4. KAPITEL

Wenn er sich Mühe gibt, kann ein guter Diener in den meisten Dingen recht behalten, eine Leistung, die den meisten Dienstherren schwerfallen dürfte.

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Erst Stunden später kehrte auch Christian nach Hause zurück, durchaus zufrieden mit den Ergebnissen dieses Abends. Ihm war nicht entgangen, dass ihn die Dame den ganzen Abend verstohlen beobachtet hatte. Und eines wusste er über die menschliche Natur: Man begehrte, was andere Menschen bewunderten. Und so hatte Christian dafür gesorgt, dass Lady Elizabeth sah, wie er mit allen möglichen Damen flirtete. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, wie die Damen aussahen, ob sie groß oder klein, dick oder dünn, hübsch oder hässlich waren - Lady Elizabeth konnte ohnehin keine das Wasser reichen. Ein Umstand übrigens, der ihn ziemlich beunruhigte.

Reeves empfing ihn in der Eingangshalle. Christian ließ sich von ihm aus dem Überrock helfen. „Guten Abend, Reeves!“ „Es ist lang nach Mitternacht, Mylord. Guten Morgen wäre vielleicht angebrachter. “

„Um genau zu sein, es ist fast drei. Also dann, guten Morgen“, antwortete Christian.

Reeves reichte den Überrock an einen Lakaien weiter und sah dem Mann geistesabwesend nach. Sobald die Halle leer war, wandte Reeves sich an Christian. „Wollen Sie sich sofort zurückziehen, Mylord? Oder möchten Sie noch etwas speisen, damit Sie sich rascher von den Folgen der Trunkenheit erholen?“

Christian grinste. „Ich habe keinen Hunger, und müde bin ich auch nicht. Ich glaube, ich genehmige mir noch ein Glas Portwein.“

„Sie haben eine eiserne Konstitution, Mylord“, kommentierte der Butler trocken.

„Danke.“ Er wandte sich zur Bibliothek. „Hat Willie von sich hören lassen?“

„Jawohl, Mylord. Auf Ihrem Schreibtisch liegt eine Botschaft.“

„Hervorragend.“ Christian trat zum Schreibtisch, nahm den versiegelten Brief und öffnete ihn.

Reeves wartete in respektvollem Schweigen, während Christian die Botschaft las.

„Gut!“ Christian legte den Brief auf einem Seitentischchen ab. In diesem Moment fing er Reeves’ Blick auf.

„Tut mir leid, Mylord. Ich bin nur ein wenig überrascht, dass Master William überhaupt in der Lage ist, eine Nachricht zu verfassen.“

„Ich habe es ihm beigebracht. Ein nützlicher Kerl, unser Willie.“

„Gewiss, Mylord.“

„Er kommt morgen und bringt etwas Wichtiges mit.“ Christian nickte nachdenklich. „Unser Verdacht scheint Frucht getragen zu haben.“

Reeves ging zum Kamin, wo bereits Holz aufgeschichtet war. Er nahm die Zunderbox vom Kaminsims, und binnen kurzem flackerte ein kleines Feuer.

Sobald er die Abzugsklappe justiert hatte, ging der Butler zur Anrichte und goss ein Glas Portwein ein, das er anschließend Christian brachte.

Dankbar nahm Christian das Glas, ließ sich in einem Ses-sel am Kamin nieder und nahm einen Schluck. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit floss so angenehm durch seine Kehle. „Das ist ein hervorragender Tropfen. Fast so gut wie die Ladung, die ich einmal einem italienischen Grafen in der Nähe von Bath gestohlen habe.“

„Bitte, Mylord. Reden Sie doch nicht über die alten Zeiten.“

Christian grinste. „Ich werde mich bemühen.“

„Danke, Mylord. Wo genau befindet sich der Portwein denn jetzt, den Sie, ah, besorgt haben?“

„Ich habe ihn getrunken.“

Reeves sah ihn empört an. „Allein?“

Christian überlegte. „Nun ja. Größtenteils.“

Reeves seufzte. „Manchmal sind Sie wirklich genau wie Ihr Vater.“

Christians gute Laune verflüchtigte sich. „Ich möchte Sie bitten, ihn nicht zu erwähnen. Zumindest nicht, ehe ich ein, zwei Flaschen von dem hier intus habe.“

Der Butler verneigte sich und sah klugerweise davon ab, dies zu kommentieren. Christian hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihm die Kiefer wehtaten. Sein Vater, der verstorbene Earl of Rochester, hatte Christian und seinen Zwillingsbruder nie anerkannt. Er hatte zwar regelmäßig Geld für ihren Unterhalt geschickt, aber das war auch alles gewesen.

Schlimmer noch, als ihre Mutter unschuldig ins Gefängnis geworfen worden war, hatten Christian und sein Bruder Tristan ihrem Vater geschrieben und ihn um Hilfe gebeten, doch er hatte nicht geantwortet. Als sie dann nichts mehr als Lumpen besaßen, hatte ihr Hauslehrer sie an eine Presspatrouille verkauft. Tristan hatte dafür gesorgt, dass sein jüngerer Zwillingsbruder fliehen konnte, war selbst aber nicht mehr davongekommen, sondern schließlich auf hoher See gelandet. Irgendwann, nach vielen Prügeleien und Schlimmerem, hatte er es gelernt, sein neues Leben zu lieben, aber das hatte Jahre gedauert.

Christian war in der Zeit vollkommen verlassen gewesen.

Er war zehn und vollkommen verängstigt, und so hatte er sich nach London durchgeschlagen. Wochenlang war er unterwegs gewesen, wäre manches Mal beinahe verhungert, bis er gelernt hatte, sich zu nehmen, was er brauchte. Als er schließlich am Gefängnis angekommen war, hatte er jedoch erfahren müssen, dass seine Mutter wenige Tage davor gestorben war, an einem schrecklichen Fieber, das auf ihre elenden Lebensumstände zurückzuführen war. Christian lebte fortan als Straßenjunge und musste Tag für Tag kämpfen, nur um den nächsten erleben zu können.

So merkwürdig es auch war, Nacht für Nacht, selbst in jenen verzweifelten Stunden, hatte er davon geträumt, dass sein Vater noch rechtzeitig kam, um seinen Bruder und vor allem seine Mutter zu retten. Und jeden Morgen wachte er auf, nur um festzustellen, dass seine Träume nichts als das waren - Träume.

Jetzt fing Christian den Blick des Butlers auf. „Vergleichen Sie mich nie wieder mit meinem Vater. In meinem eigenen Haus dulde ich keine Beleidigungen.“

Reeves seufzte tief. „Ich verstehe ja, warum Sie so schlecht auf Ihren Vater zu sprechen sind, aber er hat durchaus etwas für Sie und Ihren Bruder empfunden.“

„Zu wenig, und es kam zu spät.“

„Sehr wahr, Mylord. Der Earl war in vielerlei Hinsicht kein sehr verantwortungsvoller Vater. Und er hat sich zu wenig um Sie gekümmert. Aber den Tod Ihrer Mutter können Sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Er hielt sich damals außer Landes auf und war sich ihrer Zwangslage nicht bewusst.“

„Wenn er sich etwas aus uns gemacht hätte, hätte er schon dafür gesorgt, dass sie ihn erreichen kann. Dass wir ihn erreichen können. “

„Der Earl hatte viele, viele Fehler. Als Vater hat er furchtbar versagt, ich kann ihn da nicht in Schutz nehmen. Aber was er seinem Titel und seinem Namen schuldig war, das wusste er tatsächlich. Meiner Ansicht nach sollten Sie das auch lernen. Es wird Ihnen dabei helfen, das Vermögen von den Treuhändern zu erringen.“

„Ich bin den Treuhändern bereits begegnet, und sie waren von meinen eleganten Manieren und meinem gesellschaftlichen Schliff sehr angetan“, versetzte Christian ein wenig bitter. „Lauter Dummköpfe, alle miteinander, die mehr auf die Falten eines Krawattentuchs schauen als auf den Charakter. Vorausgesetzt, ich stelle mich nicht ganz dumm an, werden Sie das Vermögen freigeben.“

„Hoffentlich behalten Sie recht, Mylord. Ihre Einschätzung der Treuhänder ist leider nur zu korrekt. Die Freunde Ihres Vaters waren vielleicht nicht die beste Wahl, um die Verteilung des Vermögens zu beaufsichtigen.“

Noch ein Beispiel für die grundsätzliche Selbstsucht seines Vaters, dem Testament solch alberne Bedingungen beizufügen. Die Titel gingen in jedem Fall an Tristan und ihn, egal was geschah, aber das Vermögen bekamen sie nur mit Zustimmung der Treuhänder.

Es wurmte Christian, dass er sich mit diesen Schwächlingen abgeben musste. Allein auf sich gestellt, würde keiner von ihnen auch nur einen Tag überleben. Christian hingegen hatte seine Fähigkeiten verfeinert. Außerdem hatte er sich eine harte Schale um sein Herz zugelegt. Auf gewisse Weise hatte sein Vater ihm einen Gefallen erwiesen, als er nicht gekommen war. Das Leben war ein harter, aber gründlicher Lehrmeister.

Christian dachte sich, dass er wohl dankbar sein sollte für den unerwarteten Sinneswandel seines Vaters. In fortgeschrittenem Alter hatte der Earl eine junge Frau geheiratet in der Hoffnung, ein paar Erben in die Welt zu setzen, doch der Nachwuchs wollte sich nicht einstellen. Die Vorstellung, sein Titel und sein Besitz könnte an irgendeinen entfernten Verwandten fallen, war zu viel gewesen für den Stolz des alten Mannes, und so hatte er Dokumente fabriziert und einen „Zeugen“ aufgetrieben, welche die heimliche Heirat zwischen ihm und Christians Mutter bewiesen. Auf diese Art hatte der Earl die Abstammungslinie der Familie gesichert - mit Hilfe seiner illegitimen Söhne, die er bisher so erfolgreich ignoriert hatte.

Da die Knaben aber im zarten Alter von zehn Jahren sich selbst überlassen worden waren, befürchtete der Earl, sie könnten möglicherweise nicht über die sozialen Fähigkeiten verfügen, die vonnöten waren, um sich in der Gesellschaft zu bewegen, ohne überall Hohn und Spott zu ernten. Und das war etwas, was der Earl nicht dulden wollte. Daher wurde Reeves ausgeschickt, Rochesters treuster Diener, ausgerüstet mit einem Bündel Geld und der Instruktion, Christian und seinen Bruder salonfähig zu machen.

Christian hasste die Treuhänder und fand es abstoßend, dass er gezwungen war, bei dieser ganzen Heuchelei mitzumachen. Leider brauchte er das Vermögen seines Vaters, und das nicht nur für sich. Sein Bruder Tristan zählte auch auf ihn.

Als ältester Sohn hatte Tristan den Titel des Vaters geerbt, doch die Treuhänder hätten Tristans Ehefrau nicht gebilligt. Aufgrund der Umstände, die den Tod ihres ersten Ehemanns überschattet hatten, war Prudence in einen schrecklichen Skandal verwickelt gewesen. Deswegen konnte sie niemals als geeignete Countess gelten.

Tristan hatte die Prüfung daraufhin an Christian weitergereicht, weil er überzeugt davon war, dass sein Bruder das Vermögen für beide sichern könnte. Diese Verantwortung hätte beinah Christians Pläne zunichtegemacht. Nun war er gezwungen, sich nach den gesellschaftlichen Regeln zu richten.

Reeves schien Christians Gedanken lesen zu können, denn er lächelte ein wenig. „Ich habe noch keinen Mann gesehen, der so freudig auf ein Vermögen verzichtet hat wie Ihr Bruder.“

„Ich habe versprochen, dass ich ihm das Heim für verletzte Matrosen finanziere. Ich kann ihn nicht enttäuschen.“ Christian rang sich ein schwaches Lächeln ab. „Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Wenn er mich gelassen hätte, hätte ich ihm auch mehr gegeben. “

„Er war durchaus zufrieden damit, wie sich die Dinge letztlich entwickelten.“ Der Butler schwieg einen Augenblick. „Vielleicht finden Sie auch eine Lady Prudence, Mylord. Das wäre wirklich genau das Richtige.“

Das Letzte, was Christian jetzt wollte oder brauchte, war eine Ehefrau. Er lebte frei und ungebunden, zog von einem Gasthaus zum anderen und nahm nur, was er zum Überleben brauchte. Sobald es kompliziert wurde, verabschiedete er sich. Wenn er seinen Plan ausgeführt und seine Rache eingefordert hatte, würde er weiterziehen.

Vielleicht würde er mit seinem Diener Willie nach Schottland reisen, um sich die Gegend anzusehen, nachts mit gezogenem Degen, um sich gegen jede Gefahr zu wappnen. Christian juckte es schon in den Fingern nach seinem glatten, kühlen Degengriff.

Bald. Sobald er hier fertig war ... Er nahm einen Schluck. „Danke für den Portwein, Reeves. Das war jetzt genau das Richtige. “

„Ich habe mir erlaubt, etwas von den sorgfältig gehüteten Vorräten des alten Earls für Sie herbringen zu lassen. Ihr Bruder hat darauf bestanden.“

Christian blickte auf das Glas. Sein Bruder wohnte nun mit seiner Frau in einem gemütlichen Cottage oben auf den Klippen von Dover. Christian konnte es gut verstehen, wenn man sich nach Gesellschaft sehnte.

Aber Liebe? Wahre Liebe? So schrecklich die Einsamkeit sein konnte, war sie doch nichts im Vergleich zu den Schmerzen des Verrats. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, was die „Liebe“ einem Menschen antun konnte - wie sie Hoffnungen weckte, die selten, wenn überhaupt je eingelöst wurden. Sich zu verlieben bedeutete, dass man schwach und verletzlich wurde, den Launen eines anderen ausgeliefert. Er hatte mit angesehen, wie seine schöne, zuversichtliche, starke Mutter sich in eine schwächliche, weinerliche Frau verwandelte, die sich von den Ereignissen überrollen ließ, bis sie am Ende nichts mehr hatte und ins Gefängnis geworfen und als Verräterin gebrandmarkt wurde.

Christian nahm einen weiteren Schluck Portwein. Verdammt sollte er sein, wenn er je einen Menschen so nahe an sich heranließ, dass er ihm ausgeliefert war.

Die Uhr schlug. Reeves meinte: „Es wird allmählich spät. Soll ich Ihr Bett richten lassen?“

„Gleich.“

„Natürlich, Mylord.“

Christian nahm noch einen Schluck. „Reeves, Sie sind von allen Butlern der beste.“

„Das klingt, als hätten Sie auf diesem Gebiet schon weitreichende Erfahrung gesammelt. Wie das, wenn ich fragen darf, schließlich haben Sie einst in einem Gasthaus logiert?“

Christian grinste. „Nicht alle weiblichen Passagiere in den Kutschen haben sich mit einem einfachen Kuss zufriedengegeben. Ich glaube, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich die Boudoirs von halb London von innen kenne.“ Reeves blickte betont zur Decke.

„Was denn?“

„Nichts, Mylord. Sie wollten doch, dass ich schweige, wenn Sie etwas sagen, was mich an Ihren Vater gemahnt, daher ...“ „Schon gut!“, versetzte Christian ungeduldig. Rastlos rutschte er auf dem Sessel herum.

„Jawohl, Mylord.“ Reeves ging zur Anrichte und holte von dort eine kleine Holzschachtel. Er öffnete sie und präsentierte mehrere dünne, gerollte Zigarren. „Mylord? Die habe ich besorgt, als ich heute Morgen auf dem Markt unterwegs war.“

Christian nahm eine Zigarre und rollte sie zwischen den Fingern. „Vielen Dank. Sie haben wieder einmal meine Gedanken gelesen. “

„Das ist keine besondere Leistung, wenn man erst einmal weiß, dass Ihr Geist so großartige Gedanken beherbergt wie: ,Jetzt brauche ich etwas zu trinken!, ,Eine gute Zigarre wäre jetzt genau das Richtige!“ und ,Ob Lady Bertram wohl dieses Seidenhemd mit den kleinen Blümchen trägt?“ “ Langsam sah Christian zu seinem Butler auf. „Wie bitte? Wie war der letzte noch mal?“

Reeves spitzte die Lippen. „Welcher letzte?“

„Der letzte Gedanke.“

„Nach ,Eine gute Zigarre wäre jetzt genau das Richtige!'?“ „Ja“, erwiderte Christian grimmig.

„Hmm. Mal sehen. Ich glaube, ich sagte: ,Ob Lady Bertram wohl dieses Seidenhemd mit den kleinen Blümchen trägt?“

„Woher wissen Sie von Lady Bertram?“

Reeves griff in die Tasche und zog ein kleines, gefaltetes Stück Seide heraus. „Hier ist das Hemd Ihrer Ladyschaft. Auf dem Saum ist ihr Name eingestickt. Ich habe es in Ihrer Kutsche unter den Polstern gefunden und waschen lassen. Ich dachte, Sie möchten es vielleicht zurückbringen. Natürlich nur, wenn Lord Bertram wieder einmal nicht in der Stadt weilt.“

Christian nahm das Hemd und warf es auf den Tisch neben ihm. „Danke, Reeves“, versetzte er trocken. „Ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen. “

„Nicht der Rede wert, Mylord. Darf ich mich erkundigen, ob Ihre Bemühungen an jenem Abend von Erfolg gekrönt waren?“

„Allerdings.“ Christian drehte das Glas zwischen den Fingern. „Wenn ich die Informationen bekomme, nach denen ich suche ... das wird der schönste Tag in meinem Leben.“ „Ja, eine unschuldige Frau zu verführen verleiht dem Leben eine gewisse Würze, nicht wahr?“

Christian verschluckte sich an seinem Portwein.

Reeves trat näher und versetzte ihm einen ordentlichen Schlag auf den Rücken.

„Aua!“ Christian rieb sich den Rücken und funkelte Reeves erbost an.

Reeves nahm die Karaffe, die er auf dem Tischchen abgestellt hatte, und trug sie zur Anrichte zurück. „Ich habe nur versucht, Ihnen ein wenig Klarheit zu verschaffen, Mylord.“

„Mir Klarheit zu verschaffen? Wie kommen Sie darauf, dass ich das nötig hätte?“

Reeves hob die Brauen.

„Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“ Christian klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne, machte aber keinerlei Anstalten, sie auch anzuzünden. „Mein Gott, Reeves, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann heraus damit.“

Reeves rümpfte die Nase. „Es besteht keinerlei Grund für diesen Ton, Mylord.“

Christians Miene verfinsterte sich.

„Keine Sorge, Mylord. Ich werde meine Überlegungen für mich behalten, wie es einem Mann in meiner Stellung gebührt. Es liegt mir fern, Sie mit fruchtlosen Kommentaren zu belästigen, die Sie offensichtlich nicht hören wollen.“ Darauf hob Christian eine Braue. „Sind Sie jetzt fertig?“ Reeves schürzte die Lippen. „Nein.“

„Das habe ich auch nicht angenommen. Was genau empört Sie eigentlich so?“

Der Butler seufzte schwer. „Also schön, Mylord. Aber nur, weil Sie darauf bestehen ... “

Christian schnaubte.

„Ich kann mich einfach nicht entscheiden, was mir mehr missfällt, Ihre Absicht, eine Jungfrau zu verführen Reeves schloss die Augen und wandte sich ab, „... oder diese Weste.“

„Was gibt es denn an meiner Weste auszusetzen? Schwarze Seide ist... Moment mal. Ich habe doch gar nicht die Absicht, eine Jungfrau zu verführen! “

„Ah, was für eine Erleichterung! Dann habe ich Sie wohl falsch verstanden. Ich dachte, ich hätte Sie auf der Fahrt nach London sagen hören, Sie wollten versuchen, sich bei Lady Elizabeth, der Enkelin des Duke of Massingale, einzuschmeicheln. Tut mir wirklich leid, Mylord. Mein Gehör ist auch nicht mehr so gut, wie es einst ... “

„Ich will mich tatsächlich bei Lady Elizabeth einschmeicheln, wie Sie es so treffend formuliert haben. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich sie verführen will.“

Reeves wirkte verblüfft. „Ist das die Lady Elizabeth, welche diese Saison in die Gesellschaft eingeführt wird?“

„Ja, aber Sie dürfen nicht glauben, dass sie noch ein junges Mädchen von siebzehn Jahren ist. Sie ist fünfundzwanzig. Ihr Onkel starb kurz vor ihrem geplanten Debüt, sodass es sich verzögerte.“

Reeves sah ihn unverwandt an.

Christian stellte das Glas ab. „Schauen Sie mich nicht so an. Sie ist kein grünes Ding mehr. Im Gegenteil, sie ist die selbstbewussteste Frau, die ich je kennengelernt habe.“ „Tatsächlich?“

„Tatsächlich. Nicht dass es eine Rolle spielte, denn ich habe nicht die Absicht, überhaupt irgendjemanden zu verführen.“ Es sei denn, es musste sein. Er sah wieder zu Reeves. „Ich will nur so tun, als machte ich ihr den Hof.“

„Und wenn Lady Elizabeth Ihren vorgetäuschten Schmeicheleien erliegt?“

„Das wird sie nicht; sie hat einen veritablen Drachen als Anstandsdame. Die Tagend der Dame wird aufs Beste bewacht. Sogar vor mir.“

„Ich bin froh, dass Lady Elizabeths Großvater weiß, welche Gefahren einer zarten jungen Dame drohen, wenn sie in eine Stadt voller ...“, Reeves’ Blick huschte zu Christian hinüber, „... Wölfe eingeführt wird.“

Christian grinste. „Bezeichnen Sie mich etwa als Wolf, Reeves?“

„Das würde ich nicht wagen, Mylord. Es wäre anmaßend.“ „Bis jetzt hat Sie das schließlich auch nicht abgehalten.“ Christian betrachtete den Butler und seufzte dann. „Vermutlich sollte ich Sie in meinen Plan einweihen, sonst denken Sie noch schlechter von mir, als Sie es ohnehin schon tun, falls das überhaupt möglich ist.“

„Ach, möglich ist es schon“, versetzte Reeves und schenkte Christian nach, „aber ziemlich unwahrscheinlich.“

„Vielen Dank!“

„Gern geschehen, Mylord. Wenn Sie Ehrlichkeit zu anstrengend finden, kann ich mir die Informationen aber auch weiter über die üblichen Kanäle besorgen. “

„Die üblichen Kanäle?“

„Hier eine Information, die Sie fallen lassen, Dinge, die mir die anderen Dienstboten hinterbringen, lauschen. “

„Sie lauschen an der Tür?“

„Ich doch nicht, Mylord“, erwiderte Reeves würdevoll. „Die Lakaien.“

Christian nahm die Zigarre aus dem Mund. „Die Lakaien lauschen.“

„Aber natürlich, Mylord. Als ich noch Lakai war, vor vielen, vielen Jahren, habe ich das auch getan.“

„Jetzt, wo Sie Butler sind, überlassen Sie derartig abscheuliche Aufgaben wohl lieber den Untergebenen.“ Reeves verneigte sich. „Sie besitzen eine rasche Auffassungsgabe, Mylord.“

„Vielen Dank“, erwiderte Christian noch einmal, diesmal mit ironischem Unterton. Er schüttelte den Kopf. „Sie sind unverbesserlich. Ich weiß nicht, wie mein Vater es so lang mit Ihnen ausgehalten hat.“

„Ach, das war recht einfach, Mylord. Ich habe ein fürchterliches Gedächtnis. Ihr Vater hat mich recht oft entlassen, nur leider habe ich immer vergessen zu packen. Nach ein, zwei Tagen war er wieder in guter Verfassung und froh, mich zu haben. Ich habe eine gewisse Gabe dafür, für den alltäglichen Luxus zu sorgen. Seine Lordschaft fand das immer sehr tröstlich.“

Christian sah auf die unangezündete Zigarre. „Das also ist es, was Sie mit Portwein und Zigarre bezwecken? Ein Versuch, sich unentbehrlich zu machen?“

„Ja“, erklärte Reeves in entschuldigendem Ton.

Christian musste lachen. „Sie sind wirklich mit allen Wassern gewaschen, Reeves.“

„Danke, Mylord. Von einem ehemaligen Straßenräuber ist das wirklich ein schönes Kompliment.“ Reeves räusperte sich. „Also, Mylord. Wie war das mit Ihrem Plan?“

„Ach ja.“ Christian erhob sich und ging zum Schreibtisch. Er öffnete die oberste Schublade. „Es ist ganz einfach. Wie Sie ja wissen, starb meine Mutter im Gefängnis Newgate.“ „Dieses traurigen Umstands bin ich mir bewusst, Mylord. Ihr Bruder hat mir berichtet, was Ihnen damals im Alter von zehn Jahren widerfuhr - wie Ihre Mutter ins Gefängnis geworfen und des Hochverrats angeklagt wurde.“

„Ja. Eine Weile waren Tristan und ich noch zusammen, aber dann ..." Die Erinnerungen an jenen Tag stiegen wieder in ihm hoch. Er dachte an die kalte, harte Erde, die seinen Fall aus dem Fenster des Gasthauses gebremst hatte. An Tristans Schrei, als er versucht hatte, sich in die Freiheit zu kämpfen, und gescheitert war. An die durchnässten, eiskalten Nächte, die er auf dem Weg nach London durchmachte, immer im Ungewissen über das Schicksal seines Bruders. Und als er London erreicht hatte und sich auf die Suche nach seiner Mutter machte ...

Christian schloss die Augen und versuchte, den schmerzlichen Widerhall der Vergangenheit auszusperren. Langsam schwanden die Erinnerungen. Er atmete tief durch und öffnete die Augen.

Reeves beobachtete ihn ruhig. „Tut mir leid, Mylord.“ „Schon gut“, erwiderte Christian, vor Verlegenheit kurz angebunden. Er nahm eine alte Kiste aus der Schublade und stellte sie auf den Tisch. „Mein Bruder und ich wurden von unserem spielsüchtigen Hauslehrer verkauft. Tristan hat sich geopfert, damit ich fliehen konnte. Er wurde zur Seefahrt gepresst.“

„Während Sie verschwanden.“

Christian rang sich ein bitteres Lächeln ab. „Das habe ich wohl irgendwie getan: Ich bin im Untergrund von London verschwunden. “

„Ich weiß nicht, was Sie alles durchmachen mussten, aber angenehm war es sicher nicht.“

„Angenehm?“ Christian lachte. „Sie sind wirklich der Meister der Untertreibung, Reeves.“

„Eine notwendige Gabe in meinem Beruf, Mylord. Es freut mich jedoch, dass Sie sich, was Ihnen als Kind auch widerfahren ist, erstaunlich gekonnt durchgeschlagen haben.“ Christian zuckte mit den Schultern, eher um die verkrampften Muskeln zu lockern, als um Reeves zuzustimmen. „Allerdings. Und nun möchte ich beweisen, dass Mutter unschuldig war. Sie saß als Verräterin im Gefängnis; angeblich hatte sie Umgang mit den Franzosen. Später wurde die Anklage fallen gelassen, aber da war sie schon gestorben, allein. Irgendjemand muss sie angezeigt haben. Vermutlich wünschte diese Person ihren Tod und verfiel dann auf diese praktische Methode, ihn herbeizuführen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.“

„Darf ich fragen, wie Sie diese Person finden wollen?“ „Natürlich.“ Christian öffnete die Kiste. Darin lagen eine emaillierte Schnupftabaksdose, ein mit einem rosa Bändchen zusammengehaltener Stapel Briefe und eine zerrissene Uhrkette. „Das ist alles, was meine Mutter bei ihrem Tod hinterließ.“

Christian fuhr mit dem Finger an dem Stapel Briefe entlang. „Als ich in London ankam, ging ich sofort nach Newgate. Sie war bereits tot, zwei Wochen davor am Fieber gestorben.“ Wenn Christian die Hand auf die Kiste legte und die Augen schloss, konnte er die Verzweiflung von damals wieder spüren, hatte wieder den bitteren Geschmack des Todes, der Niederlage im Mund. „Einer der Aufseher hat sich gut an sie erinnert. Er hatte die Kiste und hat sie mir verkauft.“

Zehn Pence hatte er dafür hinlegen müssen, jetzt eine lachhafte Summe. Doch für einen zehnjährigen Knaben kurz vor dem Verhungern hätten es genauso gut tausend Pfund sein können. Aber er hatte unbedingt etwas zur Erinnerung an seine Mutter haben wollen, und so hatte er sich darangemacht, das Geld aufzutreiben. Er hatte alle Anstrengung daransetzen müssen, alle List, deren er fähig war, und er hatte dabei seine Moral und seine Unschuld verloren - doch am Ende hatte er dem Aufseher die Kiste und die Schätze darin abkaufen können.

„Ich bin sicher“, sagte Reeves in die entstandene Stille, „Ihre Mutter hätte sich darüber gefreut, dass ihre Besitztümer nun in Ihrer Hand sind.“

„Sie war in Newgate, Reeves. Und keiner wollte ihr helfen. Weder ihre angeblichen Freunde noch ihr Liebhaber.

Nicht einmal der Mann, der mich und Tristan gezeugt hatte.“ Christian hob die Hand. „Ich weiß, ich weiß. Mein Vater - wenn man ihn denn so nennen kann - hätte vielleicht gern geholfen, aber er hatte sich so weit aus unserem Leben entfernt, dass er nicht zur Verfügung stand.“

Reeves nickte.

„Wie es auch passiert war, sie war allein. Sie verkaufte ihren Schmuck, damit sie eine halbwegs trockene Zelle bekam. Danach verkaufte sie ihre Kleidung und ihre Schuhe. Am Ende hatte sie nichts mehr außer Lumpen ... “ Seine Gefühle überrollten ihn.

Aus Erfahrung wusste er, dass er nichts tun konnte, als sie hinzunehmen, zu ertragen, den Schmerz durch sich hindurchzulassen. Er atmete tief durch, strich über die Briefe, das rosa Band, mit denen sie sie einst eigenhändig zusammengebunden hatte. Die kleine Geste beruhigte ihn irgendwie.

Reeves räusperte sich. „Gibt es in diesen Briefen irgendwelche Hinweise auf ihre missliche Lage?“

Christian sammelte sich. „Es gibt einen Brief von einem gewissen Sinclair. Ich halte es für einen Decknamen, es ist alles sehr gestelzt formuliert. Der Brief kommt einem Geständnis gleich. Dieser Sinclair gibt zu, dass meine Mutter aufgrund gezielt lancierter falscher Informationen ins Gefängnis kam.“

„Jemand sorgte dafür, dass sie ins Gefängnis geworfen wurde, und entschuldigte sich dann?“

„Es war keine Entschuldigung. Der Ton ist höhnisch. Vermutlich war es für meine Mutter die letzte Ironie: Der Brief war ein Beweis, aber nachdem der Schreiber seine Handschrift verstellt hatte, konnte sie ihn nicht nutzen.“

„Dann enthält der Brief kaum Anhaltspunkte.“

„O doch. Dieser Brief führte mich zum Duke of Massingale, Lady Elizabeths Großvater.“

„Wie das?“

„Ich habe den Brief einem Freund gezeigt, der sich auf dem Gebiet auskennt.“

Reeves runzelte die Stirn. „Mylord?“

Christian lachte. „Mein Freund ist ein Urkundenfälscher, einer der besten.“

„Ah.“

„Er streute irgendeinen Puder auf die Oberfläche, und dadurch zeigte sich ein Abdruck, der von einem anderen Brief stammte. Es war ein Siegel. Vom Siegelring des Duke of Massingale. Der Brief kam also aus Massingale House.“ „Verstehe. Und was hat Master William nun herausgefunden?“

„Er sollte den Priester finden, der Mutter damals auf dem Sterbebett begleitete. Willie ist schon auf dem Weg hierher. Er meint, er hätte etwas Wichtiges entdeckt, das beweisen würde, dass mein Verdacht gegen den Herzog begründet ist.“ Reeves schürzte die Lippen. „Ich kann Sie wohl nicht dazu überreden, einen Weg zum Duke of Massingale zu suchen, der nicht über Lady Elizabeth führt?“

„Nein. Der Herzog ist ein Einsiedler. Lady Elizabeth ist meine einzige Möglichkeit.“ Christian schloss die Kiste und stellte sie sorgsam in die Schublade zurück. „Noch fehlt mir ein schlüssiger Beweis. Das weiß ich auch. Doch mit jeder Schicht, die ich aufdecke, rücke ich näher an Massingales Schwelle.“ Christian sah den Butler scharf an. „Irgendetwas hat er mit Mutters Tod zu tun. Ich weiß nur noch nicht genau, was.“

„Es ist eine sehr schwierige und delikate Angelegenheit, Mylord. “

„Sie wissen ja noch nicht alles. Aber ich höre nicht auf zu graben, ehe ich die Wahrheit kenne. Die ganze Wahrheit.“ Nachdenklich strich er über die raue Kiste. Er war der Wahrheit schon so nahe gekommen, allerdings war sie noch hinter Zeit und Täuschungen verborgen. Christian würde einen Weg finden, sie bloßzulegen. Das war er seiner Mutter schuldig. Plötzlich wurde er sich des abschätzenden Blicks des Butlers bewusst und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich sollte zu Bett gehen. Lady Elizabeth reitet jeden Donnerstag im Park aus.“

„Sie beobachten ihr Haus?“

„Ich und jeder andere ernsthafte Verehrer. Die Dame ist ziemlich reich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie in die Gesellschaft eingeführt wird.“ Christian zuckte mit den Schultern. „Aber ein Plan, der nicht abgewandelt werden kann, taugt auch nichts.“

„Jawohl, Mylord. Sicher hat Ihnen Ihre Wandelfähigkeit im Leben schon oft gute Dienste erwiesen. Aber ich kann mir nicht helfen ... Mylord, was ist, wenn Lady Elizabeth im Lauf Ihres falschen Spiels echte Gefühle für Sie entwickelt? Werden Sie dann jeden Kontakt abbrechen?“

„Wenn Sie sie gestern gesehen hätten, wäre Ihnen klar, dass sie nicht der Typ ist, der sich Hals über Kopf verliebt, ganz unabhängig von meinen Absichten.“

„Ich will hoffen, dass dies der Wahrheit entspricht, Mylord.“ Reeves ging zur Tür. „Ich lasse Ihr Zimmer richten, nachdem Sie am Morgen eine so frühe Verabredung haben.“ Mit einer schweigenden Verbeugung ging Reeves aus dem Zimmer.

Christian wartete, bis Reeves die Tür zugemacht hatte, und schloss dann die Schublade. Der Verleumder seiner Mutter war in Reichweite. Er spürte, dass es in seiner Macht lag, den Mann zu überwältigen, der sein Leben zerstört und ihn und seine Familie ins Elend gestürzt hatte. Seufzend wandte er sich ab.

Schließlich schnitt er das Kopfende der Zigarre ab und griff nach der Zunderbox. Er lehnte sich im Sessel zurück, legte die Füße auf den Tisch und dachte an die Wochen, die vor ihm lagen. Es kam ihm so vor, als hätte er sich seit seinem zehnten Lebensjahr nur auf diesen Augenblick vorbereitet. Diesen Kampf würde er genießen, er würde sich ihm mit ganzer Kraft, mit Körper und Seele widmen.

Er blies einen Rauchring in die Luft, sah zu, wie der schemenhafte Ring nach oben stieg und zerstob. Obwohl es schon sehr spät war, war er immer noch hellwach vor Aufregung. Dieselbe Erregung verspürte er, wenn er mit donnernden Hufen über die Heide galoppierte, Degen und Pistole in Reichweite und vor ihm in der Kutsche ein dicker, fetter Adeliger. Diesmal waren seine Waffen jedoch weder Degen noch Pistole, sondern nur seine Klugheit und die Hilfe, die ihm eine schöne Dame unbewusst leisten würde.

Überrascht ertappte er sich bei einem Lächeln. Er lehnte den Kopf zurück und blies noch einen Rauchring, größer diesmal. Langsam stieg der silbergraue Ring zur senfgelben Decke empor und löste sich dann auf.

Befriedigt nickte Christian. Er war bereit. Die Zeit war gekommen. Seine Zeit.

Der Kampf konnte beginnen.