie es tun – oder dass Sie es tun würden, wenn man es Ihnen erlauben würde.“
„Sieh mal an. Ich bin mir sicher, wenn sie hier mit Zedwitz auf der Bank säße ...“
„Isabelle würde so etwas niemals tun – und ich dürfte es auch nicht tun!“, rief sie und sprang auf. Ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um und fragte dann kaum hörbar: „Was ist das?“
„Was – was meinen Sie?“
„Dort – dort drüben in der Ecke! Da ist jemand!“
„Das ist nur irgendeine Figur aus Stein.“
„Nein, ich habe gesehen, dass sie sich bewegt ...“
„Das haben Sie sich nur eingebildet, weil Sie Angst haben, dass uns jemand sehen könnte. Hier ist mit Sicherheit niemand. Aber wenn Sie wollen, dann gehe ich hinüber und ...“
„Nein, auf keinen Fall, lassen Sie mich hier nicht alleine. Oh, warum bin ich hierher gekommen?“
„Beruhigen Sie sich, ich bin überzeugt, dass es gar nichts ist ...“
„Da – es hat sich wieder bewegt!“
Sie klammerte sich an seinen rechten Arm und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.
„Kommen Sie“, sagte Hamilton, „erlauben Sie mir, dass ich Sie nach oben in Ihr Zimmer bringe.“
Sophie zitterte und rührte sich nicht Fleck, wie gebannt starrte sie hinüber in jene Ecke, während Hamilton versicherte, es sei dort ganz sicher nichts. Mit sanfter Gewalt versuchte er, sie über den Innenhof zu ziehen, doch in diesem Augenblick bemerkte auch er, wie sich die „Figur“ eindeutig bewegte; das Mondlicht ließ einen Mantel sichtbar werden, der ganz sicher nicht aus Stein gemeißelt war. Sophie stöhnte kurz auf, rang nach Atem – und sank dann lautlos zu Boden, während Hamilton vergeblich versuchte, sie festzuhalten.
Gleichermaßen erschrocken wie wütend drehte er sich zu der seltsamen Gestalt um und rief halblaut: „Hören Sie auf mit Ihrer albernen Komödie und kommen Sie hervor, wer immer Sie sein mögen – sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“
Im nächsten Augenblick stand der junge Graf Zedwitz neben ihm. Er versuchte sich zu entschuldigen und versicherte, er habe keineswegs die Absicht gehabt, hier als Geist aufzutreten.
„Es ist mir völlig gleich, was Sie sich gedacht haben“, zischte Hamilton wütend, „was haben Sie um diese Zeit hier zu suchen? Sie haben das arme Mädchen zu Tode erschreckt.“
„Es tut mir leid – es war töricht von mir – oder auch unrecht, wenn Sie wollen. Aber ich versichere Ihnen hoch und heilig, dass ich kein Wort von Ihrem Gespräch mitgehört habe.“
„Von mir aus hätte die ganze Welt zuhören können“, rief Hamilton halblaut und schüttelte wütend die Hand ab, die Zedwitz ihm auf die Schulter gelegt hatte. „Sagen Sie mir lieber, was wir jetzt tun sollen. Sie gibt kein Lebenszeichen von sich, am Ende brauchen wir noch einen Arzt.“
„Nein, sicher nicht, sie ist nur ohnmächtig; ich werde ihr ein Glas Wasser holen.“
„Sind Sie wahnsinnig?“, zischte Hamilton. „Wollen Sie vielleicht jemanden aufwecken? Es darf niemand erfahren, dass sie mit mir ... mit uns … hier gewesen ist.“
„Aber vielleicht würde Wasser ihr helfen ...“
„Hören Sie auf mit diesem Unsinn. Wir müssen sie nach oben in ihr Zimmer bringen; ihre Schwester wird sie nicht verraten und kann sich um sie kümmern.“
Zu zweit trugen sie Sophie durch den Gang und die Treppe hinauf. Hamilton gab Zedwitz ein Zeichen, er möge leise an die Tür des Zimmers klopfen, das sich die beiden Schwestern teilten. Er klopfte jedoch vergebens, Isabelle schien tief und fest zu schlafen, und so bot Zedwitz schließlich an, hinein zu gehen und sie zu wecken. Hamilton hörte zunächst eine schläfrige und dann eine erschrockene weibliche Stimme, die Fragen stellte und schließlich sagte: „Warten Sie draußen.“
Kurz darauf ließ Isabelle sie ein, und während Hamilton Sophie auf das Bett legte, zündete Zedwitz Licht an.
„Sagen Sie mir endlich, was passiert ist“, sagte Isabelle eindringlich zu ihm.
„Es war wohl meine Schuld – sie hat im Mondlicht meinen Mantel gesehen und mich für ein Gespenst gehalten“, sagte Zedwitz ausweichend.
„Sie hat sie im Mondlicht gesehen? Wann? Wo? Ach, gehen Sie alle beide“, sagte sie heftig. „Ich muss mich um Sophie kümmern.“
Sie verließen das Zimmer, blieben jedoch am Ende des Korridors stehen. Kurz darauf erschien Isabelle, die Zedwitz ein Zeichen gab und dann eine Weile mit ihm tuschelte, so dass Hamilton nichts verstehen konnte. Als Isabelle wieder im Zimmer verschwunden war, fragte er leise: „Und, wie geht es ihr?“
„Besser, eigentlich ganz gut. Sie hat wohl anfangs gedacht, sie habe alles nur geträumt.“
„Ich fürchte, Sie haben Isabelle alles Mögliche erzählt und die Sache unnötig aufgebauscht. Sie wird jetzt Gott weiß was denken.“
„Überhaupt nicht! Aber irgendetwas musste ich ja erzählen. Haben Sie gesehen, wie hübsch sie mit dem Nachthäubchen aussah?“
„Also, wenn Ihnen solche Häubchen gefallen, dann empfehle ich Ihnen, nach London zu gehen. Sie können dort in jeder Straße zu jeder beliebigen Stunde des Tages ein halbes Dutzend solcher Häubchen auf den Köpfen bayrischer Mädchen sehen, die den ganzen Tag rufen: 'Besen, kauft Besen!'“
„Was erzählen Sie da? Ich glaube kaum, dass diese Mädchen aus Bayern kommen. Wahrscheinlich sind es Holländerinnen.“
„In London nennt man sie Bavarian girls. Ich muss gestehen, dass ich nie einen Besen gekauft und nie Nachforschungen angestellt habe, woher die Mädchen eigentlich kommen.“
„Also wissen Sie es nicht. Ich kann Ihnen aber sagen, dass die Bayern ihr Heimatland nur sehr ungern verlassen, dass die meisten Mädchen nicht völlig mittellos sind und dass London sehr weit von Bayern entfernt ist, während man von Holland aus mit einem Dampfboot sehr leicht dorthin gelangt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es sich um Holländerinnen handelt und nicht um Bayerinnen.“
„Wie eifrig Sie Ihre Landsmänninnen und ihre komischen Hauben verteidigen!“, rief Hamilton lachend. Sie standen mittlerweile vor seinem Zimmer und traten ein. „Also meinetwegen sind es Holländerinnen – aber hübsch sind die Häubchen nun wirklich nicht.“
„Es kommt ganz darauf an, wer die Haube trägt“, erwiderte Zedwitz voller Überzeugung. „Isabelle sah darin bezaubernd aus.“
„Vermutlich haben Sie recht, Zedwitz“, sagte Hamilton. „Isabelle ist selbst mit Häubchen und in Hausschuhen noch hübsch. Es ist nur schade, dass sie mitunter ein kleiner Feuer speiender Drachen ist.“
„Ein Drachen? Wie kommen Sie denn auf so einen Unsinn?“
„Das ist kein Unsinn. Ich rate Ihnen, sich in Acht zu nehmen, falls Sie vorhaben, ihr einen Antrag zu machen. Es könnte Ihnen sonst passieren, dass Sie Ihnen eine Ohrfeige verpasst.“
„Eine Ohrfeige? Was reden Sie da?“
„Angeblich hat sie den Major Stutzenbacher ins Gesicht geschlagen, als er so dreist war, ihr einen Heiratsantrag zu machen.“
„Das denken Sie sich aus, Hamilton – Sie wollen sich einen Scherz erlauben.“
„Keineswegs, es ist mein voller Ernst. Sophie hat es mir erzählt; sie war bei der Szene allerdings nicht dabei.“
Zedwitz setzte sich an den Tisch, trommelte mit den Fingern darauf und sah Hamilton an, als erwarte er, mehr zu hören.
„Vielleicht ist sie nur ein bisschen hitzig“, sagte dieser. „Man sagt ja, dass reizbare Menschen oft ausgesprochen liebenswürdig sind – sofern man sie nicht reizt.“
„Wer hätte das gedacht“, sagte Zedwitz nachdenklich. „Mit einem solchen Engelsgesicht!“
„Trauen Sie einem Engelsgesicht nie!“, rief Hamilton lachend. „Mein Bruder John, der ein paar Jahre älter ist als ich, pflegt zu sagen, dass Frauen, die wie Engel aussehen, oft die reinsten Teufel sind – aber wenn sie das nicht sind, dann sind sie Langweilerinnen. Wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich einen Teufel einer Langweilerin allemal vorziehen – auch als Ehefrau!“
Zedwitz runzelte die Stirn. „Sie halten sie also für ein kleines Biest?“, fragte er.
„Das wäre vielleicht übertrieben. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sie ausgesprochen unfreundlich werden kann, wenn ihr etwas nicht passt. Und da war sie noch nicht wirklich wütend ...“
„Warum war sie …“
„Das spielt keine Rolle. Auf jeden Fall nannte sie mich einen Narren und stampfte mit dem Fuß auf, und vermutlich hätte sie mich auch geohrfeigt, wenn ich nicht das Weite gesucht hätte.“
„Sie müssen irgendetwas getan haben, was sie besonders gereizt hat. Wären Sie so schüchtern und zurückhaltend bei Frauen, wie Sie behaupten, wäre das wohl nicht passiert. Bei Sophie hatten Sie einfach mehr Glück – sie hat Sie nicht nur nicht geschlagen, sie ist Ihnen sogar in die Arme gesunken.“
„Weil sie zu Tode erschrocken war. Hätte ich sie nicht festgehalten, wäre sie wie ein Stein zu Boden gefallen.“
„Sicher. Aber reden Sie keinen weiteren Unsinn mehr darüber, wie schüchtern Sie seien. Sie waren an der Treppe nun wirklich nicht zaghaft.“
„An der Treppe? Waren Sie etwa dort?“
„In der Nähe – ich war als Ratte getarnt.“
„Wirklich schade, dass ich Sie nicht mit dem Rechen getroffen habe – dann wäre uns die Szene erspart geblieben, in der Sie als Gespenst erschienen sind.“
„Vielleicht. Aber Sie haben mich doch selbst aufgefordert, zu Ihnen zu kommen. Ich hätte Sie nicht gefunden, wenn Sie mir nicht am Fuß der Treppe zugeflüstert hätten: 'Ich bin hier, geben Sie mir Ihre Hand!'“
„Also Sie waren das! Wissen Sie, was ich von Ihnen halte?“
„Kommen Sie, Hamilton, ich hatte nicht die Absicht, Ihnen den Abend zu verderben. Lassen Sie uns einfach morgen ein Glas auf unsere Freundschaft trinken. Immerhin werden wir uns nicht in die Quere kommen, wir sind ja keine Nebenbuhler.“
„Seien Sie da nicht zu sicher – Isabelle ist zwar ein kleiner Teufel, aber langweilig ist sie schon deshalb garantiert nicht ...“
„Ich dachte, Ihnen gefällt Sophie?“
„Ehrlich gesagt bin ich da ziemlich unentschlossen. Ich bin einfach auf der Suche nach einem kleinen Flirt, um mir die Zeit zu vertreiben, während ich hier in Deutschland bin – also sagen wir nach einer Liebelei, wenn Sie das englische Wort nicht kennen. Und für eine kleine harmlose Liebesgeschichte taugt die eine Schwester letztlich so gut wie die andere. Für Sophie spricht allerdings, dass daraus schon deshalb nichts Ernstes werden kann, weil sie ja demnächst Major Stutzenbacher heiratet.“
„Sie soll den Major heiraten?“
„Hat Isabelle Ihnen das nicht gesagt?“
„Kein Wort!“
„Nun, lassen Sie uns das Fenster öffnen und eine Zigarre bei Vollmond rauchen, und dann erzähle ich Ihnen das, was ich weiß. Sie müssen mir nur versprechen, dass Sie es für sich behalten.“
5
Madame Rosenberg zeigte sich am nächsten Morgen erstaunt, dass Sophie „unpässlich“ war und nicht zum Frühstück erscheinen konnte. Hamilton blickte zu Zedwitz und Zedwitz zu Hamilton und dann sahen beide Isabelle an, die jeden Blickkontakt vermied. Dennoch sah es fast so aus, als husche ein Lächeln über ihr Gesicht, als Zedwitz sich unerschrocken neben sie setzte und ein Gespräch begann. Da Major Stutzenbacher ganz mit seinem Frühstück beschäftigt schien, wandte sich Hamilton der ahnungslosen Madame Rosenberg zu. Aus verschiedenen Anspielungen und kleinen Scherzen entnahm er, dass sie ihn offenbar neugierig machen wollte und ihm gar zu gern die Neuigkeit von Sophies Verlobung mitgeteilt hätte. Er stellte sich jedoch dumm und sprach ausdauernd über andere Dinge. Schließlich schlug er mit harmlosem Blick für den nächsten Tag einen Ausflug an den nahen Chiemsee vor, und Zedwitz erklärte sofort, das sei eine ausgezeichnete Idee. Obwohl der Major bemerkte, es sei ziemlich heiß und man müsse mit einem Gewitter rechnen, nickte Madame Rosenberg zustimmend mit dem Kopf und meinte, eine kleine Ablenkung werde Sophie vermutlich gut tun.
Hamilton fragte Zedwitz, ob seine Mutter und seine Schwester nicht vielleicht Lust hätten, sich ihnen anzuschließen, worauf dieser zu seinem Erstaunen antwortete: „Mein lieber Freund, nichts gegen Sie und Ihre englischen Ideen, aber meine Mutter und meine Schwester würden sich durch nichts dazu bewegen lassen, mit diesen Leuten gemeinsam einen Ausflug zu machen.“
„Mit diesen Leuten? Sind sie nicht respektabel?“
„Respektabel? Natürlich sind sie das. Aber Sie werden auch als Engländer doch wohl wissen, dass es gewisse gesellschaftliche Unterschiede gibt. Die beiden Mädchen sind wahre Schätze und wären überall präsentabel – wenn sie ein von vor ihrem Namen hätten. Aber ihre Stiefmutter ist die personifizierte Gewöhnlichkeit und Major Stutzenbacher kommt ebenfalls aus einfachen Verhältnissen.“
„Ich weiß ehrlich gesagt gar nichts über den Major, außer dass er ein nicht mehr ganz junger Mann mit großem Schnurrbart ist. Er muss sich als Soldat ausgezeichnet haben, sonst hätte man ihn nicht zum Major befördert.“
„Ja, seine Leistungen sind unbestritten, er soll ein sehr guter Offizier gewesen sein. Sein Onkel, ein Kaufmann aus Nürnberg, ist vor einiger Zeit gestorben und hat ihm ein kleines Vermögen hinterlassen. Seitdem ist er wohl auf Brautschau.“
„Das ist durchaus verständlich, worauf sollte er in seinem Alter warten? Er wird ja nicht jünger. Aber er ist ganz sicher zu alt für die arme Sophie, die garantiert glücklicher wäre, wenn sie nicht jetzt schon mit sechzehn an den ersten besten Bewerber verheiratet würde.“
Kurz darauf kam Sophie in den Garten und errötete, als sie an ihnen vorüber ging. Hamilton fühlte ebenfalls eine gewisse Verlegenheit und wandte sich rasch ab, damit Zedwitz es nicht bemerkte.
„Sieh da, er weiß schon, wie er ihre Gunst gewinnen kann“, sagte dieser und berührte seinen Arm, damit er sich umdrehte. Er gehorchte und sah durch die Zweige der Laube, wie Major Stutzenbacher Sophie gerade ein goldenes Armband anlegte. Sie schien einen Augenblick lang verlegen zu sein, dann spielte sie mit einem kleinen Anhänger daran und blickte schließlich lächelnd zu ihm auf.
„Also wenn es so leicht ist, ihre Sympathien zu gewinnen ...“, sagte Hamilton leicht verärgert. „Ich glaube, ich werde mich doch eher Isabelle zuwenden, selbst wenn mir von ihrer Seite die eine oder andere Ohrfeige droht.“
„Sie sollten nicht so streng sein mit Sophie. Sie muss den Major ja nun heiraten, ob sie will oder nicht. Dass sie lieber einen jüngeren und attraktiveren Ehemann hätte, wird er selbst auch ahnen. Warum sollte sie sich nicht über ein goldenes Armband freuen, daran ist nun wirklich nichts Schlimmes.“
„Nein, vielleicht nicht. Aber sie hasst ältere Männer mit großen Schnurrbärten, das hat sie mir gestern selbst gesagt.“
Zedwitz lachte.
Boshaft fügte Hamilton hinzu: „Sie hat mir übrigens auch gesagt, dass Isabelle diese Abneigung teilt.“
„Es tut mir leid, das zu hören“, erwiderte der Graf, sammelte eine Handvoll Kieselsteine vom Weg auf und begann konzentriert, sie so über die Wasserfläche des Sees zu schleudern, dass sie mehrere Male auf dem Wasser aufkamen, ehe sie untergingen.
„Sie denken jetzt nicht etwa daran, Ihren Bart zu rasieren?“, fragte Hamilton spöttisch.
„Warum interessiert es Sie, ob ich Isabelle gefalle oder nicht? Haben Sie mir nicht erst gestern Abend erzählt, Sie wollten sich nur ein bisschen amüsieren und Sophie genüge Ihren Ansprüchen vollkommen?“
„Das sagte ich, ja. Darf ich fragen, welche Absichten Sie haben?“
„Selbstverständlich dürfen Sie mich das fragen, Sie müssen allerdings verzeihen, dass ich Ihnen darauf nicht antworte.“
Am nächsten Morgen verließen die Ausflügler Seeon sehr früh in zwei Kutschen. Madame Rosenberg hatte ihre drei Buben mitgenommen, weil sie es nicht verantworten könne, das Kindermädchen längere Zeit mit ihnen allein zu lassen, wie sie sagte. Franz, der Älteste, der mit Isabelle in einem Wagen saß, vergnügte sich bald damit, dass er von der Kutsche aus auf den Bock und dann wieder zurück in die Kutsche kletterte, so dass sie kaum dazu kam, sich in Ruhe mit Zedwitz zu unterhalten.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie den Chiemsee erreicht hatten, an dessen Ufer mehrere Ruderboote für Ausflügler bereit lagen. Madame Rosenberg verfrachtete Sophie zusammen mit Major Stutzenbacher in einen Kahn und bestand darauf, dass Isabelle zwischen zwei der Knaben saß, während sie den dritten auf dem Schoß von Graf Zedwitz unterbrachte. Hamilton genoss die zweifelhafte Auszeichnung, als Begleiter für sie reserviert zu sein. Weder Sophie noch Isabelle hatten vorher schon einmal in einem Boot gesessen und schienen sich innerlich darauf vorzubereiten, mit Mann und Maus unterzugehen. Sie landeten jedoch wohlbehalten auf der Fraueninsel, um sich das Nonnenkloster anzusehen. Während sie darauf warteten, eingelassen zu werden, wanderten sie über den Friedhof und in die Kirche. Es erschien ein großer magerer Mann in dunklem Priestergewand. Zedwitz trat auf ihn zu und fragte höflich, ob die Damen wohl einen kurzen Rundgang durch das Kloster machen dürften, obwohl sie nicht als Besucherinnen angemeldet seien. Madame Rosenberg beeilte sich, sich vorzustellen und versuchte sogar, irgendeinen Scherz anzubringen. Vielleicht lag es an dieser offensichtlichen Taktlosigkeit, dass der Priester ihre Bitte entschieden ablehnte und darauf verwies, er könne sie ohne besondere Erlaubnis des Ordinariats in München nicht einlassen. Der Besuch Fremder störe die Nonnen und verstoße gegen die Regeln des Ordens.
Sophie bemerkte leise im Gehen, dass sie froh sei, hier keine Nonne zu sein, bei einem so strengen Beichtvater.
„Sie haben doch hoffentlich keine Absichten, ins Kloster zu gehen?“, fragte der Major etwas erschrocken.
„Ich hätte gegen einen solchen Beichtvater keine Einwände“, erklärte Isabelle. „Ich finde, ein Mann in einer solchen Position muss eine imposante Erscheinung sein. Das gibt mir das Gefühl, dass er über die Schwächen der menschlichen Natur erhaben ist.“
„Welchen Unsinn du wieder redest, Isabelle!“, rief Madame Rosenberg mit affektierter Gereiztheit. „Es ist nur dein Widerspruchsgeist, der dich dazu bringt zu behaupten, dass du diesen Mann bewunderst, der so unhöflich zu uns gewesen ist.“
Isabelle ging langsamer und Zedwitz schloss sich ihr augenblicklich an.
„Sie lieben also streng aussehende Männer?“, fragte er leise.
„Ich habe gesagt, dass ich einen Beichtvater vorziehe, der etwas Imposantes hat.“
„Also nur bei einem Beichtvater? Aber als Freund, als Liebhaber oder als Ehemann – da ziehen Sie etwas ganz anderes vor?“
„Mag sein“, erwiderte sie unbeteiligt.
Hamilton, der direkt hinter ihnen ging, konnte es sich nicht verkneifen, spöttisch zu bemerken: „Vielleicht ziehen Sie es ja in Erwägung, nur aus Bewunderung für diesen strengen Mann ins Nonnenkloster zu gehen. Über Geschmack soll man nicht streiten.“
„Ich habe nicht vor, den Schleier zu nehmen, ehe Sie Mönch geworden sind“, erwiderte sie schnippisch.
„Falls ich Mönch werden sollte, dann auf keinen Fall hier. Ich würde mir einen gastlicheren Ort aussuchen. Die Unhöflichkeit Ihres Freundes mit dem strengen Gesicht ist nicht mein Fall.“
Das Klostergebäude auf der anderen Insel war sehr eindrucksvoll. Die Kirche war dagegen in ein Brauhaus verwandelt worden und nicht lange nach ihrer Entweihung niedergebrannt. Eine breite Marmortreppe führte hinauf in das obere Stockwerk. Die schönen Holzschnitzereien an einigen Türen im Refektorium erregten ihre Aufmerksamkeit.
„Das ist ein Ort, wo man mit einer angenehmen Gesellschaft gerne ein paar Wochen verbringen würde“, sagte Hamilton zu Zedwitz, als er aus einem der Fenster hinaus auf den See blickte.
„Oder allein mit Isabelle und ihrer Schwester“, antwortete Zedwitz leise.
„Wenn die hübsche Sophie nur nicht so naiv und kindlich wäre“, seufzte Hamilton.
Als sie draußen unter den Bäumen ihre Picknickkörbe auspackten, vermied Hamilton den direkten Kontakt mit Sophie. Sie versuchte daraufhin, ihn dadurch zu ärgern, dass sie Major Stutzenbacher freundliche Blicke zuwarf. Sie lachte und ermunterte ihn, ihren Brüdern Bier zu geben, wenn ihre Mutter nicht hinsah. Da die Knaben sonst nur Wasser und Milch bekamen, reichten einige Schlucke schon aus, um sie in einen leichten Rauschzustand zu versetzen. Auf dem Rückweg zum Boot sang und schrie Franz aus Leibeskräften, während sein Bruder Gustel ihn ständig knuffte. Vergebens drohte Madame Rosenberg mit Strafen. Die Brüder rauften und rangelten auch weiter, als sie bereits im Boot saßen. Gustel riss Franz die Mütze vom Kopf und warf sie ins Wasser, worauf dieser sich über den Rand des Bootes lehnte, nach seiner Mütze fischte – und über Bord ging. Die Damen schrien vor Entsetzen laut auf.
Zedwitz wurde blass und stammelte, dass er nicht schwimmen können, worauf Madame Rosenberg die Hände rang und laut um Hilfe rief. Hamilton zögerte nicht lange und sprang ins Wasser. Glücklicherweise bekam er den Jungen rasch zu fassen und konnte ihn Zedwitz übergeben. Madame Rosenberg überhäufte den Retter mit Danksagungen und Segenswünschen. Nass wie er nun einmal war, wollte Hamilton nicht ins Boot zurückkehren; er legte die Entfernung zum Ufer schwimmend zurück, indem er sich von Zeit zu Zeit daran festhielt. An Land hörte er zu seiner Verwunderung, dass die Fischer, die sie gerudert hatten, auch nicht schwimmen konnten, obwohl sie ihr halbes Leben auf dem See verbracht hatten.
Franz wurde in einem Wirtshaus in eine Decke gewickelt. Hamilton blieb nichts anderes übrig, als seine nasse Kleidung im Hinterzimmer auszuziehen und das Angebot eines Einheimischen anzunehmen, der ihm einige Kleidungsstücke brachte. Natürlich passten ihm die Sachen überhaupt nicht. Die Hose war viel zu weit und um etliches zu kurz; sie bedeckte seine Waden, die in weißen Strickstrümpfen steckten, gerade einmal bis zur Hälfte. Ein grobes Hemd und eine viel zu weite Jacke vollendeten seinen originellen Aufzug. Sophie und Major Stutzenbacher brachen bei seinem Anblick in schallendes Gelächter aus und auch Madame Rosenberg unterdrückte nur mühsam ein Lächeln. Isabelle betrachtete ihn schweigend, ließ ihn in der Kutsche aber widerspruchslos neben sich sitzen und sprach auf der Rückfahrt beinahe mehr mit ihm als mit Zedwitz.
Die scheinbare Harmonie zwischen Isabelle und Hamilton hielt jedoch nicht lange an. Jedes ihrer Gespräche endete an den folgenden Tagen mit einem Disput und beiderseitiger Verstimmung. Isabelle liebte es offenbar, spitze Bemerkungen auf seine Kosten zu machen, wofür er sich seinerseits mit Spott oder Ironie revanchierte, was unweigerlich zu Feindseligkeiten von ihrer Seite führte. Es war nach einem dieser für ihn frustrierenden Wortwechsel, als er Sophie allein im Garten antraf. Sie saß auf einer Bank und ließ eifrig die Stricknadeln klappern, wobei sie ihre Finger und Ellenbogen mit bewundernswerter Schnelligkeit bewegte. Da sie in den letzten Tagen die beleidigte Leberwurst gespielt hatte, weil Hamilton sie nicht genügend beachtete, konnte er sie betrachten, so lange er wollte, ohne dass sie von ihrem Strickwerk aufsah. Nachdem er sich ein paarmal geräuspert hatte, wendete er sich schließlich ab. Sie sah auf – und seufzte. Das verstand er als Ermutigung, auch wenn ihr Blick vorwurfsvoll war. Er setzte sich neben sie und lobte ihre Fingerfertigkeit.
„Und wer ist der Glückliche, der diesen Strumpf einmal tragen wird?“, fragte er mit gespieltem Interesse.
„Das kann Ihnen wirklich völlig gleichgültig sein“, antwortete sie und seufzte wieder.
„Alles, was mit Ihnen zu tun hat, interessiert mich, seit dem Augenblick, als ich Sie zum ersten Mal Brathendl essen sah.“
„Dann haben Sie eine sonderbare Art, Ihr Interesse zu zeigen. Isabelle sagt, dass Sie mich überhaupt nicht ernst nehmen.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte er mit gespielter Entrüstung, obwohl er natürlich ganz genau wusste, was sie meinte.
„Sie kümmern sich überhaupt nicht um mich. Sie sprechen nicht einmal mit mir.“
„Aber Mademoiselle, Sie haben mir doch selbst von Ihrer Verlobung erzählt.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Es könnte falsch verstanden werden, wenn ich mit Ihnen spreche. Ich möchte Sie nicht in eine unangenehme Situation bringen.“
Sophie lächelte geschmeichelt und strickte noch schneller.
„Ist es hier nicht üblich, eine Verlobung fast ebenso ernst zu nehmen wie eine Heirat?“, fragte Hamilton.
„Das weiß ich nicht“, sagte sie in aller Unschuld, „ich bin zum ersten Mal verlobt. Allerdings – wir sind ja noch nicht offiziell verlobt. Wir verloben uns erst, wenn wir in München sind.“
„Sie meinen, bis dahin können Sie sich noch mit anderen Männern unterhalten?“
„Ja natürlich.“
„Sie meinen also, dass Major Stutzenbacher keinen Anlass hätte, auf mich eifersüchtig zu sein?“
„Eifersüchtig?“, fragte sie und wurde rot.
„Ich meine natürlich verärgert. Das wäre ja möglich. Aber wahrscheinlich hätte er dazu nicht den geringsten Anlass, Sie scheinen ja gar nicht mehr so unglücklich zu sein.“
„Was nützt es, unglücklich zu sein?“, fragte sie und seufzte. „Die Mama sagt, dass ich alt genug bin, um zu heiraten und dass nicht alle Tage ein Mann wie der Major um meine Hand anhalten wird.“
„Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, Ihre erstaunliche Gelassenheit oder Ihre Vernunft.“
Sie blickte ihn kurz an und da er nicht lachte, sagte sie in vertraulichem Ton: „Die Mama war sehr großzügig. Sie hat mir versprochen, ich bekomme alles in fünfzig und hundert.“
„In fünfzig und hundert?“, wiederholte Hamilton.
„Ja, die Kleinen in Hunderten, die Großen in Fünfzigern.“
„Sie werden mich jetzt wahrscheinlich für sehr einfältig halten, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“
„Ich rede von der Aussteuer. Ich bekomme dasselbe, was die Mama zur Hochzeit bekommen hat. Alle kleinen Dinge wie Kissenbezüge, Handtücher und Strümpfe hundertfach, alle großen wie Tischtücher, Bettlaken und dergleichen fünfzigfach.“
„Ich verstehe, das macht die Sache natürlich angenehmer“, sagte Hamilton und bemühte sich, die Ironie nicht hörbar werden zu lassen.
„Wenn er nur adelig wäre“, seufzte sie. „Dann würde mir der Altersunterschied fast nichts ausmachen. – Meine richtige Mutter war eine Gräfin.“
„Also möchten Sie eigentlich einen Grafen heiraten?“
„Nein, das kann ich nicht erwarten, weil ich kein Vermögen habe und mein Papa keinen Titel hat, er ist nicht einmal ein von.“
„Was heißt das – was wäre, wenn er ein von wäre?“
„Ein von im Namen ist die unterste Stufe des Adels. Danach kommt Ritter, dann Baron, Graf, Herzog. Ich weiß nicht, wieso meine Mutter einen Mann geheiratet hat, der nicht zum Adel gehört. Aber der Papa war ein ungemein schöner Mann früher, wahrscheinlich deshalb.“
„Ganz sicher, gutes Aussehen ist immer eine Empfehlung.“
„Sind Sie adelig?“, fragte sie plötzlich.
„Ich heiße nicht von Hamilton“, sagte er lachend.
„Aber sind Sie ein Graf oder ein Baron?“
„Weder das eine noch das andere.“
„Sie sind also nur Mister Hamilton?“
„Ja, Mister Alexander Hamilton.“
Er merkte, dass er in ihrer Achtung schlagartig gesunken war, was dazu führte, dass er einige Minuten lang erfolglos versuchte, ihr das Wesen des englischen Adels zu erklären, bei dem jeweils nur der älteste Sohn den Titel des Vaters erbt, während die Nachgeborenen leer ausgehen und formal bürgerlich sind. Sophie konnte seinen Ausführungen nicht folgen und verstand nicht, wieso er behauptete, er wäre sicher ein Baron oder ein Graf, wenn er in Deutschland geboren wäre. Hamilton war es schließlich selbst peinlich, dass er versuchte, sie auf diese Weise zu beeindrucken. Immerhin wusste er nun, womit man deutschen Mädchen am meisten imponieren konnte – hatte ein Mann irgendeinen Titel oder wenigstens ein von im Namen, brauchte er weder geistreich noch sonderlich attraktiv oder vermögend zu sein, soviel stand fest.
„War ihre Mutter hübsch?“, fragte er nach einer kurzen Pause.
„Ja, jedenfalls sagen das alle, die sie gekannt haben. Isabelle sieht ihr sehr ähnlich, und viele meinen, man könnte uns für Zwillinge halten.“
„Das stimmt, jedenfalls auf den ersten Blick.“
„Oh ich weiß, dass Isabelle viel hübscher ist als ich.“
Das war nicht zu leugnen, deshalb wusste Hamilton nicht, was er dazu sagen sollte, aber zu seinem Glück fügte sie hinzu: „Aber Major Stutzenbacher sagt, dass ich viel liebenswürdiger bin als sie.“
„Der Major muss es wissen“, sagte Hamilton lakonisch.
„Er hat mir gestern eine Menge gute Ratschläge gegeben.“
„Tatsächlich?“
„Er hat zum Beispiel gesagt, dass es töricht sei, jungen Männern wirklich zu vertrauen – sie wären unehrlich und egoistisch.“
„So so … er scheint sich ja wirklich sehr gut auszukennen, der Major.“
Man hörte Schritte auf dem Kiesweg, und als Sophie sich umdrehte, sah sie, dass Stutzenbacher gerade die Asche aus seiner Meerschaumpfeife blies und auf eine andere Bank zusteuerte. Sie zuckte zusammen, als sei sie bei etwas ertappt worden, und stand hastig auf.
„Haben Sie nicht gerade gesagt, Sie könnten jederzeit ungehindert mit mir sprechen?“, fragte Hamilton spöttisch.
„Ja, natürlich“, antwortete sie und setzte sich wieder. „Was wollten Sie sagen?“
„Was ich sagen wollte? Wovon sprachen wir gerade? Ach ja, über die guten Ratschläge des Majors. Er hat sicher noch mehr gesagt, jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass er seine Zeit damit verschwendet hat, über junge Männer herzuziehen, die zwanzig Jahre jünger sind als er.“
„Ja, er hat noch mehr gesagt … Wir sprachen auch von – von der Liebe ...“
„Das ist ein sehr interessantes Thema. Es würde mich interessieren, was der Major dazu zu sagen hat.“
Sie seufzte. „Er hat gesagt, dass … dass die meisten, vor allem Frauen, nur selten das Glück haben, ihre erste Liebe zu heiraten.“
„Eine etwas seltsame Bemerkung, jedenfalls in Ihrer Gegenwart. Sie waren bis vor ein paar Monaten auf einer Mädchenschule und sind noch keine siebzehn Jahre alt. Er wird doch wohl nicht annehmen, dass Sie bereits Erfahrungen mit der Liebe haben.“
Sie senkte den Blick und schwieg.
„Aber vielleicht war es die Einleitung zu seinen Bekenntnissen? Hat er Ihnen etwas über seine eigenen Liebschaften erzählt? Waren es viele?“
„Nein! Er hat mir gesagt, dass ich die Erste bin, der er jemals einen Antrag gemacht hat.“
„Er wollte sicher sagen die Zweite – nach Ihrer Schwester.“
Sophie errötete und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sofort tat es Hamilton leid, dass er seine Spottlust mal wieder nicht zügeln konnte, und er wollte sich gerade entschuldigen, als sie abrupt aufstand, um hinüber zu Major Stutzenbacher zu gehen. Dabei vergaß sie jedoch, ihr großes Knäuel Garn aufzuheben, so dass sie es hinter sich herzog, über den Rasen und die Blumenbeete, wo es sich so um einen Rosenbusch wickelte, dass Hamilton ihr zu Hilfe eilte. Während er das Garn entwirrte, sagte er leise auf Französisch: „Heute Abend werde ich kurz vor Sonnenuntergang im Kreuzgang sein. Bitte kommen Sie! Ich werde Sie um Verzeihung bitten, wenn ich Sie verletzt habe!“
Tatsächlich begab sich Hamilton nach dem Abendessen in den Kreuzgang, wo er sich die Zeit damit vertrieb, die Inschriften auf den ihn umgebenden Grabsteinen zu entziffern, bis er Schritte hörte. Es war jedoch nicht Sophie, sondern Isabelle. Er glaubte an einen seltsamen Zufall, doch sie blieb direkt vor ihm stehen und sagte: „Ich überbringe Ihnen eine Nachricht von meiner Schwester.“
„Sie lässt sich entschuldigen?“
„Ich habe gehört, dass Sie es sind, der sich zu entschuldigen hätte.“
„Das stimmt. Ich habe heute ein paar Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Da meine Entschuldigung aber nur für Sophie bestimmt ist und nicht für Sie, wollen wir die Angelegenheit damit als erledigt betrachten und über etwas Anderes reden.“
„Ich habe weder Zeit noch Lust mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich bin gekommen, um Ihnen etwas auszurichten. Meine Schwester lässt Ihnen sagen, dass Sie es nicht mit ihrer Erziehung und ihrem Gefühl für Anstand vereinbaren kann, sich heimlich an einem solchen Ort mit Ihnen zu treffen. Sie hat Ihnen mitgeteilt, dass sie sich in Kürze verloben wird und dass Ihre Aufmerksamkeiten sie deshalb in eine höchst peinliche Lage bringen.“
„Ich glaube nicht, dass Ihre Schwester Ihnen aufgetragen hat, mir das zu sagen“, erklärte Hamilton und sah sie scharf an.
Isabelle errötete leicht. „Sie können sicher sein, dass meine Schwester sich nicht mehr allein mit Ihnen treffen wird, wenn Sie nicht ...“
„Wenn ich nicht was tue?“
„Wenn Sie sich nicht deutlicher erklären und ihr die Möglichkeit geben, zwischen Ihnen und Major Stutzenbacher zu wählen. Es wäre noch nicht zu spät!“
Diese eindeutige Mitteilung kam so überraschend, dass Hamilton nur verlegen etwas von recht kurzer Bekanntschaft stottern konnte und dass er nicht ganz verstehe, was sie sagen wolle.
„Ich glaube eher, dass Sophie nicht ganz versteht, was Sie sagen wollen“, rief Isabelle entrüstet. „Ich wünschte wirklich, sie würde Sie mit meinen Augen sehen und ganz einfach verachten.“
„Sie sind wirklich zu freundlich“, sagte Hamilton ironisch. „Wie wäre es, wenn Sie mich zur Abwechslung einmal mit den Augen ihrer Schwester sehen und mich nach meinem Charakter beurteilen würden? Aber obwohl Sie mein Treffen mit Sophie soeben verhindert haben, habe ich nicht die Absicht, Ihr Rendezvous mit Graf Zedwitz zu stören.“ Der Graf kam nämlich soeben auf sie zu.
„Sie sind mir einfach völlig gleichgültig“, antwortete sie kühl, wandte sich ab und verschwand kurzerhand durch einen der Ausgänge des Kreuzganges.
„Hamilton, das ist kein faires Spiel“, rief dieser lachend. „Sie haben Ihre Anwesenheit nicht vorher angekündigt.“
„Sind Sie etwa wirklich hierher gekommen, um sich mit Mademoiselle Isabelle zu treffen?“
„Warum nicht? Sie haben sich mit ihrer Schwester hier getroffen, warum sollte ich nicht das Gleiche tun?“
„Nun, weil ...“
„Weil sie schön ist und ich hässlich, wollten Sie wohl sagen. Und deshalb glauben Sie, dass ich keine Aussicht auf Erfolg habe?“
„Das ist es nicht, was ich sagen wollte. Aber bei aller äußerlichen Ähnlichkeit sind die beiden Schwestern ansonsten sehr verschieden.“
„Da haben Sie völlig recht. Während die eine nur dank ihrer Jugend anmutig und bezaubernd ist, ist die andere die Verkörperung vollkommener Weiblichkeit, fast eine Göttin.“
„Sie sind bis über beide Ohren verliebt“, stellte Hamilton trocken fest.
„Sie irren sich“, antwortete Zedwitz lächelnd. „Ich spreche nur als Künstler, der seine Mußestunden damit verbringt, Porträtskizzen anzufertigen.“
„Also hatten Sie vor, heute Abend eine Skizze von diesem göttergleichen Modell zu zeichnen? Und sie hat sich tatsächlich hier mit Ihnen verabredet?“
„Natürlich habe ich nicht zu ihr gesagt: 'Kommen Sie bitte heute Abend in den Kreuzgang, ich werde auf Sie warten.' Das wäre viel zu plump. Ich habe ihr erzählt, wie schön der Kreuzgang im Licht der untergehenden Sonne wirkt und dass ich die Absicht habe, ein kleines Aquarell zu malen, das diese Stimmung einfängt. Sie wusste also, wann ich da sein werde. Und wären Sie nicht dazwischengekommen, hätte sie sicher Lust gehabt, mir ein wenig zuzusehen.“
„Sie ist nur hierher gekommen, um mit mir zu sprechen“, behauptete Hamilton.
Der Graf sah ihn erstaunt an. „Sie kam wegen Ihnen?“
„Ja – allerdings nur, weil ihre Schwester sie darum gebeten hatte. Sie sollte mir etwas ausrichten. Als Sie dazukamen, befanden wir uns gerade mitten in einem Streitgespräch.“
„Worüber haben Sie gestritten?“
„Es ging um ihre Schwester. Sie forderte mich auf, zu erklären, welcher Art mein Interesse an Sophie sei und legte mir sogar nahe, ihr ebenfalls einen Heiratsantrag zu machen, damit sie die Wahl zwischen mir und Stutzenbacher habe. Als ich zu verstehen gab, dass ich das nicht vorhabe, sprach sie von Verachtung etc. Sie können sicher sein, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie auch von Ihnen einen Antrag einfordern wird. Warten Sie nur ab.“
„Das wäre für mich nun wirklich kein Malheur, ganz im Gegenteil.“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie ernsthaft daran denken, Isabelle zu heiraten?“
„Nichts lieber als das, ich wäre der glücklichste Mann der Welt! Aber dieses Glück wird mir nicht beschieden sein!“
„Sie befürchten, sie würde Ihren Antrag nicht annehmen?“
„Das weniger. Aber ich bin mir sicher, dass mein Vater die Heirat nicht erlauben würde.“
„Dann brennen Sie mit ihr durch und bitten ihn nachher um seine Einwilligung.“
„Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber die Heirat ist nicht einfach ein formaler Akt, auch nicht ein rein kirchlicher. Sie haben keine Vorstellung davon, welche Feierlichkeiten und Zeremonien in Familien unseres Standes damit verbunden sind, damit eine Ehe überhaupt anerkannt wird. Zu all dem kommt hinzu, dass ich in der Armee bin und eine Kaution aufbringen müsste.“
„Eine Kaution – wofür?“
„Ein Offizier muss zwanzigtausend Gulden Kaution hinterlegen, damit er die Erlaubnis bekommt, zu heiraten. Das Geld ist zur Versorgung seiner Frau und seiner Kinder bestimmt, falls er früh stirbt. Fünftausend Gulden sind eine Menge Geld, und ich könnte sie natürlich nur dann aufbringen, wenn mein Vater den größten Teil der Summe übernimmt; Isabelle hat ja keinerlei Vermögen. Schon deshalb ist eine Heirat völlig unmöglich.“
„Sie sollten trotzdem mit Ihrem Vater sprechen.“
„Ich werde nichts dergleichen tun. Ich kann nicht einmal auf die Unterstützung meiner Mutter hoffen, weil sie die Verbindung auch nicht gutheißen würde. Vielleicht kann meine Schwester ein gutes Wort für mich einlegen, wenn sie demnächst mit dem Mann verheiratet ist, den meine Eltern für sie ausgewählt haben. Aber vorher müsste ich natürlich mit Isabelle sprechen.“
„Ich verstehe – zumindest halb. Möglicherweise sind Eheschließungen in Deutschland noch weitaus komplizierter als bei uns in England. Und auch die Bekanntschaft mit bayerischen Mädchen ist keineswegs ein reines Vergnügen.“ Nach einer kleinen Pause fuhr Hamilton fort: „Ich glaube, ich bin lange genug in Seeon gewesen, und wenn ich nicht Madame Rosenberg fest zugesagt hätte, würde ich wahrscheinlich nach Wien weiterreisen. Hätten Sie nicht Lust, mit mir zusammen eine Reise nach Österreich zu machen?“
Zedwitz sah ihn verlegen an und sagte dann zögernd: „Im Prinzip gerne, aber … ich habe eigentlich mit den Rosenbergs ausgemacht, dass ich sie auf einem Ausflug nach Salzburg begleite.“
„Nach Salzburg? Und ich weiß davon natürlich nichts!“
„Man wird Sie sicher einladen. Es war nur etwas schwierig, weil ich nicht die Gunst von Madame Rosenberg genieße. Sie erwartet ihren Mann, der für einen Tag nach Seeon kommen wird, um die Bekanntschaft seines künftigen Schwiegersohnes zu machen. Danach soll der Ausflug stattfinden.“
„Wie wollen sie reisen?“
„Mit den besten Kutschen, die wir hier auftreiben können. In Traunstein nehmen wir einen Char-à-banc mit Sitzbänken, auf denen wir alle Platz haben.“
„Sie hoffen natürlich darauf, drei Tage lang neben einer ganz bestimmten jungen Dame zu sitzen“, lachte Hamilton.
„Sie haben völlig recht“, antwortete er, indem er Hamiltons Arm nahm, um den Kreuzgang zu verlassen. „Ich hoffe nur, dass Sie meine Pläne nicht durchkreuzen wollen.“
„Keine Sorge, Isabelle hat mir ziemlich deutlich gesagt, dass sie mich verachtet, warum auch immer. Hätte sie gesagt, sie würde mich hassen, könnte ich mir vielleicht Hoffnungen machen, aber gegen Gleichgültigkeit und Geringschätzung lässt sich nichts ausrichten.“
„Also was wollen Sie tun?“
„Offensichtlich muss ich gar nicht viel tun, um Isabelles Abneigung gegen mich zu fördern. Es sollte also durchaus möglich sein, ihre Ablehnung bis zum Hass zu steigern. Da ich das Spiel aber nicht bis zum Äußersten treiben will, werde ich mich wohl damit begnügen, ihrer Schwester bedeutungsvolle Blicke zuzuwerfen und abzuwarten, was passiert. Sie hat mich heute im Garten förmlich aufgefordert, mit ihr zu flirten, sie kann mir also später keine Vorwürfe machen.“
„Das klingt nach einem ganz vernünftigen Plan, Hamilton – auch wenn ich nicht ganz verstanden habe, was Sie mit Sophie vorhaben. Ich bin nur gespannt, ob aus Ihrem Spiel nicht früher oder später Ernst wird.“
6
Am folgenden Abend lud Madame Rosenberg Sophie und Major Stutzenbacher dazu ein, der Kutsche ihres Mannes gemeinsam entgegen zu gehen. Isabelle musste im Garten bleiben und ihre drei kleinen Brüder beaufsichtigen. Offensichtlich war das die Strafe dafür, dass die den Antrag des Majors abgelehnt hatte. Mit niedergeschlagener Miene setzte sie sich auf die steinernen Stufen vor der Kapelle, bis man das Geräusch von Rädern und Pferdehufen hörte und sich ein Wagen näherte, der in einiger Entfernung anhielt, als er die Gruppe der Fußgänger erreicht hatte. Der Mann, der herunter sprang, schien eigentlich viel zu jung zu sein, um der Vater von Sophie und Isabelle sein zu können. Als die Gesellschaft näher kam, bemerkte Hamilton, dass Herr Rosenberg früher ein ungemein attraktiver Mann gewesen sein musste. Die Kinder liebten ihn offenbar, denn die Jungen hingen an seinen Knien und einem Arm, während Sophie den anderen ergriffen hatte. Hamilton wurde ihm kurz als „unser englischer Freund“ vorgestellt, dann fiel sein Blick auf Isabelle, die aufgestanden war. Er ging auf sie zu und fragte erstaunt: „Isabelle, was ist mit dir? Warum kommst du mir nicht entgegen?“
Sie stürzte mit einem Freudenschrei in seine Arme und antwortete leise: „Ich durfte nicht, ich durfte nicht!“
„Du weißt, dass du eine Strafe verdient hast, du böses Mädchen?“
„Aber du hast mir verziehen, Papa? Bitte sag, dass es so ist.“
Eine zweite Umarmung war die Antwort.
Madame Rosenberg, die die Szene beobachtete, biss sich auf die Lippen und bemerkte zornig: „Du solltest Isabelle nicht noch ermutigen, eigensinnig und ungehorsam zu sein. Ein paar harte Worte wären wohl angemessen.“
„Meine Liebe, was geschehen ist, ist geschehen, und Major Stutzenbacher ist sicher zufrieden.“
„Mehr als das!“, rief der Major.
Sophie lächelte und errötete.
„Dann sind wir alle zufrieden. Sie bekommen Sophie, die wirklich ein reiner Engel ist, und ich muss vorerst dieses eigensinnige, temperamentvolle Mädchen behalten.“ Er drückte kurz Isabelles Hand und selbst einem unbeteiligten Zuschauer musste auffallen, dass sie seine Lieblingstochter war.
„Du wirst sie wahrscheinlich dein ganzes Leben lang behalten“, bemerkte seine Frau spitz.
„Das glaube ich nicht. Es wird sich sicher noch jemand finden, der erkennt, dass sie nicht nur ein Hitzkopf, sondern auch ein ganz liebenswertes Geschöpf ist – einen schlechten Charakter hat sie nun wirklich nicht.“
„Oh, sie ist sehr umgänglich, wenn alles nach ihrem Kopf geht, und der Papa verzieht sie noch mehr. Ich beneide den Mann nicht, der sie mal bekommt.“
„Ich werde ihn nicht bemitleiden“, sagte ihr Vater, worauf er sich dem Major zuwandte und entschlossen schien, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
Am folgenden Morgen einigten sich der junge Zedwitz und Hamilton darauf, die Familie Rosenberg völlig in Ruhe zu lassen. So setzten sie sich nach dem Frühstück zur Gräfin und ihrer Tochter in die Laube, die beide mit einer Handarbeit beschäftigt waren. Max fing an, seine Schwester zu necken, ihr das Nadelkissen wegzunehmen, die Wolle zu verwirren und allerlei Unsinn zu treiben, so dass sie schließlich ihre Arbeit weglegte und sagte: „Du überhäufst mich heute mit deinen Aufmerksamkeiten Max, daran bin ich gar nicht mehr gewöhnt. Fast habe ich mich in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt gefühlt.“
Er versicherte lächelnd, dass er nur versuche, sich daran zu gewöhnen, sie in Zukunft nur noch selten zu sehen, doch seine Mutter hüstelte vernehmlich und erklärte schließlich, auch ihr sei aufgefallen, dass sich sein Benehmen in Seeon stark verändert habe – und sie kenne vermutlich auch den Grund.
„Den Grund? Wofür? Was meinst du?“
„Du musst mich wohl für taub und blind halten, Max, wenn du dir einbildest, dass ich nicht gesehen habe, was in den letzten drei Wochen vorgegangen ist.“
„Vorgegangen?“, wiederholte er.
„Ja, vorgegangen. Du hast einem der jungen Rosenberg-Mädchen den Hof gemacht.“
„Den Hof gemacht?“
Seine Schwester lachte und sagte: „Gib es nur zu, Max, denn wenn du ernsthaft verliebt bist, dann bin ich vielleicht bereit, dir deine Vernachlässigung zu verzeihen.“
„Vielen Dank, meine Liebe, du weißt, dass ich dir einst dieselbe Sünde verziehen habe, als sie von derselben Ursache veranlasst wurde.“
„Es ist nicht nett, dass du mich jetzt an diese Zeit erinnerst“, sagte sie mit einem Blick auf Hamilton und erhob sich, um die Laube zu verlassen, aber ihr Bruder nahm ihre Hand und sagte hastig: „Verzeih mir, ich hatte vergessen, dass Hamilton bei uns sitzt und zuhört. Bitte bleib hier. Ja, ich gebe zu, dass ich mich in Isabelle Rosenberg verliebt habe. Vielleicht kannst du bei der Mutter ein gutes Wort für mich einlegen.“
Seine Mutter hatte natürlich zugehört und antwortete ohne Zögern: „Von mir hast du keinen Beistand zu erwarten, Max. Wenn du etwas von mir hören willst, dann rate ich dir, morgen nach München zurückzukehren.“
„Ich habe versprochen, mit den Rosenbergs einen Ausflug auf eine Alm zu machen; ich habe sogar zugesagt, mit ihnen eine Reise zu machen, die drei Tage dauern wird.“
„Du wirst uns bei deiner Rückkehr nicht mehr hier finden“, sagte seine Mutter entschlossen. „Ich missbillige dein Benehmen in jeder Hinsicht, und ich werde dir sicher keinen Vorwand bieten, länger hier in Seeon zu bleiben, um es fortzusetzen.“
„Aber Mutter ...“
„Ich dachte, deine gute Erziehung würde es dir verbieten, einer Frau Aufmerksamkeiten zu erweisen, die zu nichts führen können. Du weißt, dass dein Vater eine solche Verbindung niemals zulassen wird.“
„Ich hatte gehofft, dass du vielleicht deinen Einfluss ...“
„In dieser Hinsicht kannst du von mir nichts erhoffen. Natürlich sollte deine zukünftige Ehefrau auch deinen Wünschen entsprechen, aber dieses Mädchen kommt als Schwiegertochter nicht in Frage. Das fehlende Vermögen wäre kein unüberwindliches Hindernis, aber über ihre Herkunft kann und will ich nicht hinwegsehen.“
Damit stand die Gräfin auf und ging. Zedwitz wartete, bis seine Mutter außer Hörweite war, dann sagte er zu seiner Schwester: „Was nun, Agnes? Meinst du, sie erzählt es dem Vater?“
„Das glaube ich nicht. Wenn sie es ihm sagen wollte, hätte sie das jedenfalls schon längst tun können, denn sie beobachtet dich natürlich schon eine ganze Weile.“
„Und warum hast du mich nicht gewarnt?“
„Wann hätte ich mit dir darüber sprechen sollen, ich habe dich in den letzten Tagen kaum gesehen. – Also hast du wirklich vor, diese Isabelle zu heiraten? Hast du mit ihr gesprochen? Würde sie einige Jahre warten?“
„Nein, ich habe nicht mit ihr gesprochen“, antwortete er ungeduldig. „Aber wenn ich jahrelang auf sie warten sollte, könnte ich meine Pläne auch ganz aufgeben.“
„Das wäre in der Tat sicher das Beste für dich“, sagte seine Schwester. „Sowohl der Papa als auch die Mama können sehr hart sein in diesen Dingen, wie du weißt. Sag einfach diesen Ausflug mit den Rosenbergs unter irgendeinem Vorwand ab und komm mit uns nach Hohenfels.“
„Nein!“
„Du bist also fest entschlossen, morgen mit ihnen zu reisen?“
„Ja, das bin ich.“
„Wenn das so ist, dann werde ich versuchen, mit dem Papa zu reden, sobald du fort bist. Wenn ich ihm schmeichle, wird er vielleicht nicht allzu wütend sein, und wenn ich ihm erkläre, dass du sehr unglücklich, geradezu verzweifelt bist ...“
„Ja, sag ihm, dass ich mich in einem Zustand tiefster Verzweiflung befinde, und zu allem bereit bin! Sag ihm, ich hätte davon gesprochen, mit Isabelle nach Amerika auszuwandern. Sag ihm, was du willst, Schwesterherz, wenn du ihn damit irgendwie erweichen kannst. Und nun wollen wir einen Spaziergang machen, und du sollst meine Pläne für die Zukunft erfahren.“
Hamilton blieb zurück, hörte aber noch, wie Zedwitz sagte: „Ich werde natürlich die Armee verlassen. Vater wird mir wahrscheinlich Schloss Wolfstein geben, da er sich in den Bergen sowieso nicht besonders wohl fühlt. Das wäre mir sehr recht, das ist auch ganz in der Nähe der Zanders.“
Am nächsten Morgen reiste Herr Rosenberg unmittelbar nach dem Frühstück ab. Er schien mit der Vereinbarung seiner Frau einverstanden zu sein, denn als er Hamilton zum Abschied die Hand reichte, sprach er davon, dass er ihn ja in Kürze in München wiedersehen werde.
Die kleine Reisegruppe, bestehend aus der Familie Rosenberg, Major Stutzenbacher, Hamilton und Zedwitz, bestieg ihre Kutschen und stieg in Traunstein in einen großen geschlossenen Wagen um, der Char-à-banc genannt wurde. Es war schon recht spät am Nachmittag, als sie das Bauernhaus erreichten, in dem der Kutscher und seine Pferde übernachten sollten, während sie ihren Weg zu Fuß fortsetzten. Der Pfad war steiler als erwartet und die Hitze drückend. Isabelle, Sophie und die Knaben mit dem Kindermädchen erwiesen sich als gute Fußgänger, Major Stutzenbacher schien die Hitze jedoch stark zuzusetzen. Madame Rosenberg entschied schließlich, dass es wohl das Beste sei, wenn er sich im Schatten ein wenig ausruhe, während die Übrigen ihre Wanderung fortsetzten, um gegen Abend ihr Ziel zu erreichen. Sie würde ihm einen Bergführer dalassen.
Sophie pflückte gemeinsam mit ihrer Schwester und den Jungen Brombeeren. Wie zufällig ergab es sich, dass Isabelle und Zedwitz schließlich in einiger Entfernung an der Spitze der Gruppe gingen, dahinter folgten Sophie und Hamilton. Ohne den Major wirkte sie wieder völlig unbefangen, und sie plauderte von diesem und jenem und auch davon, dass Isabelle sich manchmal für ihre Stiefmutter schäme, weil sie so furchtbar gewöhnlich sei.
„Aber eigentlich scheint sie doch eine ganz gutmütige Person zu sein“, sagte Hamilton.
„Ja, vielleicht – aber Isabelle kann gutmütige Personen nicht leiden.“
„Wirklich? Darf ich fragen, was für Personen sie überhaupt leiden kann?“
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf.“
„Warum sollten Sie es nicht dürfen? Ist es ein Geheimnis?“
„Nein, eigentlich nicht. Es ist ja auch nichts dabei, wenn man eine Vorliebe für Barone und Grafen hat.“
„Nein, sicher nicht. Aber wenn das so ist, dann werden ihr die Aufmerksamkeiten von Graf Zedwitz sicher zusagen.“
„Das weiß ich nicht. Isabelle spricht nie von diesen Dingen, obwohl sie von mir alles ganz genau wissen will ... Ich habe die alte Gräfin Zedwitz gestern im Garten mit ihr sprechen sehen – es sah aber nicht so aus, als wäre es eine angenehme Unterhaltung, beide waren ziemlich blass. Ich habe sie gefragt, worüber sie gesprochen haben, aber sie wollte es mir nicht sagen.“
„Sie wissen also nicht, was Ihre Schwester von Zedwitz hält?“
„Nein. Sie hat nur einmal gesagt, dass ein Mann für sie nicht unbedingt schön sein muss.“
„Das würde auf ihn passen. Aber er ist ihr so ergeben, dass sie ihn allein deshalb für unwiderstehlich halten könnte.“
„Ich weiß nicht, ob das die richtige Art ist, um Isabelle zu gefallen.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Einmal, als wir die Schule verließen, hat sie zu einer Freundin gesagt, sie könne nur einen Mann lieben, vor dem sie auch Respekt habe!“
Isabelle, Zedwitz und Franz gingen weit vor ihnen, Madame Rosenberg, das Kindermädchen mit Gustel und Peppi sowie zwei mit Proviantkörben bepackte Wanderführer waren weit hinter ihnen. Sophie bewunderte die Landschaft, die sie durchwanderten, in schwärmerischen Worten und erklärte, sie würde liebend gerne in einem der hübschen kleinen Bauernhäuser wohnen, die sie unten im Tal sahen. Hamilton stimmte ihr zu, dass das Leben darin sicher einfach, aber durchaus glücklich wäre. Sophie seufzte und murmelte, dass er sie verstehe, was sie von Major Stutzenbacher nicht erwarten könne. Er erwiderte, dass sie ihn ja noch gar nicht gut genug kenne, um das zu wissen, aber er könne ihre Bedenken angesichts des Altersunterschieds natürlich verstehen. Um sie aufzuheitern, machte er ihr ein paar Komplimente, wie gut ihr das schlichte Baumwollkleid stehe und die neuen Ohrringe und ließ sich dazu hinreißen, ihr zu sagen, dass sie heute einfach hinreißend aussehe und jeder Mann sich sofort in sie verlieben könnte. Kaum hatte er den letzten Satz ausgesprochen, bereute er ihn auch schon, denn ihm fiel ein, dass Sophie das als eine Art schüchterne Liebeserklärung verstehen könnte. So, als habe sie auf ein Stichwort gewartet, sprudelte es auch schon aus ihr heraus, dass sie sich gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft in ihn verliebt habe und bereit sei, dem Major einen Korb zu geben, wenn er es nur wolle.
Hamilton war so überrumpelt, dass er einige Augenblicke lang unfähig war, irgendeinen sinnvollen Satz zu formulieren. Angestrengt versuchte er, die Gedanken zu sortieren, die wild durch seinen Kopf wirbelten. Schließlich hatte er sich so weit gefangen, dass er ihr mit erzwungener Ruhe sagen konnte, dass er gerade erst vierundzwanzig und finanziell völlig von seinem Vater abhängig sei, der sicher nicht erlauben werde, dass er sich schon so früh binde, ehe er erste berufliche Erfolge vorzuweisen habe. Sophie sah ihn erschrocken an und brach dann in Tränen aus. Hamilton verfluchte sich selbst in diesem Augenblick. Er konnte gut verstehen, dass Sophie sich seine Entschuldigungen nicht anhören wollte. Seine leichtsinnigen Worte waren in der Tat unverzeihlich. Aber bis zu diesem Moment hatte er nicht geglaubt, dass sie für ihn mehr empfinden könnte als freundschaftliche Zuneigung oder eine kleine Schwärmerei, die bei jungen Mädchen oft ebenso schnell wieder verschwand, wie sie entstanden war. Jedenfalls behauptete das sein Bruder John und der sollte es wissen.
Sie gingen lange schweigend nebeneinander her, aber Sophie brachte es nicht fertig, seine wiederholten Entschuldigungen völlig zu ignorieren; als ihr Ziel in Sichtweite kam, versprach sie ihm außerdem, mit niemandem über ihr Geständnis und seine Antwort zu sprechen. Hamilton dachte mit einigem Unbehagen daran, dass er demnächst bei der Familie Rosenberg wohnen würde, wo er Sophie regelmäßig sehen und sie allein durch seinen Anblick sicher genug quälen würde, bis sie schließlich verheiratet war. Er nahm sich fest vor, in Zukunft weniger zu reden, jedenfalls in Gegenwart von unverheirateten Frauen.
„Kommen Sie, Hamilton, wir wollen uns den Sonnenuntergang ansehen“, rief Zedwitz und zog ihn am Arm. Er schien prächtiger Laune zu sein und redete wie ein Wasserfall ohne zu bemerken, dass sein Begleiter ihm weder antwortete noch seinen Erzählungen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als die Vesperglocke geläutet wurde, schlossen sich ihnen Isabelle und Sophie an. In Seeon läutete die Glocke gewöhnlich, wenn sie beim Abendessen saßen; die Gespräche und die Geräusche von Messern und Gabeln verstummten dann augenblicklich, und die Stille hielt an, bis der letzte Ton der Glocke verklungen war. Dann wünschten sich die Tischnachbarn einen guten Abend und widmete sich wieder der unterbrochenen Mahlzeit. An diesem Abend erklangen die Glocken der Dorfkirchen unten im Tal und eine Stimmung feierlicher Andacht entstand. Zedwitz nahm seinen Hut vom Kopf, Sophie faltete die Hände und bewegte die Lippen in stummem Gebet, während Isabelles Blicke sehnsüchtig in den Abendhimmel schweiften. Ein Bote der Sennhütte wartete schweigend, bis die letzten Töne verklungen waren, ehe er sie zum Abendessen rief. Mittlerweile war auch Stutzenbacher in der Hütte angekommen und trocknete sich den Schweiß mit einem roten Taschentuch.
Die allgemeine Müdigkeit verlängerte die Mahlzeit, und die Dämmerung hatte sich beinahe schon in Nacht verwandelt, als sie sich vom Tisch erhoben. Es war die Idee des jungen Grafen, zum Abschluss des Tages oberhalb der Hütte ein Feuer anzuzünden, und schon fing man an, Holz zu sammeln. Das Feuer brannte hell und warf ein gespenstisches Licht auf die versammelte Reisegesellschaft. Hamilton saß ein wenig abseits auf einem Baumstumpf und beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Das Ganze kam ihm vor wie eine Szene aus einem Theaterstück. Er war entschlossen, die schöne Isabelle zur Heldin zu machen. Aber wer war der Held? Zedwitz vielleicht, der sich anschickte, sie zu erobern? Nein, denn er würde sie nicht bekommen, das fühlte er. Aber wer käme sonst in Frage? In seiner Fantasie kam auf einmal ihm selbst eine Hauptrolle zu; in ihrem Hause in München würde er den unnahbaren kühlen Engländer spielen, in den sich die schöne Isabelle allmählich heftig verlieben würde, gerade weil er keinerlei Interesse an ihr zeigte …
Inzwischen war es kühl geworden, die Knaben waren eingeschlafen, und Madame Rosenberg, das Kindermädchen und ihre Töchter zogen sich in die Hütte zurück. Der Major wollte noch seine Pfeife zu Ende rauchen, und die beiden jungen Männer legten Holz nach. Sie sprachen kein Wort, solange Stutzenbacher neben ihnen saß. Dann zündete sich Zedwitz an der glimmenden Glut eine Zigarre an und fragte: „Wissen Sie schon, wo Sie heute Nacht schlafen werden?“
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Hamilton, „aber ich habe keine besonderen Erwartungen.“
„Wir werden alle zusammen auf dem Heuboden schlafen.“
„Und die Damen?“
„Sie werden auch dort schlafen.“
„Unsinn, Zedwitz, Sie scherzen!“
Er lachte. „Keineswegs, es ist mein völliger Ernst. Es gibt im ganzen Haus kein Bett, das diesen Namen verdienen würde. Wir werden alle zusammen auf dem Heuboden schlafen. Wollen wir gehen?“
Das Haus lag völlig im Dunkeln, nur das Feuer des offenen Herdes sorgte für etwas Licht. Daneben saß einer der Wanderführer mit einem Bauernmädchen, offensichtlich in einem sehr vertrauten Gespräch. Zedwitz und Hamilton fanden den Weg zum Heuboden und erklommen im Finstern vorsichtig die Leiter, die nach oben führte. Überall lag Heu, und da durch ein Giebelfenster ein wenig Licht fiel, konnten sie mehrere Gestalten auf dem Boden erkennen, wobei nicht sicher war, ob sie bereits schliefen. Nur bei Stutzenbacher war die Antwort offensichtlich, denn er lag mit offenem Mund auf dem Rücken und schnarchte. Vorsichtig tappten sie hinüber auf die Seite des Heubodens, wo Madame Rosenberg und die Kinder lagen. Ein unterdrücktes Lachen und ein zorniges „Pst!“ verrieten ihnen, dass auch die beiden Schwestern hier ihr Lager hatten. Kaum hatten sie sich ihren Platz gesucht, als sie bemerkten, dass in ihrer Nachbarschaft ein kleiner Grenzwall aus Heu errichtet wurde. Für Hamilton war es die erste Nacht im Heu und flüsternd beklagte er sich bei Zedwitz, dass das Heu zu warm sei und pikse und dass er so wohl kaum schlafen könne, aber der Graf hatte für diese Animositäten wenig Verständnis, er murmelte etwas Unverständliches, rollte sich zusammen und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Hamilton blieb nichts anderes übrig, als sich mit seiner Lage abzufinden, und da ihm keine Position bequem erschien, bewegte er sich schließlich einfach gar nicht mehr.
Eine Weile war alles still, dann flüsterte Sophie vernehmlich: „Schnarcht er nicht entsetzlich, Isabelle? Und gib zu, dass er heute Abend sehr gewöhnlich aussah, als er in kurzen Hemdsärmeln dasaß, wie ein Schuhmacher oder ein Schneider.“
„Ja, er sah etwas merkwürdig aus. Aber zuhause ist er sicher ganz anders. Und was das Schnarchen angeht – du weißt, dass selbst der Papa manchmal schnarcht.“
„Ich weiß, du bist fest entschlossen, gut über ihn zu reden, und ich bedauere nur, dass du seine guten Eigenschaften nicht früher entdeckt hast, das würde mir eine Menge Kummer erspart haben.“
Nach diesen Worten trat eine längere Pause ein, und Sophie fragte schließlich schüchtern: „Isabelle, bist du böse?“
„Nein, ich bin es nur leid, immer wieder das Gleiche zu hören.“
„Verzeih, ich verspreche dir, dass du es zum letzten Mal gehört hast. Aber jetzt gib mir bitte eine Antwort auf eine ganz einfache Frage. Du kannst nicht länger behaupten, blind für die Aufmerksamkeiten von Graf Zedwitz zu sein. Welche Antwort willst du ihm ...“
Hamilton hätte die Antwort auf diese Frage zu gern gehört, aber ausgerechnet in diesem Moment musste er husten. Es war kein Laut mehr zu hören, so sehr er auch die Ohren spitzte, bis auch er irgendwann einschlief. Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass alle anderen bereits fort waren, und es dauerte ein paar Minuten, bis er sich daran erinnern konnte, wo er war und wie er hierher gekommen war. Vor dem Haus begegnete er einem ihrer Wanderführer, der ihm mitteilte, dass Madame Rosenberg und alle anderen bereits auf dem Weg zu dem Bauernhaus seien, wo sie ihre Kutsche zurückgelassen hatten, um sich umzuziehen und zu frühstücken. Es dauerte nicht lange, bis Hamilton Frau Rosenberg, Sophie und Stutzenbacher eingeholt hatte. Isabelle und Zedwitz waren mit den Buben vorausgeschickt worden, um das Frühstück zu bestellen. Als sie am Haus ankamen, war sie schon damit beschäftigt, den Kindern an einem Tisch im Freien Brot und Milch zu geben.
„Was, bist du schon für Salzburg angekleidet, Isabelle?“, rief Madame Rosenberg. „Ihr müsst den Weg ja fast gerannt sein; ich hoffe, dass sich Franzl und Gustl nicht überhitzt haben.“ Leise sagte sie zu Hamilton: „Ich brauche nur fünf Minuten zum Ankleiden, ich bin gleich wieder zurück. Tun Sie mir bitte einen Gefallen und bleiben Sie hier, bis ich wieder unten bin.“
Hamilton gab keine Antwort, sondern wartete nur, bis sie im Haus verschwunden war, dann nickte er Zedwitz wohlwollend zu und ging ebenfalls ins Haus. Wie sich zeigen sollte, waren fünf Minuten bei Frau Rosenberg auch leicht eine gute halbe Stunde, und ohne sie konnte man mit dem Frühstück natürlich nicht beginnen. Doch es kam zu einer weiteren Verzögerung, denn Zedwitz überraschte die Reisegruppe mit der Mitteilung, dass er nicht mit nach Salzburg kommen könne. Er fühle sich nicht wohl und werde deshalb nach Seeon zurückkehren.
„Sie sind krank!“, rief Hamilton bestürzt. „Dann sollten Sie nicht allein zurückfahren. Wenn Sie möchten, werde ich Sie begleiten.“
„Das ist nicht nötig“, sagte Zedwitz und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu, bevor er sich von den anderen verabschiedete. Dann nahm er Hamilton kurz beiseite und sagte leise: „Sie brauchen mich nicht zu begleiten, ich bin in Wirklichkeit nicht krank, jedenfalls nicht körperlich. Isabelle hat meinen Antrag so eindeutig zurückgewiesen, dass ich ihn nicht wiederholen werde. Ich werde jetzt so schnell wie möglich nach Seeon zurückkehren und hoffe, dass meine Schwester noch nicht mit meinem Vater gesprochen hat. Ich war vermutlich ein Narr, mir überhaupt Hoffnungen zu machen.“
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Ihnen nur deshalb einen Korb gegeben hat, weil ihr klar war, dass Ihre Eltern sie nicht als Schwiegertochter akzeptieren würden.“
„Nein, das ist nicht der Grund. Ich bin gar nicht dazu gekommen, großartig über meine Familie zu sprechen. Sie sagte, dass sie mich als Freund betrachte, aber mehr auch nicht. Es tue ihr leid, wenn sie sich so verhalten habe, dass ich auf andere Gedanken kommen konnte. Sie war sehr ruhig und sehr bestimmt, als sie das sagte, so als habe sie sich diese Worte bereits lange vorher überlegt. Ich bin bis vorhin gar nicht auf diese Idee gekommen, aber halten Sie es für möglich, dass ihr Herz bereits vergeben ist?“
„Es wäre vielleicht möglich, aber ich halte es für wenig wahrscheinlich. Sie war bis vor zwei Monaten auf einer Mädchenschule ...“
„Ihre Schwester war mit ihr auf dieser Schule, sie ist zwei Jahre jünger, und bei ihr haben zwei Monate gereicht, um sich in Sie zu verlieben und sich mit einem Anderen zu verloben“, sagte Zedwitz mit einer gewissen Bitterkeit.
„Ich bitte Sie, sie hat sich nicht in mich verliebt“, sagte Hamilton und fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. „Sie ist viel zu jung, um ihre eigenen Gefühle genau zu kennen, und das, was sie vielleicht heute für Verliebtheit hält, entpuppt sich morgen als harmlose Schwärmerei oder reine Koketterie.“
„Nun, wenn Sie meinen … Ich muss jetzt abreisen, meine Kutsche steht bereit. Ich werde an der nächsten Station Postpferde nehmen, um so schnell wie möglich nach Seeon zu kommen. Wenn Sie zurückkommen, werde ich sicher nicht mehr dort sein, aber Sie kennen meine Adresse in München, und ich erwarte, Sie dort zu sehen. Adieu!“ Er sprang in den Wagen, nickte ihm kurz zu und fuhr davon.
„Da fährt er hin“, dachte Hamilton mit einem Anflug von Sarkasmus. „Er hat einfach kampflos aufgegeben. – Aber was hätte er tun sollen? Sich erschießen, wie Goethes Werther? Das wäre lächerlich. Was würde ich an seiner Stelle tun? Ich habe keine Ahnung, ich war bisher nie in dieser Situation.“
Hamilton setzte sich zu den anderen an den Frühstückstisch, wo Madame Rosenberg ihm Kaffee einschenkte und sich ausgiebig wunderte, dass der Graf so plötzlich erkrankt sei, nachdem ihm am frühen Morgen doch scheinbar gar nichts gefehlt habe. Er zog es vor, nicht zu antworten, und eine halbe Stunde später saßen sie in ihrem Wagen und rollten Salzburg zu.
7
Hamiltons Reise nach München gestaltete sich angenehmer, als er gedacht hatte. Er teilte sich eine Kutsche mit Isabelle, dem Kindermädchen, Franz und Peppi. Die anderen saßen im zweiten Wagen und würden auf der Fahrt, wie Franz ausplauderte, über Sophies geplante Hochzeit sprechen. Isabelle schien anfangs wenig geneigt, eine Unterhaltung mit Hamilton anzufangen, aber allmählich wurde sie gesprächiger und weniger abweisend. Es zeigte sich, dass sie weit mehr gelesen hatte, als ihre Stiefmutter wohl ahnte, und sie verriet, dass sie vorhabe, ihre Studien in München fortzusetzen. Ihr Vater besaß eine ansehnliche Bibliothek, die sie benutzen dürfe, und ihre Mutter hatte ihr versprochen, sie in der Leihbibliothek anzumelden, wenn auch unter der Voraussetzung, dass sie nur französische Literatur las. Sie fügte hinzu, dass sie sehr gerne Romane und Gedichte lese.
„Gedichte!“, rief er erstaunt. „Ich hätte gedacht, das wäre eher etwas für Ihre Schwester.“
Kaum hatte er das Wort „Schwester“ ausgesprochen, als sie förmlich zu erstarren schien. Sie wandte sich von Hamilton ab und blickte regungslos aus dem Fenster, ohne auf seine weiteren Bemerkungen einzugehen. Stattdessen erklärte sie ihrem kleinen Bruder, dass er im kommenden Winter auf keinen Fall wieder Schneebälle mit ins Haus bringen dürfe. Hamilton lehnte sich mit einem Lächeln, das Isabelle, hätte sie es gesehen, vielleicht als höhnisch bezeichnet hätte, in seinem Sitz zurück. Konnte es wirklich sein, dass die schöne stolze Isabelle insgeheim darüber verstimmt war, dass er Sophie bisher mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als ihr? Am Nachmittag war Madame Rosenberg seine Reisebegleiterin und füllte die Stunden bis zu ihrer Ankunft in München mit allerlei Geschichten über dieses und jenes.
Hamilton wurde von der ganzen Familie begleitet, als er die beiden für ihn bestimmten Zimmer in Besitz nahm. Sie befanden sich auf der Rückseite des Hauses, gingen auf eine andere Straße hinaus und waren über eine Hintertreppe zu erreichen, was für einen alleinstehenden Herrn ideal sei, wie ihm Frau Rosenberg versicherte, da er einen eigenen Hausschlüssel bekommen werde, so dass er auch zu später Stunde nach Hause kommen könne, ohne dass die Dienstboten wegen ihm wach bleiben müssten. Sophie antwortete kaum hörbar, als er ihr eine gute Nacht wünschte, und er ahnte, was in ihr vorging. Er war fest entschlossen, sich künftig in keiner Weise mehr zwischen sie, ihre guten Vorsätze und Major Stutzenbacher zu drängen.
Am nächsten Vormittag war er damit beschäftigt, seinen Bankier aufzusuchen, in die Bibliothek zu gehen, ein Theater-Abonnement für sechs Monate zu erwerben und ein paar Spielsachen für Franz, Gustel und Peppi zu kaufen. Er kam nach zwölf Uhr zurück und stellte fest, dass man mit dem Essen auf ihn gewartet hatte. Madame Rosenberg teilte ihm dies diskret mit, indem sie laut aus dem Kinderzimmer rief: „Du kannst jetzt die Suppe auftragen, Walli, der Herr Hamilton ist gekommen.“
Was den „Herrn Hamilton“ anging, hätte die Suppe allerdings ruhig in der Küche bleiben können, denn er hatte sich noch nicht an die deutsche Suppe gewöhnt, die in Wirklichkeit eine klare Brühe war, und spielte deshalb mit seinem Löffel, bis das gekochte Rindfleisch, das stets danach aufgetragen wurde, kam. Den Abschluss der Mahlzeit bildete ein Stück Zwetschgenkuchen, der ausgezeichnet schmeckte, für ihn aber wohl für immer unaussprechlich bleiben würde. Die Familie erhob sich und Hamilton wollte eben den Raum verlassen, als Madame Rosenberg sagte: „Isabelle, heb bitte Herrn Hamiltons Serviette auf, siehst du nicht, dass sie auf dem Boden liegt?“
Hastig ging er zu seinem Platz zurück, hob sie auf und warf sie über die Lehne des Stuhls. Zu seiner Überraschung nahm Isabelle die benutzte Serviette, faltete sie zusammen, band ein blaues Band darum und legte sie wieder auf den Tisch.
„Herr Smith hat mir gesagt, dass man in England gewöhnlich gar keine Servietten benutzt“, sagte Madame Rosenberg. „Aber bei uns bekommen Sie natürlich eine.“
„Dass man in England keine Servietten benutzt? Sie haben ihn sicher falsch verstanden. Wahrscheinlich hat er gesagt, dass man bei uns Servietten immer nur einmal benutzt.“
„Eine Serviette nur einmal benutzen?“, rief Madame Rosenberg. „Wenn das der Fall wäre, dann hätte ich eine schöne Wäsche! Mein Mann hat einen Schnurrbart und erhält deshalb pro Woche zwei. Sie haben keinen Bart, also hoffe ich, dass Sie wie die Mädchen mit einer auskommen werden.“
„Wenn das so ist, werde ich mir natürlich sofort einen Schnurrbart wachsen lassen, damit ich auch zwei Servietten bekomme“, sagte Hamilton lachend, als er das Zimmer verließ.
Sophies Verlobung fand wenige Tage später statt. Hamilton hatte eine förmliche Zeremonie erwartet, aber keiner der anwesenden Gäste schien sie als etwas anderes zu betrachten als einen willkommenen Anlass, um Wein oder Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Für Sophie war dieser Tag nicht unbedingt ein Tag reiner Freude, wie ihre nervöse Anspannung verriet. Und als ihre Geburts-, Tauf- und Kommunionsscheine auf dem Tisch ausgebreitet, der Ehevertrag laut vorgelesen und zur Unterschrift vorgelegt worden war, machte sie sogar einen Versuch, aus dem Zimmer zu flüchten. Sie wurde von Verwandten mit einiger Mühe zurückgebracht und erhielt von ihrem Vater die Feder, mit der sie ihren Namen schrieb. Der ansehnliche Verlobungsring schien sie etwas ruhiger werden zu lassen, und nachdem sie ein Glas Champagner getrunken hatte, war sie in der Lage, die Glückwünsche ihrer Brautjungfern anzunehmen und über ihre Scherze zu lächeln. Als der Abend kam, wurde das Piano herein geschoben und kurz darauf erklang ein Walzer.
Hamilton zögerte nicht, Isabelle aufzufordern; man hatte ihm in England oft gesagt, dass er sehr gut tanze, und er war deshalb erstaunt und gekränkt, als sich seine Tanzpartnerin nach wenigen Runden, noch mitten im Tanz, wieder hinsetzte und erklärte, dass er ein sehr unangenehmer Tänzer sei.
„Sie sind die Erste, die mir das sagt“, erwiderte er etwas pikiert. „In London habe ich oft gehört, ich sei ein ausgezeichneter Tänzer.“
„Andere mögen das finden“, gab sie kurz angebunden zurück und beobachtete Sophie und Major Stutzenbacher.
„Wie gut der Major tanzt“, sagte Hamilton, als beide kurz darauf in seiner Nähe stehen blieben.
„Und Sie – warum tanzen Sie nicht?“, fragte Sophie.
„Ihre Schwester sagt, dass ich schlecht tanze.“
„Nein, ich habe gesagt, dass Sie ein unangenehmer Tänzer seien“, sagte Isabelle. „Andere mögen anders darüber denken, aber ich kann es nicht leiden, wenn ich so dicht gehalten werde, dass ...“
Hamilton lief hochrot an und sie ließ ihren Satz unvollendet.
„Vielleicht tanzt man in England anders“, sagte Sophie.
„Wahrscheinlich tanzt man dort gar nicht Walzer“, bemerkte der Major.
„Doch, doch, selbstverständlich ...“
„Nun, auf alle Fälle wird er immer ein echt deutscher Tanz sein und bleiben, und so ist es sicher keine Beleidigung, wenn ich feststelle, dass wir Deutschen ihn besser tanzen als die Engländer. Ich bezweifle nicht, dass Sie die Anglaise und die schottischen Tänze vollkommen beherrschen ...“
„Ich habe keinen dieser Tänze jemals getanzt“, sagte Hamilton kühl.
„Nun, Française, Quadrille oder wie auch immer die komplizierten Tänze heißen, die jetzt auch bei uns in Mode kommen.“
Hamilton antwortete nicht. Er hatte sich an Sophie gewandt und bestand darauf, mit ihr zu tanzen, damit sie ihm erklären könne, was an seinem Tanzstil falsch sei. Sie murmelte das Wort „Extratour“, das den Major zufrieden zu stellen schien, und folgte dann seiner Bitte. Sonderbarerweise beklagte Sophie sich nicht darüber, dass er sie zu dicht halte, sie fand an ihm als Tänzer überhaupt nichts auszusetzen und bemerkte auf seine Nachfragen nur, dass er vielleicht nicht ganz so weich und fließend tanze wie ein Deutscher.
„Isabelle, hilf mir, Kerzen auf die Leuchter zu stecken“, rief Madame Rosenberg.
Isabelle stand auf. Als sie an Hamilton vorbei ging, sagte sie leise: „Ich finde Sie und Ihre Überheblichkeit einfach widerlich.“
„Was Sie nicht sagen“, erwiderte er. „Ich wünschte, Sie würden mich ganz einfach hassen.“
„Dieser Wunsch sei Ihnen erfüllt. Ich fühle für Sie die größte Verachtung.“
„Moment“, rief Hamilton fast belustigt, „von Verachtung war keine Rede. Ich sagte, ich wünschte, Sie würden mich hassen. Hass enthält immerhin etwas Respekt ...“
„Isabelle, wo bleibst du denn?“, rief Frau Rosenberg ungeduldig.
„Sie streitet mal wieder“, sagte Major Stutzenbacher halblaut.
„Nein, sie streitet nicht“, widersprach Sophie, „Sie verstehen sie nicht – sie hat recht ...“
„Recht, mich ohne Grund zu hassen?“, rief Hamilton mit gespieltem Erstaunen.
„Nein, ich meine nicht … das heißt … ich glaube … ich bin sicher … dass Isabelle weder Sie noch sonst jemanden hasst“, stammelte Sophie und zog sich hastig in den Teil des Zimmers zurück, der offenbar dem unverheirateten weiblichen Teil der Gesellschaft vorbehalten war. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Madame Rosenberg, gefolgt von Isabelle und einem Mädchen, trat mit angezündeten Lichtern ein. Kurz darauf ertönte die Hausklingel und das Mädchen eilte aus dem Zimmer, um zu öffnen.
„Es sind gewiss die Bergers“, sagte Madame Rosenberg, als sie mit ihren Kerzen hinüber zum Klavier ging. „Schön dass sie noch kommen, sie spielt die Walzer immer so schön.“
Hamilton blickte zur Tür, und eine hübsche junge Frau mit sehr langen, üppigen blonden Locken und ein älterer Mann traten ein. Offenbar waren sie verheiratet. Er sah, dass Sophie aufsprang, um die Frau zu umarmen und dabei rief: „Olivia, wie ich mich freue, dich zu sehen – wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt?“
„Ich war in Starnberg, mein Mann hat mich heute Nachmittag erst abgeholt, ich bin gerade mal seit ein paar Stunden wieder in München. Du kannst dir vorstellen, wie ich mich beeilt habe, um hierher zu kommen! Sieh mal, ist dieses Armband nicht entzückend – der Doktor hat es mir zu meinem neunzehnten Geburtstag geschenkt.“
Sie nahm Sophies Arm und zog sie beiseite, während sie flüsterte: „Ich hätte eine Ewigkeit auf Theo warten müssen. Er studiert jetzt bei meinem Mann, besucht mit ihm die Krankenhäuser und isst jeden Sonntag mit uns.“
„Ist der Doktor nicht eifersüchtig?“
„Warum sollte er eifersüchtig sein? Wenn Theodor reich gewesen wäre, hätte ich natürlich lieber ihn genommen, aber ein armer Student … völlig unmöglich! Trotzdem war ich ernsthaft in ihn verliebt ...“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Sophie, „und besonders in Seeon!“ Sie seufzte.
„Nun, du hast in Seeon wohl keinen Mann getroffen, in den du dich hättest verlieben können? Ich möchte den Major Stutzenbacher nicht beleidigen, aber … nun ja, aber die Gesellschaft in Seeon ist ...“
„Oh, es waren recht nette Leute dort. Graf Zedwitz und seine Familie – ich bin mir sicher, dass sein Sohn Isabelle einen Antrag gemacht hat, obwohl sie sich weigert, darüber zu sprechen.“
„Graf Zedwitz! Aber Isabelle wäre doch nicht so töricht, einen solchen Antrag ...“
„Pst, sprich nicht so laut, es ist ein Geheimnis und Isabelle würde mir nie verzeihen, wenn sie ...“
„Ich glaube kein Wort davon“, sagte die frisch verheiratete Frau Doktor und zupfte an ihren Locken. „Isabelle hätte ganz sicher darüber gesprochen, wenn an der Sache irgendetwas dran wäre. Wahrscheinlich hat es der Graf nicht ernst gemeint. Oder sie hat ihn mit einem Wutanfall verschreckt. Erinnerst du dich noch, wie sie mich einmal angeschrien hat, als ich aus … aus Versehen einen Brief eures Vaters an sie gelesen hatte? Regelrecht getobt hat sie. Ich fand es unverzeihlich von Mademoiselle Hortense, dass sie nicht meine Partei ergriffen hat. Aber nachdem Isabelle für die Schönheiten-Galerie des Königs gemalt worden war, konnte sie sich natürlich alles erlauben.“
„Sprich nicht so von ihr“, sagte Sophie leise, „ich weiß, dass ihr immer Rivalinnen wart.“
„Ja, in der Schule hat man uns 'die verfeindeten Schönheiten' genannt – aber weißt du, seit meiner Heirat interessiert mich das nicht mehr. Ich habe eine angesehene Stellung in der Gesellschaft, vor allem seit der Doktor zur königlichen Familie gerufen worden ist.“
„Wirklich?“
„Ja, meine Liebe, er ist nicht gerade fest angestellt, aber als die übrigen Ärzte gerade auf dem Land waren, ließ man ihn kommen, um eine von den Hofdamen zu behandeln, und sie hat versprochen, ihren Einfluss zu seinen Gunsten geltend zu machen. Seine Praxis ist sehr gut besucht, aber es macht sich natürlich gut, an den Hof gerufen zu werden.“
Sie spielte mit ihrem Taschentuch, das mit breiter Baumwollspitze besetzt war. „Aber wolltest du mir nicht sagen, in wen du dich in Seeon verliebt hast? War es nicht Graf Zedwitz?“
„In niemanden“, antwortete Sophie hastig.
„Du weißt, dass du mir ein Geheimnis anvertrauen kannst ...“
„Es gibt kein Geheimnis!“
„Nun gut, wenn du nicht darüber sprechen willst, dann sag mir wenigstens, wer dieser große und ungemein gut aussehende junge Mann ist, der dort drüben am Fenster mit deinem Vater spricht.“
„Das ist er!“, entfuhr es Sophie und sie wurde rot.
„Wer?“
„Der Engländer, den wir in Seeon getroffen haben!“
„In Seeon? Ach, ich verstehe … ich gebe zu, in ihn hätte ich mich wahrscheinlich auch verliebt … Wie kommt es, dass er heute hier ist?“
„Er wohnt bei uns, er hat die beiden Zimmer von der Mama gemietet.“
„So? Kann er Deutsch?“
„Ja, sehr gut!“
„Stell ihn mir bitte vor, ich möchte ihn kennen lernen.“
„Das geht nicht.“
„Wieso nicht? Ich hätte Theodor allen möglichen Leuten vorstellen können, da ist doch nichts dabei. Gib ihm einfach ein Zeichen.“
„Auf keinen Fall – wie sieht das aus?“
„Nun stell dich nicht so an – gerade eben hat er herüber gesehen. Oder willst du, dass ich Isabelle bitte?“
„Ja, geh nur zu Isabelle“, sagte Sophie erleichtert, „oder wende dich einfach an die Mama.“
Olivia zuckte die Achseln und ging mit einem gekünstelten Lächeln quer durch den Raum zu Isabelle, die ihr den Rücken zukehrte.
„Isabelle, Liebe, willst du mich nicht eurem Engländer vorstellen? Was Sophie mir über ihn gesagt hat, klang sehr interessant. Aber er soll natürlich nicht merken, dass ich seine Gesellschaft suche, du verstehst – es sollte eher eine zufällige Bekanntschaft sein.“
Isabelle sah sie kühl an. „Willst du mit mir zufällig auf die andere Seite des Zimmers gehen?“
„Natürlich nicht.“
„Soll ich ihn zufällig zu uns herüber rufen?“
„Rufen? Auf keinen Fall! Du solltest ihm einfach diskret zu verstehen geben, dass du mit ihm sprechen möchtest.“
„Ich möchte nicht mit ihm sprechen, und das weiß er auch. Sophie hätte dir sagen können, dass wir kein besonders gutes Verhältnis haben. Bitte lieber die Mama darum.“
„Mein Gott, man könnte wirklich meinen, ihr hättet Angst vor diesem Mann, so wie ihr euch anstellt ...“
„Herr Hamilton!“, rief Isabelle laut und deutlich, und der Angesprochene sah sich erstaunt um, kam jedoch augenblicklich zu ihr herüber.
Madame Berger lachte affektiert und flüchtete sich dann auf das Sofa. Isabelle folgte ihr mit Hamilton, dem sie kurz erklärte, dass ihre Bekannte ihn gern kennen lernen würde, weil er Engländer sei und sie ihn für interessant halte. Hamilton lächelte, als er sich neben die Doktorin setzte, und nach wenigen Minuten unterhielten sie sich scheinbar so ungezwungen, dass Sophie leise zu ihrer Schwester sagte: „Du hattest recht, Isabelle, Olivia ist eine, die jedem Mann schöne Augen macht. Sieh nur, wie sie lacht und Herrn Hamilton ihren Schmuck bewundern lässt.“