Der Weg in die Finsternis
New York. Heute
Anevay schloss die Augen.
Der alte Ford Gigant schleuderte hin und her, schrammte eine eiserne Laterne. Glasstücke schlitterten über die Windschutzscheibe. Funken stoben auf. Die Reifen quietschten, Licht wechselte zu Dunkelheit.
»Bist du okay, A?« Ihr Vater schrie diese Frage über seine blutende Schulter. Sie konnte nicht antworten. Sie hatte Angst. A wollte nicht als letzte Erinnerung seinen panischen Blick in einem schmalen Rückspiegel sehen. Diese verzweifelte Ungewissheit. Ein tosender Regen prasselte auf das Wagendach. Der Motor vibrierte bis in ihr banges Herz. Alles war verloren. Jetzt. Genau hier.
Sie war sechzehn Jahre alt und würde gleich aus einem fahrenden Auto springen. Die mechanische Verriegelung drehte sich summend um die eigene Achse, sprang hoch.
»Bereit?!«
Nein.
Sie stieß mit einem Fuß die Tür auf. Regen drosch auf ihr ausgestrecktes Bein. Wind fauchte durch ihre Haare. Der Wagen war so schnell, so schnell.
»Ich werde dich finden, A! LEBE! LEBE, mein Licht! … JETZT!«
Sie sprang, fiel, harter Asphalt traf auf ein dünnes Nachthemd, ein metallischer Knall zersplitterte in der Nacht, Schmerz wirbelte von ihr fort, oder in sie hinein? Oben war unten, unten oben. Sie rollte in eine Gasse, inmitten von Mülltonnen. Lautes Scheppern stieg jäh in die Nacht.
Sie taumelte hoch, fiel erneut. Nackte Füße in dreckigen Regenpfützen. Sie hielt ihre schmerzenden Rippen, starrte den verblassenden Rücklichtern nach und der ausgerissenen Tür, die sich noch immer, mitten auf der einsamen Straße, um sich selbst drehte und dabei schrammend immer leiser wurde. Sie blieb liegen.
Anevay sollte ihren Vater nie wieder sehen.
Viele Monate später sollte es erneut regnen und A hing mit bloßen Fingerspitzen an einem nassen Sims im achten Stock eines Gefängnisses. Sie hoffte darauf, dass die Kraft reichte, sie am Leben hielt.
Und dass sie das geraunte Versprechen, das sie unter einer stinkenden Wolldecke gab, würde erfüllen können.
Was aber zuerst geschah ...
Grelle, schwankende Lichtstrahlen!
Stimmen. Zwei.
Schmerzen. Stiefelschritte im Regen.
»Sieht aus wie eine aus den freien Territorien, oder was meinen Sie, Sir?«
Lachen. Nicht aus dem Herzen, sondern aus der Kehle. Einer rauen Trinkerkehle.
»Ich rufe mal einen Wagen!« Ein Zögern. Die Stimme klang fast zaghaft.
Schritte gingen, die anderen kamen dafür näher, das Licht wurde heller. Gnadenloser.
»Ja, mach das, du dämlicher Fatzke.« Die Worte waren genuschelt. Mehr auf den Boden gerichtet. Auf sie. A versuchte sich zu drehen, hob mühsam eine Hand vor die geblendeten Augen, musste husten.
»Machst du auch nur einen Mucks, zieh ich dir den Stock über den Schädel!«
Sie erspähte eine dunkle Uniform, die bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, verziert mit einer Zweierreihe goldener Knöpfe, auf denen jeweils ein Auge prangte, hohe Schaftstiefel, einen Vollbart, kleine Augen, die sich hinter etwas zu verstecken schienen. Und einen schwarz lackierten Knüppel in einer geballten Faust. Sie ließ sich zurücksinken. Dies waren die gefürchteten Polizisten der Ostküste. Man nannte sie auch Schwarzhüte.
»A …«, krächzte sie.
Der schmutzige Bart kam näher. Das Licht auch. Unter einem ledernen Stetson, aus dessen gewölbter Spitze der Regen auf den Asphalt sprudelte, schimmerten lange Koteletten, Blond mit Rot. Struppig. Wild.
»Hä? Ist das etwa eine Sprache?« Die Stiefelspitze traf sie in den Bauch. Nicht hart, sie traf nur. »Ist das alles? Ihr Territories sollt doch so hart wie eure Scheißbäume sein, oder was?« Erneut ein Tritt. Härter nun, mit Ungeduld.
Anevay nahm die Arme runter. ›Ergib dich!‹ Doch sie konnte nicht. Zuerst auf die Knie, dann auf die Hände. ›Steh´ auf, A!‹
»Was habe ich gerade gesagt, du …« Der Stiefel zuckte vorwärts, A zuckte zurück. Doch der Schlag blieb aus.
»Ein Wagen ist schon unterwegs.« Die andere Stimme war wieder da. Leise, aber sie war da.
Ihr Vater hatte einmal seine Hand auf ihr kleines Herz gelegt und gesagt: »Dort drin ist etwas, das dich immer beschützen wird. Du musst es nur finden.«
›Ich habe es wirklich gesucht, Papa, immer wieder … es ist nicht da!‹
»Steck doch endlich den Prügel weg, Sweeny. Ist doch noch ein Kind.« Der zaghafte Mann beugte sich vor. Der Hut hing halb zerdrückt in seiner Hand und er tippte damit nervös gegen sein Bein. »Hast Du einen Namen, Kleine, hm?«
Sie wollte es ihm sagen, doch A sah nur weiter auf den Schlagstock in Sweenys Hand. Eine schlecht geflochtene Schlaufe führte hinüber vom Griff bis zum Handgelenk. Einem starken Handgelenk. Einem wütenden Handgelenk.
Sie hielt es plötzlich für besser zu schweigen - und zwar für immer. Sie schüttelte betrübt den Kopf und deutete auf ihre Kehle. Ein verständnisvolles Nicken war die Antwort. Der Mann erhob sich, den Hut aufsetzend.
»Armes Kind, ist wohl …«, seine schmalen Schultern wandten sich dem Ausgang der Gasse zu. Dort blieb sein Blick auf der verbeulten Tür mitten auf der Kreuzung haften, »… ausgesetzt worden.« Er rieb sich das Kinn. »Was meinst du, Sweeny?«
Der Angesprochene bewegte sich nur leicht. Folgte nur huschend dem Blick.
»Wenn ich das anmerken darf, Nr. 7, dann würde ich sagen, dass sie eine aus den Territorien ist. Das schwarze Haar und die schrägen Augen weisen eindeutig darauf hin. Sie könnte eine Wild One sein. Wobei ich mir da ziemlich sicher bin.« Dabei sah er auf A hinunter, als habe er gerade richtig Spaß.
Nr. 7 drehte sich wieder zu ihnen herum und hielt seine Taschenlampe mitten auf ihr Herz.
»Und ... bist du eine Wild One, Kleine?« Das Zaghafte schlich aus seiner Stimme. Er hatte ein längliches, offenes Gesicht von einer gewissen Unbekümmertheit, so als kenne er noch auf ganz andere Fragen ganz eigene Antworten. A schüttelte langsam den Kopf. Sie wollte gar nichts sein. »Da siehst du´s Sweeny - keine von denen.«
»Aber Sir«, brauste dieser auf, schnellte herum, ließ sie endlich aus dem Knoten seiner engen Fesselaugen. Während er wütend zischte, schaffte es A, auf die Füße zu kommen. Blut rann warm an ihrem Schienbein herunter. Die Ellenbogen heulten.
»Die lügen doch schon, wenn sie´s Maul aufmachen. Die pissen sogar Lügen, das weiß jeder. Und die machen diese abscheulichen ...« Er wandte sich wieder ihr zu, erstarrte, weil sie plötzlich vor ihm stand und riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte gekrümmt auf dem Asphalt gelegen, schwer abzuschätzen, wie groß da jemand ist. Jetzt sah sie ihm direkt ins Gesicht. Doch die Überraschung währte nicht lang. Sein Blick wurde grinsend, das Leder um den Schlagstock knarrte nass, als er die Faust fester darum schloss. A blieb stehen, wo sie war. Sie wollte nach Hause. Zumindest irgendwohin, wo es trocken war.
»Na endlich«, flüsterte er ihr entgegen, hob den Knüppel. Da spuckte sie ihm vor die Stiefel.
A war nie lange an einem Ort gewesen, doch sie hatte dabei einiges von ihrem Vater gelernt. ›Spucke jemanden an und du verkündest deine ungezügelte Wut, spucke jemandem vor die Füße und du zeigst damit deine grenzenlose Verachtung. Mit dem einen verurteilst du das, was er getan hat, mit dem anderen sein wertloses Sein, sein gesamten Leben! Es gibt kaum etwas Schlimmeres, dort wo wir herkommen.‹
Sweeny schien zumindest einen Teil dessen zu begreifen, was sie da gerade getan hatte. Ein heiseres Knurren entfuhr seinem bebenden Schnurrbart.
»Dafür …«, doch weiter kam er nicht. Die hohen Töne einer kurzen Sirenenfolge plärrten durch Stein, Mensch, Knochen.
»Scheiße, sind die flink«, fluchte er, straffte sich im Nu und steckte schnell den Stock beiseite, als habe man ihn erwischt. Die Sirene erstarb, sie ertönte nur dieses eine Mal. Unheimlich.
A schwankte. Ihre linke Hand klatschte nach Halt suchend an eine Mauer. Sie sah hinauf. Gebrannte Ziegel, dunkel, tropfnass, himmelhoch, blinde Fenster, die allesamt verhangen waren. Sie war allein. Eingekreist. Liegen gelassen.
Sie blinzelte Regen von den Wimpern, trat einen Schritt zurück. ›Geh nach Hause, A. Ja, tue das.‹ Doch sie hatte nie ein Zuhause gehabt. Eine halb zerbrochene Flasche flutschte unter ihrem Hacken weg und klimperte gläsern gegen die Wand. Die ganze Welt hörte es.
»Das ist eine Sackgasse, Mädchen!« Diese Stimme war neu, monoton, ohne jede Schwingung, als hätte sie einen Winterhimmel vor dem Mund.
A drehte sich um, sah auch hier gegen eine Wand. Ende. Aus.
»Wir können das ganz einfach machen, A, oder ...«
Sie mochte die Stimme nicht. Und sie mochte es nicht, dass sein A so viel kleiner klang als das ihres Vaters. Sie stand vor der Wand und hob einen Fuß in die länglichen Fugen, ihre Finger suchten weiter oben. Etwas Hartes legte sich auf ihre linke Schulter. Sie konnte das Leder daran riechen.
»Tu mir den Gefallen, ja?« Es war Sweeny. Ganz Flüstern. Sein Atem blies rau in ihren Rücken. So nah. A spürte die Sehnsucht nach Gewalt unausgesprochen hinter sich. ›Fliehen ist nur ein weiterer Weg zu zeigen, wer du bist‹, hatte ihr einmal jemand anvertraut. Also stieg sie hinunter, atmete tief ein und noch tiefer wieder aus. Manchmal muss man die Wellen über sich kommen lassen, damit man weiterschwimmen kann.
Der Mann mit der Winterstimme trat ins Licht. Blasse, dünne Haare klebten auf seinem schmalen Schädel. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem schönen Gehrock darüber, als wäre er gerade von einer wichtigen Veranstaltung nur ihretwegen hierher geeilt. Er war sehr schlank, groß und trotz des Regens, der auf alles hernieder platschte, konnte sie ein leises Pfeifen aus seiner Nase hören, jeder Atemzug war davon eingehüllt. In seinen langen Armen, die schlaff neben ihm hingen, lag am Ende etwas in seiner Hand. Es sah aus wie eine zu kurze, silberne Pistole. Doch dann bemerkte sie die Nadel, die am Ende im Licht glitzerte. Am Eingang der kurzen Gasse stand ein bulliger Schatten. Reglos. Wartend. Nicht einmal eine Schlange wäre dort vorbeigekommen. Ihre Beine begannen zu zittern. Angst. Kälte. Kalte Angst.
»Man nennt mich Mr LaRue, Mädchen.« Ein kurzes Lächeln huschte wie eine Ratte mit Beute über seine dicken Lippen. Sweeny neben ihr unterdrückte ein Glucksen. Nr. 7, weiter hinten, hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Offenbar war ein Witz gemacht worden. A lachte nicht, was Mr LaRue offensichtlich nicht behagte, denn seine linke Hand zuckte. Nun sah sie auch die scharfen Falten, die an seinen Wangen herunter rannen wie im Schatten liegende Schriftzeichen. Dann stand er vor ihr. Jetzt begannen auch ihre Hände zu zittern. Der Regen schlüpfte in ihren Körper.
»Streck deine linke Hand aus, bitte.« A streckte ihre Hand vor. Dicke Tropfen zerplatzten darin. Es war wunderschön. Mit einer fließenden Bewegung stach die Nadel durch die Haut, dann drückte Mr LaRue den Abzug und sie spürte plötzlich, wie der Regen versiegte, wie die Mauern neben und hinter ihr nach Hause gingen, denn es war Zeit für den Feierabend. Die Flasche, die gegen die Wand gekullert war, richtete sich auf, zog einen alten Mantel über und brummte etwas von verdammte Überstunden, während sie ungelenk davon humpelte. A begann zu lächeln.
»So ist´s gut.« Der Satz - eine einzelne Schneeflocke. Weiß. Hell. Hell war gut. »Als würde jeder Muskel in dir an die See zum Urlaub fahren, nicht?!« A konnte nur noch nicken, dann fiel sie.
Es war seltsam, aber sie wusste, dass ihr Körper auf dem Asphalt lag, während ihr Geist noch weiter stürzte. In dieser Schwärze fühlte sie den Regen auf sich trommeln, jeden einzelnen Druckpunkt, den er dabei hinterließ. Auch Stimmen konnte sie hören, wie in einen fremden Traum gedrückt. Sie klangen verwischt, als wären Tücher vor ihre Münder gepresst. Später sollte ihr diese Fähigkeit einmal das Leben retten, doch nicht jetzt. Jetzt war A auf dem Weg in das Herz der Finsternis.