23.

Da war nichts über ihm als der Himmel, der nach dem Gewitter wieder blau leuchtete. »Wuhuu! Das ist so geil!« Alessio jubelte so laut, dass die da unten den Blick nicht von ihm wenden konnten. Sie waren richtig klein, Henne, Blue mit ihrem blauen Schopf und ein paar der anderen Kids. Er hing hoch in den Seilen in einem dieser Parkbäume, die bald gefällt werden sollten. Der Baum war uralt, und sein Stamm so dick, dass er ihn nicht umfassen konnte.

»Pass lieber auf!«, sagte Ron, der ihn sicherte. Der Typ von Robin Wood hatte ihm versprochen, ihn einmal mit hinaufzunehmen, als Dank dafür, dass er auf der Demo Prospekte verteilt hatte. Er hatte nicht gefragt, woher er kam. Alessio gefiel, dass die Baumkletterer von Robin Wood für ihre Ziele alles gaben und dabei genauso in den Tag hinein lebten wie er selbst. Ron war ein wettergegerbter Kerl mit Rastalocken, der mehr in den Bäumen als auf der Erde herumhing.

»Gib acht, wo du hintrittst!«, mahnte er. »Du musst dich konzentrieren, auch wenn ich dich an der Leine hab.«

»Wenn es keine Bäume mehr gibt, stirbt auch der Mensch«, stand auf dem Transparent, das sie an der Plattform des besetzten Baums aufhängen wollten. Alessio angelte mit dem Fuß nach einer Astgabel, stellte sich darauf und band das Spruchband an einen Ast. Ron befestigte es auf der anderen Seite und schwang sich elegant auf die Plattform. Cool, dachte Alessio. Er zog sich hoch, stand sicher im Baum und schaute sich um. Der Park schlug eine grüne Schneise in das Häusergewirr der Stadt. Hinter ihm fuhren zwei Züge langsam in den Kopfbahnhof ein. Vor ihm schob sich der Stuttgarter Osten den Hang hinauf, Häuser über Häuser.

»Ich lass dich jetzt runter«, rief Ron. »Die Kleine da unten verrenkt sich fast den Hals nach dir.«

Alessio stieg von der Plattform, hing einen Moment lang in der Luft, und dann ging es an der Sicherheitsleine bergab. Fast wie im freien Fall war das, seine Füße suchten Halt an der Borke des Baums, der hellgrüne gezackte Blätter hatte und dessen Namen er nicht kannte. Als er unten angekommen war, umringten die anderen ihn und schlugen ihm auf die Schultern. Blue legte ihm die Arme um den Hals. Sie roch nach dem Shampoo seiner Mutter, von dem sie eine Ersatzflasche im Vorratsschrank gefunden hatten.

»Hey, du Held«, sagte Henne und öffnete zischend eine Bierflasche. »Trink!«

Das Bier rann eiskalt durch seine Kehle. Hinter ihm standen die großen Tipis der Parkbesetzer. Henne war der Häuptling der Huronen und er, Alessio, der letzte Mohikaner im tiefen Wald von Stuttgart City. Er stellte sich auf ein Bein und tanzte johlend um Henne und Blue herum. Als er wieder zur Ruhe gekommen war, drehte sich die Welt. Zuerst dachte er, das Gesicht, das sich zwischen die beiden geschoben hatte, sei eine Vision, direkt aus einem seiner Albträume entwichen. Als er begriff, dass es echt war, wurde ihm schlecht, und er wandte sich ab.

»Ciao!«, sagte Kain und legte ihm die Hand auf den Rücken.

Alessio drehte sich langsam um und suchte Blues Blick. Sie hatte verstanden, war schon drei Schritte zurückgetreten und hielt die leise knurrende Ronja am Halsband fest. Er sagte nichts und schaute sich um. Seine Freunde umringten ihn schweigend. Instinktiv hatten sie verstanden, dass Alessio nicht auf diesen Besuch gewartet hatte, und waren wachsam.

»Was willst du?« Zeit gewinnen war alles. Alessio überlegte fieberhaft. Irgendwo musste sich doch ein Ausweg auftun!

Kain hob die Hände. »Nur mit dir reden.«

»Ist das okay?«, fragte Henne.

Alessio nickte, schüttelte Kains Hand ab, die sich auf seinen Arm gelegt hatte, und folgte ihm über die Wiese. Blues beunruhigter Blick brannte in seinem Rücken. Bloß nicht umdrehen!, dachte er. Bloß nicht Kain auf den Gedanken bringen, er hätte was mit ihr! Sie gingen bis zu einer Baumgruppe und stellten sich einander gegenüber. Alessio spürte die raue Rinde an seinem Rücken.

»Wie geht es dir?« Kains Augen ruhten auf ihm, fast so, als hätte er sich Sorgen gemacht.

»Gut. Das siehst du doch.«

Sein Bruder nickte. »Klasse Clique«, sagte er spöttisch. »Seit wann hängst du mit denen ab?« Zorn stieg in Alessio auf wie eine Stichflamme und verpuffte ebenso schnell. Jeglicher Widerstand hatte seinen Sinn verloren. »Noch nicht lange«, sagte er ausweichend.

»Du hast hoffentlich nichts gesagt?«

»Nein!«

»Du weißt, warum ich da bin?«

Er nickte widerstrebend.

»Um dich nach Hause zu holen, Mann. Die anderen warten auf dich. Er wartet auf dich.«

»Ich habe kein Zuhause«, sagte er und dachte an seine Mutter. Es war besser, sie lenkten die Aufmerksamkeit nicht auf Laura, vergaßen sie ganz. Sie hatte eine reelle Chance, denn es gab keine Blutsbande, die sie mit den anderen verband, und in ihrer Klinik war sie relativ sicher.

»Das stimmt so nicht!« Kains Zeigefinger deutete auf seine Brust. »Ich, wir sind dein Zuhause. Blut ist dicker als Wasser.«

Er war im Kreis seiner Familie neu geboren worden, hatte auf das Heiligenbild geschworen und es danach verbrannt.

»Ich will das alles nicht.« Er steckte die Hand in seine Jeanstasche und griff nach den fünf Hunderteuroscheinen, die er zusammengerollt und mit einem Gummiband umwickelt hatte. »Hier, ich gebe dir das Geld. Das kannst du an ihn weitergeben. Damit kaufe ich mich frei.«

Sein Bruder starrte ihn ungläubig an. »Du denkst, du kannst deine Verpflichtungen loswerden, wenn du etwas Kohle lockermachst, die du ausgerechnet einer alten Dame geklaut hast? Mann, das stand in allen Zeitungen. Peinlich.«

Alessio spürte, wie er rot wurde, und ärgerte sich. Schließlich pustete Kain anderen Leuten so locker den Kopf weg, wie er sich einen Espresso machte. Was war dagegen ein kleiner Handtaschenraub? »Darüber musst gerade du dich aufregen.«

»Ich tue, was die Ehre gebietet«, sagte Kain würdevoll und streckte die Hand aus. »Behalt dein schmutziges Geld! Komm mit mir, und alles wird vergessen sein!«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bleib hier.«

Kain trat so nahe an ihn heran, dass sein Atem Alessio ins Gesicht blies. Er hatte Knoblauch gegessen. »Du tust, was ich dir sage. Nicht, weil ich dein älterer Bruder bin, sondern weil du einen Eid geschworen hast, bei deinem Blut.«

Dieser verdammte Eid. Wer ihn brach, hatten sie gesagt, dem drohe nicht nur der Tod, sondern die ewige Verdammnis. Er glaubte zwar nicht daran, dass ihn der heilige Antonius von Padua bei Gott verpfeifen würde, aber konnte er sich dessen wirklich sicher sein?

»Ich bin kein Mörder.« So wie du, hätte er am liebsten hinzugefügt.

»Du bist ein Soldat.«

»Ich führe keine scheißsinnlosen Befehle aus.«

»Doch, das tust du«, sagte Kain. »Und weißt du auch, warum?« Alessio schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. In diesem Moment begriff er, dass er verloren hatte.

»Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie die Kleine mit dem Hund dich ansieht? Und glaubst du wirklich, ich wüsste nicht, dass sie heute Morgen mit dir in der Wohnung war?«

Alessio öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es war zwecklos, noch etwas zu sagen.

»Es geschieht ihr nichts, keine Sorge«, fuhr Kain fort. »Noch nicht. Aber du kannst sie als kleines Unterpfand dafür verstehen, dass du spurst. Das ist eine einfache Rechnung. Alessio erfüllt seine Aufgaben und sieht seine Kleine wieder, heiße Liebe, heißer Sex.« Er machte eine eindeutige Bewegung über seiner Kehle. »Oder Alessio ist weiterhin widerspenstig, und es gibt keine Kleine mehr, mit der er sich rumtreiben kann.«

»Lass uns gehen!«, sagte er müde.

Über die Wiese kam Ron auf sie zu. »Alles in Ordnung, Alessio?«, fragte er und musterte Kain, als hätte er ihn durchschaut.

»Ja, ja, schon gut.« Nicht weil er hoch oben auf dem Baum gewesen war, wusste Alessio, wie Freiheit schmeckte, sondern weil er das Gegenteil dieses Zustands kannte. Er hätte den Gurt lösen und aus dem Baum springen sollen, als noch Zeit dafür gewesen war.

»Warte!« Er legte Kain die Hand auf den Arm. »Ich komme mit dir, aber ich will mich eben … von den anderen verabschieden.«

Er überquerte die Wiese mit bleischweren Schritten und ging auf die Gruppe der Straßenkinder zu. Sie hatten sich im Schneidersitz rund um den Baum gesetzt, barfuß, das Gras war noch nass vom Gewitter. Blue sprang auf, als sie ihn kommen sah. »Alessio, das ist doch dein Bruder. Was will der von dir?«

»Ich muss … kurzfristig weg.«

»Aber …« Ronja schnüffelte an seiner Hand und bellte beunruhigt.

»Ich komme bald wieder«, log er und zog sie ein Stück fort. »Bitte, ihr dürft mich nicht verraten! Auch nicht, wenn die Bullen kommen.« Er zog das Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche, für das er so viel riskiert hatte. »Hier nimm! Davon kommt ihr eine Weile über die Runden.«

Sie zog den Gummiring ab und blätterte die Scheine auseinander. »Aber das ist richtig viel Kohle.«

Er nickte grimmig. »Es ist für dich. Dieser ganze Mist soll nicht umsonst gewesen sein.«

»Danke«, sagte sie.

Alessio drehte sich nicht noch einmal um, sondern folgte seinem Bruder zurück in ein Leben, das ihm nicht gehörte.

Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen
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