9. KAPITEL
Wenn sich eine Sache nicht in die gewünschte Richtung entwickelt, lasse man sie vorerst ruhen und widme sich kurzzeitig etwas anderem. Später kann man zur ursprünglichen Aufgabe zurückkehren, der Verstand ist frisch und ausgeruht. Es gibt nur wenige Schwierigkeiten, denen man mit Geduld und harter Arbeit nicht beikommen könnte.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Mit vernehmlichem Klirren stellte Beatrice die Teetasse ab. „Das, was ich dir gerade erzählt habe, ist von vorn bis hinten erlogen. “
Beth blinzelte.
„Du hast kein Wort von alldem mitbekommen!“, sagte Beatrice anklagend.
Das stimmte. Beth hatte an ihr gestriges Zusammentreffen mit Lord Westerville gedacht. Seit jenem Morgen hatte sie das ungute Gefühl, dass sie möglicherweise eine Schlacht gewonnen hatte, der eigentliche Krieg aber noch vor ihr lag.
Es war vollkommen richtig gewesen, dem Mann zu sagen, sie wolle ihn nie Wiedersehen, da ja schmerzhaft offensichtlich war, dass er durch sie nur an ihren Großvater herankommen wollte. Das Problem war, dass dies ihr Interesse an ihm um kein Jota verringerte. Wenn überhaupt etwas, dann war es sogar noch gewachsen.
Laut seufzte sie auf. „Tut mir leid, Beatrice. Ich bin leider furchtbar unaufmerksam. Großvater schilt mich deswegen auch andauernd.“
Beatrice strich eher heftig als elegant Butter auf ihren Toast. „Es macht mir nichts aus, wenn du mich vor dem Tee ignorierst, aber danach erwarte ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Vor allem, wenn ich über etwas Wichtiges rede.“
Harry senkte die Zeitung und linste darüber hinweg. „Du hast über Hüte geredet.“
Beatrice errötete. „Hüte sind wichtig.“
Er hob die Brauen. „Warum?“
Sie öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder, die Stirn nachdenklich zerfurcht. Plötzlich begann sie auf ihrem Stuhl herumzuhüpfen. „Hüte sind wichtig, weil wir ohne sie vielleicht scheußliche Sommersprossen bekommen würden!“ Beth lachte, doch alles, was Beatrices Gatte dazu sagte, war: „Pah!“
Harry war ein attraktiver Mann, doch bei weitem nicht so umtriebig wie seine Frau. Im Gegensatz zu ihr war er es durchaus zufrieden, mit einem dicken Buch zu Hause zu sitzen, bei seinem Klub vorbeizuschauen oder eine der vielen Wissenschaftsvereinigungen zu besuchen, die ihm so am Herzen lagen. Sie waren ein sehr gegensätzliches Paar, dachte Beth sehnsüchtig, aber einander von Herzen zugetan. Es tat gut, den beiden zuzusehen.
Gerade lehnte Beatrice sich über den Tisch und zog eine Ecke von Harrys Zeitung herunter. Ihre schmollenden Lippen drückten amüsierte Empörung aus. „Harry, wenn du etwas zu sagen hast, so sag es, statt einfach diese unverschämten Geräusche hinter deiner Zeitung zu machen.“
Seine blauen Augen, noch betont von der Nickelbrille, die auf seiner Nase saß, blinzelten ein wenig angesichts dieses Ausbruchs. Gehorsam senkte er die Zeitung. „Meine Liebe, es ist nicht recht von dir, von Beth zu erwarten, dass sie dir ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, wenn du dich ewig über einen Hut ergehst. Ich hätte eine derart gewichtige Konversation auch nicht ausgehalten.“
Beatrice sah ihren Gatten stirnrunzelnd an, ehe sie sich wieder Beth zuwandte. „Ich habe dich gefragt, ob du dir den reizenden Hut ansehen möchtest, den ich gestern in der Bond Street entdeckt habe, den mit den blauen Blumen und den silbernen Glöckchen. Er ist hinreißend und würde dir hervorragend stehen. Ich dachte, wenn du ihn sehen möchtest, könnten wir ... “
„Uns dort ergehen.“ Harry lachte. „Vielen Dank, dass du mir zustimmst.“
Beatrice warf sich herum. „Beth, verstehst du jetzt, womit ich zu kämpfen habe? Welche Härten ich erdulden muss? Welcher Kritik ich ausgesetzt bin? Ich werde hier so gemaßregelt, dass ich nicht mehr weiß, ob ich ein Männlein oder ein Weiblein bin.“
Harry lachte und hob die Zeitung wieder an. „Da besteht wohl kein Zweifel, meine Liebste.“
„Ich bin außer mir. Da gibt es nur eins, was mich aufmuntern kann.“
„Beth“, meldete sich Harry hinter der Zeitung, „bitte begleite meine arme, verlassene Frau in die Bond Street. Sie wird vergehen, wenn sie nicht auf der Stelle etwas von meinem sauer verdienten Geld ausgeben kann.“
„Mit Vergnügen“, meinte Beth und stand auf. „Ich hole mein Retikül.“
„Wunderbar!“, erklärte Beatrice und lächelte ihre Cousine an. „Ich lasse die Kutsche Vorfahren, und dann sage ich Harry, was für ein schrecklicher Ehemann er geworden ist. Wir sehen uns in zehn Minuten in der Eingangshalle.“
Beth verabschiedete sich von Harry und ging in ihr Zimmer, wo sie sich rasch umzog. Zu guter Letzt schnappte sie sich ihr Retikül und eine grün gestreifte Pelisse, die farblich genau zu den gestickten Blättern auf ihren Schuhen passte. In der Eingangshalle hielt sie inne, um ihr Kleid aus weißem Musselin zu bewundern. An einer Schulter war es mit rosa und grünen Blumen aufgeputzt. Ein breites grünes Band betonte die hoch angesetzte Taille, und die Röcke flossen bis zum Boden. Die Schulterpartie war trügerisch schlicht gearbeitet, mit winzigen Ärmelchen, die ihr hervorragend standen.
„Bewunderst du dein Kleid?“
Beth drehte sich um und sah Beatrice direkt hinter sich, einen wissenden Blick in den blauen Augen. „Was denn?“, fragte Beth hitzig. „Das Kleid? Das ist doch nichts Besonderes ... “ „Spar dir das Getue. Hast du vergessen, wer ich bin? Ich frage mich nur noch, wen du in der Bond Street zu treffen hoffst. Westerville vielleicht?“
„Mir ist vollkommen egal, was Westerville von diesem Kleid hält, oder jedem anderen.“
„Natürlich nicht. Übrigens habe ich über unseren Freund etwas sehr Interessantes in Erfahrung gebracht.“
„Wie schön“, versetzte Beth und wich Beatrices Blick aus. Sie wusste, dass sie nicht nachfragen sollte. Je weniger sie über den Viscount wusste, desto besser.
„Möchtest du nicht wissen, was ich herausgefunden habe?“ „Ach nein, eigentlich nicht.“ Beth holte die Handschuhe aus ihrem Retikül und streifte sie über. „Wollen wir los? Ich muss den Hut sehen, in den du dich so verliebt hast.“ Beatrice hob die Brauen. „Beth, du willst doch ganz bestimmt wissen, was ich über den Viscount erfahren habe.“ „Nun, will ich nicht. Können wir jetzt einkaufen gehen? Ich brauche Abendschuhe zu dem neuen seidenen Ballkleid, das Großvater mir geschickt hat.“
Beatrice betrachtete Beth von oben bis unten. „Hmm. Ich sehe schon, was los ist. Du bist wütend. Auf Westerville.“ „Bin ich nicht.“
„Doch, bist du wohl. Anders kann ich mir nicht erklären, warum dich der Klatsch über ihn nicht interessiert. Du musst wütend auf ihn sein. Und das heißt natürlich wiederum, dass du ihn seit unserem letzten Gespräch noch einmal gesehen hast.“
„Ah!“, sagte Beth erleichtert, als draußen vor dem Haus die Kutsche zu hören war. „Da ist dein Kabriolett. Bist du fertig?“
„Beth, ich will wissen, was passiert ist. Hat er etwas zu dir gesagt? War er unverschämt, oder hat er etwas Unanständiges gesagt? Hat er ...“ Beatrices Augen weiteten sich. „Er hat dich geküsst, stimmt’s?“
„Nein!“, widersprach Beth, die sich der Lakaien sehr bewusst war, die mit ausdrucksloser Miene in der Halle standen. Sie packte ihre Cousine bei der Hand und zog sie zur Eingangstür. „Komm. Wir reden im Kabriolett weiter.“ „Allerdings“, entgegnete Beatrice, nicht im Mindesten verlegen. Sie hängte Beth bei sich ein und ging mit ihr zur wartenden Kutsche hinaus.
Kaum dass sie unterwegs waren, wandte Beatrice sich an Beth. „Also dann. Erzähl mir alles. Womit hat Westerville dich verärgert?“
Verflixt, würde Beatrice denn nie Ruhe geben? Beth knirschte mit den Zähnen. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht wütend auf ihn bin, es ist nur ... ach, zum Kuckuck. Dann erzähl mir eben, was du über den Viscount herausgefunden hast.“
Beatrice seufzte. „Was für eine Geheimniskrämerin du bist. Ich frage mich, warum mir das noch nie aufgefallen ist.“ Sie rutschte ein wenig näher und beugte sich zu Beth. „Als ich angefangen habe, Erkundigungen über deinen Freund einzuziehen, habe ich zwar eine Reihe merkwürdiger Blicke geerntet, aber sagen wollte keiner etwas. Oh, es gab natürlich die üblichen Gerüchte, zum Beispiel, dass er was mit Mrs. Edlesworth hatte, was mich nicht weiter wundert, denn das passiert anscheinend jedem Mann, der neu in London ist. Bei ihr herrscht mehr Verkehr als auf der London Bridge. Man sollte die Frau einfach zur Sehenswürdigkeit erklären und eine Tafel an ihrem Haus anbringen mit der Inschrift:,Hier wohnt Louisa Edlesworth, in ganz London berüchtigt für ihre Männerbekanntschaften. Dafür würde ich sogar Geld spenden, und ich könnte mir vorstellen, andere Frauen auch, wenn ...“
„Beatrice.“
Beatrice blinzelte. „Was?“
„Was hast du über den Viscount herausgefunden, abgesehen davon, dass ihm eine Liaison mit Louisa Edlesworth nachgesagt wird?“
Aufgeregt schlang Beatrice die Hände ineinander. „Also! Über den Viscount gehen die merkwürdigsten Gerüchte um ...“
„Ja, ja. Da hast mir schon erzählt, dass er ein Straßenräuber gewesen sein soll. Ich glaube das ja nicht, aber ...“
„Ach, die Leute erzählen alles Mögliche. Anscheinend war er mehrere Jahre wie vom Erdboden verschluckt. Da hieß es dann, er hätte etwas ...“, Beatrice senkte die Stimme, „... Illegales getan.“
„Das würde mich nicht überraschen.“
„Mich auch nicht.“ Beatrice schauderte kunstvoll zusammen. „Der Mann hat etwas Gefährliches an sich. Lady Chudrowe wurde gelb vor Neid, als ich ihr erzählte, er wäre mit uns in meinem neuen Kabriolett ausgefahren.“ Beatrice seufzte glücklich. „Und Lady Thimpkinson konnte kaum noch an sich halten, sobald sie entdeckte, dass ich ...“ „Beatrice, ich bin mir sicher, dass alle dich wahnsinnig bewundern. Was hast du sonst noch über Westerville herausgefunden?“
„Nun, manche behaupten, er hätte vor der französischen Küste einen Schmugglerring organisiert. Andere munkeln, eine italienische Gräfin würde ihn als ihren Liebhaber halten ... “
„Also, in meinen Ohren klingt das alles grotesk“, meinte Beth in hochmütigem Tonfall, obwohl sie sich den Viscount, wenn sie ehrlich war, in all diesen schneidigen Rollen gut vorstellen konnte. Er schien völlig furchtlos, und dass er gern Risiken einging, hatte sie ja gesehen.
Sie runzelte die Stirn. Eigentlich wusste sie ja nur, wie er zu sein schien, hatte aber keine Ahnung, wie er wirklich war. Der Mann war ein einziges Geheimnis. Sie wusste lediglich, dass er ihr mit einem einzigen Kuss weiche Knie bescheren konnte. Nun ja, ein wenig mehr wusste sie schon. Zum Beispiel, dass er aus irgendeinem unerfindlichen Grund an ihrem Großvater interessiert war. Dass er einen warmherzigen Sinn für Humor besaß. Dass sich um seine Augen ganz entzückende Fältchen bildeten, wenn er lächelte. Dass seine Lippen fest und ...
„Beth? Nun geht das schon wieder los! Ich habe in der letzten Minute nicht weniger als drei wichtige Dinge gesagt, und du hast nichts davon gehört. “
„Tut mir leid“, erklärte Beth zerknirscht. „Was hast du denn gesagt?“
„Lady Jersey hat berichtet, Westerville hätte sie gefragt, ob er mit ihr unter vier Augen über seine Mutter reden kann.“ „Über seine Mutter?“
„Ja. Ich kenne natürlich nicht die ganze Geschichte, aber Lady Jersey glaubt, er ist in irgendeiner Mission unterwegs, die mit seiner Vergangenheit zu tun hat.“
Beth blickte hinab auf ihre Hände, die sie locker im Schoß verschlungen hatte. Westerville hatte so etwas Ähnliches gesagt wie, er wolle die Wahrheit finden. Aber welche Wahrheit?
Vielleicht die Wahrheit über seine Mutter?
Beatrice spitzte die Lippen. „Ich glaube, mir gefällt die Geschichte mit der italienischen Gräfin am besten, obwohl ich ihn mir auch gut als Straßenräuber vorstellen kann. Schwarz steht ihm so gut. “
„Wie allen guten Straßenräubem“, meinte Beth trocken. „Beatrice, hast du noch etwas herausgefunden? Etwas Handfesteres?“
„Nun ja ... er kleidet sich gut und tanzt einfach göttlich. Lady Hemplewaite meinte, sie sei wahnsinnig in ihn verliebt, und Miss Lucinda Garner hat ihrem Vater - der nichts als ein dicker Emporkömmling ist - erklärt, sie heirate Westerville oder keinen.“
Aus irgendeinem Grund verdarb die Erwähnung so vieler Bewunderinnen Beth die Laune. „Ja, ja. Die Liste seiner Verehrerinnen ist endlos. Lady Hemplewaite und Mrs. Edlesworth und Miss Sofia Longbridge und Julia Carslowe und ... “
„Die kleine Carslowe? Die mit den riesigen Schneidezähnen? Ich wusste gar nicht ... “
„Beatrice, ich glaube, es wäre einfacher, die Frauen aufzuzählen, die ihn nicht bewundern, als andersherum.“ Beatrice schürzte die Lippen. „Da fällt mir nur eine ein. Du.“
„Wenn du ihn so gut kennen würdest wie ich, fändest du ihn auch nicht mehr so besonders aufregend.“
Beatrice hob die Brauen. „Beth, wie gut kennst du ihn denn?“
Beth spielte mit den Bändern ihres Retiküls. „Schon möglich, dass ich nach der Ausfahrt noch einmal mit ihm gesprochen habe.“
„Wusste ich es doch!“
„Es war aber nichts Ernstes. Ich bin ihm im Britischen Museum begegnet.“
„Wann?“
„Gestern.“
Beatrice machte schmale Augen. „Du warst allein?“ „Nein! Natürlich nicht. Es waren jede Menge andere Leute da. Ich habe vor einem Schaukasten gestanden und mich mit einer Frau über einen der ausgestellten Fächer unterhalten, und plötzlich war er da.“
„Verstehe. Hast du länger mit ihm gesprochen?“
Beth hoffte, dass ihre Wangen nicht so rot waren, wie sie sich anfühlten. „Nein, nicht besonders lang. Er ... er weiß jetzt, dass ich nicht stottere.“
„Gott sei Dank!“, rief Beatrice aus.
Beth runzelte die Stirn. „Das ist aber gar nicht gut.“
„Für mich schon“, entgegnete Beatrice freimütig. „Je früher du dieses Stottern ablegst, desto besser. Es ist höchst mühsam, dir zuzuhören.“
„Sobald die Verehrer weg sind, höre ich auf damit.“
„Ich weiß, ich weiß. Und ich mache dir auch keinen Vorwurf daraus, dass du mit dem Stottern angefangen hast. Für eine Siebzehnjährige ist der Heiratsmarkt eine feine Sache, aber du bist schon zu reif, um dich derartigen Anstrengungen auszusetzen. Dein Großvater hätte stattdessen ein paar ruhige Hausgesellschaften auf eurem Landsitz veranstalten sollen. Hausgesellschaften sind heutzutage der letzte Schrei. Vielleicht sollte ich das erwähnen, wenn ich ihm das nächste Mal begegne. Sicher würde er ... “
„Nein, Beatrice, bitte nicht. Massingale House ist mein Zuhause, und ich liebe es, weil es so friedlich dort ist. Das wäre es nicht mehr, wenn sich dort diese unmöglichen Verehrer einfinden, meine Blumengärten zertrampeln, Wein auf meine Teppiche schütten und mir keinen Moment Ruhe lassen würden.“
Beatrice sah sie merkwürdig an. „Beth, willst du denn gar nicht heiraten?“
„Doch, natürlich. Aber es muss ... jemand Interessantes sein.“
„Und keiner deiner Verehrer ist interessant? Wie steht es mit dem Viscount? Der schien dir ja recht gut zu gefallen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du vielleicht etwas Übereiltes tust, dich zum Beispiel allein mit ihm triffst oder heimlich mit ihm korrespondierst. Das hätte dich bei deinem Großvater in ziemliche Schwierigkeiten bringen können. Andererseits Beatrice warf Beth einen schlauen Blick zu, „... wäre dein Großvater vielleicht der Ansicht, dass der Viscount genau der Richtige für dich ist.“
„Du hast mir erzählt, es gehe das Gerücht, dass er ein Straßenräuber ist.“
„Er war ein Straßenräuber. Oder auch ein Schmuggler, je nachdem, wen du fragst. Jetzt scheint er ja zur crème de la crème zu gehören, und alle sind ganz entzückt von ihm. Beth, ich war richtig fassungslos, wie viele Leute ihn zu sich einladen.“
„Mich überrascht das nicht. Der Mann hält sich für einen Charmeur. “
„Er hat aber tatsächlich hervorragende Manieren. Ich habe gehört, dass eine der Bedingungen für das Vermögen lautet, er dürfe in keinen Skandal verwickelt sein. Jetzt, wo ich ein wenig darüber nachgedacht habe, kann ich mir natürlich vorstellen, dass er vor Antritt des Erbes vielleicht in einer verzweifelten Lage war. Keiner weiß, was ich gemacht hätte, wenn man mich mit zehn im Stich gelassen hätte.“ Beth hob die Brauen. „Im Stich gelassen?“
„Seine Mutter wurde unter Anklage des Hochverrats ins Gefängnis geworfen. Später stellte sich heraus, dass es ein Irrtum war, aber da war er schon auf sich gestellt. Er und sein Bruder Tristan, der jetzt der neue Earl of Rochester ist.“
Beth biss sich auf die Unterlippe und dachte an Westervilles Miene, als er von seiner Vergangenheit gesprochen hatte. Irgendetwas Dunkles lauerte da, etwas Dunkles und unsagbar Trauriges. Sie fragte sich, ob sie ihn vorschnell weggeschickt hatte. Vielleicht brauchte er nur ein wenig Verständnis.
Aber nein. Sie konnte sich nicht von ihrem Mitgefühl leiten lassen. Es war richtig gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen, für sie bedeutete es ein Akt der Selbsterhaltung. Er war zu attraktiv, zu anziehend, als dass sie ihm hätte gestatten können, in ihrem Leben ein und aus zu gehen. Vor allem, da sie wusste, dass er sie nicht um ihrer selbst willen umwarb. Seine Motive mochten im Dunkeln liegen, aber sie war sich sicher, dass sie nur wenig mit ihr zu tun hatten.
Was sie immer noch verwirrte. Vielleicht sollte sie ihren Großvater fragen, was er über den Viscount und seine Familie wusste. Vermutlich wäre dies das Beste. Sie fing Beatrices Blick auf und hob das Kinn. „Was den Viscount angeht, hast du ja wirklich einen Sinneswandel vollzogen.“
„Eigentlich nicht. Ich halte ihn immer noch für gefährlich. Aber ein Mann, der gefährlich und gleichzeitig unpassend ist, ist etwas ganz anderes als einer, der gefährlich und passend ist. Es kann nicht schaden, wenn du mit Westerville gesehen wirst, allerdings rate ich dir ab von allem, was darüber hinausgeht.“
Das Kabriolett hielt vor der Modistin in der Bond Street, in deren Schaufenster ein erstaunliches Sortiment an Hüten ausgestellt war. Beatrice nahm ihr Retikül und strich sich den Rock glatt. „Übrigens, ich habe eine wichtige Entscheidung zu treffen. Für morgen Abend sind zwei Veranstaltungen angesetzt, was ich unmöglich finde, weil beide schon als die Ereignisse der Saison gefeiert werden.“
„Das werden sie doch immer.“
„Ja, meist von einer Freundin der Gastgeberin. Jedenfalls müssen wir entscheiden, wohin wir gehen wollen - auf den Crossforth-Ball oder auf die musikalische Soiree der Devonshires. Die Veranstaltungen liegen so weit auseinander, dass man nicht auf beide gehen kann.“
„Dann den Crossforth-Ball. Die Devonshires mag ich nicht so besonders. Die neue Duchess ist schrecklich.“
„Ich kann sie auch nicht ausstehen. Außerdem sind sie alle in die Politik verstrickt, und das ist für mich noch ein Grund, nicht hinzugehen.“ Der Kutscher öffnete die Tür, und Beatrice lüpfte die Röcke und sprang behände hinaus in die Sonne. „Also, dann gehen wir zum Crossforth-Ball.“ Beth ließ sich aus der Kutsche helfen. Die Sonnenstrahlen wärmten sie, obwohl ein Windstoß ihren Rocksaum kräuselte. Es war ein herrlicher Tag.
Beatrice hängte sich bei Beth ein. „Da ist er ja!“ Beatrice zog Beth zu dem großen Schaufenster, in dem Hüte in allen Größen und Formen ausgestellt waren. „Hier ist die bezaubernde Schute, die ich gestern entdeckt habe. Beth, das wäre genau das Richtige für dich.“
Beth heuchelte Interesse an dem Strohhut vor ihr. Er war tatsächlich auffallend hübsch, das sah sie, obwohl sie nur halb bei der Sache war. Sie musste einräumen, dass Beatrice wieder einmal recht behalten hatte. Der Hut war ganz entzückend mit blauen und silbernen Bändern, Blümchen und Glöckchen aufgeputzt.
Doch noch während sie dieses Kunstwerk betrachtete, ging sie in Gedanken die Informationen durch, die Beatrice ihr gegeben hatte. So viele Frauen, die sich für Westerville interessierten. Kein Wunder natürlich. Er besaß Vermögen, einen Titel und war wirklich angenehm anzusehen. Ob die-se Frauen wohl wussten, wie gut er küssen konnte ... Beth mochte sich nicht vorstellen, wie sehr man dem Viscount dann nachstellen würde.
Sie war sich nicht sicher, wie lange sie so dastand und blicklos ins Schaufenster starrte, bevor sie sich bewusst wurde, dass sie gar nicht auf die Hauben und Hüte schaute, sondern auf die Spiegelungen in der Fensterscheibe. Sie und Beatrice standen nebeneinander, der Wind zauste ihre Kleider. Doch ihre Aufmerksamkeit galt ganz der Gestalt, die sich neben ihnen abzeichnete.
Beth fuhr herum und sah sich Viscount Westerville gegenüber.
Er stand direkt hinter ihr, wie üblich ganz in Schwarz gekleidet, im Gesicht ein schiefes Lächeln. Lächelnd ergriff er Beths Hand, beugte sich darüber und hauchte einen Kuss auf ihren Handschuh. Prompt rieselte Beth ein Schauer den Rücken herab. Sie entriss ihm ihre Hand und verbarg sie ohne nachzudenken hinter sich.
Er lachte leise über die kindliche Geste, worauf Beth rot anlief und die Hand wieder nach vorne brachte.
Beatrice hörte den Viscount lachen und wandte sich von den Hüten zu ihm um. „Viscount Westerville! Was führt Sie hierher?“
Er verneigte sich und tippte sich verwegen an den Hut. „Ich kaufe ein, Mrs. Thistle-Bridgeton.“
„Wir auch!“
Sein Blick fand Beths. Sie sah, dass er versucht war, sie zu necken, und das ging keineswegs an. Beatrice würde aufpassen wie ein Luchs, einmal weil sie hinterher vor all ihren Freundinnen damit angeben wollte, aber auch, weil sie immer noch ein wenig besorgt war, was Beth für den geheimnisvollen Viscount empfinden mochte.
In diesem Moment hätte Beth ihre Cousine beruhigen können - jetzt wollte sie nur möglichst weit und möglichst schnell weg von ihm. Sie wünschte sich von Herzen, dass sie unempfänglich für den Mann wäre, doch leider war sie das ganz und gar nicht. Sobald er in ihre Nähe kam, zog sich ihr Magen zusammen, ihre Lippen prickelten in Erinnerung an den Kuss, und sie sehnte sich danach, ihn zu berühren.
Sein Blick begegnete dem ihren, und sie glaubte, darin leisen Spott zu entdecken, doch er sagte nur: „Ich möchte etwas für eine Bekannte kaufen. Eine Freundin.“
„Oh!“ Beatrices Miene hellte sich sofort auf. „Da könnten wir Ihnen helfen.“
Beth biss die Zähne aufeinander, damit ihr das Lächeln nicht entglitt. Sicher stellte Beatrice sich bereits vor, wie gefragt sie ab sofort wäre, wenn sie am nächsten Morgen herumerzählen könnte, dass sie dem hinreißenden Viscount bei der Auswahl eines Geschenks für seine Liebste geholfen hätte. Alle würden sie einladen wollen, zu ihren Bällen und Gesellschaften, zu speziellen Veranstaltungen in Vauxhall, in ihre Loge im Theater.
Nun, das würde Beth zu verhindern wissen. „Lord Westerville, ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihren Einkäufen, aber meine Cousine und ich haben noch sehr viel zu erledigen. Wir müssen jetzt wirklich los.“
Beatrice runzelte die Stirn. „Müssen wir nicht. Harry erwartet uns erst in Stunden zurück, und wir sind nur hier, damit du den Hut aufprobieren kannst, von dem ich dir erzählt habe.“
„Den Hut?“, erkundigte sich der Viscount und warf Beatrice einen schrägen Blick zu. „Vielleicht kann ich behilflich sein. Ich gelte gemeinhin als Experte, wenn es darum geht, Frauen bei ihrer Garderobe zu beraten. “
Beatrice sog schockiert die Luft ein, dann aber lachte sie. „Höchstwahrscheinlich. “
Beth fand das nicht halb so amüsant wie ihre Cousine. „Komm, Beatrice. Der Viscount hat sicher viel zu tun, und „Ja, allerdings“, stimmte er glatt zu. „Ich habe sehr viel zu tun. Zum Beispiel hier in diesem Laden nach einem Hut suchen.“ Er lächelte auf Beatrice hinab und bot ihr den Arm. „Zufällig bin ich auf der Suche nach einem besonderen Hut für eine Bekannte. Eine Freundin der Familie, könnte man sagen.“
„Was für eine glückliche Fügung!“, rief Beatrice lächelnd und errötend aus, während sie sich beim Viscount einhängte. Gleichzeitig sah sie sich nach allen Richtungen um, so als hoffte sie, dabei beobachtet zu werden. Nachdem sie niemanden hatte entdecken können, sagte sie zu Beth: „Vielleicht kann Westerville uns auch sagen, was er von dem Hut für dich hält, wenn wir schon mal da sind. “
Beth musste ihren steifen Lippen ein Lächeln abringen. Etwas anderes konnte sie kaum tun, ohne unhöflich zu erscheinen. Mit genau dem richtigen Maß an Widerstreben -Westerville sollte schon wissen, was sie davon hielt - folgte sie Beatrice in den Laden. Der Viscount schritt mit Beatrice durch die Tür und gab ihren Arm frei, sobald sie eingetreten waren.
Während Beatrice sich auf die Suche nach einer Bedienung machte, stellte sich der Viscount neben Beth, ein wenig zu dicht für ihren Seelenfrieden.
Eine junge Dame kam hereingeeilt, gefolgt von Beatrice. Gemeinsam traten sie ans Fenster und nahmen den Hut heraus. Während die beiden beschäftigt waren, zischte Beth leise zu Westerville: „Sie, Mylord, sind unverbesserlich!“ Sein Blick war so unschuldig, dass ihre Lippen zu zucken begannen. Er musste ihr Amüsement bemerkt haben, denn sein unschuldiges Gehabe wich einem Lächeln. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich kaufe hier nur ein.“
„Für eine Frau?“
„Ja. Eine ältere Frau.“
Das verblüffte sie ein wenig. Sie blickte zu Beatrice, um sicherzugehen, dass diese sich immer noch außer Hörweite befand, und flüsterte zurück: „Lady Jersey vielleicht?“
Seine Brauen schossen in die Höhe. „Lady Jersey würde das aber gar nicht gern hören, dass man sie als ,ältere Frau“ beschreibt.“
In diesem Augenblick kehrte Beatrice zurück, den Hut triumphierend in die Höhe gereckt. „Hier, Beth. Probiere ihn doch auf! Ich würde ihn ja selber kaufen, aber die Farben würden sich schrecklich mit meinen Augen beißen.“
Beth hob die Braue. „Der Hut ist blau aufgeputzt.“ Beatrice errötete. „Und?“
„Deine Augen sind blau. Der Hut würde dir hervorragend stehen.“
„Aber er ist genau richtig für dich - Westerville? Ah, da sind Sie ja. Sie müssen Beth sagen, dass dies der schönste Hut ist, den Sie je gesehen haben, und dass sie einfach bezaubernd damit aussehen wird!“
Westerville nickte und verbeugte sich, wobei er Beth genau musterte. „Mit dem größten Vergnügen!“
Beth verkniff sich eine Grimasse. Doch sie hatte keine Wahl. Sie nahm den Hut entgegen, trat vor den Spiegel und probierte ihn an, wobei sie sich der Nähe des Viscounts nur allzu bewusst war. Es war wirklich unangenehm, in seiner Anwesenheit irgendetwas zu erledigen. Sie hatte das Gefühl, als wären ihre Arme und Beine irgendwie schief angewachsen, als wären ihre Gliedmaßen zu groß für ihren Körper.
Dennoch zwang sie sich, vor dem Spiegel zu verharren und den Hut aufzusetzen. Sie band die Schleife schräg unter dem Kinn und drehte sich um. „Na?“
Westerville verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf schief und betrachtete sie ausgiebig. Obwohl er eigentlich gebeten worden war, den Hut zu beurteilen, wanderte sein Blick praktisch überallhin. Beth trat von einem Fuß auf den anderen, und ihr wurde heiß. „Westerville, wenn Sie zu dem Hut keine Meinung haben ... “
„Aber ich habe eine Meinung. Dieser Hut ...“ Er beugte sich vor und klopfte sich an die Lippen. Seine Miene war zwar ernsthaft, doch seine Augen lachten sie an. „Ich glaube, er gefällt mir recht gut. Er lässt Sie jünger wirken.“
Beth machte schmale Augen. „Offensichtlich haben Sie von Hüten keine Ahnung.“
„Beth!“, fuhr Beatrice auf. „Bestimmt weiß Lord Westerville einfach alles über Damenhüte.“ Sie blinzelte. „Ich meine, ich glaube nicht, dass er alles darüber weiß, aber ...“ „Ich weiß mehr als der Durchschnittsmann“, kam Westerville ihr zu Hilfe.
Sie strahlte ihn an. „Genau! Daher solltest du dir seine Meinung anhören. Ich für meinen Teil finde den Hut jedenfalls bezaubernd! An dir noch mehr als im Schaufenster, und dabei ist es bei mir normalerweise genau andersrum. Ich weiß nicht, ob es an der Farbe liegt oder der Krempenform, aber er steht dir wirklich ausnehmend gut.“ Westerville nickte. „Mrs. Thistle-Bridgeton, Sie haben einen hervorragenden Geschmack. Sie haben ein Bild purer Schönheit kreiert, das mich noch tagelang begleiten wird.“ Beth konnte genau erkennen, in welchem Augenblick ihre Cousine dahinschmolz. Sie merkte es an ihrem Lachen, als er eine Verbeugung in ihre Richtung andeutete. Kein Wunder -mit einer einzigen knappen Bemerkung hatte er Beatrice einen ausgezeichneten Sinn für Mode bescheinigt. Vermutlich wurde sein prägnanter Spruch sogar sprichwörtlich, da Beatrice ihn gewiss landauf, landab wiederholte.
Der Viscount warf Beth unter langen Wimpern hervor einen Blick zu. „Lady Elizabeth, was halten Sie denn von diesem reizenden Hut?“
Sie löste das Band und nahm ihn ab. „Ich weiß nicht, ich neige nicht zu übereilten Entscheidungen.“ Sie reichte den Hut der Verkäuferin, die in der Nähe gewartet hatte und ihn nun enttäuscht entgegennahm. „Ich werde ein paar Tage darüber nachdenken, und wenn ich den Hut dann haben will, werde ich wiederkommen und ihn kaufen. “
Aufmerksam betrachtete er sie. „Und wenn nicht?“
„Wenn er mir die Zeit und Mühe nicht wert ist, werde ich ihn im Fenster lassen, damit ihn eine Frau mit nicht so anspruchsvollem Geschmack kaufen kann. “
Beatrice keuchte auf. „Aber wenn ihn eine andere Frau entdeckt, ehe du dich entschieden hast, und ihn dir vor der Nase wegschnappt, wo bleibst dann du?“
„Ja“, stimmte Westerville zu, und seine Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln, „wo bleiben Sie?“
„Genau da, wo ich jetzt bin“, versetzte Beth und wandte sich zur Tür. „Und vollkommen glücklich auch ohne den Hut.“ Damit trat sie auf die Straße hinaus. Westerville und Beatrice holten sie draußen ein.
Bedauernd sah Beatrice auf das Schaufenster zurück, wo die Verkäuferin eben den Hut zurück auf den Ständer setzte. „Diese Entscheidung wirst du noch bereuen. Erlaube mir doch wenigstens, den Hut jetzt zu kaufen. Wenn er dir später doch nicht gefällt, kannst du ihn ja deiner Stiefmama schenken.“
„Charlotte würde er gefallen“, meinte Beth, „obwohl das Blau für sie zu kräftig ist. Zu ihr passen eher Pastellfarben.“
„Vermutlich hast du recht“, sagte Beatrice und seufzte bedauernd.
„Der Hut ist im Schaufenster besser aufgehoben, wo alle ihn bewundern können.“ Beth warf Westerville einen schrägen Blick zu. „Ich könnte mir vorstellen, dass ihm das gefällt.“
„Sicher, wem würde das nicht gefallen?“, meinte der Viscount. „Selbst Sie genießen es, bewundert zu werden.“
Beth reckte die Nase in die Luft.
„Oh, ich weiß genau, wenn Sie etwas genießen, Mylady.“ Er rückte ein Stückchen näher und raunte ihr zu: „Ich kann es auf Ihren Lippen schmecken.“
Empört keuchte Beth auf.
„Wie bitte“, meinte Beatrice eifrig und beugte sich vor. „Was haben Sie gesagt?“ Sie blickte zu Beth. „Was hat er gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“
„Nichts“, versetzte Beth mit hochrotem Gesicht. Sie warf dem Viscount einen wütenden Blick zu. „Westerville hat nur geniest.“
Er hob die Brauen, und um seine Lippen zuckte es amüsiert. „Allerdings. Ich fürchte, ich bin allergisch gegen schöne Frauen. Zwischen Ihnen beiden zu gehen ist beinahe zu viel für mich. “
Zu Beths ungläubigem Erstaunen begann Beatrice affektiert zu kichern. Verärgert funkelte Beth den Viscount an.
Dem glitzerte ein verwegener Schalk in den Augen, bei dessen Anblick Beths Herz wie wild zu hämmern begannen, weil sie wieder an den Kuss denken musste. Wenn sie diesen vermaledeiten Augenblick nur vergessen könnte! Natürlich war der Wunsch, etwas zu vergessen, durchaus etwas anderes, als es auch tatsächlich aus den Gedanken zu verbannen. Das wurde ihr in diesem Augenblick nur zu schmerzlich bewusst.
„Was ist?“, fragte Beatrice, die verwirrt von einem zum anderen blickte. „Das war kein Niesen. Was haben Sie nur gesagt, Westerville? Beth ist ja ganz rot geworden!“
Er rückte seinen Hut zurecht. „Nichts, Mrs. Thistle-Bridgeton. Überhaupt nichts. Meine Damen, es war mir eine Freude, Ihnen zu begegnen. Gehen Sie morgen Abend auch auf den Crossforth-Ball?“
„Nein“, erklärte Beth, während Beatrice im selben Augenblick mit einem „Ja!“ herausplatzte.
Westerville lachte. „Dann hoffe ich, Sie dort zu sehen. Guten Tag, meine Damen. “ Er tippte sich an den Hut, drehte sich um und schlenderte pfeifend die Straße hinunter.
Beth sah ihm nach, die Hände zu Fäusten geballt. Was für ein arroganter, unerträglicher, unverschämter ...
„Ich dachte, wir wollten zum Crossforth-Ball“, zischte Beatrice, deren Blick ebenfalls noch auf den Viscount gerichtet war. Er hatte vor einem Schaufenster mit Uhren und Schnupftabaksdosen Halt gemacht und wurde schon wieder von sämtlichen Passantinnen beäugt.
„Ursprünglich ja“, erwiderte Beth. „Jetzt nicht mehr. Jetzt gehen wir auf die musikalische Soiree der Devonshires.“
Beatrice seufzte. „Ich wünschte, du würdest dich endlich entscheiden. “
„Habe ich doch“, entgegnete Beth und fing einen letzten Blick des Viscounts auf. Er lächelte, diesmal ein langsames, träges Grinsen, das die Lachfältchen um die Augen vertiefte. Er wirkte beinahe unbeschwert.
Beth reagierte nicht. Sie machte auf dem Absatz kehrt und zog Beatrice mit sich fort. „Wollen wir nach einer Pelisse suchen? Ich habe nichts, was zu meinem neuen Morgenkleid passt.“
Beatrice ließ sich leicht ablenken. Als sie ein Stück weiter den Laden einer Modistin betraten, sah Beth sich noch einmal zu der Stelle um, an der sie den Viscount zuletzt gesehen hatte. Er war verschwunden; anscheinend war er in den Laden gegangen.
Das war gut, befand sie, denn nun brauchte sie ihn nicht noch einmal zu sehen. Morgen würden sie zur musikalischen Soiree gehen und kein einziges Mal an den Viscount denken, gleichgültig was es sie kostete. Sie würde bald genug herausfinden, was der Mann plante, doch auf ihre eigene Weise und in ihrem eigenen Tempo. Sie durfte ihn einfach nicht öfter als unbedingt nötig sehen, da die Spannung zwischen ihnen mit jeder Begegnung größer zu werden schien. Außerdem wäre der Andrang auf dem Crossforth-Ball sicher riesig, und alle Blicke würden auf dem Viscount ruhen.
Beth würde Ort und Zeit selbst wählen, und dann gnade Gott dem Mann. Sie würde keine Gnade kennen. Überhaupt keine.