32.
Die Luft war frisch und feucht und roch nach dem nahen Fluss. Fabian lief den Uferweg an der Neckarinsel entlang in Richtung Zell. Endlich frei! Er hörte nur noch die gleichmäßigen Tritte seiner Joggingschuhe auf dem nassen Asphalt und wartete darauf, dass der Stress des Tages von ihm abfiel und der Leere Platz machte, die alle Gedanken vertrieb. Der Weg folgte dem Fluss in einer geraden Linie. Nicht weit entfernt lag die Bundesstraße, deren gleichförmiges Rauschen ihn begleitete. Es regnete nicht mehr. Trotzdem lief er durch einen grünen Tunnel, in dem es unaufhörlich tropfte. Hin und wieder kam ihm ein anderer Jogger oder Fahrradfahrer entgegen, dem er grußlos auswich. Der Fluss hatte sich durch den zusätzlichen Niederschlag braun verfärbt. Ungerührt strömte er nach Westen und scherte sich nicht um ungelöste Fälle und verschwundene italienische Jungs. Vielleicht sollte er Alessio einfach seines Weges ziehen lassen und sich für ihn freuen, dass er diesem unheimlichen Onkel entronnen war. Nein, dachte er dann. Der Junge hatte einen Kumpel ohne mit der Wimper zu zucken ins Koma geprügelt, und die alte Dame kurierte einen Armbruch aus. Eine Chance auf Wiedergutmachung musste es geben, für den Fremden, für die Gerechtigkeit und nicht zuletzt für Alessio selbst, der lernen musste, sich den Folgen seiner Taten zu stellen.
Ein lauter Knall unterbrach seine Gedanken. Ein Schwarm Enten erhob sich vom Fluss und flog pfeilförmig nach Westen in den durchsichtig grünen Himmel. Vielleicht war auf der B 10 ein Reifen geplatzt, vielleicht hatte es auch nur eine Fehlzündung gegeben, oder irgendein Idiot ballerte im Ufergebüsch herum.
Plötzlich drängte sich der Mord an Peter Ölnhausen in Fabians Gedanken. Irgendetwas hatte nicht gestimmt, und diese Frage hatte ihn den ganzen Tag über beschäftigt wie ein bohrender Zahnschmerz. Ganz plötzlich fiel es ihm ein. Die beiden Schüsse hatten sich in Lautstärke und Qualität unterschieden. Der erste war so leise gewesen, dass seine Mutter sogar ausgesagt hatte, sie habe ihn nicht gehört. Schwer atmend blieb Fabian stehen, drückte die Hände auf seine Oberschenkel und wartete darauf, dass sich seine Gedanken ordneten. Es waren zwei Schüsse gewesen, da war er sich sicher. Aber der erste war mit einem Schalldämpfer abgefeuert worden. Milena Donakova – hatte sie neben Ölnhausens Sportwaffe noch ein Profimodell mit Schalldämpfer in ihrem Kosmetiktäschchen? Wechselte sie ihre Waffen wie ihre Reizwäsche? Nein, zwei Pistolen bedeuteten, dass zwei Schützen am Werk gewesen sein mussten. Wer von ihnen Peter Ölnhausen erschossen hatte, war völlig unklar.
Als er Fritz Kellers Nummer wählte, spürte er verärgert, dass seine Hände zitterten.
»Fritz! Ich muss dich unbedingt sprechen!«
»Wie du wissen solltest, hab ich Feierabend und lege gerade auf meiner Terrasse die Beine hoch.« Die Bereitschaft, sich über Dienstschluss hinaus zu engagieren, ließ, wie Fabian immer wieder feststellen musste, mit der Anzahl der Dienstjahre nach. »Es ist aber wichtig«, drängte er.
»Na gut, dann komm halt vorbei. Elfriede hat Kartoffelsalat gemacht. Wenn ich’s recht bedenke, hätte ich auch eine Neuigkeit für dich.«
»Den Kartoffelsalat kann ich mir unmöglich entgehen lassen.«
Fabian legte eine abrupte Wendung hin und lief zurück zum Parkplatz, wo sein eisblauer Saab auf ihn wartete. Er fuhr an seiner Wohnung in der Franziskanergasse vorbei und duschte. Eine Dreiviertelstunde später saß er mit dem Ehepaar Keller auf der Terrasse ihres Einfamilienhauses in Hegensberg, das inmitten eines steil abfallenden Gartens lag.
»Der Garten hat den Regen aufgesaugt wie ein Schwamm«, sagte Elfriede Keller und deckte den Tisch für drei, während ihr Mann auf die Schweinenackensteaks aufpasste, die wegen des unerwarteten Besuchs auf den Grill gewandert waren. »In den ganzen letzten Jahren ist es nicht mehr so trocken gewesen.«
Fabians Magen knurrte lautstark. Seit dem Nougatkringel hatte er nichts mehr gegessen, und jetzt freute er sich auf das Festmahl bei seinem Chef.
»Du solltest öfter vorbeikommen, Fabian«, sagte Elfriede Keller. »Polizeiarbeit zehrt. Ich kenne das schon seit dreißig Jahren.« Sie legte ihm das größte Steak auf den Teller, häufte Kartoffelsalat daneben und drückte ihn auf einen Gartenstuhl. »Willst du eine Fanta oder eine Apfelsaftschorle?«
»Mach dir nichts draus!«, sagte Keller augenzwinkernd. »Wenn sie in Fütterlaune ist, reiche ich ihr einfach nicht aus.«
»Das ist mir sehr recht.« Fabian griff nach dem Besteck und schnitt das tellergroße Steak an.
»Elfriede hat eben gern junge Leute um sich«, sagte Keller. Die beiden Töchter seines Chefs waren schon lange aus dem Haus, hatten eigene Familien gegründet und lebten im fernen Norddeutschland.
»Käskuchen gibt’s auch noch.«
»Auch damit kann ich prima leben«, sagte er zufrieden und verputzte den Inhalt seines Tellers in Rekordgeschwindigkeit. Danach dezimierten sie den Käsekuchen so, dass sich Fritz Keller den Gürtel locker schnallen musste. »Jetzt will ich euch mal nicht mehr stören«, sagte Elfriede und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Die ersten Sterne leuchteten am tintenblauen Himmel.
»Meine Frau hast du glücklich gemacht«, sagte Keller. »Nimm doch noch ein Stück Kuchen!«
»Nein danke. Wenn ich noch was esse, platze ich.«
»Also schieß los!«, drängte ihn Keller. »Weshalb störst du mich an meinem wohlverdienten Feierabend?«
»Ich habe noch mal über den Mord nachgedacht.« Fabian schob seinen Teller zurück. »Es geht um die Schüsse. Es waren zwei, und die Geräusche unterschieden sich. Der erste war leise, ohne Nachhall, einer, den man leicht überhören konnte. Der zweite laut, typisch für einen Schuss.«
Keller lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen ab und faltete die Hände. »Und was willst du damit sagen?«
Fabian sah ihn an. »Die Schüsse wurden aus verschiedenen Waffen abgefeuert. Die erste hatte wahrscheinlich einen Schalldämpfer.«
Keller pfiff leise durch die Zähne. »Die Waffe eines Profis. Du meinst, dass Ölnhausen nicht von seiner Freundin getötet wurde? Aber warum hat sie die Tat dann gestanden? Warte mal – hat sie das denn wirklich? Heute hat sie keinen Ton gesagt, sondern nur schweigend herumgesessen.«
»Es geht hier nur um die Schüsse«, sagte Fabian.
»Es fehlt uns das Untersuchungsmaterial. Dann wird der morgige Tag spannend, aber nicht nur deshalb.«
Er stand auf, ging ins Haus und kam mit einem Faxausdruck zurück. »Das hat die Dienststelle vorhin an mich weitergeleitet. Dem Jungen, den dein Alessio ins Koma geprügelt hat, geht es besser. Er ist heute nachmittag erwacht. Seine Vitalfunktionen sind im Normalbereich, und er erinnert sich sogar an die Rauferei mit Alessio.«
Fabian nickte. »Hat er auch einen Namen?«
Keller räusperte sich und schaute in seine Unterlagen. »Er heißt Nicolai Reskin, ist neunzehn Jahre alt und Automechanikerlehrling. Die Familie stammt aus der Ukraine. Seine Werkstatt hat ihn schon am Montag vermisst. Aber als sie nachfragten, war keiner da. Seine Schwester ist heute erst aus Mallorca zurückgekommen. Und jetzt kommt das Beste.«
Keller machte eine effektvolle Pause. »Dieser Nicolai hat zwar jetzt eine eigene Bude, aber die Schwester wohnt noch immer im gleichen Haus wie Alessio.«
»Dann war er also Alessios Nachbar«, sagte Fabian grimmig. »Vielleicht habe ich auf seinen Wunsch hin den Mettinger Müll durchwühlt.«
»Du meinst, dass er der anonyme Anrufer gewesen sein könnte?« Fritz Keller setzte sich zurück. »Das fragen wir ihn morgen am besten selbst.«