„Was will sie von ihm?“

„Sie sagt, dass sie vorhin einen lauten Knall gehört hat, womöglich einen Schuss. Sie hat mich gefragt, ob ich es nicht auch gehört habe.“

„Und – haben Sie es gehört?“

„Wie sollte ich etwas hören, wenn ich gar nicht zuhause war? Am liebsten würde ich sagen, dass Graf Philipp noch nicht zurück ist. Ich fürchte nur, dass sie mir nicht glauben wird, weil er niemals so lange bei den Hoffmanns bleibt.“

„Aber ich habe ihn um neun Uhr in einem schwarzen Kostüm zum Maskenball gehen sehen. Wir klopfen an seine Tür, und wenn er nicht antwortet, dann ist er sicher noch nicht zurück.“

„Und wenn er doch antwortet?“

„Dann sind wir immerhin zu zweit.“

Hamilton huschte aus seinem Versteck und aus der Haustür, aber nicht unbemerkt, wie er gehofft wurde, denn die Frauen liefen ihm auf die Straße nach und riefen: „Graf Philipp! Graf Philipp! Die Frau Gräfin wünscht Sie zu sprechen!“  

Hamilton gestikulierte heftig abwehrend in ihre Richtung und lief weiter, was sie zur Rückkehr ins Haus bewog. Isabelle stand noch genau an der Stelle, wo er sie verlassen hatte.

„Ich hätte Sie nicht zurückgehen lassen sollen“, sagte sie und umklammerte seinen Arm. „Es war gedankenlos … egoistisch von mir. Man hätte Sie sehen können!“

„Man hat mich gesehen – aber nicht erkannt!“, antwortete Hamilton. „Ich habe Ihre Maske aufgesetzt und das Personal hielt mich für Graf Raimund.“

„Aber wenn man ihn jetzt findet ...“

„Man wird jetzt nicht nach ihm suchen – die Dienstboten glauben ja, dass er gerade das Haus verlassen hat.“

„Morgen ist sein Hochzeitstag!“, sagte Isabelle mit unterdrücktem Stöhnen. „Die arme Caroline!“

„Vermutlich hat die Hochzeit einiges damit zu tun, dass er sterben wollte“, sagte Hamilton.

„Vielleicht ist es auch meine Schuld“, sagte Isabelle so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte.

„Nein – es war nicht Ihre Schuld, dass er sich in sie verliebt hat.“

„Das ist es nicht, was ich meine“, flüsterte sie.

„Was meinen Sie sonst? Erzählen Sie mir, was passiert ist – das heißt, natürlich nur, wenn Sie dazu in der Lage sind.“

„Ja, ich … ich werde Ihnen alles sagen.“

Sie holte tief Luft und fuhr dann mit leiser Stimme fort: „Nachdem wir im Ballsaal getrennt wurden, versuchte ich, so schnell wie möglich zur Seitentür zu kommen, wo wir uns treffen wollten. Dabei wurde ich von einer schwarzen Maske verfolgt; ich wusste noch nicht, dass darunter Philipp war. Ich hielt vor der Tür Besucher an, um zu fragen, ob sie vier schwarze Fledermäuse gesehen hätten, aber alle hatten verkleidete Gäste mit schwarzen Masken gesehen, die in Kutschen davon gefahren oder zu Fuß gegangen waren, und so beschloss ich endlich, allein nach Hause zu gehen. Ich wollte aber unbedingt meinen maskierten Verfolger loswerden und so lief ich durch das Gedränge und zwischen mehrere abfahrende Kutschen. Ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist, aber ich wurde gestoßen, fiel hin und war wohl kurze Zeit ohnmächtig.“

„Sind Sie verletzt?“, fragte Hamilton sofort besorgt und blieb stehen. Er hatte in seiner Aufregung bis zu diesem Augenblick völlig vergessen, was man ihm vor dem Theater erzählt hatte.

„Nein, jedenfalls nicht ernsthaft, vielleicht habe ich ein paar blaue Flecken. Als ich wieder zu mir kam, hatte Philipp mich aufgehoben, ich erkannte gleich seine Stimme. Er stützte mich, damit ich gehen konnte. Er schlug mir vor, mich kurz in seiner Wohnung in der Nähe auszuruhen, bis es mir wieder besser gehe. Ich wollte sein Angebot nicht annehmen, aber ich war so schwach, dass ich kaum stehen konnte – ich hätte es nicht bis nach Hause geschafft. In seinem Zimmer gab er mir ein Glas Wein und ich setzte mich auf das Sofa. Philipp ging auf und ab und trank dabei mehrere Gläser Rotwein. Sein Verhalten beunruhigte mich so, dass ich ihn bat, mich gehen zu lassen – allein. Seine Antwort bestand darin, dass er die Tür abschloss und den Schlüssel in seine Kommode legte. Ich war entsetzt, wie gelähmt. Ich bat ihn mehrfach, mich gehen zu lassen, aber er bestand darauf, er wolle ungestört mit mir sprechen und ich müsse ihn anhören. Dabei spielte er mit seinem Dolch, der auf dem Tisch lag ...“

„Er muss völlig verzweifelt gewesen sein“, sagte Hamilton bestürzt.

„Ja, das war er sicher … Zu meinem Glück entdeckte ich die Klingelschnur für das Personal. Er wurde blass, sagte aber sehr ruhig, dass ich schlecht beraten wäre, Zeugen herbei zu rufen, weil ich kaum erklären könnte, weshalb ich mitten in der Nacht bei ihm im Zimmer sei – ich hätte ihn freiwillig begleitet und könne jedenfalls nichts anderes beweisen. Würde man mich bei ihm finden, wäre mein Ruf für immer ruiniert, da er als Frauenheld bekannt war. Ich wusste, dass er recht hatte, deshalb klingelte ich nicht, obwohl ich vor Angst zitterte. Er sprach von seiner Liebe zu mir und von seiner Verzweiflung und dass er Sie hasse. Ich weiß nicht mehr, was er alles sagte, jedenfalls warf er sich schließlich vor mir auf die Knie und sagte, dass er lieber sterben wolle als verzichten. Ich sagte, ich hätte genug von ihm und seinen ständigen Drohungen zu sterben oder zu töten, er solle mich endlich gehen lassen. Und dann sprang er auf und nahm die Pistole – ich glaubte, er wolle mich umbringen … und dann … dann ...“

„Sprechen Sie nicht weiter, denken Sie nicht mehr daran“, sagte Hamilton besorgt, während er sie beim Gehen stützte.

„Glauben Sie – glauben Sie, dass er sich wegen mir getötet hat?“, fragte sie leise.

„Ich weiß es nicht – aber er hatte seinen Selbstmord ganz sicher für heute Nacht geplant“, antwortete er. „Sein Tisch war mit Briefen bedeckt, ich habe den mitgenommen, der an Sie adressiert ist.“

Sie waren inzwischen vor dem Haus der Bergers angekommen.

„Es wird das Beste sein, wenn wir niemandem von dieser Sache erzählen“, sagte Hamilton ernst. „Sie kennen Madame Berger – spätestens übermorgen wüsste die ganze Stadt, dass Sie bei Graf Raimund waren, als er sich getötet hat … niemand darf davon erfahren!“

„Sie haben völlig recht“, antwortete Isabelle. „Ich werde nicht einmal mit meinem Vater darüber sprechen.“

„Ihr Zustand würde den Anderen aber wohl nicht verborgen bleiben und Anlass zu allerlei Fragen geben“, sagte Hamilton. „Wir sollten deshalb nicht zum Souper bleiben. Geben Sie mir Ihren Umhang, ich werde Ihnen Hut und Mantel bringen.“

Als Hamilton alleine erschien, waren alle sehr bestürzt, aber als er erklärte, dass Isabelle unten warte, wurde Olivia regelrecht wütend. „Sie will also nicht zum Abendessen bleiben? Das sieht ihr ähnlich, sie ist eine ewige Spielverderberin!“

„Ich fürchte, sie hat sich erkältet“, sagte Hamilton und sah sich nach ihrem Mantel um. „Sie vergessen, wie lange sie auf der Straße gewesen sein muss.“

„Sie muss sich aber eine Ausrede für ihre Erkältung ausdenken“, bemerkte Madame Ludwig besorgt. „Ich kann ihrer Mutter unmöglich erzählen, dass wir beim Maskenball waren und dass sie mitten in der Nacht alleine auf der Straße war. Wo haben Sie sie gefunden?“

„Ich fand sie – in der Nähe“, antwortete Hamilton ausweichend und nahm einen Mantel und eine Boa von der Garderobe.

„Lassen Sie mir bitte meinen Mantel hier!“, rief Madame Ludwig. „Ich habe keine Lust, mich nachher auch noch zu erkälten.“

„Das ist doch wirklich zu ärgerlich!“, rief Olivia. „Ich hatte mich so auf das Souper gefreut. Der Doktor ist längst zu Bett gegangen und alles ist vorbereitet. Trinken Sie wenigstens ein Glas Wein, ehe Sie gehen, Herr Hamilton.“

Er trank das Glas hastig aus und eilte die Treppe hinunter. Isabelle ließ sich von ihm in den Mantel helfen, die Boa um den Hals schlingen und sogar den Hut aufsetzen. Sie fragte nur: „Kommen sie?“

„Isabelle“, rief Madame Berger von oben herunter, „ich nehme es dir sehr übel, dass du mir auf diese Weise das Abendessen verdirbst. Du hättest wenigstens für eine halbe Stunde heraufkommen können.“

„Sie haben sich erkältet! Sie fühlen sich unwohl!“, flüsterte Hamilton ihr zu.

„Es tut mir leid, Olivia, aber ich fühle mich wirklich nicht wohl, ich muss mich ins Bett legen“, sagte Isabelle mit einer so veränderten, gedämpften Stimme, dass Madame Ludwig ganz erschrocken rief: „Gütiger Himmel, das Kind ist völlig heiser! Was werden ihre Eltern dazu sagen?“

Zuhause zog sich Isabelle sofort wortlos zurück. Hamilton ging in seinem Zimmer ruhelos auf und ab, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf gingen. Nach einer Weile klopfte es. Es war Isabelle. Sie war noch immer sehr blass, schien aber völlig ruhig zu sein.

„Ich wusste, dass Sie noch wach sind“, sagte sie mit schwachem Lächeln. „Geben Sie mir bitte den Brief, ich kann ihn jetzt lesen.“

Als sie fertig war, gab sie ihn Hamilton mit den Worten zurück: „Das ist ein unglaubliches Machwerk! Was für ein Glück, dass Sie ihn gefunden haben. Wäre er mit der Post gekommen, hätten ihn vermutlich mein Vater oder meine Mutter gelesen und ich hätte alle möglichen Fragen beantworten müssen.“

Hamilton las den Brief ebenfalls und als er ihn Isabelle zurückgab, zerriss sie ihn in kleine Stücke, die er in den Kamin warf.

„Ich danke Ihnen für alles“, sagte Isabelle, „und nun Gute Nacht.“

 

19

Hamiltons Nachtruhe wurde durch wirre Träume von Isabelle und Raimund gestört, erst gegen Morgen sank er in einen tiefen Schlaf, aus welchem er durch die Rückkehr der Rosenbergs mit ihren Kindern geweckt wurde, die lärmend im Gang herum sprangen. Er kleidete sich hastig an und ging hinüber ins Gesellschaftszimmer, wo er die ganze Familie in bester Laune beim Frühstück antraf. Sophie trug bereits ihr Brautjungfernkleid.

„Denken Sie nur, Isabelle will nicht Brautjungfer sein, obwohl Caroline doch ihre Freundin ist!“, rief sie. „Sie sagt, dass sie Kopfschmerzen hat und erkältet ist.“

„Sie hat sich sicher gestern beim Eismachen im kalten Treppenhaus erkältet“, sagte Madame Ludwig.

„Ich fürchte, Sophie wird sich dann heute erkälten in diesem dünnen weißen Kleid“, bemerkte Herr Rosenberg.

„Oh, ich friere überhaupt nicht“, antwortete Sophie munter, „ich bin schon unten bei den Hoffmanns gewesen – Caroline sieht in ihrem weißen Kleid mit den Orangenblüten ganz entzückend aus.“

„Heute in acht Tagen werden wir eine Braut sehen, die in ihrem Kleid noch weitaus entzückender aussehen wird“, erklärte Major Stutzenbacher voller Stolz.

In diesem Augenblick trat Isabelle ins Zimmer, noch blasser als gestern und mit tiefen Schatten unter den Augen.

„Mein liebes Kind“, sagte ihr Vater, „du scheinst wirklich krank zu sein. Soll ich zu Doktor Berger schicken?“

„Nein, nein“, antwortete sie hastig, „es ist nicht so schlimm – ich friere nur“, und sie stellte sich fröstelnd an den Ofen.

„Es wird bald Zeit, nach unten zu gehen“, sagte Madame Rosenberg. „Ich glaube, wir sollten uns jetzt umziehen. – Das gilt übrigens auch für Sie, lieber Major.“   

Stutzenbacher lächelte und verließ mit seinem zukünftigen Schwiegervater den Salon. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, lief Sophie zu ihrer Schwester: „Oh Isabelle, du kannst dir nicht vorstellen, wie schön unten alles arrangiert ist! Wie schade, dass so wenig Gäste kommen werden. Wie einfältig von Philipp, dass er mitten im Winter nach der Trauung aufs Land fahren will statt einen Ball zu geben. Weißt du, dass die alte Gräfin vorhin schon unten war? Sie hat überhaupt keine Notiz von mir genommen. Eben gerade ist noch eine Kutsche vorgefahren, vielleicht ist das Philipp mit seinem Vater – ob er sich wohl in Uniform trauen lassen wird?“

Sophie eilte zum Fenster, um hinaus zu sehen, und Isabelle, die ebenfalls ein weißes Kleid trug, trat neben Hamilton und sagte leise: „Ist das nicht eine jämmerliche Maskerade? Es kommt mir alles vor wie ein schrecklicher Traum, aus dem ich nicht erwachen kann. Es wird mir unmöglich sein, gleich Überraschung zu heucheln, wenn ich erfahre, was ich bereits weiß.“

„Verbergen Sie ihr Gesicht schnell in Ihren Händen. Ich werde versuchen, in Ihrer Nähe zu bleiben“, antwortete Hamilton.

Isabelle wurde von Madame Rosenberg gerufen und sie gingen zusammen hinunter. Es waren etwa zwanzig Personen anwesend, darunter Gräfin Raimund. Isabelle und Sophie gingen in das angrenzende Zimmer, wo die Braut auf die Ankunft des Bräutigams wartete. Hamilton harrte nervös dem, was nun bald kommen musste. Wenig später fuhr die Kutsche von Graf Raimund vor. Sofort führte Frau von Hoffmann ihre Tochter in den Salon, um die Wartenden zu begrüßen. Kurz darauf wurden sie und auch die Gräfin nach draußen gerufen. Hamilton blickte aus dem Fenster und sah, dass man der Gräfin in die Kutsche half, die sofort abfuhr. Man holte einige Männer, darunter Herrn Rosenberg, der mit ernster Miene in den Salon zurückkehrte. Er sah sich im Zimmer um und sagte dann: „Es tut mir leid, unangenehme Nachrichten zu überbringen, aber – Graf Raimund ist so plötzlich und so schwer erkrankt, dass seine Mutter sofort nach Hause zurückkehren musste und – und die Trauung – heute nicht stattfinden kann.“

„Erkrankt?“, rief Caroline erschrocken. „Wo ist meine Mutter?“

Sie kam in diesem Augenblick zurück und Hamilton sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie alles wusste. Sie sprach hastig ein paar Worte mit den Gästen, die nacheinander das Zimmer verließen, um wieder nach Hause zu fahren. Auch die Rosenbergs wollten gehen, aber Caroline hielt Isabelle zurück und bat sie, bei ihr zu bleiben.

„Mademoiselle Isabelle wird dir nicht viel Trost geben können, liebes Kind“, sagte ihre Mutter schnell. „Es besteht wohl nur wenig Hoffnung, dass Graf Raimund wieder genesen wird.“

„Aber so lange er noch lebt, besteht doch Hoffnung“, sagte Caroline und brach in Tränen aus. „Sicher hat er die Cholera, aber es sterben doch nicht alle daran, und warum sollte er sie nicht überstehen?“

Das Ehepaar Rosenberg verließ mit Sophie und Hamilton den Salon und ging nach oben. Etwa eine Stunde später kam Isabelle nach und zog ein schwarzes Kleid an. Als sie in den Salon kam, sagte ihr Vater: „Seht, Isabelle trägt bereits Trauer! Sie hat einfach ein natürliches Gefühl für Anstand.“

„Eher ein natürliches Gefühl des Stolzes!“, rief Madame Rosenberg. „Sie will den Leuten zeigen, dass ein Graf Raimund mit ihr verwandt ist. Ihre Tante, die Gräfin, hat sich heute jedoch offensichtlich nicht an diese Verwandtschaft erinnert.“

„Was gibt es?“, fragte Isabelle ihren Vater.

„Was es gibt?“, rief Frau Rosenberg. „Dein Vater wünscht unnötigerweise, dass ihr Trauerkleidung für euren erbärmlichen Cousin tragt und schlägt vor, Sophies Hochzeit bis nach Ostern zu verschieben. Der Himmel weiß, was in diesen Cholerazeiten bis dahin passieren wird.“

„Babette!“, sagte ihr Mann vorwurfsvoll.

„Nun, jedenfalls bin ich gegen jede Verzögerung. Die Mädchen mögen Trauer tragen, wenn du es wünschst, und wir können die Hochzeit so still feiern, dass es keinerlei Aufmerksamkeit erregt.“

„Das ist ein vernünftiger Vorschlag“, sagte Major Stutzenbacher. „Sophie kann  nach der Hochzeit sechs Monate Trauer tragen, wenn Sie es wünschen.“

„Einige Wochen wünsche ich“, antwortete Rosenberg. „Graf Philipp hat die Verwandtschaft anerkannt, er war immerhin der Neffe meiner verstorbenen Frau.“

Hamilton fragte Isabelle leise, wie ihre Freundin die Nachricht vom Tod ihres Bräutigams aufgenommen habe.

„Wir haben es nicht gewagt, ihr die Wahrheit zu sagen, sie glaubt immer noch, er habe die Cholera. Aber stellen Sie sich vor, ihre Mutter hat mich beiseite genommen und mir auf sehr gefühllose Weise mitgeteilt, was wirklich passiert ist. Dabei hat sie mich die ganze Zeit scharf beobachtet.“

„Was haben Sie gesagt?“

„Sehr wenig. Dass es sehr traurig sei, dass Philipps Tod sehr überraschend ist, aber dass er Caroline als Ehemann vermutlich nicht glücklich gemacht hätte. Sie stimmte mir zu und sagte dann, sie habe längst bemerkt, dass ihre Tochter Philipp völlig gleichgültig gewesen sei. Sie könne nicht verstehen, dass Caroline seine Kälte ihr gegenüber nicht bemerkt habe. Ich verstehe es ehrlich gesagt auch nicht ...“

„Sie vergessen, dass Liebe blind macht.“

„Für Fehler, aber doch nicht für offensichtliche Gleichgültigkeit.“

„Ich fürchte, sie kann für alles blind machen“, erwiderte Hamilton. „Insofern ist sie eng verwandt mit Hass.“

„Philipp konnte Menschen geschickt täuschen. Er hat mich anfangs auch geblendet, wie Sie vielleicht wissen.“

„Ich erinnere mich“, sagte Hamilton trocken.

„Es ist mitunter seltsam – ich fand Frau von Hoffmann am Anfang unserer Bekanntschaft überaus unterhaltsam und angenehm, ihre scharfen Bemerkungen hielt ich für Scherze – bis sie mich selbst trafen“, sagte Isabelle nachdenklich.

„Vielleicht erinnern Sie sich auch daran, dass Sie mich zunächst überhaupt nicht leiden konnten – obwohl Sie mich gar nicht kannten“, bemerkte Hamilton.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie unsympathisch Sie ihr waren“, sagte Sophie, die sich ihnen unbemerkt genähert hatte. Sie schraken beide zusammen und Isabelle errötete, als sie fortfuhr: „Sie hätten sie damals hören sollten, wie sie über den kalten, stolzen Engländer gesprochen hat.“

„Sophie, wir wollen jetzt nicht mehr davon sprechen“, sagte Isabelle. „Ich kann mich heute nicht gegen euch beide verteidigen, ich bin einfach zu müde.“

Doch Sophie ließ sich nicht aufhalten. „Olivia hat am Ende doch recht“, fuhr sie fort, „als wir gestern Abend auf euch gewartet haben, sagte sie, dass sich dein Hass am Ende noch ...“

„Sophie, ich bitte dich!“, rief Isabelle, die in den letzten Minuten abwechselnd rot und blass geworden war und jetzt am Ende ihrer Kräfte schien. Erschrocken fiel Hamilton ein, dass sie heute morgen nicht gefrühstückt und die ganze Nacht vermutlich kaum geschlafen hatte. Er war der Einzige, der wusste, dass sie Entsetzliches erlebt hatte. Dennoch war er ebenso schockiert wie alle anderen, als Isabelle nach einem kurzen Aufstöhnen plötzlich schwankte und lautlos zu Boden sank.

„Sophie, was hast du zu deiner Schwester gesagt?“, rief ihr Vater, als er herbei eilte.

„Nichts – ich ... ich weiß es nicht“, stotterte Sophie erschrocken.

Herr Rosenberg legte die ohnmächtige Isabelle auf das Sofa, während Sophie die Fenster öffnete und Madame Rosenberg Wasser und Riechsalz holte. Wenig später schlug sie die Augen auf, flüsterte etwas und fiel erneut in Ohnmacht. Man trug sie in ihr Zimmer und schickte nach Doktor Berger. Der Arzt konnte keine eindeutige Diagnose stellen, er vermutete nervliche Überreizung und vapeurs, eine weibliche Modekrankheit, die alle möglichen Beschwerden bis hin zu Hysterie und heftigem Fieber auslösen könne, wie er versicherte. Er verordnete Bettruhe und leichte Krankenkost, wollte einer Verschlechterung ihres Zustandes in den nächsten Tagen aber nicht ausschließen. Es folgten zwei Tage voller Ungewissheit, in denen Isabelle kaum ansprechbar war und die ganze Familie auf Zehenspitzen ging und nur im Flüsterton redete. Hamilton sah so mitgenommen aus, als leide er selbst unter einer Krankheit. Aber am dritten Tag schien die Gefahr gebannt und Herr Rosenberg war so glücklich über diese Mitteilung, dass er den Abend ganz gegen seine Gewohnheit sogar zuhause verbrachte.

 

Nach Isabelles Genesung begannen die Vorbereitungen für Sophies Hochzeit. Die Familie Hoffmann hatte das Haus verlassen und würde wohl längere Zeit nicht nach München zurückkehren, wie es hieß. Madame Berger hatte zugesagt, Walzer zu spielen, damit getanzt werden konnte, und Madame Ludwig würde sich um das Abendessen kümmern. Am Hochzeitstag saß Sophie zu Hamiltons Überraschung wie sonst im Morgenrock am Frühstückstisch, während ihr Vater das Zimmer verließ, um wie gewöhnlich ins Büro zu gehen.

„In England finden die Trauungen üblicherweise schon am Vormittag statt“, sagte er. „Darf ich fragen, wann ...“

„Heute Nachmittag um fünf“, antwortete Isabelle. „Wir treffen uns alle an der Frauenkirche, ohne besonderes Aufsehen. Wenn wir zurück kommen, wird es schon dunkel sein, und außer unseren Gästen wird niemand wissen, dass wir eine Hochzeit feiern. Der Papa hat es so gewünscht.“

„Aber wir werden tanzen“, rief Sophie, „und der Major hat gesagt, dass ich heute Abend so oft mit Ihnen tanzen kann wie ich will.“

„Wie ungemein gütig!“, sagte Hamilton lächelnd. „Und wie oft beabsichtigen Sie, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen?“

„Das liegt ganz an Ihnen“, erwiderte sie errötend.

„Verlassen Sie sich lieber nicht auf meine guten Manieren; ich könnte mich versucht fühlen, den ganzen Abend mit Ihnen zu tanzen“, sagte Hamilton lachend. Und zu Isabelle gewandt: „Sie haben keinen Zucker in meinen Kaffee getan – wollen Sie mich für etwas bestrafen?“  

„Nein – ich … ich dachte gerade an etwas anderes ...“

Sie beugte sich zu ihrer Schwester hinunter und flüsterte ihr etwas zu, worauf diese das Zimmer verließ.

„Wissen Sie, wenn Sie vor einigen Wochen das gesagt hätten, was Sie eben gesagt haben, dann wäre ich vermutlich böse gewesen, weil ich gedacht hätte, Sie wollten sich über Sophie lustig machen. Aber jetzt weiß ich, dass Sie nichts weiter meinen als dass Sie sich darauf freuen, zwei- oder dreimal mit ihr zu tanzen.“

„Wie gut Sie mich jetzt verstehen“, lächelte Hamilton.

Isabelle begann, die Tassen auf ein Tablett zu stellen.

Etwas verlegen fragte er: „Seit wann – ich meine, wann haben Sie eigentlich Ihre Meinung über mich geändert? Ich weiß, dass Sie mich am Anfang nicht ausstehen konnten.“

„Es war in der Nacht, in der Sophie sich mit Major Stutzenbacher zerstritten hatte. Die Erklärungen, die Sie uns danach über ihre Situation gegeben haben, waren aufrichtig und ehrenhaft.“

„Und Sie verzeihen mir, dass ich in Seeon mit Sophie geflirtet … ich meine, dass ich ihr Komplimente gemacht habe?“

„Ja – und ich verzeihe Ihnen auch, dass Sie bei mir das Gleiche getan haben.“

„Das ist etwas völlig anderes ...“, begann Hamilton.

„Vielleicht. Sie hatten mir alles so gut erklärt, dass es wirklich dumm von mir gewesen wäre, Sie nicht zu verstehen. Graf Zedwitz hat mich auch noch einmal deutlich darauf hingewiesen, dass Sie ...“

„Grad Zedwitz' eigene Interessen haben ihn in diesem Fall seine Freundschaft mit mir völlig vergessen lassen“, sagte Hamilton verärgert.

„Ich bin Ihnen wirklich nicht böse“, versicherte Isabelle. „Ich wusste vorher einfach nicht, was eine harmlose Liebelei ist ...“

In diesem Moment kam Sophie zurück, die sich zum Ausgehen angekleidet hatte.

„Lass uns gehen“, sagte Isabelle zu ihr, „wir sind schon recht spät dran.“

„Darf ich mitkommen?“, fragte Hamilton.

„Nein – aber Sie können uns in ein paar Stunden abholen“, sagte Sophie lächelnd.

„Sagen Sie mir, wo ich Sie finde.“

Sophie errötete und stotterte: „In meiner … ich meine … in der Wohnung … von Major Stutzenbacher.“

„Wir wollen die Möbel umstellen“, sagte Isabelle und schloss die Tür.

Länger als eine Stunde hielt Hamilton es aber nicht alleine zuhause aus, dann machte er sich auf den Weg. Da er nun schon einmal da war, wurde er aufgefordert, sich nützlich zu machen. Tische und Stühle wurden gerückt, die Vitrine bewundert, und dann gingen sie hinüber in die Küche, wo Sophie Hamilton stolz ihr Kochgeschirr zeigte und ihm versicherte, dass sie entschlossen sei, selbst zu kochen, obwohl ihre Mutter ihr Walburga als Mädchen für alles mitgeben werde. Wenig später klingelte Johann, um mitzuteilen, dass sie zuhause erwartet würden – man esse heute früher als sonst zu Mittag, weil der Friseur schon um zwei Uhr komme. Das Lächeln auf Sophies Gesicht erlosch bei dieser Mitteilung, sie setzte sich auf einen Stuhl und begann zu weinen. Isabelle gab Hamilton ein Zeichen, er möge sie allein lassen, und er ging wieder hinüber in den Salon.

 

Um fünf Uhr versammelte sich eine Gesellschaft von sechzehn bis achtzehn Personen in der Kapelle der Frauenkirche, wo die Trauung von Major Stutzenbacher mit Sophie Rosenberg stattfinden würde. Die Braut war sehr hübsch und sehr schüchtern, der Bräutigam schien nervös, und auch Isabelle war blass und schweigsam. Nach Hause zurückgekehrt, fanden sie alle Zimmer hell erleuchtet, und Madame Ludwig war damit beschäftigt, das Abendessen zu richten. Sie saßen drei Stunden am Tisch, dann wurde getanzt, danach gab es erneut etwas zu essen, ehe wieder bis Mitternacht getanzt wurde. Zum Abschluss der Hochzeitsfeier wurde Punsch gereicht. Die Gäste drängten sich um das Brautpaar, um mit ihm anzustoßen und ein Stück vom Hochzeitskuchen zu ergattern, einem kolossalen Baumkuchen. Kurz darauf meldete Johann: „Der Wagen für Fräulein Sophie!“ Das war das Signal zum Aufbruch für die ganze Hochzeitsgesellschaft. Sophie verabschiedete sich zögernd von ihren Eltern, reichte Hamilton die Hand und fiel dann schluchzend ihrer Schwester um den Hals.

„Komm, Sophie“, sagte ihr Vater gespielt heiter, „du nimmst Abschied, als ob Meere und nicht nur ein paar Straßen uns trennen werden.“

Er reichte ihr seinen Arm und führte sie die Treppe hinunter. Alle folgten ihnen – bis auf Isabelle und Hamilton, die im Salon zurückblieben.

„Nun, haben wir nicht einen lustigen Abend gehabt?“, rief Madame Rosenberg triumphierend, als sie einige Minuten später fast atemlos eintrat. „Siehst du, Franz, es war doch eine schöne Hochzeit.“

„Das stimmt“, sagte er und setzte sich seufzend auf das Sofa. „Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist, aber ich fühle mich nicht wohl. Am Ende werde ich noch krank.“

„Ach was“, antwortete seine Frau heiter. „Wenn du krank wärst, hättest du nicht so viel essen können. Vielleicht hast du etwas zu viel Fisch oder Truthahn oder Schinken gegessen. Ganz sicher bist du einfach müde. Du kannst ruhig schon zu Bett gehen.“

Rosenberg gehorchte ohne Widerspruch.

 

Herr Rosenberg fühlte sich aber auch an den nächsten Tagen nicht besonders wohl, er war müde, hatte keinen Appetit, nicht einmal das Bier schmeckte ihm.   Er schluckte heimlich seine Pillen, schließlich wollte er niemanden beunruhigen. Doch dann wurde Hamilton mitten in der Nacht geweckt, als Isabelle aufgelöst in sein Schlafzimmer stürzte und rief: „Um Himmels willen, stehen Sie auf, stehen Sie auf! Kommen Sie zu meinem Vater – ich fürchte, dass er die Cholera hat. Sie haben schon Cholerakranke gesehen und kennen die Symptome. Oh kommen Sie, wir wissen nicht, was wir tun sollen.“

„Lassen Sie den Arzt holen“, rief Hamilton, „ich komme sofort.“

Als er das Schlafzimmer betrat, saß Isabelle neben Rosenbergs Bett, während seine Frau im Zimmer auf und ab ging.

„Oh Herr Hamilton“, sagte sie, „bitte sagen Sie mir, dass Franz nicht die Cholera hat, und ich werde Ihnen dankbar sein, solange ich lebe. Alle sagen doch, dass die Epidemie so gut wie vorbei ist und dass es nur noch ganz wenige Fälle gibt. Es kann doch auch etwas ganz anderes sein, nicht wahr?“

Aber Hamilton wusste nicht, was Herr Rosenberg hatte und Doktor Berger wusste es auch nicht. Es stand jedoch nicht gut um den Patienten, das war sicher. Zwei Tage lang gingen wieder alle auf Zehenspitzen, flüsterten und hofften – doch vergeblich. Am dritten Tag starb Herr Rosenberg. Hamilton brachte die beiden kleinen Kinder zu ihrer Schwester Sophie, die zwar unablässig weinte, aber keinerlei Anzeichen von Hysterie erkennen ließ. Isabelle saß tränenleer und wie betäubt in ihrem Zimmer, als Hamilton zurückkam. Er bat sie, etwas zu essen und sich dann ins Bett zu legen. Sie sah ihn an, als spreche er in einer unverständlichen Sprache, schließlich sagte sie: „Ich kann nicht glauben, dass er tot ist. Er kann uns doch nicht einfach so verlassen! Gerade jetzt … Ich hätte ihm so vieles noch sagen wollen … Wenn ich ihn doch noch einmal sehen könnte!“

„Daran wird Sie sicher niemand hindern“, sagte Hamilton. „Wenn es ein Trost für Sie ist, werde ich diese Nacht mit Ihnen in seinem Zimmer bleiben.“

„In seinem Zimmer?“, rief sie verzweifelt. „Er ist nicht mehr in seinem Zimmer – man hat ihn in das Leichenhaus gebracht.“

„Das Leichenhaus? Wo ist das?“

„Auf dem Friedhof. Ich glaube, es sind Wächter dort – aber stellen Sie sich vor, er ist vielleicht gar nicht tot und kommt wieder zu sich … ich muss wissen, ob er wirklich tot ist! Wollen Sie mit mir gehen? Lassen Sie mich ihn noch ein letztes Mal sehen!“

„Ich werde mit Ihnen dorthin gehen oder wohin auch immer Sie gehen wollen“, antwortete Hamilton, der von ihrer Trauer völlig überwältigt war.

Es war kalt und unfreundlich, als sie durch den Schneematsch auf den Straßen stapften. Aber Isabelle eilte wortlos vorwärts, bis sie den Friedhof erreicht hatten. Sie gingen auf die Leichenhalle zu, die auf einer Seite völlig verglast war. Erschrocken hielt er sie zurück, denn er hatte in England nie etwas Ähnliches gesehen. Auf Tischen im Inneren des Gebäudes stand eine Reihe offener Särge; die darin liegenden Toten waren festlich gekleidet wie für einen Feiertag. Ein junger Offizier lag dort in seiner Paradeuniform, ein älterer Herr im schwarzen Anzug, ein junges Mädchen trug ein weißes Kleid und war mit Blumen geschmückt. Auch Rosenberg lag hier. Isabelle stand vor seinem Sarg wie festgewurzelt und bewegte die Lippen wie bei einem stummen Gebet. Hamilton wollte sie nicht stören und wandte sich ab. Er bemerkte, dass eine schwarz gekleidete Gruppe Menschen auf den Friedhof gekommen war, einige trugen Fackeln. Er sprach eine Wärterin an, ob ein Begräbnis stattfinden würde.

„Ich glaube, die Gräfin Raimund soll heute Abend beerdigt werden“, antwortete sie.

„Die Gräfin Raimund?“, fragte Hamilton überrascht. „Liegt sie hier?“

„Ja dort, gleich neben dem Herrn, der an der Cholera gestorben ist, die alte Dame im schwarzen Atlaskleid.“

„Isabelle“, sagte Hamilton, indem er ihren Arm nahm, „wir müssen jetzt gehen. Es wird ein Begräbnis stattfinden.“

„Ich weiß es, ich habe es gehört“, sagte sie und ließ sich leicht widerstrebend von ihm mitziehen. „Warten Sie – ich möchte noch zum Grab meiner Mutter.“

Sie fanden es schnell, denn Isabelle wusste, wo es war. Sie schien zu beten, dann kniete sie neben dem Grabstein nieder und begann mechanisch, die Blätter des Efeukranzes zu ordnen, den sie im November auf das Grab gelegt hatten.

„Ich weiß nicht, warum ich nichts fühle“, sagte Isabelle schließlich, als sie aufstand. „Ich dachte, ich würde an diesem Ort Schmerz über den Tod meines Vaters fühlen – Sie werden sicher entsetzt sein, wenn ich Ihnen sage, dass ich in Wirklichkeit gar nichts fühle. Ich weiß jetzt, dass mein Vater wirklich tot ist, es gibt keinen Zweifel – ich weiß, dass er bald hier neben meiner Mutter liegen wird – aber ich fühle keinen Schmerz – ich fühle gar nichts.“

„Es kam so plötzlich. Sie sind noch wie betäubt“, sagte Hamilton.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich bin einfach nur – ruhig. Aber ich würde jetzt am liebsten gehen, laufen, kilometerweit, ohne anzuhalten.“

„Sie müssten eigentlich völlig erschöpft sein – Sie haben schließlich drei Nächte lang nicht geschlafen und zwei Tage fast nichts gegessen.“

„Sie haben auch drei Nächte nicht geschlafen und vermutlich auch nicht viel gegessen ...“

„Ich denke nicht an mich“, sagte Hamilton, „ich denke an Sie. Und wie könnte ich schlafen oder essen, wenn ich weiß, dass es Ihnen schlecht geht?“

Isabelle atmete schwer und lehnte sich unwillkürlich an seine Schulter. Er hielt sie fest und befürchtete einen Moment, sie könnte wieder ohnmächtig werden. Als er bemerkte, dass sie zitterte, rief er einen der Lohnkutscher vor dem Friedhof herbei und hob sie in die Kutsche. Als sie losfuhren, atmete sie so schwer, dass er die Fenster öffnete. Wenig später ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken, und er spürte eine unendliche Erleichterung, als er merkte, dass Isabelle weinte.

  

Am nächsten Tag war Madame Rosenberg nahezu ständig von Bekannten und Verwandten umringt. Gegen Abend zog Sophie ihre Schwester beiseite und flüsterte: „Isabelle, Liebste, es ist für uns beide schlimm, aber ich bin jetzt verheiratet – was soll nur aus dir werden? Du wirst sicher an Mademoiselle Hortense schreiben. Sie hat dir ja versprochen, dir eine Stelle als Gouvernante zu besorgen, wenn du es wünschst.“

„Ich weiß“, sagte Isabelle niedergeschlagen. „Lass uns ein andermal darüber sprechen, ich kann noch nicht klar denken.“

„Olivia sagt, dass die Mama sicher nicht wünscht, dass du bei ihr bleibst, und der Major … also mein Mann … sagt, dass ...“

„Sophie!“, rief Isabelle verärgert. „Du kannst mir gerne sagen, was du denkst, aber verschone mich bitte mit den Ansichten von Olivia Berger oder des Majors.“

„Aber hast du nicht selbst gesagt, dass du ihn für einen vernünftigen Mann hältst?“

„Ja, das habe ich gesagt und ich glaube es auch. Aber da er sich für nichts interessiert, was mich betrifft, möchte ich auch nicht hören, was er gesagt hat.“

„Ach, sicher hat Herr Hamilton dir alles erzählt. Das hätte ich mir denken können. Er lächelte so sonderbar, als ich gestern mit ihm darüber gesprochen habe. Natürlich habe ich sofort daran gedacht, dich zu mir zu holen, das war mein erster Gedanke. Aber der Major … also Xaver … sagt, dass das, was in Seeon passiert ist … dass er … dass du deshalb unmöglich bei uns wohnen kannst.“

„Herr Hamilton hat mir davon überhaupt nichts gesagt. Ich weiß natürlich, dass du es gut gemeint hast und ich danke dir, aber ich weiß selbst sehr gut, dass ich auf keinen Fall bei euch wohnen könnte.“

„Ich bin wirklich froh, dass du das selbst sagst – ich hatte wirklich Angst, dass du mir Vorwürfe machen könntest, weil ich meinen Mann nicht umstimmen kann. Natürlich weiß ich, dass Papas Tod für dich noch viel schlimmer ist als für mich – Xaver sagt, dass du für ihn immer an erster Stelle kamst. Er hat dir so viel Liebe geschenkt, dass er mich manchmal ganz übersehen hat.“

Isabelle sah ihre Schwester schweigend an und wandte sich dann mit Tränen in den Augen ab. Nie war ihr so aufgefallen wie jetzt, dass Sophie einfach alles nachplapperte, was man ihr sagte. In der Schule hatte sie wiederholt, was sie ihr erzählt hatte, nun war sie das Echo von Major Stutzenbacher. Sie ging langsam hinüber in den Salon, wo Hamilton am Ofen stand. Er hatte das Gespräch mitangehört und Isabelles Lage bedrückte ihn. Unwillkürlich nahm er ihre Hand und presste sie leidenschaftlich, aber wortlos an seine Lippen. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass seine Augen feucht waren.

„Ich – ich danke Ihnen – für Ihr Mitgefühl ...“, murmelte sie, als sie ihre Hand zurückzog und aus dem Zimmer eilte.

 

Nach der Beerdigung Rosenbergs vergingen die Tage in trister Gleichförmigkeit. Herr Rosenberg war ein gütiger Ehemann und liebevoller Vater gewesen, aber da er jeden Werktag im Büro und jeden Abend im Wirtshaus oder im Theater verbracht hatte, hatte Hamilton in den vergangenen Monaten kaum Gelegenheit gehabt, ihn näher kennen zu lernen. Wäre er nicht durch Isabelles und Madame Rosenbergs Trauerkleidung ständig an seinen Tod erinnert worden, hätte er vermutlich schnell vergessen, dass er überhaupt existiert hatte. Er besuchte Vorlesungen an der Universität, studierte mit seinem Freund Biedermann deutsche Literatur, ritt aus und ging spazieren. Zuhause behandelte er Isabelle behutsam wie ein rohes Ei, nahm ihre Anordnungen widerspruchslos hin und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, wobei er sich jedoch so harmlos und unauffällig benahm, dass Madame Rosenberg keinerlei Verdacht schöpfte. Sie lobte sogar, dass sie ihre früheren nutzlosen Streitereien endlich eingestellt hatten.

Es war Anfang April, als Isabelle ihn beim Verlassen des Hauses zurückrief, weil ihre Mutter mit ihm sprechen wolle. Hamilton seufzte, als er die Treppe nach oben stieg.

„Ich ahne es. Ich werde mir wohl eine längere Predigt anhören müssen, dass ich gestern Abend vergessen habe, die Lichter auszulöschen oder dass ich meine Stiefel am Ofen angesengt habe. Sie sollten wirklich das neue Mädchen bitten, meine Zimmer in Ordnung zu bringen; es ist völlig unnötig, dass Ihre Mutter alles erfährt, was sich dort ereignet.“

Madame Rosenberg saß an ihrem altmodischen Sekretär mit unzähligen kleinen Fächern. Sie hatte einen Stapel mit Rechnungen vor sich liegen und daneben einige Häufchen mit Münzen. Als Hamilton eintrat, deutete sie auf den Stuhl neben sich. Aber dieser hatte wenig Lust, sich eine längere Strafpredigt anzuhören, und so blieb er wie der verzogene Sohn einer nachsichtigen Mutter in der Tür stehen und murmelte etwas von Geschäften und wichtigen Terminen.

„Ich werde Sie nicht lange aufhalten“, sagte Madame Rosenberg und seufzte tief. „Ich hätte schon längst mit Ihnen sprechen sollen, aber ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich es Ihnen beibringen kann, dass ...“

„Sie meinen die Stiefel?“, fragte Hamilton und schloss die Tür hinter sich.

„Nein, auch wenn ich zugeben muss ...“

„Ich weiß alles, was Sie sagen wollen“, rief Hamilton, „verschwenderische Gewohnheiten, scheußlicher Geruch, ich könnte dadurch das Haus anzünden  etc. Natürlich haben Sie völlig recht. Ich bin zerknirscht und verspreche Ihnen, in den nächsten drei Wochen weder ein Hemd noch meine Stiefel am Ofen zu verbrennen. Und demnächst, wenn es wärmer wird, wird ja auch gar nicht mehr geheizt.“

„In drei Wochen oder wenn das Wetter wärmer geworden ist, werden wir zu weit voneinander entfernt sein, als dass ich Sie dann noch wegen dieser Dinge tadeln oder wegen irgendetwas behelligen könnte!“

„Meine liebe Madame Rosenberg!“, rief Hamilton erschrocken und setzte sich hastig auf den Stuhl, den er eben noch verschmäht hatte. „Sie wollen doch hoffentlich nicht sagen, dass ich Sie verlassen muss?“

„Doch“, erwiderte sie und seufzte erneut. „Es tut mir sehr leid, wir werden Sie ganz sicher vermissen, und wenn ich Sie nicht missverstehe, so gehen Sie ungern, aber ...“

„Ich habe in Ihrem Hause sieben der glücklichsten Monate meines Lebens verbracht ...“, sagte Hamilton bestürzt.

„Sechs Monate und eine Woche“, korrigierte ihn Madame Rosenberg, „Sie waren zwei Wochen bei Havard, wie Sie sicher noch wissen, und ich werde bei meiner Abrechnung natürlich vierzehn Tage abziehen ...“

„Was wird aus Fräulein Isabelle?“, fragte Hamilton, der ihre letzten Worte gar nicht gehört hatte.

„Sie kommt mit mir aufs Land. Ich habe meinem Mann, Gott hab ihn selig, auf dem Totenbett versprochen, dass sie mein Haus nicht verlassen muss, es sei denn es ist ihr eigener Wunsch, und dass sie stets zurückkehren kann. Ich habe ihm auch versprochen, dass sie dieselbe Aussteuer bekommen wird wie ihre Schwester, wenn sie heiraten sollte.“ Sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte damit ihre Tränen weg. „Wir haben fast zehn Jahre sehr glücklich in diesem Haus gelebt, aber … ich kann nicht länger hier bleiben … das Haus … die Möbel … selbst München kann ich nicht mehr ertragen. Ich werde in das Haus meines Vaters zurückkehren. Franz bleibt auf der Kadettenschule, wie es sein Vater gewünscht hat, Gustel wird seinem Großvater als Schmied folgen, denn er ist kein fleißiger Schüler, und was aus Peppi einmal werden wird, wird sich zeigen.“

„Nehmen Sie mich mit aufs Land!“, sagte Hamilton.

Madame Rosenberg blickte ihn an, als spräche er im Fieber.

„Ich meine es ernst!“, betonte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist kein Ort für Sie“, sagte sie, „und mein Vater wäre ganz sicher nicht nach Ihrem Geschmack. Ihre Eltern wären sicher nicht damit einverstanden, dass Sie München mit all seinen Vorteilen einer Großstadt verlassen, um sich in einem kleinen Dorf zu langweilen.“

Hamilton widersprach ihr nicht, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, Isabelle so plötzlich zu verlassen. Wollte er Madame Rosenberg dazu bringen, ihn mitzunehmen, musste er es geschickt anstellen. Deshalb seufzte er und sagte mit scheinbarer Resignation: „Dann werde ich die nächsten Monate wohl im Hotel bei Havard wohnen müssen, etwas anderes wird mir nicht übrig bleiben.“

„Bei Havard!“, rief Frau Rosenberg. „Wahrscheinlich um ständig Soupers zu geben und jede Menge Champagner zu trinken! Sie werden das Geld zum Fenster hinauswerfen!“

„Wohin sollte ich sonst gehen? Soll ich etwa eine eigene Wohnung mieten und mir eine Haushälterin nehmen?“

„Nein, sicher nicht – aber es wird sich doch sicher eine andere Möglichkeit finden. Nehmen wir zum Beispiel an, dass Madame Berger vorschlagen würde, Sie bei sich aufzunehmen, falls der Doktor nichts dagegen hat.“

„Ich hätte nichts dagegen“, antwortete Hamilton und biss sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken, als er hinzufügte: „Sie ist eine wirklich reizende junge Frau, und ich bezweifle nicht, dass ich mich heftig in sie verlieben würde, wenn ich Zeit und Gelegenheit dazu hätte. Deshalb können Sie mir eigentlich nicht zu diesem Arrangement raten – jedenfalls würde ich Sie dafür verantwortlich machen, weil Sie mich in Versuchung geführt haben.“

„Guter Gott, dafür will ich nun wirklich nicht die Verantwortung übernehmen!“, rief Madame Rosenberg bestürzt. „Olivia ist so leichtsinnig und gedankenlos und der Doktor ist nie zuhause … ich sehe ein, dass das nicht anginge. Aber ich hätte wirklich gedacht, dass Sie zu vernünftig für so etwas wären.“

„Bei einem Mann in meinem Alter siegen die Gefühle am Ende immer über die Vernunft … Wenn der Major nicht so eifersüchtig wäre, so könnte ich vielleicht bei Sophie wohnen ...“

„Das würde der Major niemals zulassen!“

„Dann habe ich keine andere Wahl als zu Havard zu gehen, wenn Sie mich nicht behalten“, fuhr Hamilton fort. „Liebe Madame Rosenberg, lassen Sie mich mit Ihnen kommen, ich habe eine Ahnung, dass es das einzige Mittel ist, um mich davon abzuhalten, Unheil anzurichten. Ich könnte sicher alle paar Tage nach München fahren oder reiten.“

„Aber ich habe keinen Platz für Sie!“, rief sie völlig ratlos. „Was ist mit Ihren Pferden ...“

„Ich kann für sie sicher einen Platz im Dorf finden.“

„Sie müssten in einem Zimmer ohne Ofen schlafen ...“

„Ich brauche im Sommer keinen Ofen ...“

„Nun“, sagte sie zögernd, „wenn Sie bereit sind, auf gewisse Annehmlichkeiten zu verzichten, so mögen Sie uns in Gottes Namen aufs Land begleiten. Wenn unsere Lebensweise oder, was ich noch mehr befürchte, mein Vater, Ihnen nicht zusagt, dann können Sie uns ja jederzeit verlassen.“

„Oh, ich bin überzeugt, dass Ihr Vater ein ganz vernünftiger Mann ist – wir werden uns bestimmt vertragen. Wann reisen Sie ab?“

„Ich habe vor, München am 24. zu verlassen“, antwortete Frau Rosenberg.

„Liegt die Schmiede Ihres Vaters romantisch?“, fragte Hamilton.

„Romantisch? Nein – sie liegt an der Straße am Ende des Dorfes. Aber ganz in der Nähe gibt es einen schönen alten Eichenwald.“

„Oh ein Eichenwald!“

„Wir haben hinter dem Haus auch einen Garten mit Blumen und Obst. Unter den Bäumen steht eine Laube, wo wir im Sommer frühstücken und nachmittags Kaffee trinken können. Die Laube ist mit Rosen und Efeu bewachsen.“

„Wie hübsch!“, rief Hamilton, der sich im Geist bereits mit Isabelle in der Laube sitzen sah.

„Aber Sie vergessen ganz, dass Sie unbedingt fort wollten wegen eines Termins“, bemerkte Madame Rosenberg mit einem Blick auf ihre Rechnungen.

„Das ist eine höfliche Art, um mir zu sagen, dass ich Sie in Ruhe lassen soll“, sagte Hamilton lachend.

„Keineswegs, aber wenn Sie keine Zeit haben ...“

Hamilton blickte auf seine Uhr und erwiderte: „Ich habe auf jeden Fall noch einige Minuten ...“

„Ein paar Minuten sind gar nichts. So kann ich Ihnen nur noch sagen, dass Sie auf jeden Fall noch einige Tage zu Havard gehen müssen, bis ich hier alles in Ordnung gebracht habe. Isabelle und die Kinder fahren bereits übermorgen.“

„Oh schicken Sie mich auch mit … mit den Kindern fort“, sagte Hamilton eifrig. „Ich wollte, Sie würden in mir wirklich ein Mitglied der Familie sehen.“

„Das geht leider nicht!“, sagte Madame Rosenberg hastig. „Ich muss erst an meinen Vater schreiben und ihm alles erklären. Wenn er Sie kennen würde, würde er nie seine Einwilligung geben, dass Sie bei uns im Haus wohnen.“

„Wieso? Bin ich denn so unangenehm?“, fragte Hamilton überrascht.

„Ganz im Gegenteil! Aber Sie kennen meinen Vater nicht. Kurz, es ist am Besten, es Ihnen gleich zu sagen … Mein Vater war ein ganz gewöhnlicher Schmiedegeselle, aber sehr fleißig und ehrgeizig, und so hat ihm mein Großvater schließlich seine Tochter zur Frau gegeben, um ihn im Betrieb zu halten. Die Schmiede wurde im Laufe der Zeit zu einem Eisenwerk, und er ist jetzt weit und breit der reichste Mann. Aber man sieht es ihm nicht an ...“

„Und weiter?“, fragte Hamilton.

„Nun, ich denke, es ist klar genug, dass ein solcher Mann Sie genau so wenig verstehen wird wie Sie ihn.“

„Das weiß ich nicht, aber ich bin sicher, dass er Verstand und Talent hat, und es wird mich nicht im Geringsten stören, wenn er sich nicht kleidet wie ein englischer Lord.“

„Gut, ich werde ihm das schreiben, das wird ihn sicher beruhigen. Denn sehen Sie … Er arbeitet und isst wie ein gewöhnlicher Handwerker in einem einfachen Hemd, und es ist ihm völlig gleichgültig, wie seine Mahlzeiten serviert werden.“

„Ich habe nichts gegen einfache Hemden“, sagte Hamilton, „solange ich sie selbst nicht tragen muss. Wenn das Ihre einzigen Bedenken sind, dann kann ich sie vollkommen zerstreuen. Schreiben Sie Ihrem Vater am Besten, dass ich gewissermaßen zur Familie gehöre. Sie haben mir versprochen, mich noch sechs Monate zu behalten.“

„Ich werde ihm morgen schreiben und werde sicher in ein paar Tagen eine Antwort erhalten.“

Hamilton wusste, dass er nicht mehr erwarten und verlangen konnte und verließ das Zimmer ruhig und nachdenklich. Isabelle hatte ihre Brüder für den Nachmittagsspaziergang fertig gemacht und wartete auf ihn. Es war ihr zwar nicht erlaubt, mit ihm gemeinsam spazieren zu gehen, aber es gab eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen, dass er in ihrer Nähe ritt oder sich wenigstens während des Spazierganges zeigte.

„Auf die Nymphenburger Straße“, rief Gustel. „Darf ich einen von Ihren Spazierstöcken nehmen?“

„Ja“, antwortete Hamilton, „Isabelle wird euch gleich einen geben, den ihr mitnehmen könnt.“

„Komm, Isabelle“, rief Gustel ungeduldig, „ich will den schwarzen mit dem Pferdekopf haben!“

Aber Isabelle schob ihn beiseite und sagte leicht verlegen zu Hamilton: „Sie waren lange im Zimmer meiner Mutter.“

„Nicht länger als nötig war, um sie dazu zu bewegen, mich mit aufs Land zu nehmen. Wir werden sicher schöne Spaziergänge im Eichenwald machen. Waren Sie schon einmal in diesem Eisenwerk?“

„Nur als Kind“, sagte Isabelle lächelnd. „Ich erinnere mich an den ständigen Lärm der Schmiedehämmer und dass das Haus davon erbebte und die Fenster schmutzig waren.“

„Wir werden uns sicher an den Lärm gewöhnen“, sagte Hamilton.

„Es ist seltsam – die Mama hat mir gesagt, dass sie Sie auf keinen Fall mitnehmen wird – wie haben Sie sie überredet?“

„Das kann ich Ihnen alles erzählen, wenn ich nach Hause komme. Entschuldigen Sie mich, so gut Sie können, wenn ich heute Abend spät kommen sollte.“

„Wohin gehen Sie?“

Er flüsterte ihr etwas zu und eilte davon.

 

Als Hamilton spät am Abend noch nicht zurückgekehrt war, begann Madame Rosenberg unruhig zur Uhr zu blicken, doch der Besuch von Madame Berger lenkte sie ab. Olivia beklagte sich bitter über ihren Mann, der es strikt abgelehnt hatte, Hamilton in seiner Wohnung aufzunehmen.

„Er sagt, dass ich zu jung sei – und er zu oft abwesend sei – und dass die Leute reden könnten! Haben Sie je etwas derart Lächerliches gehört?“

„Ich glaube, dass er recht hat“, sagte Frau Rosenberg, „Sie sind wirklich zu jung.“

„Es wundert mich, dass Ihnen nie aufgefallen ist, dass Ihre Stieftöchter nicht älter sind als ich“, bemerkte Olivia spitz.

„Das ist etwas Anderes“, antwortete Madame Rosenberg. „Wir sind eine Familie mit mehreren Kindern, und wo die Eltern im Hause sind ...“

„So? Und trotzdem hat sich Sophie in Herrn Hamilton ernsthaft verliebt und ...“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“, rief Madame Rosenberg erstaunt.

„Meine eigenen Augen“, erwiderte Frau Berger. „Sie sehen also, dass auch die Gegenwart der Eltern so etwas nicht verhindern kann.“

„Sophie ist jetzt glücklich verheiratet ...“

„Das bin ich auch – auch wenn ich lieber Theodor Biedermann als den Doktor genommen hätte, wie Sie sehr gut wissen. – Du brauchst mich nicht so erstaunt anzusehen, Isabelle. Man könnte beinahe glauben, dass du davon zum ersten Mal hörst, aber Sophie hat es dir natürlich längst erzählt … Mit Ausnahme meines guten alten Doktors gibt es vermutlich niemanden aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, der nicht wüsste, dass ich mir wegen Theo beinahe die Augen ausgeweint hätte.“

„Und du hast es dem Doktor bis heute nicht gesagt?“, fragte Isabelle. „Hast du dich nicht dazu verpflichtet gefühlt ...“

„Nein, Mademoiselle, ich habe mich nicht dazu verpflichtet gefühlt, meinen häuslichen Frieden zu stören“, antwortete Olivia schnippisch. „Ich überlasse es dir, solche Geständnisse zu machen, wenn du erst einmal verheiratet bist.“

„Ich fürchte, auf dem Land wird es nicht viele Heiratskandidaten für Isabelle geben“, sagte Madame Rosenberg. „Unser einziger direkter Nachbar ist der Förster ...“

„Du lieber Himmel!“, rief die Doktorin. „Einen Förster würde Isabelle nicht einmal ansehen, wenn er nicht zufällig ein Graf oder ein Baron wäre. Wenn Herr Hamilton ein Lord oder irgendetwas dergleichen wäre, dann hätte sie nie die geringste Abneigung gegen ihn empfunden, das kann ich Ihnen versichern.“

„Olivia, ich bitte dich!“, rief Isabelle so laut, dass ihre Stiefmutter zusammenzuckte, während Madame Berger theatralisch ausrief: „Meine Liebe, ich weiß wirklich nicht, was dich daran stört, dass ich es ausspreche.“ Und mit einem Blick aus dem Fenster fuhr sie fort: „Sehen Sie, da kommt er gerade, und ich wage zu behaupten, dass er es mit jedem englischen Lord aufnehmen kann. Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe, ein Prachtexemplar von einem Engländer, ein Beau, un amour!“ 

„Olivia, Sie müssen verzeihen, dass ich Sie darauf aufmerksam mache, dass ihre Worte für eine verheiratete junge Frau völlig unpassend sind“, bemerkte Madame Rosenberg vorwurfsvoll.   

„Ach, das ist doch nicht mein Ernst! Haben Sie vergessen, dass ich stets spreche ohne zu denken? Isabelle dagegen denkt vielleicht ohne zu sprechen ...“

„Isabelle denkt sicher nicht in diesen Worten an Herrn Hamilton, meine Liebe“, sagte Madame Rosenberg. „Isabelle, sag ihm bitte, dass wir beinahe zwei Stunden auf ihn gewartet haben, dass das Abendessen fertig ist und dass ich ihn bitte, so wie er ist gleich zu kommen und ausnahmsweise keine Abendtoilette zu machen.“

Isabelle hatte keine Gelegenheit, ihren Auftrag auszuführen, denn Hamilton trat bereits eilig in den Salon und übergab Madame Rosenberg einen schlecht zusammengefalteten Brief, der mit einer Oblate verschlossen war.

„Von meinem Vater?“, rief sie überrascht.

„Ja, er hat nichts dagegen, dass ich Sie begleite. Er meint, es werde ausreichend Platz sein, da Franz in der Schule bleibt.“

Madame Rosenberg überflog hastig den Brief und sagte dann zufrieden: „Sie scheinen ihm wirklich gefallen zu haben. Und da Sie mit den Kindern reisen möchten, muss Isabelle Ihr Zimmer in Ordnung bringen, hörst du, Isabelle?“

„Ja, Mama!“

„Ihr Großvater hat nach Ihnen gefragt“, sagte Hamilton zu Isabelle.

„Er ist nicht mein Großvater – wir sind gar nicht miteinander verwandt“, antwortete sie auf Französisch, worauf Hamilton verlegen errötete.

„Ich verstehe kein Französisch“, sagte Madame Rosenberg, „aber ich kann mir denken, um was es geht. Lies diesen Brief, Isabelle. Mein Vater ist bereit, sich so zu verhalten, als sei er dein Großvater. Verwandele seine Großzügigkeit nicht durch falschen Stolz in Abneigung.“

Sie nahm den Brief und den nicht unverdienten Tadel schweigend hin.

„Ich werde Sie dort draußen besuchen, sobald mir der Doktor die Pferde überlässt“, sagte Madame Berger zu Hamilton.

„Ich bitte Sie, den Doktor mitzubringen“, sagte Frau Rosenberg nachdrücklich, worauf Hamilton lachte. Olivia fragte nach dem Grund, worauf er ihr ohne jede Verlegenheit erzählte, was er heute Nachmittag über sie gesagt hatte.

„Eines ist sicher“, sagte sie dann, „wenn Sie ebenso viele Monate mit mir zusammen gewesen wären wie mit Isabelle, dann hätten wir ...“

„Sie scheinen Ihren Mann zu vergessen“, sagte Madame Rosenberg fast zornig.

„Um die Wahrheit zu gestehen, so vergesse ich tatsächlich manchmal, dass ich verheiratet bin, aber Herr Hamilton ist ein Gentleman, ein Kavalier, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Und jetzt sollte ich wohl am besten nach Hause gehen. Bon soir!“

„Gute Nacht!“, sagte Madame Rosenberg trocken.    

 

20

Nach wenigen Tagen hatten sich Isabelle, Hamilton und die Kinder in ihrem neuen Zuhause halbwegs eingerichtet. Der Lärm des nahen Eisenwerks war allerdings tatsächlich Tag und Nacht zu hören, was Hamilton aber nicht allzu sehr störte, denn in den zwei Wochen vor Madame Rosenbergs Ankunft genoss er den völlig ungezwungenen Umgang mit Isabelle. Er beobachtete sie, wenn sie morgens den Kaffee eingoss, saß am Fenster zum Garten hinaus neben ihr und begleitete sie auf ihren Spaziergängen mit den Kindern im Eichenwald, wo eine kleine Kapelle stand, in der sie täglich betete, während Hamilton am Eingang lehnte, die aufgehängten Votivtafeln betrachtete oder versuchte, die Gebete und Bibeltexte zu entziffern, die an die Wände geklebt waren. Die wilden Knaben sprangen gewöhnlich umher, bis sie weitergingen.

„Ich wollte, ich könnte die nächsten sechs Monate so verbringen wie die letzten vierzehn Tage“, sagte Hamilton, als sie am Abend vor Madame Rosenbergs Ankunft auf dem Heimweg über die Felder schlenderten. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich Ihre Gesellschaft genieße. So freundlich Ihre Stiefmutter auch zu mir ist, so muss ich doch zugeben, dass ich ein wenig Angst vor ihrer Ankunft habe. Es wird sich vieles verändern ...“

„Sie haben nichts zu befürchten außer einer Veränderung der Möbel in Ihrem Zimmer“, antwortete Isabelle lächelnd. „Aber für mich wird sich natürlich einiges ändern. Ich muss jetzt kochen und waschen und plätten lernen. Aber ich kann mich darüber nicht beklagen, andere Mädchen in meiner Lage müssen auch ohne Dienstboten auskommen. Selbst Sophie hat inzwischen plätten gelernt. Haben Sie gesehen, wie sie die Hemden von Major Stutzenbacher geplättet hat, als wir zu ihr gingen, um uns zu verabschieden?“

„Ja, aber er ist ihr Mann, und sie muss es nur tun, wenn sie Lust dazu hat, denn in Wirklichkeit nimmt Walburga ihr diese Arbeiten ab. Sophie machen diese Hausarbeiten vielleicht sogar Spaß, aber für Sie ...“

„Sie haben vermutlich recht, aber ich bin ebenso wie Sophie nur die Tochter eines einfachen Beamten, nicht mehr. Für meine Schönheit kann ich mir nichts kaufen. Falls ich mich bei meiner Stiefmutter nicht wohl fühle, bleibt mir nur die Möglichkeit, eine Stelle als Gouvernante anzutreten, denn als solche bin ich ausgebildet worden.“

„Denken Sie ernsthaft daran, zu unterrichten?“

„Ich habe mir vorgenommen, irgendwann in eine andere Stadt zu gehen, vielleicht sogar in ein anderes Land. Mademoiselle Hortense, meine frühere Lehrerin, würde mir wohl eine Stelle im Elsass besorgen können, wo ihre Familie lebt; ich würde dann wahrscheinlich in Straßburg wohnen.“

Sie schritten schweigend und in Gedanken versunken nebeneinander her, bis sie das Haus erreicht hatten.

„Das ist der letzte Abend, an dem du meine Haushälterin bist, Isabelle“, sagte Herr Wolf, Frau Rosenbergs Vater. „Du hast deine Sache wirklich gut gemacht, ich kann mich nicht beklagen. Sie wird einmal eine gute Hausfrau abgeben, was meinen Sie, Herr Hamilton?“

Isabelle lächelte und gab ihren Brüdern Milch und Brot, half der ungeschickten Magd, das Abendessen aufzutragen, bereitete den Salat, zerlegte das Huhn und reichte jedem mit ruhigen Bewegungen seinen Teller, so dass man nur hin und wieder das Klappern des großen Schlüsselbundes hörte, den sie am folgenden Tag an ihre Mutter abgeben würde.

 

Madame Rosenberg nahm ohne großes Aufhebens Besitz vom Haus ihres Vaters. Sie ließ sich aber nicht davon abbringen, es in einen ordentlichen Zustand zu versetzen, und so begann nach einigen Tagen ein allgemeines Scheuern, Waschen, Putzen und Anstreichen, das Herrn Wolf für einige Tage in das Wirtshaus des Dorfes und Hamilton nach München trieb. Er fuhr ansonsten regelmäßig in die Stadt, kehrte aber stets am Abend wieder zurück. So vergingen drei Monate bis zur Jakobidult in München. Madame Rosenberg nutzte den großen Markt, um einige Besorgungen zu machen und versprach Sophie, am letzten Markttag noch einmal zu kommen und bei ihr zu Mittag zu essen. Unglücklicherweise litt sie an diesem Morgen an einer starken Migräne, so dass sie beschloss, Isabelle und Gustel allein zu schicken. Obwohl sie zunächst darauf bestand, dass sie mit der kleinen klapprigen Kutsche ihres Vaters fahren sollten, ließ sie sich schließlich von Hamilton dazu überreden, die Beiden mit ihm in seiner Kutsche reisen zu lassen.

Sophie empfing sie mit ihrer üblichen kindlichen Begeisterung. Sie wollte auch unbedingt mit auf den Markt, denn ihr Mann hatte ihr Stoff für neue Kleider bewilligt. Sie schlenderten gemeinsam beinahe zwei Stunden zwischen den Buden umher und Hamilton folgte den Schwestern gelangweilt in einigem Abstand, in der Hand kleine Pakete mit Isabelles Einkäufen, als er plötzlich von der Seite an der Schulter gefasst und angesprochen wurde. Er drehte sich überrascht um und erkannte zwei seiner Cousins, die auf der Heimreise von Italien nach England waren und für einige Tage in München Station machten.

„Mensch Alexander, wo hältst du dich denn versteckt? Wir waren schon an deiner angeblichen Adresse, aber dort konnte uns niemand nähere Auskunft geben, wo du steckst. Es hieß, dass deine Briefe regelmäßig abgeholt werden, was uns etwas merkwürdig vorkam, denn die Post schickt Briefe sicher auch nach Wien oder Berlin. Wolltest du nicht eigentlich im Sommer nach England zurückkehren?“

Hamilton fühlte sich einigermaßen überrumpelt und murmelte etwas Unverbindliches.

„Aber du wirst doch sicher den Abend mit uns verbringen?“

In diesem Augenblick erschien sein Reitknecht und verkündete, dass die Kutsche bereit sei. Hamilton befahl ihm, bei den Buden auf der anderen Seite zu warten und antwortete dann etwas verlegen: „Den Abend mit euch verbringen? Natürlich – aber ich habe versprochen, eine Dame nach Hause zu bringen, die außerhalb von München wohnt.“

„Ah – es geht um eine Dame?“

„Sie macht mit ihrer Schwester ein paar Einkäufe.“

„Dann ist das hier vielleicht ein Teil davon“, rief sein Cousin Harry und spähte in eines seiner kleinen Pakete. „Bänder und Haarnadeln! Wo ist sie?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Hamilton gespielt gleichgültig und blickte die Budenreihe entlang.

„Ist es nicht vielleicht das hübsche schlanke Mädchen dort drüben, das zu uns herüberblickt?“

„Ja, erraten“, sagte Hamilton leicht verlegen. „Je eher ich sie jetzt nach Hause gebracht habe, desto schneller werde ich wieder bei euch sein.“

Die Cousins dachten jedoch nicht daran, ihn so einfach zu entlassen, sondern hefteten sich an seine Fersen. Er verabschiedete sich schnell von Sophie und Stutzenbacher und hob Isabelle und ihre Brüder in die Kutsche. Als er die Zügel in die Hand nahm, rief Harry: „Halt, warte! Du hast gar nicht gefragt, wo wir abgestiegen sind – wie willst du uns finden?“

„Ihr seid sicher bei Havard abgestiegen“, sagte Hamilton ungeduldig.

„Ja – warte einen Augenblick, ich will dich etwas fragen.“

Hamilton beugte sich zu seinen Cousins hinunter und flüsterte mit ihnen, wobei er einen verstohlenen Seitenblick auf Isabelle warf, als fürchte er, sie könne etwas von dem Gesagten verstehen. Aber sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und beachtete die Männer nicht. Hamilton ließ die Pferde lostraben und legte ein zügiges Tempo vor; kaum hatten sie München verlassen, warf er die Zügel seinem Knecht zu und stieg über den Sitz, um sich neben Isabelle zu setzen.

„Ich bin überrascht, dass Sie nicht bei Ihren Freunden geblieben sind“, sagte sie lächelnd, „Johann hätte uns auch nach Hause bringen können.“

„Das wäre sicher das Klügste gewesen, was ich hätte tun können. Wirklich zu dumm, dass ich daran nicht gedacht habe. Halt! – Nein, fahr zu! Es ist jetzt zu spät. Das Beste wird sein, nicht nach München zurückzufahren – je weniger sie wissen, desto weniger können sie verraten.“

„Was meinen Sie damit?“

„Das verstehen Sie nicht“, sagte er schnell.

„Nein, ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung, ob Sie nun erfreut waren, Ihre Freunde zu treffen oder nicht.“

„Es sind von Verwandte von mir – Cousins. Einer von ihnen, derjenige der zuletzt mit mir gesprochen hat, ist Harry Woolford, ein guter Freund meines Bruders John, ein echter Nichtsnutz und Abenteurer. Wenn er herausfindet, wo ich bin, wird er morgen dort auftauchen, sich im Wirtshaus einquartieren, meine Pferde nehmen, sich aufspielen, Witze über Ihre Stiefmutter machen, Herrn Wolf tyrannisieren und sich am Ende noch in Sie verlieben.“

„Eine wahre Landplage!“, rief Isabelle lachend.

„Er hat so schon genug mitbekommen – mehr als mir lieb ist“, fügte Hamilton hinzu. „Ich höre schon, wie er über mich herzieht, wenn er mit meinem Vater spricht oder mit Onkel Jonathan. Nein, er darf nicht erfahren, wo ich bin – die nächsten zwei Wochen werde ich auf keinen Fall nach München fahren.“

„Glauben Sie, dass Ihr Vater und Ihr Onkel es missbilligen würden, dass Sie bei uns draußen auf dem Land leben?“

„Glauben? Ich bin mir sicher. Mein Vater würde sagen, dass ich meine Zeit verschwende und mein Onkel, dass ich ein Narr bin.“

Den ganzen Abend über war Hamilton auffallend ruhig und nachdenklich, aber am nächsten Morgen war seine gute Laune zurückgekehrt, und da er vom Fenster aus sah, dass Isabelle mit Papier und Schreibzeug auf die Laube zuging, nahm er ein Buch und folgte ihr. Sie setzte sich an den Tisch und begann etwas feierlich: „Herr Hamilton ...“

„Bitte, nennen Sie mich Alexander – das wünsche ich mir schon lange, und wir sind längst vertraut genug, um uns mit Vornamen anzureden. Ich habe Sie schon immer Isabelle genannt.“

„Das ist sicher eine englische Gewohnheit“, sagte sie.

Hamilton antwortete nicht, denn er wollte ihr nicht sagen, dass er sie und ihre Schwester als Töchter eines Beamten automatisch mit ihren Vornamen angeredet hatte, weil sie gesellschaftlich weit unter ihm standen.

„Nun gut, also – Alexander – was ich Ihnen sagen möchte – es ist sicher das Beste, wenn Sie uns und das Eisenwerk so schnell wie möglich verlassen.“

„Verlassen? Ist das Ihre Antwort auf das, was ich Ihnen gestern auf der Rückfahrt gesagt habe?“

„Ja. Und auch wenn ich nicht erkennen kann, dass Sie sich wie ein Narr benehmen, so ist es doch offensichtlich, dass Sie hier Ihre Zeit verschwenden.“

„Glück ist keine Verschwendung – und ich bin in den letzten Monaten sehr glücklich gewesen.“

„Sie sagten, dass Ihre Cousins etwas verraten könnten ...“

„Haben Sie verstanden, was ich meinte?“, fragte Hamilton schnell.

„Ich kann mir denken, was Sie gemeint haben, und ich wünschte, Ihre Cousins würden tatsächlich hierher kommen, um zu sehen, dass sie sich irren, was unser Verhältnis angeht ...“

„Das würden sie keineswegs sehen, Isabelle, jedenfalls nicht, was mich angeht, und das wissen Sie so gut wie ich. Dass Sie nicht bereit sind, mir mehr als eine gewisse freundliche Zuneigung zu schenken, ist ein Beweis von – von was auch immer … aber ich bin jedenfalls sehr glücklich, dass es so ist“, sagte Hamilton mit erzwungener Ruhe und fühlte sich in diesem Moment zutiefst unglücklich.  

„Denken Sie nicht, dass es besser wäre, wenn Sie uns freiwillig lassen – ehe Ihre Familie es von Ihnen verlangt?“, fragte Isabelle.

„Nein“, antwortete Hamilton entschieden.

„Aber – würden Sie noch länger bleiben, wenn ich nicht hier wäre?“, fragte sie und drehte ihren Kopf zur Seite, um ihre verräterische Röte zu verbergen.

„Zweifeln Sie daran?“, fragte Hamilton ironisch. „Wie könnte ich jemals freiwillig diesen idyllischen Ort verlassen wollen? Mit all seiner landschaftlichen Schönheit? Und der gesellschaftliche Umgang, der wie geschaffen ist, um ...“

„Genug, genug!“, rief Isabelle, indem sie ihre Schreibfeder ergriff und mit glühenden Wangen, aber ohne zu zittern, einen Brief schrieb, während Hamilton sie, im Eingang der Laube stehend, mit einer Mischung aus Zorn und Bewunderung beobachtete. Er wartete, bis sie den Brief unterschrieben hatte und fragte dann, ob das Schreiben ihn etwas angehe.

„Ich könnte leicht ausweichen und Nein sagen, da Sie darin weder direkt noch indirekt erwähnt werden, aber das wäre nicht die Wahrheit. Der Brief ist an Mademoiselle Hortense, denn ich habe beschlossen, von hier fortzugehen – ich werde meine Stiefmutter und das Eisenwerk verlassen.“

„Darf ich ihn lesen?“

„Wenn Sie darauf bestehen ...“

Er nahm den Brief, der auf Französisch geschrieben war. Während er ihre Zeilen las, presste Hamilton die Lippen zusammen. Als er den Brief sinken ließ, zitterten seine Hände und ohne selbst recht zu wissen, was er tat, zerknüllte er ihn und riss ihn dann in kleine Stücke.

„Mein Brief!“, rief Isabelle und sprang auf. „Wie können Sie es wagen ...“ Dann hielt sie inne und sank schwer atmend wieder auf ihren Stuhl.

„Oh, seien Sie wütend auf mich, ich bitte darum! Sagen Sie etwas Beleidigendes, tun Sie irgendetwas – sonst kann ich nicht auf Ihre Verzeihung hoffen. Seien Sie gnädig mit mir!“

„Es war unnötig, diesen Brief in Ihrer Gegenwart zu schreiben … Ich darf mich über Ihre Reaktion nicht beklagen.“

In diesem Moment kam Madame Rosenberg in den Garten.

„Ich komme, um Sie an ein Versprechen zu erinnern, das Sie einer Dame, hoffentlich mit Zustimmung ihres Ehemannes, gegeben haben, Herr Hamilton.“

„Ich kenne keine Dame, die mich an ein Versprechen erinnern könnte, außer vielleicht Madame Berger.“

„Ganz recht. Der Doktor wird morgen nicht zuhause sein und da das Wetter so schön ist, beabsichtigt sie, einen Tag hier bei uns zu verbringen.“

„Nun ...“, sagte Hamilton.

„Nun, und Sophie und der Major lassen fragen, ob Sie sie auch in Ihrer Kutsche mitnehmen würden, wenn Sie Olivia in München abholen.“

„Aber natürlich“, antwortete Hamilton. „Und zwar früh am Morgen.“

„Früh am Morgen?“, lachte Frau Rosenberg. „Sie meinen also gegen zehn Uhr.“

„Nein, ich meine um fünf Uhr.“

„Sie tun so, als ob Sie um vier Uhr aufstehen könnten!“

„Ich kann es und ich werde es. Ich werde bei Sophie frühstücken und hoffe, um sieben München schon wieder zu verlassen – aus verschiedenen Gründen.“

„Wegen des Staubes?“

„Ja, natürlich vor allem wegen des Staubes … Wenn Madame Berger nicht so früh aufstehen will, werde ich Johann später mit dem Wagen schicken, um sie zu holen. Wobei es mir allerdings lieber wäre, wenn sie zuhause bliebe.“

„Das kann ich kaum glauben“, sagte Madame Rosenberg, „Sie haben sich doch immer bestens mit Madame Berger unterhalten. Wenn ich der Doktor wäre, würde ich ihr nicht erlauben, hierher zu kommen.“

„Das würde ich an seiner Stelle auch nicht tun“, sagte Hamilton lachend.

„Soll ich Sophie antworten?“, fragte Isabelle.

Ihre Mutter nickte und verließ den Garten. Isabelle schrieb und Hamilton lehnte wieder an der Laube und sah ihr zu.

„Warten Sie auch auf diesen Brief?“, fragte sie.

„Auf diesen weniger“, antwortete er. „Ich hoffe, dass Sie mir wenigstens glauben, dass es mir lieber wäre, wenn Olivia Berger morgen nicht hierher käme.“

Isabelle antwortete nicht, sondern kritzelte auf dem Löschpapier herum.

„Also glauben Sie mir nicht.“

„Doch, teilweise. Ich glaube, dass Olivia alles tun würde, um Sie … aber ich habe oft Ihre Selbstbeherrschung bewundert.“

„Ich muss mich bei Madame Berger sehr viel weniger beherrschen als Sie vielleicht denken … Aber sie ist auf jeden Fall eine sehr unterhaltsame Person.“

 

21  

Es war wolkenlos und kühl, als Hamilton früh am morgen die Pferde anspannen ließ. Sophie war bereits wach, bedachte ihn zur Begrüßung jedoch mit den Worten: „Sie sind wirklich sehr früh, Xaver ist noch nicht angekleidet, er steht nie vor halb sieben auf. Wir werden mit dem Frühstück aber nicht auf ihn warten. Welche Sammeltasse wollen Sie?“

„Ich kann mich nicht entscheiden“, sagte Hamilton. „Diese ist die größte und jene die schönste. Ich glaube, ich werde beide nehmen, zuerst die eine und dann die andere.“

Sophie lachte und plauderte mit ihm über dies und jenes, bis auch der Major zum Frühstück erschien. Dann fuhren sie bei Madame Berger vor. Sie sprang leichtfüßig in die Kutsche und rief: „Lassen Sie mich sehen, ob Ihre Pferde so schnell sind wie Sie immer behaupten!“

Hamilton war gerne bereit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Zu dieser frühen Stunde waren auf den Straßen nur wenige Kutschen unterwegs und die wenigen, denen sie begegneten, überholten sie mit Leichtigkeit, was Olivia so begeisterte, dass ihr Jauchzen eine Zeitlang die erstickten Schreie der verängstigten Sophie völlig übertönte. Endlich sagte Stutzenbacher: „Herr Hamilton, darf ich Sie bitten, etwas langsamer zu fahren! Meine Frau ist zu sensibel ...“

Hamilton zog die Zügel an, aber den Pferden gefiel das gar nicht und ihr ungeduldiges Tänzeln versetzte Sophie erst recht in Angst und Schrecken, so dass sie auf halber Strecke darauf bestand, die Kutsche zu verlassen und mit dem Major zu Fuß weiter zu gehen.

„Sie sind wirklich ungezogen“, sagte Hamilton zu Olivia, die spöttisch lachte. „Ich werde mich heute so wenig wie möglich mit Ihnen beschäftigen, wer weiß, was Sie noch alles anstellen werden.“

„Sie werden sich natürlich mit mir befassen“, sagte sie energisch. „Sophie muss alles tun, was der Major will, Isabelle geht mir aus dem Weg und ich denke nicht daran, den ganzen Tag mit Madame Rosenberg zu verbringen, die mir Vorträge über meine Pflichten als Ehefrau hält. Wenn Sie nicht höflich zu mir sein wollen, dann kehren Sie um und bringen mich wieder nach Hause.“

„Höflich! Natürlich werde ich höflich zu Ihnen sein, aber ich möchte solche Szenen vermeiden wie die bei Ihrem letzten Besuch – ich musste erklären und entschuldigen ...“

„Und wer hat das Recht, eine Erklärung zu verlangen? Etwa Isabelle?“

„Nein, aber Madame Rosenberg, die zu denken schien ...“

„Kümmern Sie sich nicht um das, was sie denkt. Ich sehe nicht ein, dass wir keinen Spaß haben sollten. Allerdings weiß ich natürlich, dass es Isabelle keineswegs recht ist, dass wir so gute Freunde sind.“

„Ich glaube nicht, dass sie sich groß darum kümmert.“

„Sie kennen sie nicht so gut wie ich. Auch wenn sie sich nichts aus Ihnen macht, ist sie natürlich an Ihre ständigen Aufmerksamkeiten gewöhnt – mit wem sollte sie sonst sprechen? Möchten Sie sie eifersüchtig machen?“

„Eifersüchtig?“, wiederholte Hamilton. War es überhaupt möglich, die schöne  Isabelle eifersüchtig zu machen? Der Gedanke reizte ihn. Sie bestand darauf, für ihn nichts zu empfinden, nichts als Freundschaft – und wenn das wirklich stimmte, dann waren alle Pläne für die Zukunft, alles woran er in stillen Stunden heimlich dachte, letztlich völlig vergeblich, denn er würde doch nur das Schicksal von Graf Zedwitz teilen. Wenn es ihm aber gelänge, sie mit Hilfe von Olivia eifersüchtig zu machen, dann wäre das eine Art Beweis …

„Eifersüchtig!“, wiederholte er erneut.

„Ja, eifersüchtig! Sie könnte natürlich denken, dass es allein an mir liegt, wenn Sie mir Ihre Aufmerksamkeit schenken und sie nicht weiter beachten, aber Sie können ihr das Gegenteil beweisen …“

„Aber was würde Madame Rosenberg sagen?“

„Egal! Ich werde ihr keine Gelegenheit geben, mir eine Predigt zu halten. Sie ist auch zu gutmütig, um es dem Doktor zu erzählen, und Sie werden nicht so dumm sein, es Biedermann zu verraten.“

„Biedermann?“

„Ja, Theo! Er ist wahrscheinlich viel eifersüchtiger als der Doktor.“

„Hätte er das Recht dazu?“

„Natürlich nicht. Aber sehen Sie, ich habe mich an seine Aufmerksamkeiten gewöhnt und kann nicht auf sie verzichten. Er ist manchmal enorm langweilig – aber er liebt mich – und natürlich ist er eifersüchtig. Eine Frau in meinem Alter möchte manchmal auch ein wenig romantisch sein, wissen Sie, und der Doktor hat keinerlei Sinn für diese Dinge … Und wenn man sich einmal an gewisse Vertraulichkeiten gewöhnt hat, dann ist es unmöglich, sie ohne besondere Anstrengung aufzugeben, wozu ich völlig unfähig bin. Ich würde vor Langeweile sterben!“

„Aber haben Sie keine Angst, dass … Herr Biedermann sich mit seiner Rolle nicht für immer abfinden wird?“

„Nein, überhaupt nicht“, sagte Madame Berger. „Er weiß, dass ich ihn früher auf törichte Weise geliebt habe, und wenn ich noch ein bisschen törichter gewesen wäre, dann wäre ich vermutlich mit ihm durchgebrannt und wir wären lebenslänglich unglücklich gewesen. Der Doktor ist ein sehr guter, nachsichtiger Ehemann, aber er hat keine Zeit, aufmerksam zu sein, und da ich keine Kinder habe, die meine Zeit ausfüllen würden, brauche ich jemanden, der mich unterhalten kann. Theodor ist gut erzogen, gebildet, hat gute Manieren, und nichts und niemand wird mich dazu bringen, ihn aufzugeben.“

„Und was ist, wenn sich Biedermann verheiraten sollte?“

„Damit ist in den nächsten Jahren nicht zu rechnen. Aber wenn er heiraten würde, dann würde ich eben einen anderen finden. Sie würden zum Beispiel sehr gut zu mir passen, wenn Sie in München blieben, obwohl ich fürchte, dass Sie mir einige Schwierigkeiten bereiten würden.“

„Das fürchte ich auch“, sagte Hamilton, als er vor dem Eisenwerk anhielt.

Isabelle lief ihnen entgegen, weil sie erwartete, ihre Schwester zu sehen, und sie war sehr überrascht zu hören, was vorgefallen war. Sie erklärte, dass sie ihr entgegengehen wolle. Vielleicht erwartete sie, dass Hamilton sie begleiten würde, aber er tat so, als habe er ihr gar nicht zugehört. Es verging mehr als eine Stunde bis Sophie, Stutzenbacher und Isabelle erschienen. Sie begaben sich in den Garten, um unter den Apfelbäumen Schatten zu suchen. Der Major pflückte einen Strauß Rosen für Sophie und Olivia forderte Hamilton auf, ihr ebenfalls Rosen zu bringen.

„Diesen Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun“, rief er lachend. „Es ist mir verboten worden, ohne Erlaubnis Blumen zu pflücken, seit ich eines Tages ein Dutzend Rosen mit meiner Reitgerte geköpft habe.“

„Sie haben Ihre Strafe verbüßt“, sagte Isabelle lächelnd, pflückte eine halb aufgeblühte Rose und gab sie ihm.

„Ach, genau die hätte ich gern“, sagte Olivia und streckte ihre Hand aus.

„Sie sollen eine andere haben, nicht diese“, antwortete Hamilton.

„Diese und keine andere!“, rief Madame Berger und nach einigem Lachen und Tuscheln gab Hamilton ihr die gewünschte Rose.

Isabelle war überrascht, obwohl es zwischen ihr und Hamilton eine Art stillschweigende Übereinkunft gab, ihre Vertrautheit nicht zu zeigen, wenn Olivia anwesend war.

„Ich habe vielleicht einen schlechten Geschmack, aber meine Lieblingsblume ist die schlichte scharlachrote Geranie – ich sehe leider keine“, bemerkte Madame Berger.

„Die einzige Pflanze, die ich hatte, habe ich Isabelle gegeben, und sie hat sie in Herrn Hamiltons Zimmer auf das Fensterbrett gestellt“, erklärte Herr Wolf.

„Oh, wenn sie Ihnen gehört, dann muss ich gleich eine Blüte davon haben“, rief Olivia und lief auf das Haus zu.

„Warten Sie!“, rief Hamilton und lief ihr nach. Ein paar Minuten später hörte man laute Schreie aus einem der Zimmer.

„Soll ich reingehen und nachsehen, was passiert ist?“, flüsterte Sophie ihrer Schwester zu.

„Nein, besser nicht.“

„Olivia wird mit jedem Tag schlimmer“, sagte Sophie. „Es gefällt Xaver gar nicht, dass sie meine Freundin ist, seit die Leute angefangen haben, über sie zu reden.“

„Worüber reden die Leute denn?“

„Sie sagen, dass Herr Biedermann ständig bei ihr ist, stundenlang – wenn der Doktor nicht da ist ...“

In diesem Augenblick eilte Hamiltons Reitknecht an ihnen vorbei zum Schuppen am Ende des Obstgartens, wo Gartengeräte und Blumentöpfe aufbewahrt wurden. Sophie fragte ihn, was los sei.

„Ich weiß es nicht genau, Fräulein. Ich glaube, Herr Hamilton hat einen Blumentopf auf den Kleiderschrank gestellt und Madame Berger hat ihn dort umgestoßen oder fallen gelassen und jetzt ist er kaputt.“

„Der Blumentopf oder die Blume?“, fragte Isabelle.

„Ich glaube beides, Mademoiselle“, antwortete Johann und eilte zurück ins Haus.

„Wie lange wird sie bei ihm im Zimmer bleiben?“, fragte Sophie.

„Vielleicht bis zur Tischzeit“, sagte Isabelle gleichgültig.

Am Nachmittag gingen sie in den Eichenwald. Hamilton und Madame Berger gingen zügig voran und ließen die beiden Schwestern bald weit hinter sich. Als diese über eine Stunde an der kleinen Kapelle auf ihrer Rückkehr gewartet hatten, kehrten sie alleine nach Hause zurück.

„Nun, Isabelle, was sagst du dazu?“, fragte Sophie und sah ihre Schwester forschend an.

„Nichts!“, antwortete sie ruhig.

„Dann hat Xaver sich doch geirrt. Er sagt nämlich, dass Herr Hamilton in dich verliebt ist und du anfängst, seine Gefühle zu erwidern. Wenn es so wäre, dann müsstest du jetzt entsetzlich eifersüchtig sein wegen Olivia.“

„Dazu habe ich kein Recht!“

„Oh, man denkt in solchen Fällen doch nicht daran, ob man ein Recht dazu hat“, sagte Sophie lächelnd, aber Isabelle schwieg und und ließ keine Gefühlsregung erkennen.

Hamilton und Madame Berger kehrten erst kurz vor dem Abendessen zurück und gaben weder Erklärungen noch eine Entschuldigung ab. Olivia bemerkte allerdings, als sie sich in Isabelles Zimmer das Haar frisierte: „Ich habe wirklich einen sehr angenehmen Tag verbracht. Herr Hamilton ist so amüsant – und galant. Ich muss unbedingt die Efeuranke tragen, die er eigens für mich gepflückt hat.“

Mit diesen Worten flocht sie eine lange dünne Ranke in ihr blondes Haar, schob die Lockenmassen, die ihr ins Gesicht fielen, mit beiden Händen zurück, warf einen zufriedenen Blick in den Spiegel und verließ das Zimmer. Als Isabelle wenig später mit Sophie das Esszimmer betrat, sah sie so ruhig und gelassen aus wie üblich und Hamilton spielte nervös mit seiner Serviette. Olivia beugte sich zu ihm und flüsterte: „Sie hatten recht – Sie bedeuten ihr nicht mehr als eine Tasse Tee.“

Hamilton biss sich auf die Lippen.

„Oh, ärgern Sie sich nicht – Sie können nicht erwarten, bei jeder Frau erfolgreich zu sein. Sie haben sich vermutlich einige Mühe gegeben, ihr zu gefallen und es ist immer unangenehm, wenn man merkt, dass es umsonst war. Sie wartet vermutlich auf einen Märchenprinz auf einem goldenen Schimmel oder irgendetwas in der Art. Der Mann, der in ihren Augen für sie gut genug wäre, wird auf diesem Planeten kaum zu finden sein. Aber wenn Sie Isabelle weiter auf die Probe stellen wollen, dann müssen Sie das alleine tun. Vielleicht hält Sie sie heute für ein Opfer meiner Verführungskünste und glaubt daher, Sie verdienten eher Mitleid als Zorn.“

Schon aus Trotz unterhielt sich Hamilton bei Tisch fast ausschließlich mit Madame Berger. Nach dem Abendessen setzte er sich neben sie auf das Sofa und sie blieben auch dort sitzen, als alle anderen hinaus gingen, um den warmen Juliabend im Garten zu genießen. Es war beinahe Mitternacht, als Sophie schüchtern ins Zimmer trat und verlegen mitteilte, dass sie sich zu sehr vor Hamiltons Pferden fürchte, um mit ihm nach Hause zu fahren, und dass Herr Wolf ihr daher seinen Wagen angeboten habe.

„Seinen Karren meinst du, Liebste“, sagte Olivia spöttisch. „Ich empfehle dir, einige Eisenstangen mitzunehmen, weil die Pferde an das Geräusch gewöhnt sind; sie gehen dann ruhiger, weißt du.“

„Ich dachte, dass du … dass du mich begleiten würdest ...“

„Oh nein, bestimmt nicht, meine Liebe. Dann müsste ja der Major allein mit Herrn Hamilton zurückfahren, denn mehr als zwei Personen passen nicht in Wolfs Karren. Ich fürchte mich übrigens weder vor Herrn Hamilton noch vor seinen Pferden. Er wird es sich sicher nicht nehmen lassen, mich nach Hause zu bringen.“

„Natürlich bringe ich Sie nach Hause, Madame. Es tut mir nur leid, dass Sie nicht mit uns fahren wollen, Sophie. Die Pferde werden jetzt sicher ruhiger sein als heute Morgen.“

„Ich danke Ihnen, aber ich werde auf jeden Fall mit Herrn Wolf fahren. Olivia hat ja deutlich zu verstehen gegeben, dass sie weder meine Gesellschaft noch die von jemand anderem wünscht.“

„Die Strenge deiner Bemerkung treibt mir die Röte ins Gesicht“, erwiderte Olivia spöttisch. „Wie gut, dass es so dunkel ist und man es nicht sehen kann.“ Und leise fügte sie hinzu: „Hat dich Isabelle geschickt oder geht es doch eher um dich?“

„Ich – ich verstehe dich nicht“, sagte Sophie und eilte aus dem Zimmer.

„Lassen Sie Ihren Kutscher vorfahren“, sagte Madame Berger zu Hamilton, „ich muss mir sonst eine Predigt von Madame Rosenberg anhören und ich bin jetzt nicht in der Stimmung für so etwas.“

Die beiden Kutschen fuhren gleichzeitig vor.

„Fahr los, Johann!“, rief Hamilton, nachdem er Olivia in den Wagen geholfen und sich neben sie gesetzt hatte.

Isabelle sah ihnen mit versteinerter Miene und zusammengepressten Lippen nach.

 

Am nächsten Morgen war Hamilton sich nicht mehr sicher, ob sein Verhalten nun klug gewesen war oder eher albern und kindisch. Auf dem Weg zum Frühstückstisch begegnete er Madame Rosenberg, die ihm gleichermaßen erstaunt wie verärgert vorhielt, sich tags zuvor nicht wie ein Gentleman benommen zu haben, worauf er mit einer Mischung aus Trotz und gespielter Gleichgültigkeit reagierte. Er wünschte sich, auf Isabelles Gesicht eine Spur von Ärger oder gekränkten Gefühlen zu entdecken, aber sie enttäuschte ihn erneut. Sie war vielleicht nicht besonders guter Laune, verhielt sich aber nicht wirklich auffällig. Gleich nach dem Frühstück erhielt sie einen Brief, den sie offenbar mit Ungeduld erwartet hatte. Und obwohl er vor Neugier brannte, zu erfahren, von wem er war und was darin stand, wagte er nicht, sie zu fragen.  Als er sie am Nachmittag zu ihrem täglichen Spaziergang erwartete, schickte sie Gustel zu ihm, um ihm zu sagen, dass sie einen langen Brief zu schreiben und keine Zeit zum Ausgehen habe. An den folgenden Tagen half sie ihrer Mutter, Unmengen von Obst einzumachen und überhaupt schien sie ungemein beschäftigt zu sein.

Hamilton wusste, dass die Entfremdung zwischen ihnen seine Schuld war, aber er ahnte, dass Isabelle ihm auch bei einer reumütigen Beichte nicht sofort Absolution erteilen würde. So fuhr er ein paar Tage lang täglich nach München, um sich abzulenken. Etwa eine Woche später, als er gerade Isabelle mitteilte, dass er erst spät zurück kommen werde, weil er in die Oper wollte, trat Madame Rosenberg in sein Zimmer. Sie hielt eine silberne Haarnadel in der Hand und rief triumphierend: „Hier ist Olivia Bergers Haarnadel. Ich habe sie nicht im Garten gefunden, wo sie sie angeblich verloren hat, sondern in Ihrem Zimmer unter dem Kleiderschrank. Anna hat sie entdeckt, als sie den Boden gescheuert hat.“

„Gut möglich“, sagte Hamilton. „Madame Berger ist auf einen Stuhl gestiegen, um an die Geranien zu kommen, die ich auf den Kleiderschrank gestellt hatte, damit sie nicht daran kommt. Sie sprang hoch und ergriff den Blumentopf, landete aber auf dem Rand des Stuhls, so dass er umfiel. Ich war sehr erschrocken, weil sie liegen blieb und jammerte und auch noch eine ganze Weile ganz still auf dem Sofa lag, als ich die armen Geranien umgetopft habe.“

Madame Rosenberg lachte.

„Das sieht ihr ähnlich. Damit wollte sie verhindern, dass Sie sie wegen ihres Übermuts ausschimpfen – und der Trick hat wohl auch funktioniert.“

„Darauf wäre ich nicht gekommen“, sagte Hamilton überrascht.

„Nun, Sie können ihr heute jedenfalls ihre Haarnadel zurückbringen, wenn Sie sie besuchen.“

„Ich gehe nie zu Madame Berger“, sagte Hamilton und war froh, das mit gutem Gewissen sagen zu können. „Aber geben Sie die Nadel doch Johann, er kann sie dann zu ihr bringen, während ich in der Oper bin.“

„Isabelle, mach ihr ein kleines Paket und schreibe ihr ein paar Zeilen“, sagte Madame Rosenberg.

Isabelle nahm die Feder ihres Bruders Gustav und schrieb auf ein Blatt seines Schreibheftes ein paar strenge Worte, die auch nicht durch die Anrede „liebe Olivia“ und ihr gewohntes Duzen gemildert wurden. Hamilton zog ganz in Gedanken seine Handschuhe über und zerrte so daran, dass die Naht aufplatzte.

„Das sind die schlechtesten Handschuhe, die ich je besessen habe“, sagte er und warf sie verärgert auf den Tisch. „Das ist schon das zweite Paar, das mir in den letzten Tagen kaputt gegangen ist.“

„Die Handschuhe sind ganz sicher nicht schlecht“, bemerkte Madame Rosenberg, „Isabelle kann sie Ihnen gleich ausbessern. Seien Sie so gut, versiegeln Sie das Paket und adressieren Sie es an Olivia.“ Damit ging sie aus dem Zimmer.

Isabelle hatte das Malheur mit der geplatzten Naht in der Tat in wenigen Minuten behoben und gab ihm die Handschuhe zurück.

„Erlauben Sie mir, zum Dank Ihre Hand zu küssen – das besiegelt dann hoffentlich unsere Versöhnung“, sagte Hamilton.

„Wir haben uns nicht gestritten, wir müssen uns also nicht versöhnen“, antwortete sie.

„Und doch waren Sie über mich verärgert, da bin ich mir sicher.“

„Ich hätte nicht das Recht ...“

„Aber Sie wissen, was ich meine?“

„Ich … glaube schon“, sagte Isabelle verlegen.

„Sagen Sie mir ehrlich, was Sie über mich gedacht haben.“

„Nun, ich dachte … nach all Ihren Beteuerungen Ihrer Zuneigung zu mir hätten Sie auch warten können, bis Sie wieder in England sind, ehe Sie eine Liebesaffäre beginnen.“

„Das heißt – Sie waren eifersüchtig?“

„Ja – nein – ich weiß es nicht ...“, stotterte sie. „Es hat mich eigentlich nur geärgert, dass Sie sich so auffällig benommen haben, damit ich auf keinen Fall übersehe, wie sehr Sie sich um Olivia bemühen.“

„Ich wollte in der Tat, dass Sie es bemerken“, sagte Hamilton. „Ich hoffte, Ihnen auf diese Weise irgendeine Gefühlsregung zu entlocken, damit ich weiß, ob ich Ihnen wenigstens ein bisschen mehr bedeute als ein Stück Holz.“

„Und Sie haben sich ausgerechnet Olivia Berger anvertraut?“

„Ich habe ihr gar nichts anvertraut. Ich habe nie ein Geheimnis aus meinen Gefühlen für Sie gemacht.“

„Sie wollten also wirklich, dass ich meine Gefühle für Sie oder was Sie dafür halten, öffentlich zur Schau stelle? So benimmt sich kein Gentleman. Hätte ich Ihnen den Gefallen getan, wäre es für Sie nur ein billiger Triumph gewesen. Nein, ich muss Sie enttäuschen: Ich war weder eifersüchtig noch beleidigt. Wir sollten die ganze Sache einfach vergessen.“

„Sie sind aber doch hoffentlich davon überzeugt, dass mir Madame Berger völlig gleichgültig ist.“

„Sie ist Ihnen ebenso gleichgültig wie umgekehrt Sie Madame Berger gleichgültig sind. Sie schmeicheln einander und bestätigen sich in Ihrer Eitelkeit, mehr nicht.“

„Und es stört sie, wenn Sie uns so zusammen sehen?“

„Nein, überhaupt nicht“, sagte sie kühl.

„Gut, ich glaube Ihnen! Sie haben mich davon überzeugt, dass Sie für mich nicht mehr empfinden als Sympathie und Freundschaft und ich werde Sie nicht weiter auf die Probe stellen, versprochen. Es tut mir leid, Ihnen etwas vorgespielt zu haben, aber … vielleicht war es wichtig für mich, Gewissheit zu haben“, sagte Hamilton.

Er nickte ihr zu und zog die Tür hinter sich geräuschlos ins Schloss. Isabelle nahm ein Buch zur Hand, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren feuchten Augen.

 

22

Etwa zwei Wochen später saß Hamilton mit einem Buch in der Laube am Ende des Gartens, als Isabelle mit einem großen Packen Briefe zu ihm kam, den Johann soeben aus München gebracht hatte. Er nahm die Briefe und überflog  kurz die Absender: „Meine Schwester Helen – mein Vater – John – und Onkel Jonathan! Das kann kein Zufall sein. Gehen Sie nicht, Isabelle, bleiben Sie. Vielleicht brauche ich Ihren Rat.“

Sie setzte sich auf die Bank vor der Laube, schloss die Augen und spürte, wie ihr Herz schlug. Wie aus weiter Ferne hörte sie durch das offene Küchenfenster den unmelodischen Gesang der Magd, die gerade das Geschirr scheuerte. Sie dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Sie dachte an nichts. Schließlich setzte sich Hamilton mit seinen Briefen neben sie und sie wartete, dass er etwas sagen würde.

Schließlich sagte er: „In den Briefen steht das, was ich erwartet habe. Ich soll nach England zurückkehren. Was sonst nach darin steht – ist nicht weiter von Belang.“

Er schwieg und spielte nervös mit den Briefumschlägen. Wie könnte er Isabelle erklären, dass sein Onkel ihm anbot, ihm eine größere Geldsumme zu schicken, um eventuelle Ansprüche zu befriedigen, die Isabelle oder ihre Familie gegen ihn haben könnten.

„Wahrscheinlich erwartet man, dass Sie sofort nach England reisen“, sagte Isabelle.

„Nein. Man wünscht, dass ich vorher die Zanders besuche. Ich werde in zwei oder drei Wochen nach Hause zurückkehren.“

„Auf jeden Fall werden Sie uns sehr bald verlassen müssen.“

„Ja, Sie haben recht. Ich kann den Gedanken daran kaum ertragen, aber … ich werde morgen abreisen.“

Er wartete auf ein Wort von ihr, aber sie schwieg. Und so nahm er seine Papiere, stand auf und ging langsam ins Haus. Madame Rosenberg trug seine Ankündigung mit Fassung und bestand darauf, seine Koffer selbst zu packen. Sie befragte ihn zu seinen genauen Reiseplänen und sagte dann: „So leid es mir tut, Sie zu verlieren, aber Ihre Verwandten haben ganz sicher recht, auf Ihrer Rückkehr zu bestehen. Selbst mein Vater hat schon gesagt, dass es ihm völlig unbegreiflich sei, dass man einen jungen Mann mit Ihren Fähigkeiten seine Zeit derart verschwenden lasse.“

„Ich bin nach München gekommen, um mein Deutsch zu verbessern – und das habe ich getan.“

„Das stimmt natürlich, aber Sie haben von Anfang an sehr gut Deutsch gesprochen. Isabelle fällt es zum Glück auch sehr leicht, Sprachen zu lernen, sie spricht und schreibt vor allem ausgezeichnet Französisch und das wird ihr sehr zugute kommen, wenn sie nächstes Jahr ihre erste Stelle in Frankreich antritt.“

„Isabelle wird nach Frankreich gehen?“

„Ich war anfangs sehr dagegen, dass sie ins Ausland geht, aber sehen Sie, hier auf dem Land müsste sie wohl für immer unverheiratet bleiben, und da ihre Schwester eine so gute Partie gemacht hat, so wäre sie sicher nicht damit einverstanden, die Frau eines Försters oder eines Schmiedegesellen zu werden.“

„Nein, sicher nicht“, sagte Hamilton.

„Und so hübsch wie sie nun einmal ist und sicher auch die nächsten Jahre sein wird, so würde es mich nicht wundern, wenn sie in Frankreich jemanden fände ...“

„Da haben Sie ganz recht“, bemerkte Hamilton.

„Oder wenn der alte Graf Zedwitz sterben sollte, so würde sein Sohn vielleicht doch ...“

Hamilton begann, gereizt auf und ab zu gehen.

„Ich sehe, dass Sie das nicht interessiert“, sagte Madame Rosenberg. „Warum sollten Sie sich auch darum kümmern, wen sie heiratet oder wohin sie geht oder was überhaupt aus uns allen wird. In ein paar Wochen werden Sie wieder in England sein und uns schnell vergessen.“

„Kennen Sie mich wirklich so schlecht?“, fragte Hamilton. „Ich werde Sie und die glücklichen Tage, die ich in Ihrem Haus verbracht habe, nie vergessen. Ich werde Ihnen meine Adresse in London dalassen und hoffe, dass Sie und Isabelle mir oft schreiben werden. Wenn Franz in den Ferien nach Hause kommt, dann erwarte ich einen langen Brief.“

Nach dem Abendessen, als Madame Rosenberg nach den Kindern sah, saßen Isabelle und Hamilton schweigend nebeneinander. Beide fürchteten, ungewollt Schwäche zu verraten. Schließlich begab sich Herr Wolf nach unten in sein Schlafzimmer, Madame Rosenberg begann ihren abendlichen Rundgang durchs Haus und Hamilton wünschte allen eine gute Nacht. Er wartete, bis er hörte, dass auch Isabelle in ihr Zimmer ging, dann klopfte er leise und als sie die Tür öffnete, sagte hastig: „Isabelle, ich werde morgen keine Gelegenheit haben, alleine mit Ihnen zu sprechen, deshalb muss ich Sie jetzt bitten, mir alle meine Fehler und Schwächen zu verzeihen und sie zu vergessen.“

„Ich kann mich an keine erinnern“, sagte Isabelle.

„Ich weiß, dass Sie glauben, ich hätte versucht, Ihre Liebe ohne eine bestimmte Absicht zu gewinnen. Das ist wahr – ich meine, das war am Anfang wahr. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich muss aber noch gestehen, dass mir der Ausgang des Antrags von Graf Zedwitz damals nicht leid tat. Ich weiß jetzt auch, dass ich nicht mit Ihnen hätte hierher kommen dürfen – noch weniger hätte ich versuchen sollen, Sie eifersüchtig zu machen oder ...“

„Oh, ich erteile Ihnen für alles Absolution“, unterbrach ihn Isabelle. „Ich hoffe, dass Sie Ihrerseits vergessen, wie oft ich unbeherrscht und zornig war.“

„Das habe ich bereits vergessen. Ich wünschte, ich könnte auch alles andere vergessen, was sich in den letzten elf Monaten ereignet hat. Es waren elf Monate, nicht wahr?“

„Ja, ich glaube“, sagte Isabelle nachdenklich. „Es kommt mir so vor, als wären es elf Jahre gewesen, so sehr hat sich mein Leben in dieser Zeit verändert.“

Das näher kommende Klirren des Schlüsselbundes bewog Hamilton dazu, hastig zu flüstern: „Ich werde mich morgen vor Zeugen von Ihnen nicht so verabschieden können, wie ich es gern tun würde. Ich hätte auch sicher nicht den Mut, Sie nochmals zu bitten, die kleine Uhr anzunehmen, die Sie mir zu Weihnachten wieder zurückgegeben haben. Werden Sie sie jetzt behalten?“

„Ja, wenn es Ihr ausdrücklicher Wunsch ist, obwohl ich etwas weniger Wertvolles als Erinnerung vorgezogen hätte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen auch irgendetwas geben, aber ich habe nichts, gar nichts.“

„Warten Sie“, sagte Hamilton zögernd, „Sie haben etwas, das Sie sehr schätzen, obwohl ich nicht weiß, weshalb, ein kleines rätselhaftes Spielzeug, das ich gern besitzen würde.“

„Sagen Sie, was Sie meinen, und es gehört Ihnen“, antwortete Isabelle.

Er deutete auf das kleine Armband aus schwarzen geflochtenen Haaren, das sie ständig trug.

„Oh, mein Armband!“, rief Isabelle. „Wenn Sie es wünschen – natürlich.“ Hamilton war überrascht, in ihren Augen Tränen zu sehen, als sie sich bemühte, den Verschluss zu öffnen.

„Ich möchte es nur deshalb als Andenken aufbewahren, weil es Ihnen etwas bedeutet“, sagte er entschuldigend. „Aber sagen Sie mir, aus wessen Haaren es angefertigt wurde. Ich hoffe, es sind nicht die von Mademoiselle Hortense.“

„Nein“, sagte Isabelle und hielt es ihm hin.

„Wessen Haare sind es denn?“, fragte er erneut, aber Isabelle zog sich blitzschnell in ihr Zimmer zurück, gerade rechtzeitig, ehe ihre Stiefmutter bei ihnen angekommen war. Sie fand Hamiltons Tür verschlossen und Isabelle angekleidet auf ihrem Bett liegen, den Kopf in ihr Kissen vergraben. Und Hamilton ahnte nicht, dass das Armband, das Isabelle monatelang getragen hatte, aus seinen eigenen Haaren geflochten war, angefertigt zu der Zeit, als er nach seinem Sturz vom Pferd am Kopf verwundet worden war.

Am nächsten Morgen hatte sich die ganze Familie versammelt, um ihn zu verabschieden. Madame Rosenberg wischte sich die Tränen mit einem großen Taschentuch vom Gesicht. Die beiden Knaben waren angesichts der feierlichen Stimmung am Frühstückstisch ganz verstört und wagten nur zu flüstern. Isabelle war bleich wie eine antike Statue. Hamilton schüttelte Herrn Wolf die Hand, umarmte die Kinder und Madame Rosenberg und hielt Isabelles Hand gerade so lange fest, dass es nicht auffällig war und er fühlen konnte, dass sie noch immer aus Fleisch und Blut bestand. Als er sich bei der Abfahrt in der Kutsche umdrehte, um einen letzten Blick auf sie zu werfen, stand sie völlig regungslos auf der Stelle, wo er sie verlassen hatte, und sie stand noch dort, als der Wagen mit Hamilton längst außer Sichtweite war.

 

Spät am Abend des nächsten Tages kam Hamilton in Hohenfels an, wie das Landgut von Baron Zander genannt wurde. Ein schmaler Weg führte an einigen größeren Bauernhäusern vorbei hinauf auf eine Anhöhe. Zu seiner Überraschung bemerkte er, dass er von hier aus in der Ferne den Chiemsee sehen konnte. Er befand sich folglich nur einige Stunden Fahrt von Seeon entfernt. Hamilton hatte sich nicht die Zeit genommen, seine genaue Ankunft per Telegramm anzukündigen, und so traf er die Baronin allein an; der Baron war auf der Jagd und würde erst morgen zurückkommen. Beim Abendessen erzählte ihm die Baronin, dass die Familie Zedwitz entfernt mit ihr beziehungsweise mit ihrem Mann verwandt sei und man sich häufig bei gesellschaftlichen Anlässen begegne.

„Der alte Graf bringt sich, so schnell er kann, mit Schwitzkuren und kaltem Wasser um, das wissen Sie ja. Seine Frau hatte vor ein paar Monaten einen leichten Schlaganfall, von dem sie sich aber einigermaßen wieder erholt hat, Agnes ist verheiratet, und der junge Graf ist aus der Armee ausgetreten und viel auf Reisen – die Gründe dürften Ihnen bekannt sein. Er war einige Wochen lang unser Gast, und es war damals offensichtlich, dass er völlig verzweifelt war. Er hat mir sein Herz ausgeschüttet und stundenlang über die schöne Isabelle gesprochen.“

„Er hat Ihnen also die ganze Geschichte erzählt?“, fragte Hamilton.

„Ja, das hat er, und alles was Sie betrifft auch – jedenfalls alles, was er über Sie wusste. Er schien in Ihnen einen gefährlichen Nebenbuhler zu sehen. Jedenfalls hofft er wohl insgeheim, dass sein Vater demnächst stirbt, denn nach seinem Tod würde er seinen Heiratsantrag wiederholen, wie er damals versicherte.“

„Ich bewundere seine Zuversicht und seine Ausdauer“, sagte Hamilton ironisch, „eine solche Abfuhr, wie man sie ihm erteilt hat, würde ich mir sicher kein zweites Mal abholen wollen.“

„Die Umstände könnten ihm aber entgegen kommen“, erwiderte die Baronin. „Die Liebesgeschichte zwischen Ihnen und Isabelle, sofern es jemals eine gab, wird beendet sein, sobald Sie in England sind. Sie sind ja sicher abgereist, ohne der jungen Dame irgendwelche Versprechen für die Zukunft zu machen. Vermutlich wird sie Ihnen eine Zeitlang nachtrauern, aber sie ist sehr jung und wird im Laufe der Zeit über die Geschichte hinweg kommen. In ein paar Jahren wird es Maximilian vermutlich frei stehen, sich eine Ehefrau nach seinem Geschmack auszusuchen. Warum sollte er dann erneut abgewiesen werden? Er ist ein Mann mit vielen guten Eigenschaften. Und schüchterne Männer erobern das Herz einer Frau oft leichter als wahre Draufgänger. Hinzu kommt, dass Frauen auf das Aussehen viel weniger Wert legen als Männer.“

Hamilton biss sich nervös auf die Lippen. Die Baronin sah ihn forschend an und fragte dann: „Täusche ich mich oder bereitet Ihnen der Gedanke, dass Isabelle den jungen Graf Zedwitz oder vielleicht auch einen anderen heiraten könnte, mehr als nur leichtes Unbehagen?“

„Nein, Sie täuschen sich nicht“, sagte er seufzend. „Da sich Zedwitz Ihnen anvertraut hat, kann ich es wohl auch tun. Ich habe lange versucht, mich selbst zu belügen, aber es hat keinen Sinn – ich habe mich leidenschaftlich und sehr ernsthaft in Isabelle verliebt.“

„Sie sind auch noch sehr jung. Ein paar Monate in London und ein wenig Ablenkung ...“

„Sie irren sich“, sagte Hamilton ernst. „Weder einige Monate noch einige Jahre werden etwas an meinen Gefühlen ändern.“

„Es tut mir sehr leid, das zu hören“, bemerkte die Baronin. „Und da ich Sie damals nach Seeon gelockt habe, muss ich mich wohl auch noch schuldig fühlen.“

„Ich hatte ganz vergessen, dass Ihr Brief letztlich für alles verantwortlich ist“, sagte Hamilton lächelnd. „Aber es wäre alles nur halb so schlimm, wenn Isabelle mich lieben würde.“

„Ach, sie liebt Sie gar nicht?“, fragte die Baronin überrascht.

„Das weiß ich nicht – ich befürchte es. Wenn es Sie nicht langweilt, dann würde ich Ihnen gern ausführlich erzählen ...“

„Warten Sie“, unterbrach sie ihn. „Ich kenne diese Isabelle nur vom Sehen, aber ich kenne Sie ein wenig und habe Kontakt zu einem Ihrer Verwandten gehabt. Deshalb muss ich Ihnen raten, diese ganze Geschichte zu beenden, wenn Sie es noch mit Anstand tun können, und wenn Sie glauben, dass die junge Dame Sie wahrscheinlich gar nicht liebt, dann ist es ganz sicher das Allerbeste.“

„Aber vielleicht hat sie mir ihre wahren Gefühle nur deshalb nicht verraten, weil ich ihr gesagt habe, dass ich sie nicht heiraten kann.“

„Das ist natürlich möglich, sofern sie klug ist. Aber da Sie sie ja nun wirklich nicht heiraten können, wäre es für alle Beteiligten am besten, die ganze Sache so schnell wie möglich zu vergessen.“

„Eine Heirat wäre nicht völlig unmöglich, auch wenn meiner Familie das vermutlich nicht gefallen würde … Ich habe sicher schon einmal meinen Großonkel Jonathan erwähnt, der in Indien ein ansehnliches Vermögen erworben hat, das er durch geschickte Spekulationen in England sogar noch vermehrt hat. Da er keine eigenen Kinder hat und er der Patenonkel meines älteren Bruders John ist, der also eigentlich auch Jonathan heißt, wollte er sein Vermögen eigentlich John hinterlassen. Aber John war ein schlechter Schüler, außerdem war er schon in jungen Jahren ein echter Draufgänger und Tunichtgut, weshalb er mit vierzehn Jahren einen Schulverweis erhielt und Eton verlassen musste. Mein Onkel beschloss daraufhin, mich als seinen Erben einzusetzen. Er übernahm die Kosten für meine Erziehung, kaufte mir ein Pferd, gab mir ein großzügiges Taschengeld und hat auch meinen Aufenthalt in Deutschland ausdrücklich gewünscht. Durch meine Cousins hat er von Isabelle erfahren, die die ganze Sache sicher aufgebauscht haben, um sich wichtig zu machen. Jedenfalls hat er mir geschrieben und mir nahe gelegt, diese Affäre, wie er es nennt, durch Zahlung einer größeren Geldsumme zu beenden! Ich soll ihr Geld anbieten, damit sie auf mich verzichtet … Dabei hatte sie mir selbst geraten, nach England zurückzukehren, um meine Familie nicht gegen mich aufzubringen, schon bevor der Brief eintraf.“

„Und das hat sie getan, ohne irgendwelche Gefühle zu zeigen?“

„Ja – aber man muss wissen, dass sie in einer Klosterschule erzogen wurde, in einem katholischen Internat, in der man ihr beigebracht hat, dass Selbstbeherrschung die höchste Tugend ist und dass es überhaupt unschicklich ist, irgendwelche Gefühle zu zeigen. Es galt als erstrebenswert, alle Gefühlsregungen zu verbergen und nach Möglichkeit ganz zu ersticken. Wenn Isabelle nicht im Grunde eine sehr warmherzige und temperamentvolle Person wäre, hätte diese Erziehung sie völlig verdorben.“

„Aber wenn Sie nach fast einem Jahr immer noch nicht wissen, ob sie sich etwas aus Ihnen macht ...“

„Sie weiß, dass ich als jüngerer Sohn in den nächsten Jahren nicht heiraten kann, weil ich ihr das schon vor vielen Monaten erzählt habe. Bis vor kurzem hatte ich auch wirklich nicht vor, eine womöglich glänzende berufliche Laufbahn für eine Frau zu opfern, und natürlich würde es mir nicht leicht fallen, meine Familie vor den Kopf zu stoßen. Aber mittlerweile bin ich mir meiner Liebe so sicher, dass ich notfalls bereit wäre, mich von meinem Onkel enterben zu lassen und nicht zu meiner Familie nach England zurückzukehren – wenn ich nur wüsste, ob sie meine Gefühle insgeheim erwidert.“

„Verfügen Sie denn über ein eigenes Vermögen, das Ihnen einen solchen Schritt ermöglichen würde?“

„Ich habe fünftausend Pfund, die mir ein entfernter Verwandter hinterlassen hat – das Geld steht mir allerdings erst in einem Jahr zu Verfügung. In England würde ich damit nicht allzu weit kommen, aber das Leben in Deutschland ist deutlich billiger.“

„Trotzdem muss ich Ihnen raten, noch diesen Monat zu Ihrer Familie zurückzukehren, und zwar ohne vorher Mademoiselle Rosenberg einen Heiratsantrag zu machen oder irgendwelche Versprechen zu geben – wenn man jung und sehr verliebt ist, tut man mitunter auch sehr unvernünftige Dinge, die man später bitter bereut. Sie müssten auf jeden Fall ein ganzes Jahr in England verbringen, und in dieser Zeit könnten sich Ihre Gefühle abgekühlt haben oder auch die der jungen Dame, sofern sie denn welche für Sie empfindet.“

„Ein Jahr wird an meinen Gefühlen nicht das Geringste ändern.“

„Natürlich glauben Sie das. Aber Ihr Onkel wird Sie nach Paris schicken, Ihnen eine Menge Geld schicken, Sie werden einer Menge Versuchungen ausgesetzt sein, und schließlich würden Sie an Isabelle schreiben, um ihr mitzuteilen, dass Sie leider nicht die Einwilligung Ihrer Familie bekommen und sie nicht heiraten können, weil sie ihr ein Leben in Armut ersparen wollen, um ihr nicht zu sagen, dass Sie sich in eine andere verliebt haben, die ebenso hübsch ist. Es ist völlig ungewiss, ob sie den jungen Graf Zedwitz Ihretwegen abgewiesen hat, aber als Ihre Verlobte würde sie einen erneuten Antrag natürlich ablehnen. Sie würde ein Jahr lang vergeblich auf Sie warten, bitter enttäuscht werden … Das können Sie ihr durch Vernunft und Einsicht ersparen. Sie wird sicher noch lange an Sie denken, aber ihre Erinnerung wird frei sein von Schmerz. Wenn Maximilian erneut um ihre Hand anhält, wird sie ihm vermutlich sagen, dass sie ihn zwar schätzt, aber nicht liebt – aber sie wird ihn heiraten – und sie wird vermutlich eine gute Ehefrau sein und im Laufe der Zeit wirklich glücklich werden.“

„Nun, vermutlich müssen Sie so sprechen, schließlich sind Sie mit der Familie Zedwitz befreundet“, sagte Hamilton mit einer gewissen Bitterkeit. „Darf ich fragen, was nach Ihrer Vorstellung aus mir wird?“

„Ich sagte bereits, dass Sie einige Zeit ein luxuriöses Leben im Ausland genießen werden, eingeführt in die besten Kreise der Gesellschaft, und in ein paar Jahren werden sie eine Lady Jane oder eine Lady Mary heiraten, die ihnen ebenso gut gefallen wird wie jetzt Isabelle.“

„Man könnte fast meinen, Sie sprächen im Namen von Onkel Jonathan“, rief Hamilton zornig und sprang von seinem Stuhl auf. „Sie werden sicher verstehen, dass ich bereits morgen wieder nach München reisen werden, um Isabelle daran zu hindern, ihre Gouvernantenstelle in Frankreich anzutreten.“

„Ich weiß kaum, was ich sagen soll“, erwiderte die Baronin erstaunt. „Eigentlich habe ich Sie für einen sehr vernünftigen jungen Mann gehalten … Aber ich habe Ihnen selbstverständlich keine Vorschriften zu machen, ich bin weder Ihre Mutter noch sonst in irgendeiner Weise mit Ihnen verwandt. Trotzdem habe ich Sie in gewisser Weise ins Herz geschlossen und deshalb möchte ich Sie bitten, mir irgendwann zu schreiben, um mir den Ausgang Ihrer Liebesgeschichte mitzuteilen.“

 

22

Zwei Tage später war Hamilton wieder in München und auf dem Weg zu Sophie, von der er sich noch nicht verabschiedet hatte. Außerdem hoffte er natürlich, von ihr etwas über Isabelles Pläne für die nahe Zukunft zu erfahren. Walburga öffnete ihm und war hoch erfreut, ihn wiederzusehen. Sie teilte ihm mit, dass „die gnädige Frau“ zuhause sei, der Major den Abend aber wie gewöhnlich im Wirtshaus verbringe.

Als Sophie ihn im Salon empfing, rief sie: „Ich wusste, dass Sie Bayern nicht verlassen würden, ohne sich von mir zu verabschieden! Ich habe es Xaver und Isabelle gesagt!“

„Sie waren also gestern draußen bei Ihrer Mutter?“

„Nein – Isabelle war hier, ehe sie nach Frankfurt abgereist ist, wo die Dame wohnt, die sie nach Südfrankreich begleiten soll.“

Hamilton wurde blass. „Sie ist – jetzt schon abgereist?“

„Ja, gestern. Ich habe die ganze Zeit geweint, als sie sich verabschiedet hat.“

„Und Isabelle?“, fragte Hamilton.

„Sie war sehr ruhig und hat mir versichert, dass sie immer darauf vorbereitet war, demnächst als Gouvernante zu arbeiten. Es mache ihr nichts aus.“

„Dann war sie also gar nicht traurig – das Dorf und das Eisenwerk zu verlassen“, bemerkte Hamilton mit einem gezwungenen Lächeln.  

„Sicher nicht, schließlich waren Sie ja nicht mehr dort“, antwortete Sophie.

„Wie meinen Sie das?“, fragte Hamilton rasch.

„Nun, da Sie der Einzige waren, mit dem sie sich dort unterhalten konnte, hätte sie sich schnell gelangweilt, nachdem Sie abgereist waren.“

„Ich verstehe“, sagte Hamilton. „Hat Sie mich überhaupt erwähnt?“

„Oh ja, wir haben viel von Ihnen gesprochen.“

„Ich habe mir eingebildet, dass ich ihr etwas bedeute ...“, begann er.

„Natürlich bedeuten Sie ihr etwas, das hat sie mir auch gesagt, sie hält sehr viel von Ihnen. Aber sie empfindet für Sie nicht das, was Xaver gedacht hat, als Sie damals mit ihr nach Moosingen gegangen sind. Er sagte damals, dass es sehr unklug von der Mama sei, Sie dorthin mitzunehmen – und dass Sie hätte darauf bestehen müssen, dass Sie das Haus verlassen, als der Papa gestorben ist.“

„Sie wollte, dass ich das Haus verlasse ...“

„Ja, nachdem Xaver mit ihr gesprochen hatte … und er war sehr böse, als er gehört hat, dass Sie doch mit aufs Land gehen. Er sagte ...“

„Was sagte er?“

„Er sagte, dass … dass er sich unter diesen Umständen überhaupt nicht wundern würde, wenn Sie und Isabelle … zusammen ins Heu gingen! Er drückt sich manchmal etwas unanständig aus, wissen Sie.“

Hamilton musste wider Willen lachen.

„Sie denken sicher, dass ich scherze, aber er hat noch ganz andere Dinge gesagt, die ich unmöglich wiederholen kann. Deshalb war ich sehr froh, dass Xaver völlig Unrecht hatte und dass Isabelle Sie nicht auf diese Art liebt … also ich meine, dass sie Sie einfach nur sehr gern hat. Als ich sie einmal fragte, ob sie auf Olivia eifersüchtig sei, hat sie mich ausgelacht.“

„Hat sie das?“, fragte Hamilton.

„Ja. Und obwohl Isabelle nie mit mir darüber gesprochen hat, habe ich doch herausgefunden, wen sie wirklich liebt.“

„Tatsächlich? Wie haben Sie das angestellt?“

„Vorgestern, als Isabelle hier war, kam auch Olivia zu Besuch und machte alle möglichen Bemerkungen über Sie, aber als sie merkte, dass sie Isabelle damit nicht in Verlegenheit bringen oder ärgern konnte, sprach sie plötzlich von Graf Zedwitz. Sie erzählte, dass sein Vater im Sterben liege und dass der Doktor sage, er werde allenfalls noch zwei Wochen leben, dass man seinen Sohn nach Hause gerufen habe … und dass sie Isabelle daher den Rat gebe, München nicht zu verlassen, um ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Heiratsantrag zu wiederholen … sie dürfe vor allen Dingen auf keinen Fall nach Frankfurt gehen, denn wenn Graf Zedwitz erfahre, dass sie eine Stelle als Gouvernante angenommen habe, käme sie für ihn womöglich nicht mehr als zukünftige Frau in Frage.“

„Die arme Isabelle!“, sagte Hamilton. „War sie sehr wütend?“

„Sie wurde sehr blass, aber zu meiner Überraschung wurde sie nicht zornig. Sie dankte Olivia für ihren guten Rat, auch wenn sie nicht die Absicht habe, auf sie zu hören. Sie sagte, sie halte es nicht für eine Schande, eine Gouvernante zu sein – eher für das Gegenteil, weil man eine solche Stelle nur bekomme, wenn man besondere Kenntnisse und eine umfassende Bildung besitze. Und die Meinung des Grafen Zedwitz zu diesem Thema sei ihr im Moment vollkommen gleichgültig … Darauf ging sie aus dem Zimmer und kam erst wieder zurück, als Olivia gegangen war.“

„Aber wie kommen Sie darauf, dass sie Zedwitz liebt?“, fragte Hamilton erstaunt. „Ihre Reaktion spricht keineswegs dafür.“

„Sie haben noch nicht alles gehört“, antwortete Sophie. „Als Olivia weg war, habe ich sie ebenfalls gebeten, nicht diese Stellung anzutreten – aber Sie wissen ja, dass Isabelle nie auf mich hören würde, schon gar nicht in wichtigen Dingen. Als sie sich weigerte, habe ich sie flüsternd gefragt, ob sie glaube, dass Graf Zedwitz sie immer noch liebe … Und sie sagte: Ja, mehr als mich jemals ein Anderer geliebt hat oder lieben wird – mehr als ich es verdiene! Und darauf ging sie zum Fenster und tat, als wolle sie hinaussehen, aber ich sah, dass sie weinte. Ich bin davon überzeugt, dass sie ihn sehr gerne heiraten würde. Ich weiß nur nicht, warum der Gedanke an ihn sie so unglücklich macht. Sie hat immer davon geträumt, einmal einen Graf oder einen Baron zu heiraten ...“

„Wirklich?“, fragte Hamilton zerstreut.

„Ja, sie möchte einen Mann von Rang, mit Vermögen und guten Manieren. Und natürlich soll er sie über alles lieben … und Graf Zedwitz könnte ihr das alles bieten.“

„Da haben Sie völlig recht“, sagte Hamilton. „Und nun wird es Zeit, dass ich gehe ...“

„Aber Sie werden doch wiederkommen? Sie werden sich doch noch von Xaver verabschieden?“

Hamilton schüttelte den Kopf.

„Und Sie gehen wirklich für immer?“, fragte Sophie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Isabelle hat gesagt, dass wir nie wieder von Ihnen hören werden ...“

„Hat sie das?“

„Wenn Xaver zuhause wäre, wären Sie sicher noch etwas länger geblieben. Ich wünschte, er wäre heute nicht ins Wirtshaus gegangen.“

Hamilton war es mehr als recht, dass der Major nicht da war, aber das sagte er nicht. Nachdem er sich wesentlich ausgiebiger und liebevoller von ihr verabschiedet hatte, als er es bei ihrer Schwester gewagt hatte, verließ er eilig das Haus.   

 

Hamilton verließ München am nächsten Tag mit der Eilkutsche nach Frankfurt. Er hatte sich den Platz neben dem Fahrer im vorderen Teil der Kutsche gesichert, der oben offen war, so dass man dort ungestört rauchen konnte. Vor seiner Abreise hatte er noch einmal kurz mit Sophie gesprochen, und dieses Gespräch beschäftigte ihn noch immer, weil es in ihm neue Zweifel und Befürchtungen geweckt hatte. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit interessierte er sich nicht die Bohne für andere Reisende, mit denen er teilweise zwei volle Tage dahinfahren würde, er fragte weder nach Namen noch nach Berufen, und niemand widersprach einem Studenten, der, als er in Würzburg ausstieg, mit einem Blick auf Hamilton sagte: „Der ungeselligste Kerl, der mir je begegnet ist! Ein echter Engländer!“

An jeder Station ging er ruhelos auf und ab, bis die Kutsche wieder zur Abfahrt bereit war, sank dann erneut auf seinen Sitz, und schlief schließlich ein. Als er erwachte, war es finstere Nacht. Kurz darauf rief der Fahrer: „Halt! Wer steigt in Aschaffenburg aus?“

Ein Passagier von hinten meldete sich und Hamilton fragte rasch: „Gibt es hier ein gutes Hotel?“

„Ein sehr gutes.“

„Dann lassen Sie mich auch aussteigen! Meine Füße sind eingeschlafen und mein Rücken tut weh. Hör zu, Johann, du kannst nach Frankfurt weiterfahren und mir im Englischen Hof ein Zimmer reservieren. Gib mir schnell meinen Reisesack und meine Toilettentasche.“

Erleichtert kletterte Hamilton aus der Kutsche, als ein Mann mit einer Laterne zu ihm trat und seinen Pass verlangte.

„Meinen Pass? Bitte!“ Und in Richtung der abfahrenden Kutsche rief er: „Ich werde morgen Mittag in Frankfurt sein, Johann!“

Hamilton hatte kaum seinen Pass abgegeben, als der Mann mit der Laterne in einem nahe gelegenen Haus verschwand.

„Das ist wirklich phänomenal“, sagte er ironisch, „ich habe keine Ahnung, wo dieses Hotel liegt oder wo es heißt.“

„Ich habe einen Karren für Ihr Gepäck, mein Herr“, sagte eine Stimme neben ihm. In einiger Entfernung konnte er außerdem eine Gestalt zwischen Koffern und Schachteln ausmachen.

„Können Sie mir den Weg zum besten Hotel in Augsburg zeigen?“, fragte Hamilton.

„Natürlich kann ich das, mein Herr“, antwortete der Mann und hievte sein Gepäck auf den Karren. „Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich auch noch die Sachen der Dame mitnehmen.“

„Tun Sie das“, sagte Hamilton, der sah, wie sich die kleine Gestalt jetzt in Bewegung setzte.

„Ich danke Ihnen vielmals“, flüsterte die Dame und nahm augenblicklich seinen angebotenen Arm.

Sie folgten einige Minuten schweigend dem Mann mit dem Karren, der pfeifend die dunkle Straße entlang schritt. Auch im Schein einer trüben Straßenlaterne konnte Hamilton von seiner Begleiterin nicht mehr erspähen als einen dunklen Hut und einen schwarzen Schleier.   

„Sie erkennen mich nicht, nicht war?“, sagte die Dame plötzlich mit einer Stimme, die Hamilton sehr bekannt vorkam. Als er stehen blieb, schlug sie den Schleier zurück – es war Isabelle! Es fehlte nicht viel und er hätte sie an sich gezogen und geküsst, aber er beherrschte sich.

Sie erzählte, dass sie mit einer Freundin von Mademoiselle Hortense zunächst bis nach Würzburg gereist sei, die darauf bestanden habe, dass sie einen Tag bei ihr bleibe, um sich auszuruhen. Sie habe ihr auch geraten, nicht die ganze Nacht bis nach Frankfurt durchzufahren, sondern in Augsburg zu übernachten. Hamilton habe sie erst an der Stimme erkannt, als er nach einem Hotel gefragt habe und ausgestiegen sei – vorher hatte er stundenlang kein Wort gesprochen..

„Was für ein wunderbarer Zufall, dass wir in derselben Kutsche saßen!“, rief Hamilton. „Aber wo ist der Gepäckträger mit unseren sieben Sachen?“

Sie liefen rasch die Straße hinab und holten ihn ein, als er eben in einen kleinen Torweg einbog.

 

Am nächsten Tag kamen sie gerade rechtzeitig in Frankfurt an, um im Hotel zu Mittag zu essen. Nach dem Essen sagte Isabelle zu Hamilton: „Jetzt, wo wir uns so unerwartet getroffen haben, werden Sie sicher so gut sein und mich zu meinem Antrittsbesuch bei der Baronin Walldorf begleiten.“

„Sie gehen zur Baronin Walldorf? Das ist ja eine Überraschung!“, sagte Hamilton.

„Wieso – kennen Sie die Baronin? Wissen Sie etwas über sie?“

„Ich habe sie in Edelhof getroffen – der alte Graf Zedwitz ist der Pate ihrer Tochter.“

„Oh, erzählen Sie mir etwas von ihr“, sagte Isabelle. „Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Werde ich sie wohl mögen?“

„Ich habe keine Ahnung … Isabelle, ich möchte Sie ohnehin bitten, diese Stelle nicht anzutreten und zu Ihrer Stiefmutter zurückzukehren. Wenn Sie mir nur zehn Minuten zuhören würden, damit ich Ihnen erklären kann ...“

„Ich kann Ihnen nicht zuhören“, unterbrach ihn Isabelle. „Ich bin eine Verpflichtung eingegangen. Ich habe fest zugesagt, ein Jahr lang bei der Baronin zu bleiben und mit ihr den Winter in Nizza zu verbringen. Nur sie könnte diesen Vertrag ohne Weiteres kündigen. Aber ich möchte gar nicht, dass sie ihn kündigt, ich freue mich auf Südfrankreich.“

Hamilton schwieg.

„Lassen Sie uns gehen“, sagte Isabelle und nahm ihre Handschuhe. „Sie werden gewiss nicht länger versuchen, mir die Stelle auszureden, wenn ich Ihnen sage, dass ich das Leben, das ich bei meiner Stiefmutter führen müsste, nicht ertragen könnte. Meine Gewohnheiten und meine Erziehung machen es mir unmöglich, in so einem kleinen Dorf zu leben. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber die tägliche Hausarbeit und dieses Einerlei öden mich einfach an. In ein paar Monaten würde ich mich fühlen wie eine verdorrte Pflanze. Als Gouvernante kann ich nun wenigstens reisen und vielleicht ein paar interessante Leute kennen lernen.“

Sie nahmen eine Kutsche zur Adresse der Baronin. An der Wohnungstür wurden sie von einem stattlichen Diener empfangen, der ihnen zu ihrer Verblüffung erklärte, Mademoiselle Rosenberg werde nicht erwartet – die gnädige Frau sei gar nicht da, sondern vorgestern nach Mainz abgereist.

„Und – wann kommt sie zurück?“, fragte Isabelle.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mademoiselle. Sie hat einen Brief erhalten und ist sehr plötzlich abgereist. Meistens bleibt sie nur ein paar Tage, manchmal aber auch länger.“

Nach dieser Überraschung beschlossen Hamilton und Isabelle, zu Fuß zum Hotel zurück zu gehen.

„Die Baronin hat sicher einen guten Grund gehabt, so plötzlich nach Mainz zu reisen“, sagte Isabelle.

„Das ist wahrscheinlich“, antwortete Hamilton. „Trotzdem ist es seltsam, dass sie es offenbar versäumt hat, Ihre Ankunft anzukündigen und entsprechende Anweisungen zu erteilen. Immerhin hat sie Sie in ihr Haus bestellt.“

„Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt tun soll“, sagte Isabelle seufzend. „Diese Sache ist äußerst unangenehm. Wenn die Baronin nicht in ein paar Tagen wieder hier ist, habe ich kein Geld mehr, um weiter das Hotelzimmer zu bezahlen und auch kein Geld mehr für die Heimreise.“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, ich kann die Kosten selbstverständlich für Sie auslegen und dann später mit Ihrer Mutter abrechnen. Aber natürlich werde ich Sie nicht verlassen, bis Sie entweder Ihre Stelle bei dieser gedankenlosen Dame angetreten haben oder wieder sicher in München sind. Und wenn Sie mich fragen, so kann die Baronin gerne sechs Wochen in Mainz oder anderswo verweilen.“

 

23

Während Hamilton am folgenden Tag nach dem Mittagessen zu seinem Bankhaus ging, blieb Isabelle in ihrem Hotelzimmer. Sie blickte aus dem Fenster und sah, wie zwei Reisekutschen fast gleichzeitig vor dem Portal hielten. Aus der ersten sprang ein großer kräftiger Mann, der zum Gruß kurz zwei Finger an seine Reisemütze legte und augenblicklich verschwand. Der Diener folgte seinem Herrn eilig in das Hotel. Von Neuem war das Knallen von Peitschen und das Trappeln von Hufen zu hören, und eine zweite größere Kutsche traf ein. Aus ihr  stieg ein langer magerer Herr mit grauem Mantel, grauem Hut, grauer Hose, grauen Gamaschen und grauem Backenbart – offensichtlich ein Engländer. Eine ältere Dame, deren Gesicht durch einen Hut mit Spitzenschleier halb verdeckt war, folgte ihm. Auch zwei junge Mädchen entstiegen dem Wagen.

Isabelle blickte zur Uhr. Alexander würde sicher bald zurück sein. Sie verließ daher ihr Zimmer und ging die Treppe hinab zur Eingangshalle, in der aber so viele Reisende und Diener einander im Wege standen, dass sie sich in das große Speisezimmer flüchtete, das um diese Zeit normalerweise leer war. Nur ein Herr saß noch an einem der langen Tische. Isabelle trat an das große Fenster, ohne ihn zu beachten. Als ein Kellner mit Obst und Konfekt eintrat, sagte der Gast etwas ungeduldig: „Hat mein Diener noch nicht gegessen? Sagen Sie ihm, dass er sich beeilen soll – er weiß, dass wir wenig Zeit haben.“

Seine Stimme kam Isabelle bekannt vor. Sie drehte sich um und wurde sofort von Graf Zedwitz erkannt, der erstaunt ausrief: „Mademoiselle Rosenberg, was in aller Welt hat Sie nach Frankfurt geführt?“

„Ich bin hier, um meine Stelle als Gouvernante bei der Baronin Walldorf anzutreten. Allerdings ist sie leider nach Mainz abgereist und ...“

„Bei der Baronin Walldorf? Wie seltsam … Sind Sie etwa allein hier? Ich würde natürlich bleiben, wenn ich könnte, aber das ist unmöglich. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, dass mein Vater im Sterben liegt. Es besteht keine Hoffnung auf seine Genesung und ich muss mich beeilen, um ihn noch lebend zu sehen.“

In diesem Moment trat der Diener ein und meldete, dass der Wagen bereit sei.

„Danke – du kannst gehen. Isabelle … ich wollte sagen, Mademoiselle Rosenberg … bleiben Sie nicht hier … gehen Sie nicht zu Ida Walldorf … glauben Sie mir, dass Sie bei ihr sehr unglücklich werden würden.“

„Fangen Sie nicht auch noch damit an … Wie kommen Sie darauf, dass ich unglücklich sein würde? Ich habe mich lange darauf vorbereitet, Gouvernante zu werden.“

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie ausfrage“, sagte Zedwitz schnell, „aber darf ich fragen, wie Sie die Bekanntschaft der Baronin gemacht haben?“

„Ich kenne sie gar nicht, ich habe sie noch nie gesehen. Mademoiselle Hortense, eine Lehrerin meines Internats, hat erfahren, dass sie eine Gouvernante sucht.“

„Kennt die Baronin Ihren Namen?“, fragte Zedwitz.

„Das weiß ich nicht“, antwortete Isabelle überrascht. „Ich denke doch, dass Mademoiselle Hortense ihr alles Nötige über mich mitgeteilt hat. Aber da sie mit meinem Namen sicher nichts weiter anfangen kann ...“

„Vielleicht irren Sie sich … Ich fürchte, dass die Baronin … nicht so schnell zurückkehren wird.“

„Aber ihr Diener sagte, dass sie selten lange weg bleibt“, bemerkte Isabelle.

„Sie hätte überhaupt nicht abreisen dürfen, wenn sie Sie erwartet“, rief Zedwitz ungewohnt heftig.

„Ich war auch sehr überrascht. Aber vielleicht hat sie Mademoiselle Hortenses Brief nicht rechtzeitig erhalten ...“

„Ich bin sicher, dass sie ihn rechtzeitig erhalten hat … Mademoiselle Rosenberg, bleiben Sie nicht länger hier … kehren Sie zu Ihrer Familie zurück … kommen Sie mit mir nach München!“

Isabelle errötete.

„Ich werde meinen Diener mit der Kutsche schicken“, fügte er schnell hinzu, „und Sie können mit der Postkutsche reisen oder wie Sie es wünschen.“

„Sie sind sehr freundlich“, sagte Isabelle, „aber ich gehe davon aus, dass die Baronin Walldorf mich engagiert hat und solange ich nichts von ihr gehört habe ...“

„Sie werden nichts von ihr hören … Sie wird Ihnen nicht schreiben“, rief Zedwitz ungeduldig. „Ich kann nicht länger hier bleiben … ich kann meine Heimkehr unmöglich verzögern.“

Isabelle wollte ihm von Hamilton erzählen, aber sie fand keine Worte, und ihre Verwirrung wuchs von Minute zu Minute.

Die Tür wurde geöffnet, es kamen Bedienstete herein, und Zedwitz fügte leise hinzu: „Gott verzeihe mir, dass ich in diesem Moment an etwas anderes denke als an meinen Vater, der auf dem Sterbebett liegt. Aber ich muss und will Ihnen sagen, dass meine Gefühle für Sie sich nicht verändert haben. Kehren Sie zu Ihrer Familie zurück und lassen Sie mich hoffen, dass Ihre Abneigung oder Ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber im Laufe der Zeit ...“

„Glauben Sie mir, es ist weder das eine noch das andere“, sagte Isabelle. „Es ist nur … ich muss Ihnen sagen, dass ich … dass ich einen Anderen liebe.“

„Hamilton?“

Isabelle schwieg.

„Wenn Sie inzwischen mit ihm verlobt sind, dann sagen Sie es mir – dann weiß ich, dass ich meine Hoffnungen für immer aufgeben muss.“

„Wir sind nicht verlobt … Er kann sich nicht verloben … Er weiß nicht einmal … Er weiß nichts von meinen Gefühlen.“

„Liebe Isabelle … ich meine Mademoiselle Rosenberg … ich fürchte, Herr Hamilton wird Sie sehr bald vergessen, wenn er erst wieder in England ist“, sagte Zedwitz eindringlich. Und nach einer kurzen Pause: „Es tut mir sehr leid, aber ich muss gehen. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern und doch nach München zurückkehren.“

Er nahm ihre Hand, küsste sie leidenschaftlich, drehte sich um und eilte aus dem Raum.

 

Nachdem Isabelle eine weitere halbe Stunde auf Hamilton gewartete hatte, kehrte sie in ihr Hotelzimmer zurück. Es vergingen weitere Stunden und allmählich wurde sie unruhig. Sie saß am Fenster und spähte hinaus in die Dämmerung. Ihr Herz wurde schwer und das Gefühl der Einsamkeit überwältigte sie. Endlich klopfte es an ihrer Tür und sie sprang erleichtert auf. Es war jetzt so dunkel im Zimmer, dass Hamilton nicht sehen konnte, dass sie geweint hatte.

„Soll ich die Lichter anzünden?“, fragte sie.

„Wenn Sie es möchten – aber mir ist die Dunkelheit lieber“, sagte er. Er wollte vermeiden, dass sie in seinen Augen etwas lesen könnte, was er ihr verschweigen wollte.

Sie setzte sich neben ihn und fragte nach einer Pause: „Sie waren lange weg. Gab es Schwierigkeiten mit der Bank?“

„Nein, überhaupt nicht.“

Nach einer weiteren Pause sagte er: „Ich habe gehört, dass die Baronin Walldorf ein Haus in Mainz besitzt. Es könnte also durchaus sein, dass sie länger dort bleibt. Mainz ist von Frankfurt allerdings nicht allzu weit entfernt.“

„Halten Sie es für nötig, dass ich ihr dorthin folge?“

„Es wäre vielleicht nicht nötig, aber es ist vermutlich kein Fehler. Wer weiß, wann Sie je wieder Gelegenheit haben, Mainz und den Rhein zu sehen.“

„Oh, ich würde zu gerne einmal eine Fahrt auf dem Rhein machen“, sagte Isabelle sehnsüchtig.

„Was mich angeht, so können wir gleich morgen aufbrechen“, erklärte Hamilton.

„Aber die Kosten ...“, sagte Isabelle zögernd.

„Denken Sie nicht daran. Ein Hotelzimmer in Mainz kostet nicht mehr als eines in Frankfurt.“

„Vielleicht sollte ich an meine Mutter oder an Mademoiselle Hortense schreiben ...“

„Es würde Tage dauern, bis Sie eine Antwort erhalten würden. Es sollte eigentlich auch nicht besonders wichtig sein, ob Sie sich der Baronin Walldorf nun in Frankfurt oder in Mainz vorstellen. Außerdem reisen Sie nicht allein.“

„Ja, vermutlich haben Sie recht. Natürlich wäre es unmöglich, mit Ihnen zu reisen, wenn wir nicht schon ein Jahr lang zusammen in einem Haus gelebt hätten, es wäre unschicklich. Aber so … Als mir Graf Zedwitz heute vorschlug, mit ihm nach München zurückzukehren ...“

„Zedwitz! Heute?“, wiederholte Hamilton erstaunt.

„Ja, er war heute Mittag hier, ich bin ihm durch Zufall begegnet … Er ist auf der Rückreise nach Edelhof und hat hier gegessen und die Pferde gewechselt. Er hat kurz mit mir gesprochen. Er riet mir ausdrücklich davon ab, meine Stelle bei der Baronin Walldorf anzutreten und schien seltsamerweise zu denken, sie sei absichtlich vor meiner Ankunft abgereist.“

„Das wäre seltsam, aber nicht ausgeschlossen … Hat er Ihnen den Grund für seine Vermutung genannt?“

„Nein, er hatte keine Zeit. Sein Vater liegt im Sterben, er hatte es deshalb sehr eilig, nach Hause zu kommen. Ich konnte ihm nicht einmal sagen, dass Sie hier sind ...“

„Isabelle, lassen Sie uns nach Mainz gehen“, sagte Hamilton nachdrücklich.

„Morgen früh, wenn Sie wollen ...“

„Nicht morgen früh – heute Abend – in einer Stunde – in einer halben Stunde!“

„Aber – es ist schon spät – es ist dunkel … Man hat mir gesagt, dass ich nie bei Nacht reisen soll. Ich habe aus diesem Grund in Aschaffenburg übernachtet.“

„Natürlich sollte eine junge Dame nachts nicht allein reisen, nicht in einer öffentlichen Kutsche.“

„Ich wüsste aber wirklich nicht, warum wir schon heute Abend reisen sollen ...“

„Reicht es, wenn ich Ihnen sage, dass Sie mir damit einen großen Gefallen tun würden?“

„Sie werden sicher gute Gründe für diesen Wunsch haben?“

„Natürlich habe ich gute Gründe“, antwortete Hamilton.

Was sollte er ihr sagen? Er wollte ihr nicht verraten, dass er heute Nachmittag unverhofft das Wappen seiner Familie auf einer Kutsche im Hof des Hotels entdeckt hatte und dass er einen Diener, der mit dem Gepäck beschäftigt war, ausgefragt und erfahren hatte, dass sein Onkel James mit Frau und Töchtern auf dem Weg zur Kur nach Baden-Baden sei. Da Hamilton um jeden Preis eine zufällige Begegnung vermeiden wollte, war er stundenlang in Frankfurt umher spaziert bis die Dämmerung hereinbrach, weil er sicher war, dass die Familie seines Onkel sich jetzt den Tee servieren ließ. Aber er musste damit rechnen, dass er ihnen spät am Abend im Hotel begegnen würde oder morgen früh, man würde ihn nach seiner Begleiterin fragen, auf jeden Fall konnten sie seinen Namen und ihren im Gästebuch entdecken …

Hamilton holte kurz tief Luft, dann sagte er: „Ich möchte aus bestimmten Gründen morgen früh sehr zeitig in Mainz sein.“

„Aber würde es nicht reichen, wenn wir gegen vier Uhr morgens abreisen?“

Hamilton unterdrückte ein Seufzen, aber er wusste, dass jedes Bestehen auf einer sofortigen Abreise nur Isabelles Misstrauen schüren würde. So nickte er kurz und betonte, dass er pünktlich um vier Uhr vor ihrer Tür stehen werde.

 

Es war früh am Morgen, als Isabelle und Hamilton in Mainz eintrafen. Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel erklärte Hamilton, er halte es für ratsam, Erkundigungen über die Baronin Walldorf einzuholen, ehe Isabelle ihren Antrittsbesuch bei ihr mache. Nach einer Stunde kehrte er zurück und rief: „Das ist wirklich ein sehr merkwürdiges Benehmen!“

Isabelle sah ihn erschrocken an: „Was ist passiert? Haben Sie mit ihr gesprochen?“

„Nein, das war nicht möglich – sie ist bereits wieder abgereist – ohne eine Nachricht für Sie zu hinterlassen.“

„Es muss irgendein Irrtum vorliegen, vielleicht erwartet sie mich erst nächsten Monat … Ich habe den Brief gelesen, den sie an Mademoiselle Hortense geschrieben hat. Sie schien sich auf mein Kommen zu freuen, auch wenn sie bedauerte, dass ich nicht ein paar Jahre älter sei, aber auf jeden Fall wolle sie mich für mindestens ein Jahr behalten … und jetzt scheint mich niemand zu erwarten. Sie scheint völlig vergessen zu haben, dass sie eine Gouvernante bestellt hat. Es ist völlig unbegreiflich!“

„Sie ist nach Bad Ems gegangen – das ist nicht weit von Koblenz“, sagte Hamilton.

„Sie wollen mir doch sicher nicht raten, sie noch weiter zu verfolgen“, rief Isabelle entrüstet.

„Keineswegs. Ich habe Ihnen geraten und ich rate Ihnen immer noch, nach München zurückzukehren.“

„Trotzdem will ich noch einen Versuch machen, wenn auch mit dem größten Widerwillen“, sagte Isabelle. „Es wäre wirklich mehr als ärgerlich, wenn ich diese Reise völlig umsonst gemacht hätte. Aber ich könnte vielleicht an die Baronin schreiben ...“

„Schreiben Sie“, sagte Hamilton, „wir können hier auf die Antwort warten. Mainz ist eine recht hübsche Stadt, in der man ohne Weiteres zwei oder drei Tage angenehm verbringen kann.“

Isabelle schrieb den Brief, ehe sie mit einem gemieteten Fremdenführer einen kleinen Rundgang durch die Stadt unternahmen. Als sie den Rheinweg entlang gingen, erregte ein offenbar nagelneues Dampfschiff ihre Aufmerksamkeit. Ein großes Plakat verkündete, dass es am nächsten Morgen ablegen werde, mit dem Ziel Köln. Es war offensichtlich möglich, das Innere des Schiffes zu besichtigen. Der Kapitän schien von Isabelles Schönheit beeindruckt zu sein und übernahm die Führung persönlich. Nach verschiedenen ausführlichen Erklärungen zu Kabinen und Technik fragte er, ob sie morgen zu seinen Passagieren gehören würden.

„Wir sind noch nicht ganz entschlossen“, sagte Hamilton und lächelte über Isabelles Verlegenheit.

„Wir werden schönes Wetter haben“, bemerkte der Kapitän, „und schon am Abend in Köln sein.“

„Ich glaube nicht, dass es eine angenehmere Art gibt, in dieser Jahreszeit zu reisen“, sagte Hamilton leise auf Französisch zu Isabelle.

„Ich fürchte, es wäre sehr unpassend … es wäre unschicklich, wenn ich weiter mit Ihnen reise ...“

„Dieses Dampfschiff ist nichts anderes als ein schwimmendes Hotel, wir sind darauf nicht allein“, antwortete Hamilton ruhig. „Und wenn ich daran denke, dass wir bereits ein ganzes Jahr unter einem Dach gelebt haben und Sie in mir vermutlich so etwas wie einen Verwandten sehen ...“

„Das stimmt“, sagte Isabelle, „aber trotzdem ...“

„Vergessen Sie nicht, dass Sie frühestens in drei Tagen eine Antwort auf Ihren Brief erhalten werden. Und ob wir die folgende Nacht in Köln oder in Mainz verbringen, ist völlig gleichgültig. Ich möchte Ihnen zu gern den Rhein zeigen, den Sie sonst vielleicht nie sehen werden. Es würde mir sehr viel bedeuten, eine solche Fahrt auf dem Rhein mit Ihnen zu unternehmen, an die ich in England mit Freude zurückdenken kann ...“

Die letzten Sätze sprach Hamilton halb pathetisch, halb flehend, und Isabelle gab ihren Widerstand gegen seine Pläne auf, die ihren eigenen geheimen Wünschen so entgegen kamen.

 

Hamilton und Isabelle stiegen im Hotel Bellevue in Köln ab.

„Was für ein hübsches Zimmer!“, sagte Isabelle, als ihr Gepäck gebracht wurde. „Von hier hat man eine wunderbare Aussicht auf den Rhein. Ich würde wirklich eine Woche bleiben, wenn ich könnte.“

„Ich hätte nichts dagegen“, sagte Hamilton lachend, „obwohl ich gerade erfahren habe, dass so viele Fürsten und Herzöge im Haus sind, dass ich auf dem Sofa in diesem Zimmer schlafen muss, wenn Sie nichts dagegen haben, weil nur diese eine Suite noch frei ist.“

In diesem Augenblick klopfte es und der Kellner trat ein und fragte, ob der Herr mit seiner Gemahlin hier oder an der table d'hôte zu Abend essen wolle.

„Hier“, sagte Hamilton und drehte sich verlegen zu Isabelle um, die dem Kellner mit verstörtem Blick nachsah.

„Hat Sie der einfältige Irrtum des Kellners so sehr erschreckt?“, fragte er mit gespielter Naivität.

„Das war kein einfältiger Irrtum, sondern eine ganz logische Annahme.“

„Sie meinen wegen des Zimmers? Keine Sorge, ich werde Ihnen die Suite allein überlassen und versuchen, ein Zimmer in einem anderen Hotel jenseits des Rheins zu bekommen.“

„Ich fürchte, Sie halten mich für sehr egoistisch“, sagte Isabelle.

„Ganz und gar nicht.“

„Dann für übertrieben prüde.“

„Ein wenig.“

„Sie haben recht“, sagte sie seufzend, „nachdem ich mit Ihnen auf diese … diese höchst leichtsinnige Weise gereist bin, ist jeder Versuch, prüde zu erscheinen, töricht und lächerlich. Es hindert Sie nichts, in diesem Zimmer zu schlafen, wenn Sie nicht fürchten, dass das Sofa zu unbequem ist.“

„Doch, es hindert mich etwas – nämlich, dass Sie es nicht möchten. Ich werde mich gleich auf den Weg über die Brücke machen ...“

„Wollen Sie nicht lieber bis nach dem Abendessen warten?“

„Nein, es ist sicher besser, wenn ich ...“

In diesem Moment trat der Kellner mit dem Abendessen ein und sie setzten sich etwas verlegen an den Esstisch. Sie hatten kaum ihre Servietten niedergelegt, als der „einfältige“ Kellner wieder erschien und erklärte, dass gleich ein Musikkorps im Garten spielen werde – vielleicht wünsche die gnädige Frau, dass für sie ein Tisch und ein Stuhl frei gehalten werden? Hamilton lehnte das Angebot freundlich ab, ohne Isabelle anzusehen, nahm dann seinen Hut und seine Jacke und eilte aus dem Zimmer. Gut eine Stunde später kehrte er schlecht gelaunt zurück, und seine Laune besserte sich auch nicht durch die Tatsache, dass Isabelle sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und die Tür verschlossen hatte. Er ging einige Minuten ruhelos auf und ab und klopfte dann.

„Gute Nacht!“, rief Isabelle.

„Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass in keinem annehmbaren Hotel in der Nähe ein Zimmer zu bekommen war. Unser Dampfschiff legt morgen sehr früh ab und da ich so leicht verschlafe, hielt es für das Beste, Sie zu fragen, was ich tun soll.“

„Das tut mir sehr leid ...“, begann Isabelle.

„Mir auch!“, sagte Hamilton. „Aber da es nun einmal nicht zu ändern ist, wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht noch für eine Stunde herauskommen, um mit mir zu plaudern.“

„Ich gehe gerade zu Bett – ich bin müde!“

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Zigarre rauche, wenn ich das Fenster öffne?“

„Überhaupt nicht. Sie können ein Dutzend rauchen, wenn Sie wollen.“

Hamilton öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um das Schauspiel im Garten zu beobachten, der voller Menschen war und mit Kerzen erleuchtet wurde, die durch Glaskugeln vor dem Wind geschützt wurden. Das Murmeln der Stimmen und leises Gelächter drangen zu ihm herauf, und wenn er nicht immer noch gehofft hätte, Isabelle doch noch zu sehen, dann wäre er wohl hinunter gegangen. Nicht in der Hoffnung auf ein besonderes Vergnügen, sondern um sich abzulenken und die unangenehmen Gedanken zu verdrängen, die ihn in einen Zustand nervöser Gereiztheit versetzten. Isabelles bei ruhiger Überlegung mehr als verständliches Verhalten ärgerte ihn – es stand einfach in zu großem Gegensatz zu seinem eigenen fieberhaften Verlangen. Die alte Eifersucht auf seinen Rivalen Zedwitz stieg wieder in ihm auf. Es war mehr als wahrscheinlich, dass Isabelle ihre Stellung als Gouvernante bald hassen würde. Wenn Zedwitz im richtigen Moment auftauchen und erneut um ihre Hand anhalten würde – was sollte sie daran hindern, seinen Antrag erleichtert anzunehmen. Hatte sie nicht selbst gesagt, dass er sie mehr liebe als jeder Andere, mehr als sie es verdiene? Die quälenden Gedanken ließen ihm keine Ruhe, er ging unruhig im Zimmer auf und ab. Schließlich klopfte er erneut.

„Isabelle, das Musikkorps wird gleich im Garten spielen – wollen Sie nicht herauskommen, um zuzuhören?“

„Nein, ich danke Ihnen.“

„Aber Sie sind doch sicher noch nicht zu Bett gegangen?“

Sie antwortete nicht.

„Sie sind doch sicher noch auf? Ich möchte mit Ihnen sprechen – öffnen Sie bitte die Tür … Ich flehe Sie an!“

„Sie können morgen mit mir sprechen.“

„Ich möchte es Ihnen jetzt sagen.“

„Und ich möchte es lieber morgen hören.“

Hamilton wusste, dass es sinnlos war, sie weiter zu bedrängen. Er ging zurück zum Fenster und stand dort über eine Stunde, in Gedanken versunken, ohne von dem Geschehen im Garten viel mehr mitzubekommen als einige vom Wind verwehte Musikstücke. Er schloss das Fenster, sah sich deprimiert in dem Zimmer um, das als Schlafgemach wenig Bequemlichkeit verhieß, löschte die Lichter und warf sich der Länge nach auf das Sofa. Aber an Schlaf war nicht zu denken, denn die Ungewissheit, ob Isabelle etwas für ihn empfand oder nicht, zehrte an seinen Nerven. Er wollte nicht bis morgen warten, um es zu erfahren. Isabelle hatte nicht das Recht, ihn auf diese Weise zu quälen. Er stand auf und tastete sich durch das dunkle Zimmer bis zu ihrer Tür. Er klopfte erneut und sagte leise: „Isabelle, ich kann nicht schlafen.“

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie. Offensichtlich war sie noch wach. „Wahrscheinlich ist es das Sofa ...“

„Ja, das Sofa“, sagte Hamilton.

„Ich wollte, ich könnte Ihnen dieses Zimmer abtreten, aber ...“

„Das ist nicht nötig“, antwortete er. „Geben Sie mir nur ein paar von den Kissen, die Sie nicht brauchen, dann werde ich es ganz bequem haben.“

„Wie dumm von mir, dass ich nicht selbst daran gedacht habe“, rief sie und öffnete die Tür. „Mir ist in den letzten Stunden so viel durch den Kopf gegangen ...“

„Mir geht es genauso“, sagte Hamilton, der sich gar nicht um die Kissen kümmerte, die sie für ihn zusammensuchte. „Lassen Sie uns darüber sprechen.“

„Nicht jetzt, morgen!“

„Jetzt, in diesem Augenblick!“ ,sagte er ungeduldig und setzte sich aufs Sofa.

Sie schüttelte den Kopf und blieb stehen.

„Was wollen Sie mir mit Ihrer kühlen Zurückhaltung zu verstehen geben, Isabelle? Wollen Sie mich kränken?“

„Nein, wirklich nicht“, antwortete sie gequält. „Aber es ist bald Mitternacht, das ist wirklich nicht die richtige Zeit, um zusammen auf dem Sofa zu sitzen. Sie wissen selbst sehr gut, dass ich nie mit Ihnen allein hätte reisen dürfen, ich dürfte nicht mit Ihnen in diesem Hotel sein, wir dürften keine Stunde allein hier verbringen … Falls jemand zufällig davon erfahren sollte, wäre mein Ruf für immer ruiniert … Ich werde Gelegenheit genug haben, diesen Fehler zu bereuen.“

„Gütiger Himmel!“, rief Hamilton. „Was habe ich denn gesagt oder getan ...“

„Oh nein, nichts“, unterbrach ihn Isabelle.

„Was werfen Sie mir denn vor, wenn ich gar nichts getan habe, um Ihr Vertrauen zu mir zu erschüttern?“   

„Ich werfe Ihnen gar nichts vor“, antwortete sie und seufzte. „Es ist nur … ich vertraue mir selbst nicht mehr.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wenn Sie unbedingt die Wahrheit wissen wollen – ich habe Mainz nicht mit Ihnen verlassen, um einmal mit einem Dampfschiff zu fahren oder Köln zu sehen ...“

„Sondern?“

„Es war der Wunsch, bei Ihnen zu sein – noch ein paar Tage mit Ihnen zu verbringen … bevor wir uns für immer trennen.“

„Wir werden uns nicht für immer trennen ...“, sagte Hamilton.

„Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Eine unverheiratete junge Frau darf niemals mit einem unverheirateten Mann allein reisen, sofern sie nicht verwandt sind. Es war nicht Ihre Schuld, dass ich es getan habe, sondern allein meine – weil ich es wollte, ohne es mir einzugestehen. Das Unanständige der Situation ist mir erst heute Abend deutlich geworden, als der Kellner ...“

„Er hat Sie für meine Frau gehalten, weiter nichts! Finden Sie die Vorstellung so entsetzlich?“, fragte Hamilton.

„Der Kellner hat mich daran erinnert, dass ich mit Ihnen weder verwandt noch verheiratet bin“, fuhr Isabelle unbeirrt fort. „Ich muss gleich morgen zu meiner Stiefmutter zurückkehren, obwohl es im Grunde schon zu spät ist. Aber meine Stelle bei der Baronin werde ich auf keinen Fall antreten.“

„Es freut mich, das zu hören ...“

„Mir tut es sehr leid.“

„Sie wären als Gouvernante einfach nicht geeignet, glauben Sie mir, obwohl Sie eine ausgezeichnete Ausbildung genossen haben und hervorragend Französisch sprechen.“

„Sie haben recht, ich bin als Gouvernante wirklich völlig ungeeignet – ich bin nicht berechtigt, die Erziehung eines jungen Mädchens wie das der Baronesse Walldorf zu übernehmen. Wir waren … ich war unverzeihlich leichtsinnig. Es ist am besten, wenn wir uns sofort trennen, bevor … Ich werde gleich morgen nach Mainz zurückkehren und Sie reisen weiter nach England.“

„Ich würde auch nach Schottland gehen, wenn Sie mitkommen würden, Isabelle – und das ist kein Scherz“, antwortete Hamilton. „Ich habe Ihr ausführliches Selbstgespräch angehört, jetzt hören Sie bitte auch mir zu. Dass ich Sie bewundere und verehre, das wissen Sie, vermutlich wissen Sie auch längst, dass ich Sie aufrichtig liebe. Und wenn ich Ihnen nicht schon vor meiner Abreise aus München einen Heiratsantrag gemacht habe, dann liegt das vor allem daran, dass ich Angst hatte, abgewiesen zu werden und das Schicksal von Graf Zedwitz zu teilen.“

Hamilton hielt kurz inne, konnte in der Dunkelheit aber nicht erkennen, ob sich Isabelles Gesichtsausdruck bei dieser Erklärung veränderte. Er schilderte ihr seine familiäre und finanzielle Situation und die Möglichkeiten, die sich ihm durch die Erbschaft von fünftausend Pfund boten, die er allerdings erst in einem Jahr erhalten würde. Ein Jahr aber kann quälend lang sein, wenn man durch eine große Entfernung getrennt ist, und auch wenn er nicht den geringsten Zweifel habe, dass er sie auch in zwölf Monaten noch genau so lieben werde wie heute, so würde er sie doch am liebsten sofort heiraten – und zwar in Schottland, in Gredna Green, wo sich jedes Paar auch ohne Zustimmung der Familie trauen lassen kann.

Isabelle hörte ihm schweigend zu; ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nie hatte sie geglaubt, dass Hamilton sie wirklich heiraten wollte, dass er sie so bald heiraten könnte. Er deutete ihr Schweigen falsch und fürchtete sofort, dass sie ihn doch nicht liebte, dass all seine Hoffnungen zerplatzen würden wie Seifenblasen.

„Es … es ist vielleicht nicht das, was Sie hören wollten“, stieß Hamilton schließlich hervor. „Sie wissen vermutlich nicht, wie Sie mir sagen sollen, dass Sie mich gar nicht lieben ...“   

„Nein, das nicht … Aber Sie haben mich so lange im Ungewissen gelassen … und nicht nur mich. Hätten Sie nicht auch Sophie heiraten können, wenn Sie gewollt hätten?“

„Wenn ich es unbedingt gewollt hätte – ja. Aber ich habe sie nicht geliebt, ich habe nie daran gedacht … für Sophie ein solches Opfer zu bringen. Um Sie heiraten zu können, ist mir kein Opfer zu groß, Isabelle.“

„Aber … Sie waren sich lange Ihrer Gefühle nicht sicher, nicht wahr?“

„Isabelle – was verlangen Sie von mir?“, rief Hamilton ungewohnt heftig. „Ich habe Ihnen mein Herz zu Füßen gelegt, was wollen Sie noch? Warum quälen Sie mich?“

„Ich will Sie weder quälen noch verletzen, Alexander“, sagte sie leise und zögernd, „aber – ich kann Ihr Opfer nicht annehmen.“

„Dann lieben Sie mich nicht, Isabelle!“, rief er leidenschaftlich.

„Oh doch, das tue ich! Beweise ich es nicht gerade? Glauben Sie mir nicht, dass auch ich bereit bin, ein Opfer zu bringen?“

„Für wen?“, fragte Hamilton bitter. „Möchten Sie damit vielleicht Mademoiselle Hortense beeindrucken oder Graf Zedwitz? Sie sind gekränkt, weil ich einige Zeit überlegt und gezögert habe, ehe ich mich dazu entschlossen habe, notfalls mit meiner Familie zu brechen und meine beruflichen Aussichten aufzugeben, die ich ohne Protektion meines Onkels nicht habe. Wenn Sie mich jetzt auf diese Art zurückweisen, dann ist das kein Opfer, sondern – verletzter Stolz.“

Isabelle zuckte zusammen, als habe er sie geohrfeigt.

„Ich dachte wirklich, nach all dem, was ich gesagt und getan habe … Ich hoffte auf … Isabelle, Sie verlangen zu viel von mir!“, rief er heftig. „Was soll ich tun, um Ihnen zu beweisen, dass … soll ich etwa mit einem Dolch spielen wie Ihr unglückseliger Cousin?“

Isabelle wurde blass und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Alexander, bitte, sprechen Sie nicht so! Sie machen mir Angst!“

„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Versprechen Sie mir einfach nur, dass Sie morgen mit mir nach England reisen werden.“

„Das … das kann ich nicht. Es wäre … Sie müssen alleine zu Ihrer Familie zurückkehren, ich bitte Sie. Aber ich versprechen Ihnen, dass ich ein Jahr lang  warten werde ...“

„Mein Gott, Isabelle!“, rief Hamilton und sprang auf. „So sehr ich Ihre Vernunft bewundere und schätze, aber in diesem Fall wäre es mir lieber, Sie würden sich ausnahmsweise einfach so benehmen wie andere … so wie eine junge Frau, der der Mann, den sie liebt, soeben einen Antrag gemacht hat. Was hat man in diesem Internat eigentlich aus Ihnen gemacht? Offensichtlich ein gefühlloses Wesen. Verstehen Sie überhaupt, was ich tun will? Ich bin bereit, mich ohne jedes Bedauern von Verwandten und Freunden zu trennen, meine Hoffnungen auf beruflichen Erfolg aufzugeben, meine Heimat für viele Jahre zu verlassen, mein ganzes Leben für Sie zu ändern, ja aufzugeben – und was tun Sie? Sie sitzen da wie eine Statue ...“

Hamilton war bei diesen Sätzen nervös im Zimmer auf und ab gegangen, jetzt trat er ungestüm ans Fenster, riss es auf und lehnte sich so weit wie möglich hinaus, um die kühle Nachtluft einzuatmen. Er ahnte nicht, dass es auf Isabelle so wirkte, als wolle er sich voller Verzweiflung aus dem Fenster stürzen. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, sank von ihrem Sessel herab auf die Knie und begann, überwältigt von ihren mühsam unterdrückten Gefühlen, heftig zu schluchzen. Hamilton drehte sich um, vergaß augenblicklich seinen Zorn über ihre unerwartete Zurückhaltung, stürzte zu ihr und zog sie behutsam an sich, während er flüsternd Entschuldigungen und zärtliche Worte stammelte.

„Bitte wein nicht, Liebes, verzeih mir, bitte wein nicht … Ich weiß, dass du mich liebst, auch wenn du es mir jetzt nicht sagen kannst …“

Sie beruhigte sich allmählich in seinen Armen, und als seine Lippen schließlich zärtlich und fordernd zugleich die ihren berührten, erwiderte sie seinen Kuss nach kurzem Zögern mit unerwarteter Leidenschaft.

 

Am nächsten Morgen reiste das verliebte Paar kurz nach dem Frühstück ab. Hamilton wollte schon eine Woche später wieder in England sein – nachdem er Isabelle in Gredna Green geheiratet hatte. Sie würde wahrscheinlich ein ganzes langes Jahr in Moosingen auf ihn warten müssen, aber nicht als seine Verlobte, sondern als seine Frau. Was sein Onkel Jonathan dazu sagen würde? Man kann es sich denken. Er würde seinen Lieblingsneffen als albernen Narr beschimpfen, der seine glänzende Zukunft opfert, nur weil er sich verliebt hat, ihm die Tür weisen und ihn enterben – um sich Jahre später daran zu erinnern, dass er seine Gattin einst selbst in Greda Green geheiratet und einen kleinen Familienskandal verursacht hatte. Dann würde er einen Brief schreiben und Hamilton bitten, München zu verlassen und mit seiner Frau und den Kindern nach England zurückzukehren und in einen Flügel seines großen Landsitzes einzuziehen, ehe er dieses Haus samt den Ländereien als Erbe ganz übernehmen könnte.

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Buchtitel: Die Versuchung

Originalausgabe Berlin 2012

Autorin: Jemima Montgomery

Übersetzung: Petra Foede

Lektorat/Redaktion: Petra Foede

www.petrafoede.de 

 

Dieser Roman ist eine Neufassung des Romans The Initials von

Jemima Montgomery, erstmals erschienen 1852

Copyright dieser Ausgabe: Petra Foede

Eine Verwendung des vorliegenden Textes, auch auszugsweise,

ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung gestattet

 

Coverbild: Edmund Blair Leighton, The Favour