Kapitel 21

Seine Wut und seine Sorge drohten Dominic zu ersticken, als er beobachtete, wie Ryle von seinem Pferd stieg und es an einen Baum band. Jede einzelne von Ryles Bewegungen verriet seinen Zorn, und sein Gesicht, das manche Frauen als gutaussehend bezeichnen würden, war rot und angespannt.

Eine eisige Angst packte Dominic. Was hatte Ryle derart verärgert? Was war in Giselas Haus geschehen?

Nachdem er die Münzen gezählt hatte, füllte der Franzose sie wieder in den Beutel zurück und stand auf. Er nickte dem Londoner Kaufmann zu. »Das Tuch gehört Ihnen.«

Der Mann bedeutete seinen Lakaien, aus dem Unterholz zu kommen. »Ladet die Ballen auf die Boote!«, befahl er und ging zum Wagen.

Ryle stürmte auf Crenardieu zu, und Dominic rührte sich nicht, damit ihm kein Wort von dem entging, was die beiden Männer miteinander beredeten.

»Guten Morgen«, begrüßte der Franzose Ryle.

Giselas früherer Ehemann funkelte ihn wütend an, griff in seinen Umhang und holte seine Flasche hervor, aus der er einen großen Schluck trank.

»Was ist los?« Crenardieu sah zu seinen beiden Lakaien hinüber, die ihre Pferde anbanden. Einer von den beiden war an der Schulter verletzt. »Wo ist der Mann, den ich geschickt habe, um dich zu holen?«

Ryle wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Bei uns war keiner.«

»Ich habe ihn schon vor einer ganzen Weile losgeschickt.« Misstrauisch blickte Crenardieu wieder zu Ryle. »Wo sind Gisela und der Junge?«

Ryle trank noch einen Schluck. »Sie sind entkommen.«

»Was?!«, fragte Crenardieu ärgerlich.

Dominic war unsagbar erleichtert. Gott sei Dank!

»Sie hat mich mit einer Schüssel niedergeschlagen.« Ryle fasste sich an den Hinterkopf und verzog das Gesicht. »Ich habe eine Beule so groß wie ein Ei. Verfluchte Hure!«, keifte er so laut, dass es aus dem Wald hallte.

»Mäßige deine Stimme!« Crenardieu stieß einen groben französischen Fluch aus. »Du hast es mir versprochen! Du hast gesagt, du passt auf sie auf!«

Ryles Gesicht nahm ein noch scheußlicheres Rot an. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie mich niederschlägt!«

Dominics Knebel erstickte sein Lachen zum Glück. Gut gemacht, Gisela! Du bist ein echter Krieger, genau wie unser Sohn.

Ryle blickte sich um. »Wo ist er?«

»Dominic?« Crenardieu zeigte lässig in seine Richtung.

Als Ryles wütender Blick sich auf ihn richtete, weigerte Dominic sich, ihm auszuweichen. Niemals würde er dem Mann zeigen, dass er Angst vor ihm hatte!

Ryle rang die Hände, als würde er jemandem die Kehle zudrücken.

»Ich kann’s gar nicht erwarten, ihn …«

»Du wirst, aber zuerst muss die Seide verladen sein.«

»Kümmer du dich um die Händler!«, knurrte Ryle. »Ich erledige ihn inzwischen.«

»Nein, lass ihn!«, erwiderte Crenardieu und legte eine Hand fest auf Ryles Arm. »Ich will nicht, dass du meine Käufer erschreckst. Deine Rache muss warten.« Dann grinste er böse. »Er läuft dir nicht weg. Wenn die Boote wieder fort sind, ist er immer noch da.« Dann sah er hinunter zum Steg und fragte: »Wollen wir ihnen unsere Hilfe anbieten? Je schneller die Ballen auf den Booten sind, umso eher können wir ihn umbringen.«

Ryle rührte sich nicht, trank nochmals aus seiner Flasche und starrte angeekelt zu Dominic hinüber.

»Sei kein Narr!«, höhnte Crenardieu und schritt voran. Widerwillig folgte Ryle ihm nach einer Weile.

Dominic versuchte wieder, sich von seinen Fesseln zu befreien. Gisela und Ewan waren Ryle entkommen, aber wohin waren sie geflohen? Wenn er erst frei war, musste er sie unbedingt suchen.

Angestrengt atmete er durch die Nase und konzentrierte sich auf den Knoten. Plötzlich hörte er ein Rascheln hinter sich.

Er erstarrte und lauschte.

Das Geräusch kam vom Boden.

Ein Tier? Nein. Wohl eher einer von Crenardieus Schergen, der sich von hinten anschlich, um schon einmal auf Dominic einzustechen.

Er drehte den Kopf um und versuchte, etwas zu erspähen.

Im selben Moment drückte kaltes Metall gegen seine Handgelenke.

 

De Lanceau hob eine Hand und stoppte sein Pferd. Sofort ließen auch seine Männer ihre Pferde anhalten.

Giselas Herz pochte beängstigend schnell. Sie hatte den Schrei ebenfalls gehört. »Mylord«, sagte sie, »das war Ryle. So brüllt er, wenn er betrunken ist.«

Crenardieus Lakai rutschte auf seinem Pferd hin und her.

De Lanceau neigte den Kopf kaum merklich – eine unauffällige, aber absichtliche Geste. Der Waffenknecht unmittelbar neben dem Gefangenen hieb dem Mann kräftig auf den Hinterkopf, worauf er stöhnend nach vorn sackte.

»Bindet ihn an einen Baum!«, ordnete de Lanceau leise an, ohne sich umzudrehen. »Wir holen ihn auf dem Rückweg ab. Unsere Pferde lassen wir hier und gehen zu Fuß weiter.«

Die Waffenknechte stiegen aus ihren Sätteln, lautlos bis auf hier und da mattes Lederknarzen und schwaches Rasseln von Kettenpanzern. Mehrere Männer zogen den ohnmächtigen Lakaien vom Pferd und begannen, ihn an einen Stamm zu fesseln.

De Lanceau nahm Aldwin und einen anderen Waffenknecht beiseite und sprach flüsternd mit ihnen. Die beiden nickten, bevor sie sich ins Unterholz begaben. Sicher sollten sie zunächst einmal nachsehen, was am Fluss vor sich ging.

Gisela stieg von ihrem Pferd und band ihren Beutel los, um ihn sich über die Schulter zu hängen. Das Gewicht lagerte auf ihrer Hüfte.

Während de Lanceau seinen übrigen Leuten Anweisungen gab, wehten erneut Stimmen vom Ufer herbei. Ach, Dominic! Die Angst schnürte ihr beinahe die Kehle zu. Sie musste wissen, wie es ihm ging. Falls Ryle beschloss, seine Rage an Dominic auszulassen …

»Gisela, du bleibst hier!«

»Aber Mylord …«, wollte sie unglücklich widersprechen.

»Das ist sicherer.« De Lanceau wandte sich zu einem breitschultrigen Waffenknecht, der mit Pfeil und Bogen bewehrt war. »Pass auf die Pferde und den Gefangenen auf!«

In der Nähe raschelte es im Unterholz.

Sofort verstummten alle Männer. Schwerter wurden klingend aus ihren Scheiden gezogen, bevor Aldwin aus dem Wald auftauchte und mit ernster Miene berichtete: »Die Seide ist hier, Mylord, und Crenardieu auch. Männer laden die Ballen auf Boote und sind fast fertig.«

»Dominic?«

»Den habe ich nicht gesehen.«

De Lanceau runzelte die Stirn und winkte seine Leute zu sich. »Kommt!«

Sie schlichen in den Wald, wo ihre raschelnden Schritte sich schnell entfernten.

Gisela nagte an ihrer Unterlippe. Neben ihr schlummerte der gefesselte Lakai, und die Pferde grasten ruhig am Wegesrand. Ein Stück weiter stand der Bogenschütze, der sie kurz ansah, dann wieder in den Wald blickte.

Wie sollte sie einfach hier stehen und warten, bis die Männer zurückkamen?

Ich liebe dich, Dominic. Ich liebe dich!

Hinter der Wache knackten Zweige. Der Mann drehte sich um und sah ins Unterholz.

In diesem Moment rannte Gisela in den Wald. Die dicke Laubschicht federte ihre Schritte ab. Farne raschelten an ihren Röcken, als sie auf das Ufer zulief, ohne auf den leisen Fluch des Bogenschützen zu achten.

Vor ihr bewegte sich etwas. Durch eine Baumlücke konnte sie Crenardieu erkennen, der wie ein eitler Pfau am Fluss stand. Ryle war neben ihm. Vor lauter Panik wäre Gisela beinahe gestolpert.

Dann bemerkte sie noch eine Bewegung, näher bei ihr, und schaute sich um. Sie blinzelte, weil sie zunächst nicht glauben wollte, was sie sah. Das waren Hände.

Vorsichtig schlich sie näher. Ein Mann war an einen Baum gefesselt. Sie näherte sich vorsichtig.

Dominic!

Ihr Herz klopfte so laut, dass sie dachte, alle anderen müssten es hören, und wäre am liebsten zu ihm gelaufen, um ihn zu umarmen.

Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, hörten seine Hände auf, sich zu bewegen. Hatte er sie bemerkt?

Tränen stiegen ihr in die Augen, sobald sie ihn genauer erkennen konnte. Er hatte einen schmutzigen Knebel im Mund, und seine Kleider waren zerrissen und blutbefleckt. Am schlimmsten aber sah sein geschwollenes Gesicht aus.

Er musste unendliche Grausamkeiten erlitten haben. Schneid ihn los!, schrie es in ihr. Schnell, bring ihn in Sicherheit! Du kannst später mit ihm reden, ihn küssen und seine Wunden beweinen.

Sie biss die Zähne zusammen und schlich hinter ihn, während sie gleichzeitig ihre Nähschere aus ihrem Beutel holte. Dann führte sie die eine Schneide vorsichtig hinter eines der Seile.

Er gab einen erstickten Laut von sich und versuchte, sich zu ihr umzudrehen.

»Halt still!«, flüsterte sie und drückte ihm die Hand.

Er erstarrte. »Mffmmm?«

»Ja. De Lanceau ist auch hier, mit seinen Waffenknechten.« Sie blickte kurz zum Ufer. Die Männer unterhielten sich und beluden die Boote. Keiner von Crenardieus Leuten hatte sie bemerkt. »Beweg dich nicht! Ich schneide dich frei.«

Sie versuchte, weder auf seine zerschundenen Hände noch auf die Abschürfungen an seinen Gelenken zu sehen, geschweige denn, sich auszumalen, was er sonst noch erlitten haben könnte.

Dominic stöhnte leise, und in diesem kleinen Laut lagen all der Schmerz, die Enttäuschung und die Wut, die er empfand.

Mit sicheren Schnitten durchtrennte sie die Seile eines nach dem anderen. Allerdings standen ihr bei jedem Schnippen der Schere die Nackenhaare zu Berge, weil sie fürchtete, dass Crenardieus Schurken sie hören könnten.

Es schien entsetzlich lange zu dauern, bis sie endlich seine Hände befreit hatte. Dann ging sie in die Knie und schnitt die restlichen Fesseln auf. Als sie sich wieder aufrichtete, stand er vor ihr und riss sich den Knebel aus dem Mund.

Im ersten Moment konnte sie ihn bloß anstarren. Unzählige Worte gingen ihr durch den Kopf, doch sie waren viel zu wirr. Was sollte sie zu ihm sagen? Wie fing sie an, ihm die Gefühle mitzuteilen, die drohten, ihr das Herz zerspringen zu lassen?

Mit zwei Schritten war er bei ihr. Seine Arme umfingen sie, und ein Schluchzen entwand sich ihm, bevor seine Lippen sich auf ihre legten.

Sie erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft, schmeckte seinen Schmerz und seine Unsicherheit. Gleichzeitig offenbarte sie ihm mit ihren Lippen und ihrer Zunge, welche Angst sie um ihn gehabt hatte. »Dominic«, flüsterte sie zwischen zwei Küssen, »ach, Dominic!«

Er erschauderte. »Gott sei Dank, dass es dir gutgeht!«

»Was haben sie dir …«

»Jetzt nicht.« Er nahm ihre Hand und wob seine Finger in ihre.

»Wir müssen hier verschwinden. Jeden Moment kommt Ryle, um mich zu töten.«

»Aber …«

Seine Augen glänzten feucht. »Gisela, bitte. Ich l…«

Ein Brüllen hinter ihnen unterbrach ihn.

Dominic drehte sich blitzschnell um und schirmte Gisela mit seinem Körper ab. Zuvor jedoch hatte sie noch gesehen, dass Ryle keine drei Schritte entfernt von ihnen an einem Baum stand.

Er schleuderte seine Flasche zu Boden. Männer kamen durch das Unterholz herbeigelaufen und umstellten die beiden. Gisela, die immer noch Dominics Hand hielt, drückte sich dicht an ihn. Ihr wurde beinahe übel vor Furcht.

»Bringt sie hier raus!«, schrie Crenardieu, dessen Schwert in der Sonne blinkte. Seine Schläger packten Giselas Arme, während Ryle und zwei andere Dominic festhielten. Sie zerrten sie auf die Lichtung, die sich bis zum Fluss hinunter erstreckte.

Gisela richtete sich gerade auf, obwohl sie fröstelte, als Crenardieu sie ansah.

»Wie kommst du hierher?«, fragte er.

»Ich bin auf meinem Pferd geritten.«

»Allein?« Er umklammerte seine Waffe fester. »Wie hast du uns gefunden?«

Dominic schwankte ein wenig, und Ryle riss ihn so unsanft am Arm, dass er nach vorn taumelte. Er stöhnte und verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Aufhören!«, schrie Gisela. »Er ist schon verwundet genug!«

Ryle bleckte die Zähne zu einem grausamen Lächeln. »Ich habe noch nicht einmal angefangen, ihm weh zu tun!«

Ihre Angst verlangte, dass sie den Blick senkte, um Ryle zu bestätigen, welche Macht er über sie hatte. Vielleicht war er sogar gnädiger, wenn sie wegsah.

Nein! Sie durfte ihn nicht gewinnen lassen. Sie durfte nicht nachgeben, um der Menschen willen nicht, die sie liebte.

Deshalb reckte sie ihr zitterndes Kinn und starrte ihn an. Ihre Augen brannten, und sie zitterte am ganzen Leib, aber sie hielt seinem Blick stand. »Tu Dominic nichts!«

Langsam nahm Ryle die Hand von Dominics Arm und lachte. Seine Zähne blitzten gelblich im grellen Licht wie die eines Drachen. »Willst du mich daran hindern?«

»Ja.«

»Du?« Er lachte noch lauter. Die Männer um sie herum stimmten in sein Gelächter ein.

Gisela spürte, wie seine Stimmung umschlug, roch den Alkohol, den er getrunken hatte. Und sie sah, wie sich seine Finger krümmten. Ehe sie das Gesicht abwenden konnte, rammte er seine Faust gegen ihr Kinn.

»Gisela!«, schrie Dominic.

Die Wucht des Hiebs ließ ihren Kopf nach hinten knallen, wo er mit dem eines der Schurken kollidierte.

»Meine Nase!«, schimpfte der und fasste sich ins Gesicht.

Schmerz loderte in Giselas Unterkiefer auf, und als sie eine Hand auf die Stelle legte, fühlte sie, wie ihr Wuttränen in die Augen stiegen. Verschwommen sah sie, wie Dominic sich gegen die beiden Männer wehrte, die ihn festhielten. Kaum hatte er sich von ihnen befreit, versetzte er Ryle einen Fausthieb in den Magen. Grunzend griff Ryle sich an den Bauch und knickte ein. Doch er richtete sich gleich wieder auf, packte mit einer Hand an seinen Gürtel und zog sein Messer.

O Gott! O Gott!

Eisige Furcht regte sich in Gisela, als sie auf den Dolch blickte. Sie wollte sich bewegen, sich den kalten Schweiß von der Stirn wischen, doch sie war wie gelähmt.

Nein. O Gott, nein!

Durch das schrille Dröhnen in ihren Ohren vernahm sie Schlachtrufe, die vom Wald her kamen. De Lanceaus Männer stürmten auf die Lichtung.

»Crenardieu!«, brüllte einer seiner Lakaien. Noch mehr Rufe folgten, dann das Klirren von Schwertern. De Lanceaus Männer teilten sich in zwei Gruppen. Die eine stürzte sich zusammen mit de Lanceau auf die Schurken, die Gisela und Dominic umstellten. Aldwin lief mit den anderen zum Steg hinunter.

Wenige Schritte vor ihnen blieb de Lanceau stehen und sah Ryle wütend an. »Runter mit dem Dolch!«

»Wer zur Hölle bist du?«, fragte Ryle.

»Geoffrey de Lanceau, Lord von Branton Keep.«

Ryle spuckte auf den Boden. »Deinen Namen kenne ich gut …«

»Ryle!«, warnte Crenardieu ihn streng.

»… denn du hast mir mein Tuchgeschäft ruiniert. Du hast mich ruiniert!«

Als Ryles Finger an dem Dolch zuckten, fasste Gisela sich unweigerlich an ihre Narbe. Unten am Steg klirrten Schwerter, ein Mann schrie, dann klatschte Wasser. Auch Ryle würde sich nicht kampflos ergeben. Männer würden sterben, bevor diese Schlacht endete.

De Lanceaus Miene verhärtete sich vor Wut. »Balewyne, weg mit dem Messer! Und der Rest von euch, runter mit den Waffen! Ihr steht alle unter Arrest. Niemand stiehlt mein Tuch und verkauft es an andere Händler!«

»Arrestier ihn!«, brüllte Ryle und zeigte mit dem Finger auf Dominic. »Ich habe ihn mit meinem Weib erwischt, wie er es umarmte und küsste. Einen Moment später, und sie hätten es im Wald getrieben. Frag die anderen, die haben es auch gesehen!«

»Gisela ist nicht dein Weib«, widersprach Dominic. »Du verdienst sie nicht.«

»Ich habe sie geheiratet. Nach dem Gesetz gehört sie mir. Und sie wird mir als ihrem angetrauten Gemahl gehorchen!«

»Niemals!«, entgegnete Gisela entschlossen. »Nie wieder!«

Ryles Augen funkelten bedrohlich. »Sei still!«

»Sei du still!«, konterte Dominic. »Dem Gesetz nach warst du nie ihr Gemahl.«

»Verfluchter Lügner!«

Gisela erschauderte bei Ryles Ton, doch Dominic stieß ein spöttisches Lachen aus. Dann zeigte er mit der Hand auf die umstehenden Männer. »Gib’s zu, falls du den Mumm hast. Deine Ehe wurde nie vollzogen.«

Dominic, nein!, dachte Gisela erschrocken.

»Das bedeutet, dass die Ehe zwischen dir und Gisela keine Gültigkeit vor dem Gesetz hat – und nie hatte.«

Ryle wurde tiefrot. »Mir ist egal, was du sagst. Sie ist mein Weib!«

Dominic zog eine Braue hoch und sagte: »Nein, denn du warst nicht Manns genug, sie dazu zu machen – weder in eurer Hochzeitsnacht noch irgendwann danach.«

Verärgert runzelte Crenardieu die Stirn. »Wie kannst du das wissen?«

»Gisela hat es mir erzählt.«

Ryle stieß einen stummen Schrei aus und funkelte sie zornig an. Er sah aus, als würde er jeden Moment Feuer speien.

Crenardieu schluckte, als hätte er plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. »C’est impossible. Ryle hat einen Sohn …«

»Nein«, entgegnete Dominic.

»… den er mir für fünfzig Silbermünzen verkauft hat, um einen Teil seiner Schulden zu begleichen.«

»Verkauft? Wie ein Tier?« Gisela sah Ryle an und empfand einen solchen Ekel, dass sie beinahe würgen musste. »Wie konntest du?«

»Das war nicht schwer«, brüllte Ryle. »Dieser jaulende kleine Welpe …«

»Wag es nicht, so von ihm zu reden!«, fuhr Dominic ihn wütend an. »Sein Name ist Ewan. Er ist ein aufgeweckter, ehrgeiziger Junge, der ein Anrecht auf die Liebe seines Vaters hat. Ein Sohn, der bald schon die Wahrheit über seinen Vater erfahren wird.«

»Ich bin sein Vater«, erklärte Ryle, wobei ihm Speichel auf die Lippen spritzte. »Er ist mein Sohn, und ich mache mit ihm, was ich will!«

Dominic ballte die Fäuste und musste sichtlich an sich halten.

Ryle zeigte auf Gisela. »Sie hat meinen Sohn zur Welt gebracht!«

Aber Dominic schüttelte den Kopf. »Gisela hat meinen Sohn zur Welt gebracht.«

»Was?!«, schrie Crenardieu.

»Ewan ist mein Kind.« Als Dominic sie ansah, spürte Gisela eine kribbelnde Wärme in ihrem Bauch. »Sag diesen Männern, wie du ihn an dem Tag auf der Wiese empfingst, wo wir uns vor meinem Aufbruch in den Kreuzzug liebten! Erzähl ihnen, wie deine Familie dich zwang, Ryle zu heiraten, um ihnen die Schmach einer unverheirateten Tochter guter Hoffnung zu ersparen!«

Ihr stiegen Tränen in die Augen. »Es ist wahr«, flüsterte sie.

»Stimmt auch, was er über die nicht vollzogene Ehe gesagt hat?«, fragte de Lanceau.

Gisela wurde rot, und sie musste sich zwingen, nicht auf Ryles tödlichen Blick zu achten. »Ja.«

»Hure!«, brüllte Ryle und hob sein Messer.

Blitzschnell sprang Dominic vor und stürzte sich auf Ryle. Crenardieu wirbelte herum, so dass sich sein Umhang aufbauschte. Schwerter krachten klirrend gegeneinander, schwere Schritte donnerten über die Lichtung. Gisela wandte den Kopf und sah, wie der Franzose zum Steg hinunterlief, dicht gefolgt von de Lanceaus Leuten.

»Dominic!«, rief Geoffrey. Sobald Dominic Ryle losließ, warf de Lanceau ihm ein Messer zu und rannte zum Ufer.

Hastig zog Dominic den Dolch aus der Lederscheide.

Ryles Lachen klang furchterregend.

Ängstlich wischte Gisela sich die Hände an ihrem Kleid ab. Ryle durfte den Kampf auf keinen Fall gewinnen. Er durfte nicht triumphierend von hier wegreiten, um sich fortan damit zu brüsten, dass er de Lanceaus treuesten Ritter und engsten Vertrauten besiegt hatte. Aber geschwächt und verwundet, wie Dominic war, würde er bald ermüden, und dann …

Gisela musste eine Entscheidung fällen, die ihr Übelkeit verursachte.

Sie schluckte energisch, griff in ihren Beutel und holte die Nähschere hervor. Ihre einzige Waffe, und sie müsste genügen.

Mit einem widerlichen Grinsen schwang Ryle seinen Dolch auf Dominic zu.

Dieser wich ihm aus, doch wegen seiner Verletzungen bewegte er sich zu langsam. »Daneben!«

Wieder hieb Ryle knurrend zu. Sein Dolch blitzte auf. Dominic sprang rückwärts und konnte auch diesem Hieb ausweichen. Ryle jedoch stürzte sich nach vorn und traf ihn an der Schulter. Die Klinge zerschnitt die Tunika, unter der ein leichter Kratzer zum Vorschein kam. Dominic duckte sich.

Immer noch grinsend holte Ryle ein weiteres Mal aus.

»Ryle!«, brüllte Gisela.

Als er sich zu ihr umdrehte, fiel ihr das Atmen schwer. Blut glänzte auf der Dolchspitze und brachte Erinnerungen an den Abend vor Monaten zurück.

Damals war es ihr Blut gewesen, das an einer Klinge geklebt hatte, heute war es Dominics.

Nie wieder!

Den Dolch zum Hieb erhoben, sah Ryle wieder zu Dominic. Dessen Schulter blutete, und Schweiß lief ihm übers Gesicht, als er Ryles Blick erwiderte. Wie bleich er war! Gisela ahnte, welche Anstrengung es ihn kostete, zu kämpfen.

Ryle bleckte die Zähne, und Gisela wollte vor Verzweiflung schreien. Sie wusste, dass er wild entschlossen war, Dominic zu töten.

Ihre Schere fest umklammernd, rief sie: »Du willst doch eigentlich mich, Ryle!«

»Gisela!«, keuchte Dominic. »Reiz ihn nicht!«

Doch, genau das würde sie tun, weil sie musste – so wie der Ritter, der den Drachen reizte. »Ich bin weggelaufen«, fuhr sie fort, während Ryle sie mit kleinen Augen betrachtete. »Erinnerst du dich, wie ich dich verließ? Weißt du noch, wie ich dich betrogen habe?«

»Ja, ich erinnere mich«, raunte Ryle gefährlich ruhig.

Sie ging näher. Die Schere hielt sie dicht an ihren Rock, so dass er sie nicht sah. »Ich werde nicht wieder vor dir weglaufen.«

»Gisela!«, hauchte Dominic entsetzt.

Ryle indessen starrte sie verwundert an. Sein Messer zitterte, und für einen Moment nahm sein Gesicht beinahe einen ängstlichen Ausdruck an. »Wirst du mich endlich lieben?«

Ihn lieben?!

»Nein, ich werde immer nur Dominic lieben.«

Ryle warf den Kopf in den Nacken und brüllte wie ein wütender Drachen. In dem Augenblick, in dem er sich wieder auf Dominic stürzen wollte, preschte Gisela nach vorn, holte mit der Schere aus und rammte sie Ryle in die Brust. Dann stolperte sie zurück.

Er stieß einen schrillen, ungläubigen Laut aus und starrte auf die Scherengriffe, die aus seinem Brustkorb ragten. Um sie herum färbte sich Ryles Tunika blutrot.

Stöhnend packte er die Schere. »Was hast du getan?«

»Sie hat einen Drachen getötet«, murmelte Dominic.

Ryle sackte auf die Knie und schwankte. »Hure!«, ächzte er, dann verlor sich seine Stimme in einem Röcheln.

Seine Augen wurden leer und glasig, seine Lippen öffneten sich, als wollte er noch etwas sagen. Doch es folgte nichts außer einem keuchenden Zischen, ehe er seitlich zu Boden kippte und verstummte.

Gisela stand da und presste ihre Hände auf die Brust, außerstande, den Blick von Ryle abzuwenden, dessen Blut in den Schmutz sickerte.

»Gisela.« Dominic legte einen Arm um sie.

Nun schluchzte sie hemmungslos.

»Gisela«, sagte er nochmals und hob sanft ihr Kinn, damit sie ihn ansah. Er hielt sie im Arm und küsste ihr Haar, ihre Stirn und ihre Wange.

Sie wurde buchstäblich durchgeschüttelt von ihren Schluchzern und musste sich an Dominic lehnen.

Es war vorbei. Endlich war sie eine freie Frau. Sie lebte und lag in den Armen des Mannes, den sie liebte. Nie wieder musste sie sich vor Ryle fürchten.

Zitternd sah sie zu Dominic auf. Tränen strömten ihm übers Gesicht. Er sagte nichts, aber sein Blick verriet ihr alles, was sie wissen musste. Und er schien in ihrem lesen zu können, was sie fühlte, denn er beugte den Kopf und küsste sie zärtlich.

»Ich habe ihn umgebracht«, flüsterte sie. »Ich habe … ihm das Leben genommen.«

Dominic umarmte sie fester. »Du hast meines gerettet – und zweifellos auch das anderer. Du warst unglaublich mutig, Gisela.«

»Dem stimme ich zu«, erklärte de Lanceau, der auf sie zukam und sein Schwert in die Scheide steckte.

»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte Dominic.

De Lanceau nickte. Als er allerdings Gisela ansah, erschauderte sie. »Du magst eine gemeine Bürgerliche sein«, sagte er lächelnd, »aber du bist so nobel wie jede Hochgeborene.«

»Gisela, die edle Kriegerin«, fügte Dominic augenzwinkernd hinzu.

Sie lächelte, und de Lanceau lachte.

Rufe lenkten ihre Aufmerksamkeit zum Flussufer. Am Steg standen Crenardieu und die Londoner Kaufleute mit gefesselten Händen und von de Lanceaus Waffenknechten umringt. Drei Schurken lagen tot im flachen Wasser. Aldwin befand sich auf dem Steg, erteilte Befehle und half den anderen Männern, die Seidenballen aus den Booten wieder auf den Wagen zu laden.

»Wir kehren bald nach Branton Keep zurück«, murmelte Gisela, deren Stimme brüchig klang. Sie sehnte sich danach, ihren kleinen Jungen in die Arme zu nehmen, ihn fest an sich zu drücken und sich zu freuen, dass er sicher vor Ryle war. Nur müsste sie bei ihrer Rückkehr auch die Strafe antreten, die de Lanceau ihr auferlegte.

Dominic löste seine Umarmung. »Auf ein Wort, Mylord.« Er berührte Giselas Arm und sagte: »Es dauert nicht lange.«

Sie blickte ihm nach, als er mit de Lanceau ein paar Schritte beiseiteging und leise mit ihm redete. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Wie schön Dominic selbst jetzt noch, mit zerrissenen Kleidern und übersät von Wunden, aussah! Nichts konnte seiner noblen Stärke etwas anhaben. Wie er dort neben de Lanceau stand, war offensichtlich, dass er zu den Hochgeborenen gehörte. Für sie, die gemeine Bürgerliche, blieb er unerreichbar.

Die Einsamkeit legte sich wie ein dunkler Schatten über ihre Erleichterung. Wie auch ihr Schicksal aussehen sollte, sie würde es akzeptieren.

De Lanceau nickte grinsend, dann klopfte er Dominic auf die Schulter, und beide kamen zu ihr zurück.

»Ich habe alles berücksichtigt, was heute geschehen ist«, erklärte de Lanceau und sah Gisela freundlich an. »Vor allem, dass du selbstlos dein Leben riskiert hast, um Dominics zu retten. Und ich habe auch über das nachgedacht, was du mir auf Branton Keep und bei dir zu Hause enthüllt hast.«

Gisela nagte an ihrer Unterlippe. »Ja, Mylord.«

Ich verurteile dich zum Kerker bis ans Ende deiner Tage.

»Wenngleich ich nicht all deine Entscheidungen gutheißen kann, glaube ich dir, dass du getan hast, was nötig war, um nicht nur dein Leben, sondern auch das deines kleinen Sohnes zu schützen … Dominics Kind.«

Gisela musste heftig blinzeln, als sie nickte.

»Deshalb …«

Gütiger Gott, bitte, lass ihn gnädig sein! Bitte, nimm mir Ewan nicht weg! Bitte, bitte …

»… weil deine Entscheidungen dem Wohlergehen seines Sohnes dienten …«

Bitte, bitte!

»… überlasse ich es Dominic, über eine Strafe zu befinden.«

Zuerst war Gisela sprachlos. »Dominic?«

Dieser legte wieder seinen Arm um sie und küsste sie auf die Wange. »Und weil ich heilfroh bin, dass Ryle tot ist, du meinen Sohn vor seinem mörderischen Zorn bewahrt hast und Geoffreys Seiden alle wiedergefunden wurden«, verkündete er, »sehe ich nur eine mögliche Lösung.«

»Ach ja?« Sie sah ihn unsicher an. »Welche Lösung?«

De Lanceau klatschte in die Hände. »Dann wäre das geklärt.«

Nein, denn Gisela war nach wie vor verwirrt. »Dominic?«

Ein schelmisches Funkeln leuchtete in seinen Augen. »Das besprechen wir, wenn wir wieder auf Branton Keep sind, mein süßes Gänseblümchen.«