V
Jeden Tag, den Gott gibt, versuche ich, mich mit dem neuen Haus zufriedenzugeben, doch es gelingt mir nicht. Es ist zweistöckig, die Wände sind aus Stein und zum Hofplatz mit Holz verkleidet. Das Dach ist flach und fällt zum Berg hin ab. Kein Dachboden, kein Keller. Oben sind zwei kleine Schlafzimmer mit winzigen Fensterchen, unten eine Küche und eine mäßig helle Wohnstube. Die Küche ist groß, der Boden nur zur Hälfte mit Holz ausgelegt. Der Herd steht auf Erdboden.
Jahrelang habe ich dagegen angekämpft. Nie geglaubt, dass Vigfús Ernst machen würde. Ihn angefleht, nicht umzuziehen.
Mit den Gedanken bin ich ständig bei Mutter und sehe vor mir, wie sie aussah, als wir aufgebrochen sind. Dass wir fortmussten, nagt an mir. Ich, die versprochen hatte, immer bei ihnen zu bleiben. Papa gab auf und ließ mich mit der Orgel ziehen. Brachte sie vom Schloss tatsächlich hierher! Ich traue mich nicht, darauf zu spielen.
Schrecke nachts hoch. Ob es Mutter gut geht? Und ob Hulda wohl ihre Milch bekommt? Papa ist vergesslich geworden. Einar, der inzwischen mit Ingunn verheiratet ist und eigene Kinder hat, versprach, auf alle achtzugeben.
Vigfús war stolz, als er uns auf den neuen Hof umsiedelte. Befreite die kleine Anna aus der Decke und hieß sie willkommen zu Hause. Hieß uns alle willkommen. Lachte und machte seine Späße mit Stefán, Katrín und Ingi.
Dann fing er an, die Pferde abzuladen und die Sachen hineinzutragen. Die Kinder halfen ihm. Das meiste hatte er bereits hergebracht und ins Haus geräumt. Die Nähmaschine stand auf einem Tisch am Fenster in der Wohnstube, und auch ein Ballen Stoff lag dort. Vigfús hatte ihn am Hornafjord gekauft, damit ich so bald wie möglich Gardinen nähen konnte. Er weiß, dass es mir wichtig ist, Gardinen zu haben. Der Stoff ist dünn und fadenscheinig, war offenbar günstig. Mutter wollte, dass ich die Nähmaschine mitnahm. Sagte, dass sie in nächster Zeit nicht viel nähen werde. War so niedergeschlagen. Vigfús möchte mir eine Nähmaschine schenken, war aber einverstanden, dass ich diese als Leihgabe bekam, bis die andere da ist.
Als Anna zu jammern anfing, wurde es mir zu viel, und ich ging hinaus. Die Angst überwältigte mich, und ich konnte kaum die Beine bewegen. Lief trotzdem die Wiese hinunter und schaute zu den Berggipfeln über dem Hof. Ließ meine Augen über den Abhang wandern, suchte nach einem Wasserfall oder einer Senke, die die meinen werden könnten. Versuchte Meeresrauschen auszumachen, hörte aber nur die Brandung in meinem Kopf. Schaute zum Haus, das mitten auf der Wiese lag und wie ein Sarg aussah.
Anna ist unruhig, und ich bekomme wenig Schlaf. Vigfús kümmert sich um den Hof und arbeitet zwischendurch in der Umgebung, ist sorgfältig und gefragt. Als mir die Arbeit vor lauter Angst über den Kopf wächst, kommt Papa den Weg zum Hof gelaufen. Ich werfe alles von mir und renne ihm entgegen. Der Tag hat Farbe bekommen.
Noch habe ich keine Elfenwohnstätte gefunden. Das erzähle ich Papa. Da steigt er auf einen Stock gestützt den Hang hinauf und bleibt lange weg. Ich will, dass Stefán ihn begleitet, auf ihn achtgibt, doch er meint, dass er allein sein müsse. Die Kinder beobachten den Ausflug ihres Großvaters vom Hof aus. Fluchend kommt er zurück. Spuckt in alle Richtungen und sagt, dass der Berg unbedeutend sei. Hat trotz allem einen Stein entdeckt, den er mir zeigen möchte. Wir machen uns auf den Weg, nur wir beide. Der Stein ist moosbewachsen, wir setzen uns, lehnen uns an. Ich schließe die Augen und werde ruhig. Bleiben lange dort sitzen.
Laufen Hand in Hand über die Wiese zurück. Vigfús ist kurz angebunden, Anna brüllt wie am Spieß, die Kühe sind nicht gemolken – und wo ist das Abendessen?
Stefán ist tüchtig, Katrín auch. Sie packen drinnen und draußen mit an und passen auf ihre jüngeren Geschwister auf. Wenn ich oben am Stein alles um mich herum vergesse, kommen sie mich abwechselnd holen.
Eines Tages bittet Katrín mich, auf der Orgel zu spielen. Ich schüttle den Kopf. Da schlingt sie ihre Arme um meinen Hals und flüstert:
«Spiel doch, liebste Mutter. Wir haben ganz aufgehört zu singen, seit wir hergezogen sind.»
Ich genieße es, ihre warmen Arme zu spüren, und durch den Tränenschleier betrachte ich meine Kinder. Die kleine, dünne Katrín, blond und mit tiefen Grübchen, der große Stefán, schon so erwachsen und Vigfús’ lebendes Abbild. Ingi, der rothaarige Spaßvogel, mein Liebling. Ich konnte durchsetzen, dass er auf den Namen Ingi getauft wurde, und versprach dafür, dass Vigfús den nächsten Namen bestimmen durfte. Und da schläft die kleine Prinzessin Anna, benannt nach meiner Schwiegermutter, die ich nie gesehen habe.
Was ich niemandem gesagt habe, ist, dass die Kinderschar im nächsten Jahr noch größer wird. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass man ständig schwanger ist. Trotz der vielen Arbeit ist Vigfús abends nicht so müde wie ich. Oft tue ich so, als würde ich schlafen, wenn er ins Bett kommt. Manchmal stupst er mich an, manchmal nicht.
Katrín führt mich zur Orgel, und ich setze mich. Das Pedal ist schwergängig, und die Töne sind unsauber. Als ich die Kinder sehe, schießt mir ein alter Gedanke durch den Kopf. Wir wollten das Haus mit Kindern und Gesang füllen. Sveinn – ob er noch am Leben ist?
Ich fange mit Am freiesten ist’s in den Bergen an, und die Kinder stimmen kräftig ein. Voller Eifer lassen sie sich so viele Lieder wie möglich einfallen, als hätten sie Angst davor, dass ich plötzlich aufstehe und gehe.
Wir singen, bis Prinzessin Anna aufwacht und munter schreit. Da fragt Katrín, ob sie Kaffee machen dürfe, sagt, dass sie das schon allein könne, sie habe oft ihrer Großmutter und Namensvetterin geholfen. Sie ist voller Erwartung. Vigfús will nur am Wochenende Kaffee trinken oder wenn Gäste kommen, doch ich lächle und nicke. Die Geschwister mahlen Bohnen in der Kaffeemühle und gießen auf. Als die Prinzessin satt ist und ihr Bäuerchen gemacht hat, unterhalten wir uns am Kaffeetisch, und ich erzähle Geschichten von mir und meinen Geschwistern. Ingi will mehr von seinem Namensvetter hören. Ich genieße es, zu erzählen, bin in Gedanken wieder daheim in der alten Stallstube, und alles ist so schön.
Bis Vigfús nach Hause kommt, sitzen wir zusammen und plaudern. Vergessen sind die Kühe. Er ist völlig entgeistert, wirft einen verstohlenen Blick auf die Kaffeekanne, nimmt aber eine Tasse an. Lange ist es her, dass ich abends so gut gelaunt in die Kissen gesunken bin.
Jedes Jahr ist für kurze Zeit die Wanderschule in unserer Wohnstube untergebracht. Der Lehrer heißt Oddur und wohnt immer dort, wo er unterrichtet. Oddur ist wortgewandt und unterhaltsam, schläft auf dem Diwan in der Wohnstube. Die Kinder von den Höfen ringsum kommen morgens zu Fuß zum Unterricht. Sie haben Proviant dabei, trotzdem bekommen sie mittags heiße Grütze und Schafsblutwurst von mir.
Es ist so schön, wenn sich der Hof mit Menschen füllt, und ich könnte mir vorstellen, das ganze Jahr über eine Schule im Haus zu haben – wenn es bloß ein bisschen mehr Platz gäbe. Dann könnte ich auch Handarbeit unterrichten. Oddur bittet mich, einmal in der Woche Gesang zu unterrichten, doch schon bald lasse ich die Kinder täglich singen. Und bringe ihnen Lieder bei. Alle machen mit, ob sie die Töne halten oder nicht, singen ein- oder auch zweistimmig, am beliebtesten aber ist das Kanonsingen. Sie machen auch Wettsingen, was immer mit Gelächter und Albereien endet.
Als Oddur zu anderen Höfen weiterzieht, kommt mir die Hütte leer vor. Vermisse das Kommen und Gehen, die hellen Stimmen und die Gesangsstunden. Die Kinder sagen mir, dass es öde sei, nicht mehr bei uns in die Schule zu gehen – kein Singen und kein Spaß auf dem nächsten Hof. Und viel weniger Platz.
Das erinnert mich daran, dass die Madam mich auf der Mädchenschule behalten und zur Lehrerin machen wollte. Einst wollte ich auch nach Kopenhagen gehen, das Orgelspiel lernen und dann Lehrerin an Sveinns und meiner Schule werden. Das war in einem früheren Leben. Vielleicht bleibe ich im nächsten Leben unverheiratet und gründe eine Schule! Manchmal träume ich weiter. Dann bin ich wieder nach Hause ins Schloss gezogen. Dort ist genügend Platz, und ich habe den ganzen Winter unten in der Wohnstube eine Schule und im oberen Stock Zimmer für die Kinder mit der weitesten Anreise. Ich unterrichte Gesang, Gedichtelesen und Handarbeit für die Mädchen, Vigfús unterrichtet in der Werkstatt, und Oddur kümmert sich um den Rest. Die Schule hat einen guten Ruf, und jetzt wollen sogar Kinder aus anderen Regionen aufgenommen werden. Wenn ich in meinen Träumen bin, geht es mir gut. Sie machen die Angst kleiner.
Mutter hat uns verlassen, Halldóra auch. Eine nach der anderen ist gegangen. Einar kam und holte mich. Ich war hochschwanger mit dem fünften Kind, ging aber trotzdem. Vigfús gestattete mir die Reise. Katrín und Stefán wollen fleißig zu Hause mithelfen. Ingi auch. Anna habe ich bei mir.
Das Schloss war seltsam leer. Mutter war in der Wohnstube aufgebahrt. Ich schloss die Tür, setzte mich, wollte allein mit ihr sein und mich verabschieden. Wollte tapfer und stark sein, weinte aber sofort.
«Ich hätte dich nicht verlassen sollen, dann wärst du noch bei uns», flüsterte ich und streckte die Hand nach ihr aus. Zog sie zurück, als ich merkte, wie kalt die Berührung war.
Wo war sie nun? Irrte sie allein herum? Hoffentlich hat mein Bruder Ingi sie in Empfang genommen, und Großvater. Und vielleicht Kristbjörg, Halldóra und der kleine Pálmar …
Ich beweinte alle, die tot waren. Sah die Sommergardinen, die seit meinem Auszug nicht mehr gegen Wintergardinen ausgetauscht worden waren. Die Uhr ist stehen geblieben, als ich damals gegangen bin. Warum um alles in der Welt habe ich mich bloß Vigfús’ Dreistigkeit gebeugt? Er hatte mir versprochen, immer hier wohnen zu bleiben. Wenn ich doch die Zeit zurückdrehen könnte. Schaute zu Maria an der Wand. Augenblicklich hörte sie auf, Jesus zu beißen, sah mir in die Augen und sagte, dass sie sich um Mutter kümmern werde. Maria hat noch nie mit mir gesprochen. Vielleicht hat sie es versucht, aber ich habe nicht zugehört. Es war gut, sie zu hören. Ich klammerte mich an Maria, bat sie, sich meiner Mutter anzunehmen.
Als die Tränen nachließen, befiel mich albtraumhafte Müdigkeit, und ich ging zu Papa.
«Mein kleiner Engel», flüsterte er, umarmte mich und hielt mich fest. «Wirst du jetzt für immer bei mir bleiben?»
Ich streichelte ihm sanft über Wange und Kinn. Würde liebend gerne mit den Kindern zu ihm ziehen. Neu anfangen. Doch wo sollte ich anfangen?
Bis nach der Beerdigung bleibe ich daheim. Kümmere mich, so gut es geht, um Papa. Schlafe in meinem alten Bett, umgeben von Erinnerungen. Werfe einen Blick unter die Dachschräge und ziehe Sveinns Bettkantenbrett hervor. Wische den Staub ab und fahre zärtlich mit den Fingerspitzen über die Schnitzerei. Das Brett ist mir teuer. Doch diesmal breche ich nicht in Tränen aus. Das Brett gehört zu einem Leben, das unendlich weit weg ist. War ich es, die dieses Leben gelebt hat, oder jemand anders?
Wir backen und bereiten den Leichenschmaus vor. Papa will, dass genug von allem da ist, jetzt soll an nichts gespart werden. Einar leidet. Er kannte keine andere Mutter, hat gesagt, dass er sie nie verlässt – und es auch eingehalten. Ich spüre einen Stich in der Brust und nehme ihn in den Arm. Der hübsche Einar, Magga immer noch so ähnlich.
Obwohl mir das Gehen schwerfällt, bringe ich Hulda jeden Abend Milch. Und genieße es. Genieße es auch, hinauf zur Schlucht zu laufen, dort zu sitzen und den Gletscher zu betrachten. Immer noch ist Musik im Felsen.
Nach der Bestattung reitet Vigfús mit Anna und mir nach Hause. Er ist fest entschlossen, gibt nicht nach. Papa ist niedergeschlagen, ich auch. Hätte ihn gerne mitgenommen und ihn bei uns wohnen lassen. Doch ich sage nichts, weiß, dass es nichts nützen würde, es ist kaum Platz und würde sofort Krach geben. Er bleibt bei Einar, der lieb zu ihm ist und gut für ihn sorgt.
Die Kinder begrüßen mich, Ingi hält mich fest umschlungen. Die ersten Tage nach meiner Heimkehr ist er wie mein Schatten.
In Gedanken bin ich ganz bei Papa und versuche, durch die Tage zu kommen. Passe auf, dass ich nichts vergesse. Kochen, melken, putzen, die Kinder hüten, nähen und stricken für Leute aus der Gegend. Die Bestellungen haben sich angehäuft, weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll. Es macht mir Spaß. Es ist bloß die Zeit, die fehlt. Nachts schlafe ich schlecht, wache ständig auf und überlege, was noch alles getan werden muss.
Bin schwer geworden, steige aber trotzdem noch den Hang hinauf zum Stein und sitze abends dort. Nehme nichts wahr, genieße es aber, allein zu sein. Bin ja nicht ganz allein, spüre die Tritte des kleinen Wesens. Schiebe die Hand unter Bluse und Tuch und streichle meinen Bauch. Spreche mit ihm und merke, wie es ruhig wird. Manchmal schlafe ich ein. Dann holt Vigfús mich.
Er schimpft nicht mehr, selbst wenn ich mich absondere, für ihn scheint ohnehin klar zu sein, dass mich die ganze Verwöhnerei im elterlichen Haus verdorben hat. Kristbjörg schießt mir in den Sinn, und ich lächle sie an. Versuche, lieb zu Vigfús zu sein und ihn gernzuhaben, habe längst aufgehört, ihn mit Sveinn zu vergleichen. Doch ich erzähle ihm nicht von der Angst. Er würde mich nicht verstehen. Haben wir nicht genug zu brechen und zu beißen, uns und gesunde Kinder? Angst – weshalb?
Der Junge lebte nur vier Tage. Vigfús holte den Pfarrer, der ihn Guðmundur taufte. Vielleicht gab es nie Hoffnung für ihn. Trotzdem habe ich von ganzem Herzen dafür gebetet, dass er leben möge. Auch Vigfús hat das getan. Sein Sarg war winzig klein. Er ist direkt neben Mutter begraben. Gut, sie zusammen zu wissen. Guðmundur geht mir nicht aus dem Sinn. Die Müdigkeit laugt mich aus, und ich bin empfindlich. Beim kleinsten Anlass weine ich los.
Ich habe oft versucht, mir vorzustellen, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Bis jetzt hatte ich Glück. Halldóra hat einmal gesagt, dass von allen Verlusten der Verlust eines Kindes der schmerzhafteste sei. Sie war blind wie ein Stein, als sie es mir beschrieb, und wiegte sich im Sitzen hin und her.
Kurz nach der Beerdigung sehe ich Guðmundur in den Wolken. Mutter und Halldóra haben ihn zwischen sich an die Hand genommen, und es durchströmt mich warm. Wenn da mal nicht auch Kristbjörg in der Nähe ist. Ich lächle, und die Angst verschwindet für einen Moment.
Ich versuche, gut gekleidet, gekämmt und zurechtgemacht zu sein, habe aber nur wenig Zeit, um für mich selbst etwas zu nähen. Manchmal träume ich von Reykjavík. Dann stehe ich vor Hansens Magasín und sehe mir die Dekoration in den Schaufenstern an, oder ich bin im Laden und befühle die Stoffe. Dann kaufe ich einen Meter nach dem anderen. Auch Spitzen, Seidenbänder und Borten. Schaue verwirrt um mich, wenn ich zu Hause in meinem Bett aufwache.
Eines Morgens habe ich es nicht mehr ausgehalten. Im Traum hatte ich so viel Schönes berührt. Nun wollte ich daraus für die Kinder, Vigfús und mich etwas nähen. Ich setzte mich hin, schrieb meiner Schwester Gunnhildur einen langen Brief und bat sie, Stoffe zu besorgen. Beschrieb ihr, was mir vorschwebte. Umriss Ideen. Bat sie, nicht zu knapsen. Die Bezahlung käme.
Lange Zeit später, als das Paket ankam, konnte ich mich vor Freude kaum zügeln. Gunnhildur hatte von allem reichlich gekauft und gut gewählt. Die Kinder standen verdutzt da und guckten. Ich sagte ihnen, wer was bekommen sollte, und Katrín strahlte so sehr, dass beide Grübchen zum Vorschein kamen. Dann kam Vigfús und sah die Rechnung. Da war der Spaß vorbei. Dabei hatte Gunnhildur einen guten Rabatt bekommen, weil sie in Hansens Magasín eingekauft hatte, wo Þórarinn Verkäufer war.
«Einen guten Rabatt!», sagte Vigfús blass vor Wut. «Ohne mir ein Tönchen davon zu sagen! Was hast du dir gedacht, Weib?»
Ich konnte kaum antworten, hatte an nichts anderes gedacht als den Genuss, zu sehen, wie sich guter Stoff in schöne Kleidung verwandelt. Freude und Glück zu ernten.
«Das tust du nicht noch einmal!», sagte Vigfús rasend.
Die Wut kochte in mir, als ich alles zusammenräumte und in eine Kommodenschublade steckte. Das Verlangen zu nähen war verflogen.
Später rutschte mir diese Geschichte vor Papa heraus, und er bot an, die Rechnung mit Gunnhildur und Þórarinn zu begleichen. Da endlich holte ich den Stoff hervor und machte mich daran, ein Kleid für Katrín zu nähen. Scherte mich um nichts anderes. Es verschlug ihr den Atem, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich nur noch an der Nähmaschine sitzen sollen. Als ich Vigfús sagte, dass Papa die Rechnung bezahlt habe, wurde er noch wütender und verließ das Zimmer. Ich ließ mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen und drehte weiter die Kurbel, als wäre nichts geschehen.
Vigfús ist viel unterwegs und kommt spät nach Hause. Er nimmt mich nicht mehr so oft in den Arm wie früher, ist kurz angebunden und unaufmerksam. Und abends, unter der Decke, wärmt er mich nicht mehr so wie früher. Es fröstelt mich. Mutter kommt mir in den Sinn, wie sie sich in ihrem Bett wälzt und stöhnt. Darauf wartet, dass Papa nach Hause kommt. Was hält Vigfús auf?
Das meiste aus Gunnhildurs Paket habe ich schon verarbeitet. Vigfús’ Festtagskleider waren ganz verschlissen. Er lächelt übers ganze Gesicht, als ich ihm die neuen Sachen anpasse. Sie sitzen gut, und er stolziert in der Wohnstube auf und ab, jung und schön. Es sieht ganz so aus, als hätte er mir den Kauf verziehen.
Hole eine Stoffbahn hervor und fange an, ein Kleid für mich zu nähen. Es eilt nicht, die Sachen für Vigfús sofort fertigzustellen.
«Wann wirst du dich um den Küchenboden kümmern?», frage ich wie so oft, und langsam kocht der Zorn in mir. Immer noch ist die Hälfte Erdboden, und darauf steht der Herd. Die Erde verteilt sich im ganzen Haus, wie sehr ich auch putze und versuche, alles sauber zu halten. Die Kinder sind nicht achtsam genug, Vigfús auch nicht. Er sieht mich erstaunt an, findet, dass wir ein so schönes Zuhause haben. Nimmt mich in den Arm, lächelt und verspricht schnell einen Boden.
Das Haus ist kalt. Es ist kleiner als das Schloss, und es müsste leicht sein, es aufzuheizen. Doch die Kälte ist beißend. Nur in der Küche hält sich die Wärme, und ich träume von der alten Stallstube daheim, von der Wärme, die von den Kühen ausging, und von ihren nächtlichen Geräuschen. Dränge die Kinder ständig, fleißig zu sein und sich zu bewegen.
Vigfús macht kleine Löcher in die Küchendecke. Versucht, Wärme in die eiskalten Schlafzimmer zu bringen, bevor es Abend wird, doch das ändert kaum etwas. Die Kinder stecke ich warm eingepackt ins Bett.
«Bist du wieder zu Hause, Katrín?»
Mutter trocknet sich die Augen, offensichtlich hat sie geweint. Du tust, als wenn nichts wäre, drückst sie fest und fragst, ob du einen Schluck Kaffee aufgießen sollst. Sie schüttelt traurig den Kopf. Sie hat ganz sicher Lust auf Kaffee, aber die Bohnen sind knapp, weil im Ausland Krieg ist und es noch weniger Kaffee gibt als sonst. Wenn sie betrübt ist, versuchst du, sie aufzumuntern. Ingi und Prinzessin Anna, die am liebsten ständig wie eine Klette an ihr hängen würde, tun das auch. Nur Stefán wirkt ihr gegenüber schüchtern – oder ängstlich? Er ist wie Vater, nimmt nie jemanden so richtig in den Arm.
Für dich ist Mutter nicht bloß eine Frau, sondern viele gleichzeitig, und du hast sie alle gern. Trotzdem magst du die Mutter am liebsten, die bei Großvater und Großmutter im Schloss zu Hause war. Sie hat gesungen und Musik gemacht, war lustig und selten schlecht gelaunt. Du vermisst sie.
Ich arbeite wie besessen. Versuche, zuerst das Langweilige zu erledigen, um mich dann an die Orgel oder die Nähmaschine setzen zu können. Schaffe es fast nie. Die Strickmaschine habe ich schon Monate nicht angerührt. Die Gedichtbände nicht aufgeschlagen. Die Angst lauert auf mich.
Vigfús ist fest davon überzeugt, dass wir eine Magd brauchen. Zu dem Zeitpunkt bin ich bereits mit dem siebten Kind hochschwanger. Er hat schon mit einem sehr tüchtigen Mädchen gesprochen, und sie wird demnächst zu uns ziehen. Alles dreht sich vor meinen Augen, und ich stütze mich auf den Herd, um nicht hinzufallen.
«Wir brauchen keine Magd», antworte ich mit zitternder Stimme.
«Engelchen, jetzt hab dich nicht so», sagt er. «Du weißt, dass das für dich viel zu viel ist. Es ist teuer, sie hier zu haben, aber das gönnen wir uns.»
«Das gönnen wir uns!», fauche ich und taumle durch die Küche. Ich will keine verfluchte Magd in meinem Zuhause!
Knalle die Tür hinter mir zu und rase die Wiese hinauf. In mir kocht die Wut, ich setze mich an den Stein, sitze da und stoße Kristbjörgs gesammelte Flüche aus. Schlage die geballten Fäuste gegeneinander, so wie sie es getan hat. Fluche und weine abwechselnd. Schaue hoch zu den Wolken in der Hoffnung, sie auftauchen zu sehen und einstimmen zu hören, erblicke aber nur Guðmundur, meinen geliebten kleinen Engel, und weine noch mehr.
Wache auf, als Stefán sich zu mir setzt. Er sagt nichts, nimmt aber meine Hand und zieht mich hoch. Lächelt mich an. Ich lächle zurück und wünsche mir im selben Moment, dass er seinem Vater nicht so ähnlich sähe. Dann laufen wir über die Wiese nach Hause.
Die Magd ist da, jung und fröhlich, ein heller Typ. Sie heißt Helga, ist fleißig und lieb zu den Kindern. Aber sie ist schlampig, und die Böden sind schmutzverschmiert, denn natürlich hat Vigfús sein Versprechen wegen des Küchenbodens wieder einmal gebrochen. Ich versuche, mich, so gut es geht, mit Helga abzufinden, habe aber ein Auge auf sie. Auf sie und Vigfús.
Krame das Notenheft hervor, das Madam Poulsen mir einst gegeben hat, sitze an der Orgel und übe stundenlang. Singe mit den Kindern und bringe ihnen das Spielen bei. Sie sind eifrig und interessiert. Wenn schon eine Magd im Haus sein muss, sollte ich das in irgendeiner Weise auch genießen können!
Vigfús ist jetzt mehr zu Hause als früher. Er sagt, dass er das meinetwegen tue. Wieso war er dann nicht zu Hause, als ich mit den Kindern allein war? Er will nicht unterwegs sein, wenn die Geburt einsetzt, hat noch genau vor Augen, wie schlecht es lief, als Guðmundur zur Welt kam.
Abends lacht er herzhaft mit Helga und den Kindern. Ich versuche krampfhaft, wach zu bleiben, will ins Gelächter miteinstimmen, doch es gelingt mir nicht.
Pétur Jakob ist in Rom angekommen. Zuerst ist er zu Gauja und Magnús nach Seyðisfjörður gereist und von dort nach Norwegen, wo er sich als Tischler verdingt hat. Wollte immer Baumeister werden. Hat seinen Traum nie aufgegeben.
«Wie sehr wünschte ich mir, dass du hier wärst», schreibt er. «Die Kirchen sind wie Schlösser und die Orgeln um ein Vielfaches größer als die Orgel bei uns daheim. Der Organist spielt nicht nur mit den Händen. Er spielt auch mit den Füßen auf Tasten am Boden, dass es durchs ganze Gewölbe schallt. Dann denke ich an dich und wünschte mir, dass du bei mir wärst. In den Kirchen könntest du alles um dich herum vergessen. Einige haben eine hohe Kuppel. Wenn man dort hinaufschaut, sieht man ein göttliches Wesen vorbeischweben und schaut direkt in den Himmel. Im Petersdom ist eine schöne Statue von Bertel Thorvaldsen. Du solltest sie sehen!»
Viele Jahre lang habe ich von Frauen in langen, hellen Kleidern in Grimsby und Rotterdam geträumt. Jetzt träume ich von Rom. Bin ständig mit Pétur Jakob unterwegs. Wir ziehen von einer Kirche zur anderen, manchmal lausche ich dem Orgelspiel, meist spiele ich selbst. Zwischendurch besuche ich Bertel im Petersdom. Ob Maria bei ihm ist? Hier beim Papst höchstpersönlich hoffentlich nicht wie eine Lotterliese mit entblößter Brust …
Der Junge, der sich in die Welt schiebt, brüllt gesund. Die Geburt ist kraftraubend, doch alles läuft gut. Ich danke Gott dafür, dass er so gesund ist, kann den kleinen Guðmundur nicht vergessen und wie krank er war in der kurzen Zeit, die er lebte. Immer noch vermisse ich ihn. Jetzt habe ich vier Jungs und zwei Mädchen auf die Welt gebracht. Jede Geburt ist anders. Vielleicht war es bei Katrín am leichtesten. So winzig klein.
Vigfús ist rücksichtsvoll, bringt mir frischen Kaffee und sitzt am Bettrand. Die Kinder stehen im Türspalt. Ich fordere sie auf, näher zu kommen und ihren kleinen Bruder anzusehen. Ingi lacht los, findet ihn klein und armselig. Prinzessin Anna schubst ihn weg und will zu mir ins Bett. Sie brüllt wie am Spieß, als sie weggebracht wird.
Ich bin schwach und komme nicht so schnell wie sonst auf die Beine. Höre abends unten Gequatsche, das Lachen von Helga und Vigfús. Knirsche mit den Zähnen. Entschlossen, so bald wie möglich aufzustehen.
Als ich so daliege, zerbreche ich mir den Kopf, wie ich verhindern kann, wieder schwanger zu werden. Sehe keine andere Lösung, als Vigfús den Rücken zu kehren, fürchte mich aber davor.
Eines Tages kommt Papa angeritten. Er sieht nicht mehr gut, und Stefán hilft ihm die Treppe hinauf, bis zu meinem Bett. Er bleibt lange sitzen, betastet den Jungen und fragt, ob wir uns schon für einen Namen entschieden hätten. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, weiß bloß, dass Papa gerne einen Namensvetter hätte. Und ich weiß auch, dass Vigfús den Jungen Björn nennen möchte.
Papa hat keine Eile und sitzt bis in den Abend hinein bei mir. Scherzt auf dem Weg nach draußen mit Helga. Ich höre das Lachen bis in den oberen Stock.
Irgendwann habe ich dann die Nase voll von all dem Gelächter. Vigfús kommt erst spät ins Bett, sagt, dass er arbeite. Doch wohl kaum in der Küche!
Ich schüttele alles von mir ab und stehe auf, erst wird mir schwindelig, aber dann geht es langsam besser. Ziehe mich an, schleppe mich die Treppe hinunter und sage Helga, dass sie nun gehen könne. Ich sei wieder auf den Beinen und bräuchte keine Magd mehr.
Doch Helga hat ihren Vertrag mit Vigfús abgeschlossen. Will nicht gehen, sondern warten, bis er zurück ist. Ich befehle ihr, sofort in die Gänge zu kommen. Rufe Stefán und bitte ihn, ein Pferd für Helga zu holen. Sie verlasse uns. Er steht in der Tür und ist hin- und hergerissen.
Kurz darauf kommt Vigfús. Er bringt mich nach oben und will, dass ich mich hinlege. Sitzt bei mir. Ich weine und verlange, dass Helga sofort geht. Vigfús ist ruhig, sagt, dass sie nicht gehe, bevor ich mich erholt hätte. Mein ganzer Körper schmerzt vor Müdigkeit, und ich schlafe auf der Stelle ein. Rühre mich nicht, als der Junge weint. Vigfús bringt ihn mir, ich lege ihn an die Brust und schlafe ein.
Als ich aufwache, ist es verdächtig still im Haus. Wo sind sie alle? Vigfús, Helga, die Kinder? Der Junge jammert, ich drehe mich um, gebe ihm die andere Brust, und wir schlafen weiter.
Es wird nicht mehr so viel gelacht wie vorher. Helga und ich sprechen wenig miteinander, doch ich komme langsam wieder zu Kräften und bestehe darauf, dass sie geht. Und eines schönen Tages ist sie fort. Ich bin zutiefst erleichtert, kämme mich und ziehe ein hübsches Kleid an, fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass alles gut läuft. Doch die Müdigkeit bringt mich um, und ehe der halbe Tag herum ist, bin ich unten in der Wohnstube tief und fest eingeschlafen. Schaffe es noch nicht einmal die Treppe hinauf, und auch nicht hinauf zum Stein. Dabei sehne ich mich so sehr nach draußen.
Katrín und Stefán kümmern sich um die Kühe, Ingi und ich bereiten das Abendessen vor. Der Junge und Anna weinen um die Wette, Vigfús macht ein finsteres Gesicht und ist verärgert.
Die Müdigkeit lässt nicht nach. Ich versuche, gut zu essen und zu schlafen, doch nachts hält mich die Angst wach. Dann döse ich tagsüber. Ich bekomme nichts auf die Reihe. Alles sammelt sich an, sowohl Haus- als auch Näharbeiten. Stundenlang sitze ich an der Orgel, blättere in den Noten herum und übe ein wenig. Oft sitze ich bloß mit den Händen im Schoß auf dem Orgelstuhl. Dann bin ich mit Pétur Jakob in Rom. Spiele ein Orgelkonzert nach dem anderen, mit Händen und Füßen. Sitze in einer Kirche mit gewölbter Kuppel und schaue direkt in den Himmel. Mutter winkt, in einem goldenen Kleid und mit hochgestecktem Haar. Sie ist dort mit Maria. Sieht nun so glücklich aus …
Vigfús drängt mich zur Hausarbeit, droht mit einer Magd, sollte ich das Orgelspielen nicht sein lassen. Wie bringe ich ihn nur dazu, zu verstehen? Ich brauche Muße. Habe lange davon geträumt, ein Konzert zu geben. Die Orgel in unserer Kirche ist wahrlich nicht gut genug. Das Pedalspiel fehlt ganz, und sie ist sicher schlecht gestimmt, aber trotzdem kann ich mich damit begnügen. Hier ist keine bessere Lösung in Sicht.
Er sieht mich entgeistert an. Was rede ich da? Er weiß von keinem Konzert. Will von nichts anderem hören, als dass ich mich um den Haushalt kümmere. Wollen wir nicht am nächsten Sonntag taufen? Bei der Namensgebung hat er nachgegeben. Der Junge wird Jón heißen. Kann ich dann jetzt nicht mal Ruhe geben?
Ich will ihn umarmen, streicheln und ihm noch einmal für den Namen danken, als er sagt: «Seit Helga weg ist, läuft hier nichts mehr!»
Ich zucke zusammen, als Helgas Name fällt. Ja, will er nicht einfach zu ihr fahren und mit ihr lachen? Mit dieser Hure!
Wie vom Donner gerührt sieht er mich an.
«Du hast wohl den Verstand verloren!», sagt er und wird blass. Dann rauscht er mit einem Türenknallen aus dem Zimmer und weckt mit diesem Krach den Jungen. Ich stütze mich auf die Orgel, während ich nach Luft ringe. Spiele dann weiter.
Als ich an der Weidemauer vorbei bin, gebe ich dem Pferd die Zügel frei. Raffe meinen Rock und reite auf bloßem Rücken wie in alten Tagen. Tut gut, die Kühle im Gesicht zu spüren. Zu spüren, wie ich in der frischen Luft stark werde. Schlage die Richtung zum Sander ein. Die Brandung donnert an Land, und der Vogel in meiner Brust flattert auf. Die Zöpfe lösen sich, und mein Haar weht in der Brise. Ich lache laut, singe und biete der ganzen Welt die Stirn. Fliege weiter.
Da sind der Gletscher, die Wolken darüber und das Schloss, in die Höhe gezimmert und schön. Schon von Weitem nehme ich den Kaffeeduft wahr. Reite in rasendem Galopp auf den Hof zu. Einar ist draußen und läuft mir entgegen, als er mich sieht.
«Engel! Was ist los mit dir?»
Das Pferd ist nass geschwitzt. Ich rutsche vom Rücken und drücke Einar.
«Mutters Kaffeekanne ist sicher warm, oder?», frage ich und lache. Merke im selben Moment, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. «Ist Papa zu Hause?», frage ich schnell weiter, nicht mehr ganz so ausgelassen.
Er antwortet nicht und führt mich ins Haus. Dann sieht er mir in die Augen und sagt mit leiser Stimme: «Weißt du nicht mehr, dass Mutter gestorben ist? Und hast du vergessen, dass Papa fast nur noch im Bett liegt?»
Ich werfe mich auf den alten Diwan in der Wohnstube, und die Tränen fließen. Als das Weinen nachlässt, sehe ich mich um. Der Tisch mit der gehäkelten Decke, die braune Porzellankanne, die Anrichte und das Bild von Maria, die heute schweigt wie ein Grab. Alles und wiederum nichts ist so, wie es war. Einar sitzt bei mir und hält meine Hände. Die Lider fallen zu, und ich dämmere weg.
Es ist Abend, als ich aufwache, mich einen Moment zu Papa setze, der nicht begreift, warum ich wieder gehe. Klammert sich an mich. Ich verspreche, bald mit allen Kindern zurückzukommen. Dann reiten Einar und ich los. Begegnen Stefán, der auf der Suche nach mir ist. Einar begleitet uns den ganzen Weg. Ich bin froh darüber, habe Angst, Vigfús unter die Augen zu treten, weiß aber, dass er sich vor meinem Bruder zurückhalten wird.
Vigfús gibt keinen Ton von sich, und ich lege mich gleich hin. An meinem Bett lässt Einar eine Büchse mit Kaffeebohnen zurück.
«Gieß sie auf, wenn dir nach Kaffee ist, Engelchen!», flüstert er. «Bei mir kannst du immer Bohnen bekommen.» Dann geht er. Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich schließe sie schnell und schlafe ein.
In den nächsten Tagen komme ich nicht auf die Beine. Die Kraft, die mich erfüllt hat, als ich losgeritten bin, ist auf und davon. Ich ziehe die Decke über den Kopf und weine. Wie konnte ich bloß von meinen Kindern weglaufen, ohne daran zu denken, dass sie sich verletzen könnten? Habe nicht daran gedacht, dass sie da sind. Was für eine Mutter bin ich, dass ich sie allein zurücklasse? Und wie kann es sein, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, dass Mutter tot ist? Obwohl wir doch den kleinen Guðmundur direkt neben ihr begraben haben.
Ich würde Vigfús, der bei mir am Bettrand sitzt, so gerne alles erklären. Das kommt nicht wieder vor. Ich verstehe mich selbst nicht, muss mich besser im Griff haben, verspreche es hoch und heilig. Sieht er denn nicht, dass ich den besten Willen habe? Morgen schaffe ich es aus dem Bett.
Doch Vigfús hört nicht zu. Dann steht er auf und geht in den Stall.
Ich erhole mich wieder, mache aber alles langsam. Halte meinen Kurs, nähe oder spiele lieber Orgel, als mich zu sehr im Haushalt zu verausgaben. Die Kinder sind in meiner Nähe. Wir singen und plaudern, und ich versuche den Dreck in der Küche zu vergessen. Vergesse alles, was auf mich wartet und um das ich mich eigentlich kümmern müsste. Genieße die Zeit mit den Kindern. Und sie gehen mir bei der Haus- und Hofarbeit zur Hand.
Oft ist es, als würde Katrín spüren, was ich denke. Dann macht sie sich schnell an den Abwasch, nimmt Ingi mit und beauftragt Stefán, Wasser zu holen. Ich denke an Mutter und ihre Namensvetterin. Sie hätte Freude daran gehabt, das zu beobachten.
Eines Tages kommt Ingi heulend und zerlumpt nach Hause. Er ist in eine Schlägerei geraten. Katrín ist ihm dicht auf den Fersen, packt ihn, und ich habe das Gefühl, dass sie ihren Bruder bremsen will – Ingi aber schreit: «Sie sagen, dass du verrückt bist, Mutter!»
Ich lasse die Kurbel der Nähmaschine los. Alles dreht sich vor meinen Augen.
Schaffe es, aufzustehen, und breite die Arme aus, doch da schreit Ingi noch lauter: «Das sagen sie, diese verfluchten Esel vom unteren Hof!»
«Du sollst nicht darüber reden, Ingi. Das ist bloß Lalli, der das sagt, und der ist so ein Trottel!» Katríns Stimme zittert.
«Du bist nicht verrückt, Mutter! Stimmt’s?», fragt er noch aufgeregter und zittert schluchzend. Dann wirft er sich in meinen Arm. Ich bin verkrampft, werde aber lockerer, als wir uns setzen, ich seinen Kopf streichle und er sich beruhigt.
«Ich will nicht, dass du verrückt bist», schluchzt er so leise, dass man es kaum hört.
Wiege mich weiter mit ihm im Arm. Schlucke die Tränen runter.
Kurz darauf höre ich ein Gespräch unter den Geschwistern. Sie glauben, dass ich schlafe, dabei döse ich im Bett, und die Tür steht halb offen. Ingi ist aufgeregt. Will die Gerüchte zerschlagen, alle auf den Nachbarhöfen verprügeln.
«Wieso hörst du auf das dumme Gerede von diesem Bauern da unten?», höre ich Katrín fragen, doch Stefán fällt ihr ins Wort. Er sagt etwas, das ich nicht höre. Seine Stimme wird langsam tiefer. Dann wieder Katrín: «Unsere Mutter ist die einzige Frau in der Gegend, die nähen und stricken und Orgel spielen kann und die in Reykjavík gewesen ist, die anderen alten Weiber sind bloß neidisch, dass sie hundertmal besser ist als sie. Und auch schöner und fleißiger. Und deshalb sagen sie all diese hässlichen Dinge.» Jetzt weint sie heftig.
Ein wenig später stürmt Ingi ins Haus, diesmal auf der Flucht vor den Bewohnern des Hofes über uns.
«Ich habe gesagt, dass der Scheißkerl ein Dieb ist!», schreit er aufgeregt.
«Wie konnte dir so etwas bloß in den Sinn kommen?», antworte ich und fordere ihn auf, sich zu mir zu setzen.
«Na ja, hat er nicht Vaters Stallkarre gestohlen?»
«Das glaube ich nicht. Hat sie bloß ausgeliehen und vergessen, um Erlaubnis zu fragen.»
«Und auch vergessen, sie zurückzubringen!», brüllt er genauso aufgeregt. «Vater hat überall danach gesucht. Weißt du nicht mehr, wie wütend er war?»
«Warum hast du das den armen Kindern vorgehalten?»
«Sie haben behauptet, dass Großvater ein Fremdvögler ist!»
Die Worte hängen in der Luft. Ich bin erschrocken, kann trotzdem kaum ein Lächeln unterdrücken. Ingi ist so fuchsteufelswild. Ihm ist nicht nach Lachen zumute.
«Ist da was dran, Mutter?»
«Das glaube ich kaum.»
«Die Alte ist nach draußen gestürzt und hat geschrien, dass Großvater immer noch derselbe Fremdvögler sei, obwohl er schon blind und gebrechlich werde!»
«Das war nicht nett von ihr», antworte ich und schaffe es, meine Gesichtszüge zu kontrollieren. «Aber jetzt sollst du mal eine Geschichte über meinen Vater hören, wie tüchtig er als junger Mann war.»
Wir sitzen lange zusammen, und Ingi, der wie festgeleimt auf seinem Stuhl sitzt, beruhigt sich langsam, während ich eine Geschichte nach der anderen über Papas Heldentaten erzähle.
Ich sage zu, ein Kleid für eine Frau aus Reykjavík zu nähen. Vigfús ist verärgert. Er sagt, dass ich mir nicht zu viel aufbürden solle. Ich könnte mir vorstellen, den ganzen Tag zu nähen, wenn ich nur Zeit hätte. Der Stoff ist so schön, dass ich jede Berührung genieße. Die Frau ist zufrieden mit dem Kleid und lobt mich in den höchsten Tönen.
Daraufhin bekomme ich einige Bestellungen, und bevor ich mich’s versehe, häufen sich die Aufträge an. Die Nacht ist hell, und ich bin voller Energie, wie immer, wenn ich etwas tue, das mir Spaß macht.
Vigfús kann nicht außer Haus arbeiten, solange wir keine Magd haben. Er sagt, dass man sich nicht mehr auf mich verlassen könne. Seine Worte sind wie ein Peitschenhieb, und ich winde mich unter dem Schlag.
Sie heißt Jórunn. Vigfús hat mich mit keinem Wort gefragt, als er sie einstellte, hat seinen Willen durchgesetzt, will, dass alles seine Ordnung hat. Jórunn ist älter als Helga und lächelt nicht so viel, ist aber genauso schlampig. Sie wäscht die Wohnstubengardinen und glättet sie so schlecht, dass ich sie wieder abhängen und noch einmal neu glätten muss. Ich habe ein Auge auf sie. Auf sie und Vigfús.
Kurz darauf verkünde ich Vigfús, dass ich am nächsten Sonntag mit der ganzen Kinderschar Papa besuchen möchte. Vigfús murrt und sträubt sich. Trotzdem verspricht er uns die Pferde, die Kinder reiten zu zweit. Stefán hat Anna bei sich, Katrín und Ingi reiten zusammen, und ich bitte Vigfús, den kleinen Jón zu nehmen. Er ist ernst, als er sagt, dass er nicht mitwolle.
«Du kommst nicht mit uns?», stammle ich.
«Nein, ich muss hier zu Hause noch etwas arbeiten, aber amüsiert euch gut!», sagt er und lächelt den Kindern zu.
«Sonntags in den feinen Klamotten arbeiten?», frage ich und ziehe die Brauen hoch. Da werde ich von Groll gepackt, der sich in Furcht verwandelt. Ich war sicher, dass er mitkommen würde. Dann hat er sich also bloß für Jórunn herausgeputzt. Jetzt haben sie freie Bahn, solange ich mit den Kindern vom Hof bin. Sie hat sich in bessere Fetzen geworfen, steht da und grinst. Immer gleich o-beinig, was sie auch anzieht, die dumme Mähre.
«Ja, diese Briefwechsel und der ganze Papierkram, der sich angesammelt hat und den ich heute abarbeiten will. Aber amüsiert euch gut», sagt er noch einmal und lächelt.
«Vater, es macht nur Spaß, wenn du auch dabei bist», ruft Anna. Er antwortet nicht, lächelt aber warm. Für die kleine Prinzessin hat ihr Vater immer ein Herz.
Ich habe große Lust, alles abzubrechen. Blicke über die Gruppe, die gespannt wartet. Strecke die Hände nach Jón aus, nehme ihn auf den Arm und mache mich auf den Weg zu Papa. Würdige Vigfús keines Blickes, verabschiede mich nicht.
Die Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Ich gehe für immer und ewig fort. Komme nie wieder zurück. Will mit den Kindern im Schloss bei Papa, Mutter und Halldóra sein. Packe mich selbst am Kragen. Weiß, dass ich schon wieder alles durcheinanderbringe.
Ich bemühe mich, stark zu sein, die Tränen zurückzuhalten. Die Freude zu genießen. Zuerst reiten wir bis ans Meer. Die Kinder steigen von den Pferden, sehen sich die Muscheln und Steine an, ich schärfe ihnen ein, vorsichtig zu sein. Erzähle ihnen von ihrem Großonkel, der beim Fischen am Sander sein Leben gelassen hat.
Doch sie hören kaum zu, lachen und haben ihren Spaß. Prinzessin Anna singt aus voller Kehle. Sie hat eine kräftige und klare Stimme. Alle stimmen ein, die Fröhlichkeit steckt mich an, und ich singe mit.
Dann reiten wir den Weg zum Schloss hinauf. Einar nimmt uns freudig in Empfang, Ingunn und die Kinder auch. Die Cousinen und Cousins wollen sofort spielen, doch zuerst sollen sie kurz Papa Guten Tag sagen. Er hat sich angezogen und sitzt im Arbeitszimmer. Alt und würdevoll.
Es ist lange her, dass die Kinder ihn gesehen haben, und Prinzessin Anna fürchtet sich. Will nicht Guten Tag sagen, auch die anderen sind schüchtern, bis auf Ingi. Er geht geradewegs auf seinen Großvater zu, nimmt seine Hand und fragt, ob er magische Kräfte habe. Die Kinder auf den Höfen in der Umgebung würden das behaupten. Ich bin entsetzt. Hoffe bei Gott, dass er nicht auch nach dem Fremdvögler fragt. Papa lacht laut und befühlt Ingi, der sich ganz und gar nicht fürchtet.
«Magische Kräfte, sagst du. Ja, das kann ich dir sagen! Richte das den Blagen von mir aus!»
Die Kinder prusten vergnügt los, laufen dann nach draußen. Wir bleiben zurück, und Papa hält seinen schlafenden Namensvetter.
Als wir allein sind, frage ich ihn, ob er etwas gegen Angst und Seelenqualen dahat. Er hört zu, ohne ein Wort zu sagen. Will mehr wissen.
Ich verstehe nicht, wie offen und beredt ich auf einmal werde. Erzähle Papa von der Angst, die mich ans Bett fesselt. Sage ihm, dass ich zwischendurch voller Energie bin und alles anpacken möchte, was auch immer es ist. Dann kann ich vor Freude nicht schlafen, vergesse alles und springe hinaus ins Blaue. Komme dann todmüde und entmutigt zurück. Liege im Bett, von Angst und Schmach gepeinigt. Ich weiß, dass das für die Kinder schwierig ist. Und für Vigfús, der so viel Wert auf sein gutes Ansehen legt. Da hat der arme Vigfús aufs falsche Pferd gesetzt.
Es erleichtert mich, Papa davon zu erzählen. Er reicht mir seinen Namensvetter, öffnet dann den Schrank, und wir sehen seine Tropfen und Fläschchen durch. Er weiß, wo alles ist, aber ich muss ihm helfen, es zu finden.
«Ich hätte dir nicht erlauben sollen, ihn zu heiraten», murmelt er vor sich hin und fährt mit schwachen Händen über die Fläschchen. «War nicht aus demselben Stall wie du … Nicht aus demselben Stall …»
Er wiederholt das immer wieder. Tastet und brummt vor sich hin, doch ich antworte nicht. Lasse meine Wut nicht an ihm aus, obwohl ich ihn am liebsten kräftig schütteln und schreien würde: «Und Sveinn? Gab es deiner Meinung nach überhaupt irgendein männliches Wesen, das aus demselben Stall war wie ich?»
Ich gehe mit Pulver in einem Umschlag und Tropfen in einem Fläschchen nach Hause. Schreibe genau auf, wie ich es einnehmen soll. Dann erinnere ich mich an die Kuh, die angeblich eine zu große Dosis bekommen hatte. Genau wie Garpur. Ich reduziere die Einnahme um die Hälfte. Darf nicht vor meinen kleinen Kindern sterben.
Die Medikamente von Papa zeigen kaum Wirkung, ich nehme sie aber trotzdem weiter.
Stefán soll im Frühling konfirmiert werden. Er ist unglaublich schnell in die Höhe geschossen, Vigfús über den Kopf gewachsen. Er ist hübsch, und ich bin sicher, dass ihm die Mädchen noch schöne Augen machen werden. Obwohl er das lebende Abbild seines Vaters ist, sind die beiden innerlich grundverschieden. Stefán ist verträumt und liest alles, was er in die Finger bekommt.
Er sitzt oft an der Orgel und spielt, möchte mehr lernen. Einmal hat er davon gesprochen, dass er nach Rom gehen und dort in den Kirchen spielen möchte. Vor Glück wurde mir ganz warm, und ich musste an Sveinn und unsere alten Träume denken. Vigfús gegenüber hat er sicher noch nichts erwähnt, aber ich verspreche, ihm den Rücken zu stärken, wenn es so weit ist.
Katrín ist nur ein halbes Portiönchen, hat aber Biss und ist das fleißigste aller Kinder. Sie will gemeinsam mit ihrem Bruder konfirmiert werden, sagt, dass ohnehin nur ein Jahr zwischen ihnen liege und es so geschickter sei. Sie hat so viel Sinn fürs Praktische! Der Katechismus fließt wie Wasser in sie hinein – meinetwegen kann sie zur Konfirmation gehen. Doch Vigfús hat wenig für Sonderwege übrig – aller Wahrscheinlichkeit nach sind er und Pfarrer Jóhann dagegen. Ich unterstütze sie selbstverständlich. Sie will unter keinen Umständen ein Miedergewand tragen, und ich werde ihr ein schönes Kleid nähen. Den Stoff aus Reykjavík habe ich längst da. Auch für Stefáns Kleider. Muss mich beeilen, früh anfangen. Vor Konfirmationen habe ich immer viel zu tun.
Die Heilsbringerin Jórunn hat es geschafft, die Strickmaschine zu ruinieren! Ich hatte mich einen kurzen Moment hingelegt und wurde durch Lärm unten in der Wohnstube geweckt. Katrín jammerte, Anna heulte und Jórunn kreischte.
Ich war gerade dabei, die Konfirmationskleider zu nähen, strickte zwischendurch aber auch Unterwäsche – eine Bestellung aus dem Landesinneren, die ich versprochen hatte so schnell wie möglich fertigzustellen. Die Maschine stand auf einem niedrigen Tisch an der Wand, so, wie ich sie hinterlassen hatte. Die Maschen der Unterhose waren noch in Ordnung, aber ich sah gleich, dass die Maschine kaum noch zu gebrauchen war.
Mir wurde schwindlig vor Wut. Die Maschine, die Papa mir geschenkt hatte, die er neu aus Reykjavík bestellt hatte und die noch jahrelang hätte halten sollen. Drohend trat ich auf Jórunn zu. Sie hielt einen Arm schützend vor den Kopf, floh in die Küche, ich hinterher.
«Sie hat sich auf die Maschine gesetzt!», schrie Anna.
«Mein einer Fuß tat plötzlich weh, und ich musste mich so schnell wie möglich setzen», jammerte Jórunn. «Wegen all dem verfluchten Kram hier kann man sich nirgendwo hinsetzen.» Dann wurde sie selbstsicherer. «Ich habe mich nur einen winzigen Moment hingesetzt, mehr hat das dumme Ding nicht ausgehalten.»
Mehr hat das dumme Ding nicht ausgehalten, hallte es in meinen Ohren nach. Das dumme Ding namens Jórunn müsste mein Haus verlassen, und zwar sofort!
«Raus!», sagte ich und wies zur Tür.
Da lachte sie und sagte mir knallhart ins Gesicht, dass sie in Vigfús’ Dienst stünde und von niemand anderem als ihm Anweisungen annehme. Zuallerletzt von einer Verrückten!
«Es könnte auch schwierig für euch werden, mitten im Winter eine neue Magd zu finden», sagte sie und hatte vor lauter Erregung rote Flecken im Gesicht und am Hals. «Die Mädchen stehen nicht gerade Schlange, um für verrückte Leute zu arbeiten. Viele wundern sich, dass ich es hier überhaupt aushalte.»
«Raus!», sagte ich noch einmal, nahm den Schürhaken und hob ihn in die Luft. Da lief sie schreiend los und Vigfús in die Arme, der den Lärm gehört hatte und ins Haus geeilt war.
«Was soll das, Weib?», brüllte er barsch und packte den Schürhaken.
«Jórunn geht zu sich nach Hause», sagte ich eiskalt.
«Ich bin es, der das entscheidet», antwortete Vigfús unwirsch. Ich hielt mich an der Stuhllehne fest, um nicht hinzufallen.
«Nein», sagte ich und erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Sie war tief und gelassen. «Ich bin es, die das entscheidet.»
Vigfús sah verwirrt zwischen uns hin und her. Nicht gewohnt, dass ich so reagierte.
«Jórunn hat sich auf Mutters Strickmaschine gesetzt und sie kaputt gemacht», sagte Katrín laut und deutlich.
«Und sie hat furchtbar hässliche Dinge über Mutter gesagt», rief Anna und heulte wieder los. «Ich will nicht, dass sie hier ist. Sie muss gehen.»
«Und ich will keine Stunde länger in diesem Irrenhaus bleiben!», kreischte Jórunn und machte Anstalten, hinauszustürzen.
«Nein, nun warte mal», sagte Vigfús und hielt sie fest. «Hast du die Strickmaschine kaputt gemacht?»
«Man kann hier nirgendwo einen Fuß absetzen bei all dem verfluchten Kram», jammerte sie. «Mein Fuß hat wehgetan, und ich musste mich sofort hinsetzen.»
«Du hast mir nicht richtig geantwortet», sagte Vigfús und zog sie in die Wohnstube.
Ich sank auf einen Stuhl am Herd und sah auf den Erdboden. Hörte aufgeregte Stimmen aus der Wohnstube, Jórunns Gekreische und Vigfús’ Ernsthaftigkeit, der lauter und deutlicher sprach als sonst. Die Schwestern hielten zu mir. Die Vorwürfe setzten der Magd zu, die jedoch selbst unumwunden zur Sache kam.
Unter großer Anstrengung stand ich auf, ich nahm das Schultertuch vom Haken in der Diele und lief hinauf zum Stein. Saß dort, bis Katrín kam und mich nach Hause holte.
Er ließ Jórunn nicht gehen. Vigfús sagte, dass sie bleiben müsse, bis er ein anderes Mädchen gefunden habe, und dass sie ohne Lohn arbeiten müsse, um die Strickmaschine zu bezahlen. Ich nahm die Unterhose von den Nadeln und strickte sie per Hand fertig. Vigfús versuchte, die Maschine zu reparieren, doch sie brach entzwei, sobald ich den Schlitten vor- und zurückbewegte, und ich konnte mich nicht mehr auf sie verlassen. Vigfús versprach, es noch einmal zu versuchen. Als ich ihn drängte, sagte, dass ich eine dringende Bestellung hätte, bat er mich, keinen Aufstand zu machen.
Das verletzte mich, und ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich mit dem Stricken und Nähen zum Haushalt beitrug. Er lächelte überheblich, sagte, dass das, was ich mit meinem Herumgewerkle zum Haushalt beitrüge, keinen großen Unterschied mache.
Ich rang um Fassung, zitterte vom Scheitel bis zur Fußsohle. Sagte dann, dass – wenn ohnehin alles wertlos sei – auch die Strickmaschine wertlos sei. Dann gebe es auch keinen Grund, Jórunn umsonst arbeiten zu lassen, um die Maschine zu bezahlen.
Damit war Vigfús ganz und gar nicht einverstanden. Sagte, dass die Strickmaschine zweifellos teuer gewesen und es selbstverständlich sei, einen Zuschuss zu den Kosten zu bekommen.
«Papa hat mir die Maschine geschenkt», sagte ich mit zitternder Stimme. «Sie gehört mir, und ich will bloß, dass Jórunn geht.»
Vigfús wurde weiß im Gesicht und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen tanzten. Dann sagte er, dass er jetzt genug habe. Genug der Einwände und genug der ständigen Beschuldigungen. Er versuche, für einen großen Haushalt zu sorgen, und ich zeigte keinerlei Verständnis dafür. Als erwachsener Mensch, durch die ewige Hätschelei verdorben, verhielte ich mich immer noch wie ein verwöhntes Kind im Elternhaus.
Das und noch viel mehr sagte er. Ich sah ihn an, als er all das loswurde, hörte aber schon längst nicht mehr zu, machte keine Anstalten, zu antworten, hörte nur ein Weinen hinter mir, vielleicht mehr als eines. Ich scherte mich nicht darum und verließ unter Anschuldigungen das Haus. Als ich die Haustür zuzog, rief Vigfús: «Ja, hau bloß ab nach Hause zu deinem Alten, wie immer, wenn es schwierig wird.»
Ich machte die Tür wieder auf und knallte sie, so fest ich konnte, zu. Wieder und wieder. Und es ging mir ein bisschen besser.
Als ich auf dem Pferd saß, wurde mir bewusst, dass Vigfús nicht mehr der junge, schöne Mann war, den ich geheiratet hatte. An den Wangen wurde sein Bart langsam grau, über der Oberlippe war er größtenteils weiß. Die Zeit hat ihre Spuren an ihm hinterlassen, nicht weniger als an mir. Ich hatte es bloß erst jetzt bemerkt, während meines Wutanfalls.
Diesmal ritt ich nicht in gestrecktem Galopp. Seelenruhig schritten Brúnn und ich hinunter zum Strand. Dort setzte ich mich auf einen großen Stein und blickte auf die Wellen, die an den Schären brandeten. Erinnerte mich daran, wie ich vor langer Zeit dagesessen und dieselben Wellen im kalten Wind beobachtet hatte, der damals vom Berg Esja herüberwehte. Wusste auch damals weder ein noch aus. Jetzt wusste ich nur, dass ich nicht nach Hause zu Vigfús konnte, dass dort aber all meine Kinder waren, bis auf das eine von dem nur ich wusste.
Ich wollte es Vigfús schon vor einer ganzen Weile sagen, hatte aber noch gewartet. Wusste genau, dass es ihm zusetzen würde. Noch ein Kind auf dem Weg. Wollte einen passenden Moment abwarten, wenn wir beide gute Laune hätten. Jetzt würde dieser Moment wohl kaum kommen. Lähmende Müdigkeit legte sich über mich, und es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Durfte hier am Strand nicht einschlafen.
«Mütterchen, willst du nicht mit mir nach Hause kommen?»
Ich schrak auf, als Stefán seine Hand auf meine Schulter legte, hörte seine Stimme aus der Ferne. Es hatte sich zugezogen, zu schneien und zu dämmern begonnen. Ich war eiskalt und hatte nasse Füße. Ich war eingenickt und bei der Flut nicht wieder aufgewacht.
Stefán half mir auf die Beine. Ich war steif vor Kälte und konnte kaum stehen. Er hatte eine Decke dabei und wickelte sie um mich. Endlich schaffte ich es aufs Pferd, und wir machten uns auf den Heimweg.
Ich konnte Stefán nicht sagen, dass ich nicht nach Hause wollte. Wo sollte ich auch sonst hin? Wo war mein Zuhause, wenn nicht bei meinen Kindern? Ich zitterte so sehr, dass ich kein Wort herausbrachte, wollte ihm sagen, wie lieb ich ihn hatte, konnte es aber nicht. Versuchte ein Lächeln, doch mein Gesicht war gefroren.
Ich trug von all dem hohes Fieber davon und lag lange bewusstlos da. In der Bewusstlosigkeit brachten mir Mutter und Halldóra ständig Kaffee, Sveinn spielte für mich auf der Geige, und die alte Kristbjörg steckte immer wieder den Kopf durch die Tür und fluchte, was das Zeug hielt. Auch Papa war da und die Kinder. Plötzlich kam Magga. Ich drückte sie, so fest ich konnte, und ihr Duft füllte meine Nase. Ich wollte unter keinen Umständen, dass sie ging.
Als ich wieder zu mir kam, waren sie alle bei mir. Saßen an meinem Bett. Später erfuhr ich, dass man den Arzt gerufen hatte und dass auch Papa und Einar gekommen waren. Ich lächelte schwach, und die kleine Prinzessin rief: «Mutter, sie ist fort! Du kannst ruhig aufwachen.» Ich sagte nichts, lächelte aber ein bisschen mehr.
Vigfús tat sich schwer. Ich merkte, dass er lieb sein wollte, brachte mir mitten in der Woche Kaffee und verwöhnte mich. Zauberte sogar aus dem Nichts Fleischbissen hervor. Er weiß, wie gerne ich Fleisch esse. Vielleicht wollte er um Verzeihung bitten, konnte es aber nicht. Ich provozierte es auch nicht, mir war alles gleich. Sehnte mich bloß danach, wieder in der Bewusstlosigkeit und in den Träumen zu verschwinden.
Ich muss Vigfús von dem Kind erzählen. Und eines Tages, als wir beide allein sind und er am Bettrand sitzt, tue ich es schließlich. Er sieht mich entgeistert an. Als würde er seinen eigenen Ohren nicht trauen.
«Bist du ganz sicher, Weib?» Die Stimme zittert.
Ich nicke, sage, dass es ein Herbstkind wird.
«Willst du fühlen, wie es sich bewegt?», frage ich, lächle und nehme seine Hand.
Er wird leichenblass und schüttelt mich ab. Dann macht er ein frustriertes Gesicht: «Und Jón ist noch keine zwei Jahre alt. So geht das nicht weiter!»
Ich antworte nicht. Bin ganz seiner Meinung. Aber wem soll man das vorwerfen? Wir sind beide gleichermaßen dafür verantwortlich. Schließe die Augen, um ihn nicht so unzufrieden sehen zu müssen. Höre ihn aufstehen, die Treppe hinunterstapfen und die Haustür hinter sich zuknallen.
Ich erhole mich und mache alles langsam. Wie immer, wenn ich schwanger bin, strengt sich Vigfús besonders an. Er will lieb zu mir sein und abends früh ins Bett gehen. Ich bin oft müde und schlecht aufgelegt und nicht in der Lage, die Gelegenheit wirklich zu nutzen. Versuche, vor ihm im Bett und schon eingeschlafen zu sein, wenn er kommt, oder so lange aufzubleiben, dass er schon eingeschlafen ist. Doch er bleibt wach, wartet auf mich.
Von einer Magd ist im Moment keine Rede, doch ich weiß, dass es dazu kommen wird. Vigfús beeilt sich, den Küchenboden zu zimmern. Er freut sich wie ein Kind, als ich mich bedanke. Kann selbst nicht begreifen, warum er das nicht schon längst erledigt hat! Stellt einen Schrank in der Küche auf und baut ein Bücherregal für die Wohnstube. Der Kunsttischler. Möchte eine neue Strickmaschine kaufen. Ich mache die Kleider der Kinder fertig, und am Pfingstsonntag werden beide konfirmiert, Stefán und Katrín. Mit Beharrlichkeit und Nachdruck hat Katrín sich durchgesetzt. Die Sonne scheint, und eine eingeschworene Familie reitet zur Kirche.
Ich klammere mich an diese Stunden und vergesse all das Negative, bin glücklich und will es auch in Zukunft sein. Tief in mir weiß ich, dass es nicht lange anhalten wird, doch an einem so schönen Tag schafft es dieser Gedanke nicht an die Oberfläche.