VII
Eines schönen Tages steht plötzlich mein Bruder Pétur Jakob mitten in unserer Wohnstube. Dann springt er mit zwei Sätzen die Treppe herauf ins Obergeschoss. Groß und breitschultrig füllt er den Raum bis in den letzten Winkel. Ich traue meinen Augen kaum, weine und lache abwechselnd und drücke ihn an mich, als er sich an den Bettrand setzt. Dann stehe ich rasch auf. Habe sicher lange gelegen.
Als ich wissen will, weshalb mich niemand über sein Kommen informiert habe, sagt er, dass er mich überraschen wollte.
«Und das ist auch gelungen!», sagt er und lacht laut auf. Sein Isländisch klingt ein wenig merkwürdig. Es ist fast, als würde er singen, wenn er spricht.
Pétur Jakob will mit Mutter zu einem Arzt in Reykjavík. Er glaubt, dass man sie dort heilen kann, weiß es zwar nicht sicher, will es aber versuchen.
Am Abend, an dem der Onkel mit Vater darüber sprach, gab es viel Krach. Anna und du, ihr habt abgewaschen und dabei so laut gesungen, wie ihr konntet, um das Gezanke in der Wohnstube nicht hören zu müssen. Mutter war oben und hatte sich eingeschlossen.
Pétur Jakob sagte viele hässliche Dinge und war genau wie Ingi, wenn er einen Wutanfall hat. Dann dampfte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu, kam aber am nächsten Tag wieder, und da war seine Gereiztheit verflogen. Einar ist auch gekommen, und die drei haben sich lange unterhalten. Vater bat um einen Schluck Kaffee, und als du ihn gebracht hast, kamst du nicht umhin, etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen.
Vater wollte nicht, dass Mutter ging. Traute ihr eine so lange Reise nicht zu. Doch Pétur Jakob bot an, sie zu begleiten. Sie könne bei ihrer Schwester Gunnhildur und Þórarinn wohnen, falls sie nicht eingewiesen werde. Vater wiederholte, dass nun zwar Hochsommer sei, aber schnell der Herbst einbrechen könne, und dann müsse man mit allen Wettern rechnen. Einar sagte, dass er sie bis über die Flüsse bringen könne. Glaubte, dass sie im Moment recht wenig Wasser führten.
«Und wie wollt ihr sie dann wieder nach Hause bekommen?», fragte Vater. Du hörtest die Müdigkeit und den Ärger in seiner Stimme.
«Fährt etwa kein Schiff zum Hornafjord?» Pétur Jakob war kurz angebunden, es gab offensichtlich Spannungen zwischen ihm und Vater.
«Selbst wenn sie bis dorthin kommen sollte, ist sie längst noch nicht zu Hause. Muss durch Strom und Flüsse!»
«Ich werde sie abholen», versprach Einar.
«Und was, wenn dann schon Winter ist?», fragte Vater müde zurück.
Jetzt stand der Kaffee auf dem Tisch, und Vater schloss entschieden die Tür. Mutter war die ganze Zeit oben. Du wärst am liebsten zu ihnen ins Zimmer geplatzt und hättest sie ausgeschimpft. Gefragt, ob sie schon mit Mutter gesprochen hätten. Sollte sie nicht dabei sein? Stattdessen aber hast du deine Laune in der Küche so lautstark an den Bechern ausgelassen, dass Prinzessin Anna herbeigestürzt kam und fragte, ob du den letzten Rest Verstand verloren habest.
«Bring Mutter einen Kaffee hinauf, und zwar sofort», hast du sie angefahren. Dann bist du nach draußen gerauscht und die Wiese hinaufgelaufen. Hast dich an Mutters Stein gesetzt und die Tränen fließen lassen. Hast beim Weinen alles losgelassen. Lange dagesessen. Wolltest nicht nach Hause und auf die Onkel treffen, so rotnasig und verheult.
Seit Pétur Jakob aufgetaucht ist, geht es mir besser. Sieht ganz so aus, als würde er Angst und Schatten verjagen. Ich stehe rasch auf und genieße es, seinen Erzählungen zu lauschen. An manchen Tagen bin ich in Rom. Im Geist habe ich mir ein Bild von den Straßen, den Statuen und vom Vatikan gemacht. Dort ist immer Sonne, und ich spaziere mit meinem kleinen Bruder, der längst größer ist als ich. Er spricht sogar Italienisch – alle Wege stehen uns offen. Diese Spaziergänge sind mit viel Musik verbunden. Sie klingt in meinem Kopf, und es geht mir wunderbar.
Und jetzt soll ich tatsächlich mit ihm nach Reykjavík reisen. Es fällt mir schwer, das zu glauben, ich freue mich und habe gleichzeitig Angst. Ich wünschte, Stefán würde mitkommen. Er lauscht Pétur Jakob wie gebannt, sitzt an der Orgel und spielt in seiner Freizeit. Als ich Vigfús gegenüber davon sprach, dass Stefán mit uns komme, sagte er, dass der Junge ihm im Winter helfen müsse – vielleicht könne er später nachkommen.
Das flüsterte ich Stefán zu, der daraufhin sagte, dass er nicht nach Reykjavík gehe. Dann erklärte er, dass Pétur Jakob in Oslo eine Schule für ihn finden wolle und ihm schon angeboten habe, dann bei ihm und seiner Frau zu wohnen. Da lachte er strahlend, und seine Freude war nicht zu übersehen. Ich konnte nicht anders, als ihn fest in den Arm zu nehmen.
Du wirst draußen im Stall gerade mit dem Melken fertig, am Abend bevor sie aufbrechen. Da taucht Pétur Jakob auf. Er sagt, dass er stolz sei, eine so fleißige Nichte zu haben. Du senkst den Blick und wirst rot, doch er spricht weiter und sagt noch vieles mehr.
«Wie langweilig es wird, wenn du gehst», flüsterst du und erschrickst über deine eigenen Worte. Aus Mutters Erzählungen kanntest du nur den kleinen Bruder. Das hier ist ein anderer Mensch.
«Vielleicht kommst du nach Norwegen und besuchst uns», hörst du ihn sagen, und nun lacht er. Du bist so erschrocken, dass du aufsiehst und sofort antwortest: «Nein – es sei denn, Mutter kommt mit.»
Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Er umarmt dich und flüstert: «Kleine Nichte!»
Seine Kleider riechen gut, und du hoffst, dass er dich bis in alle Ewigkeit so hält. Doch da lässt er dich los, zieht einen Umschlag aus der Tasche und gibt ihn dir. Darin ist seine Adresse in Oslo.
«Katrín, ich muss Nachricht über deine Mutter bekommen, wenn sie wieder zu Hause ist. Dir traue ich am meisten zu, sie zu schicken.»
Du hörst ihm zu und drehst den Brief in deinen Händen. Dann klimperst du mit den Augen, damit er die Tränen nicht sieht. Versuchst, zu lächeln. Freust dich über das Vertrauen, das er dir schenkt. Er kneift dir in die Wange, nimmt den Milcheimer, und ihr geht Hand in Hand ins Haus. Du hast einen Kloß im Hals, und deine Brust ist voll Kummer.
In aller Herrgottsfrühe ziehen wir los, haben einen langen Tagesmarsch vor uns. Alle sind noch schläfrig. Diesmal wird nicht so viel geweint wie beim letzten Mal, als ich gegangen bin. Trotzdem will Þorgerður mich nicht loslassen, Jón versucht, zu mir aufs Pferd zu klettern, und Ingi verschwindet hinter dem Stall, nachdem er mich innig und lange umarmt hat. Mein Sattel ist wiederaufgetaucht, Vigfús hebt mich aufs Pferd, und wir sind bereit zum Aufbruch. Die Gruppe steht auf dem Hof und winkt. Die Magd, die bisher bei Einar war, ist jetzt zu uns gekommen. Sie ist ledig, plump und mopsig. Obwohl sie viel jünger ist als ich, glaube ich nicht, dass Vigfús mit ihr anbändelt. Beim Gedanken an die beiden zusammen lache ich.
Wir treiben die Rösser an. Ingi flitzt über den Hof und rennt den Pferden hinterher. Einen Moment lang hält er mit uns Schritt, dann wird er langsamer. Sein rotes Haar glüht im Sonnenschein, er ist ganz außer Atem. Winkt!
Wie gut es ist, Pétur Jakob und Einar bei sich und ein Treffen mit Gunnhildur und Þórarinn vor sich zu wissen – und trotzdem fange ich sofort an, die Kinder zu vermissen. Drehe mich wieder und wieder um und winke, bis wir so weit weg sind, dass ich sie nicht mehr sehen kann.
Am Schloss machen wir kurz Rast. Auf dem Weg sehe ich Papa in Reisekleidung auftauchen. Dann löst er sich auf. Ach, jetzt habe ich schon wieder alles durcheinandergebracht. Steige nicht vom Pferd, doch Ingunn kommt mit einer Tasse Kaffee nach draußen und gibt sie mir. Ich wandere mit den Augen hinauf zur Elfensenke und zur Schlucht am Wasserfall. Flehe Hulda im Stillen an, bei uns zu sein, wenn wir die Flüsse durchqueren.
Wir haben vor, nicht allzu spät in unserem Nachtquartier westlich des Gletscherflusses anzukommen. Nach einem Ritt über unebenes Gelände und Geröllflächen erreichen wir den Fuß des Gletschers. Eines der Pferde sinkt tief im Schlamm ein, und es erweist sich als schwierig, das Tier wieder herauszuziehen. Mein ganzer Körper schmerzt vor Müdigkeit und hält sich kaum noch auf dem Pferderücken. Blicke mit Schrecken zur Gletscherflut. Schaue dann meine Brüder an, groß und stattlich. Werde ihnen vertrauen. Denke an Papa, der jahrelang mit anderen die Flüsse durchquert und mir viele Geschichten von diesen Reisen erzählt hat. Einar reitet am Fluss entlang. Er bleibt dicht neben mir und merkt, wie sehr ich mich fürchte. Verbietet mir, in den Strom zu gucken. Verbietet mir, die Zügel anzurühren.
«Engel, sieh einfach nur mich an», sagt er und versucht zu scherzen. Ich fixiere ihn und sage ununterbrochen meine Gebete und Bibelverse auf. Das Wasser reicht den Pferden bis zur Mitte der Flanken, und wir werden klitschnass. Jetzt gesellt sich zur Furcht noch die Kälte. Eisschollen treiben umher, und wir müssen ihnen ausweichen. Ich habe keine Kontrolle über mich, will runter vom Pferd und mache Anstalten abzuspringen, doch Einar schreit: «Sitz still!»
Gelähmt vor Furcht tue ich, was er sagt. Gleichzeitig spüre ich kräftige Hände, die mich in den Sattel drücken. Am anderen Ufer spüre ich sie nicht mehr.
Ich fühle mich so schlecht, dass ich kein Wort herausbringe, zittere bloß vor Beklemmung und Kälte. Denke voll Zärtlichkeit an die Stelle, wo die Hände waren. Wünschte, dass sie immer noch da wären.
«So, Engel, trink das!» Pétur Jakob lässt mich etwas aus einer Flasche trinken, das mich wärmt. Und ich fange mich wieder. Will mehr davon, bekomme aber nichts mehr. Wir erreichen den nächsten Hof, wo wir ins Trockene gehen. Man gibt uns Kaffee. Ich bin so erschöpft, dass ich nach der halben Tasse im Sitzen in tiefen Schlaf falle. Schrecke schreiend auf und schlottere wie verrückt. Trinke mehr Kaffee. Dann reiten wir weiter.
Es ist schon dunkel, als wir unser Nachtquartier erreichen. Einar hilft mir vom Pferd, und ich ziehe mich gerade noch mit letzter Kraft aus, bevor ich ins Bett falle. Habe auf nichts Appetit, bis auf einen Schluck Wasser. Glaube, dass ich nie wieder auf den Beinen stehen kann.
Am nächsten Morgen kann ich mich nicht bewegen. Pétur Jakob bringt mir Kaffee ans Bett, setzt sich und sagt, dass wir uns beeilen müssten. Die heutige Strecke sei kürzer und nicht so schwierig. Er ist entschlossen, und ich gehorche, stärke mich mit Kaffee und schaffe es aus dem Bett. Trotzdem sehe ich alles wie durch Nebel und stoße mich ständig. Die nassen Kleider sind getrocknet, und nichts hindert uns daran, aufzubrechen. Da streift mein Blick einen Spiegel, und ich sehe, dass ich ungekämmt bin. Ich löse die Zöpfe, bürste und kämme mein Haar. Trinke noch einen Schluck Kaffee, dann können wir los.
Einar will nach Hause, und Pétur Jakob und ich müssen uns allein durchschlagen. Ich weigere mich, ohne Einar weiterzureiten. Wer soll uns denn dann durch die Flüsse helfen?
«Vertraust du mir etwa nicht?», fragt Pétur Jakob lächelnd. Ich kann nicht anders, als zurückzulächeln, doch ich bin unruhig.
«Auf den schwierigsten Wegstrecken wird man euch begleiten», sagt Einar. Dann fügt er hinzu: «Sorge dich nicht, Engel. Alles wird gut.»
Ich sehe die Brüder abwechselnd an und vergleiche sie. Einar ist hübscher, doch neben dem edel gekleideten Pétur Jakob sieht er ärmlich aus. Ich nehme mir fest vor, in Reykjavík guten Stoff zu kaufen und für Einar etwas Schönes zum Anziehen zu nähen, sobald es mir besser geht.
Dann trennen sich die Wege. Ich winke Einar noch lange nach, als er längst verschwunden ist. In Gedanken folge ich ihm in den Osten. Dass er bloß am Gletscherfluss auf sich achtgibt.
Da ich jetzt schon einmal im Westbezirk bin, möchte ich mich auch umsehen. Möchte den Hügel und die Elfenfrau finden, die einst ihren Fluch auf meinen Papa gelegt hat. Das erwähne ich Pétur Jakob gegenüber.
«Engel, du glaubst doch wohl nicht an diesen Blödsinn?», fragt er und lacht.
Ich könnte ihm von Hulda erzählen. Und von Papa in Reisekleidung draußen auf dem Hof oder im Gletscherfluss gestern, doch ich schweige wie ein Stein. Er denkt, dass ich wütend bin, dabei bin ich bloß müde. Die Sonne scheint, und mir ist stickig heiß. Bevor ich mich’s versehe, dämmere ich weg und rutsche aus dem Sattel.
Im Fallen wache ich auf. Steige wieder aufs Pferd, und wir reiten weiter. Kralle mich am Sattelhorn fest und will nicht einschlafen. Doch als ich ein weiteres Mal wegdämmere, bindet Pétur Jakob mich am Sattel fest. Ich habe das Gefühl, dass er mich einschnürt.
«Musst du das tun?», zetere ich und schlage mit den Händen um mich.
«Nun sei brav. So bist du viel sicherer. Und dann ist es auch in Ordnung, wenn du mal einnickst.» Ich finde, dass er recht hat. Todmüde döse ich im Sattel vor mich hin, und der Tag vergeht.
Ich wache aus einem Nickerchen auf und sehe, dass die Sonne schon tief am Himmel steht. Wir sind auf einem Hof, der an einem steilen Hang liegt. Jetzt bin ich hungrig und durstig. Und mein ganzer Körper tut weh. Ich freue mich darauf, die Glieder auszustrecken. Der Hof ist stattlich, der Sitz eines Gemeindevorstehers, sagt mein Bruder und springt vom Pferd. Er will um einen Schluck Wasser oder kalte Molke bitten.
An der Tür stößt er auf einen großen Mann. Ich habe das Gefühl, ihn zu kennen. Schließe die Augen. Öffne sie wieder. Es kann kein Irrtum sein. Die hohe Stirn, das ruhige Auftreten und die braunen Augen. Die Geheimratsecken sind zu einer richtigen Glatze geworden. All das kenne ich, hatte aber nicht damit gerechnet, es in diesem Leben noch einmal wiederzusehen.
Er kommt auf mich zu. Einen Moment sehen wir uns in die Augen. Dann blicke ich an mir selbst hinunter. Zerzaust und verschwitzt, wie ein Sträfling aufs Pferd gebunden. Ich drehe mich blitzschnell um. Wünsche mir, tot zu sein. Er läuft um das Pferd herum. Nimmt meine Hände. Und ich kenne die Stimme: «Engel!»
Schaue nicht auf, gucke bloß auf die zarten Hände, die Musikerfinger, die längst steif sein müssten. Und merke, wie mich der Groll packt. Unkontrollierbar.
«Engel», wiederholt er und drückt meine Hände noch fester. Oh, wie ich diese Stimme kenne.
«Warum zum Teufel bist du nicht tot?», fauche ich durch die zusammengebissenen Zähne, gucke ihn aber nicht an.
«Der Tod wollte mich nicht», antwortet er, ohne zu zögern.
«Du hast alles verraten, was du nur verraten konntest!», fauche ich. «Sogar Gemeindevorsteher bist du geworden!» Die Worte ersticken in meinem Hals, als ich versuche, ironisch zu klingen.
Vielleicht lächelt er, das habe ich im Gefühl, schaue aber nicht auf. Merke, wie lähmend müde ich bin, doch hier werde ich keinen Augenblick länger bleiben. Schere mich weder ums Wasser noch um die Molke. Verpasse dem Ross einen Schlag.
«Engel!», bittet er und versucht, mich zu bremsen. Ich höre, wie Pétur Jakob sich einmischt, und wahrscheinlich sind noch mehr Menschen nach draußen gekommen. Blakkur und ich galoppieren vom Hof. Sehe nichts vor Tränen.
Ich habe schon ein ganzes Stück zurückgelegt, darf aber keine Zeit verlieren. Schaue nicht nach rechts und links. Habe nirgendwo Rast gemacht, bin weder durstig noch müde. Habe den Bauernhof am steilen Hang nie gesehen, bin dem Mann mit braunen Augen und Glatze nie begegnet. Habe den Auferstandenen auf jenem Hof nicht getroffen. Bin niemals dort gewesen.
Da sehe ich sie aus dem Augenwinkel, klein und kräftig steht sie da und lächelt. Hulda! Eng stehende Augen und ein meergrünes Gewand. Ich kenne das Lächeln und spüre, wie es wärmt, möchte zu ihr, sie um Rat fragen – doch Hulda wartet nicht. Ich presse dem Pferd die Schenkel in die Seiten, und der Abstand zwischen uns verringert sich. Doch dann ist sie verschwunden. Noch einmal taucht sie auf. Ich schlage das Ross und reite wie um mein Leben. Will zu Hulda, muss zu ihr.
Nach der Ankunft in Reykjavík stehe ich tagelang nicht auf. Die Müdigkeit hat mich besiegt. Liege gequetscht unter dem Vogel, der mich vom Sprechen abhält. Gunnhildur und Þórarinn lassen mir Zeit, um mich einzugewöhnen. Pétur Jakob auch.
Seit ich Sveinn begegnet bin, habe ich an kaum etwas anderes als ihn gedacht. An uns beide. Mal will ich mehr wissen, mal ist er weiter tot. Doch ich werde die Wut nicht los. Der Gedanke an das, was hätte sein können, lässt mich nicht in Frieden. Unsere Kinder. Das Zuhause, das wir haben wollten. Die Lieder, die nie gesungen worden sind. Wenn ich mich in diesen Gedanken aufhalte, bin ich nicht ans Pferd gefesselt. Die Sonne scheint, ich trage ein schönes Kleid, habe hochgesteckte Haare und lächle übers ganze Gesicht, sodass die Grübchen zur vollen Geltung kommen. Und Sveinn hat auch keine Glatze. Dann befällt mich tiefe Abscheu. Und Hass dem gegenüber, der alles verraten und mich zurückgewiesen hat.
In anderen Träumen tauchen meine Kinder auf. Ohne sie hätte ich nicht sein wollen. Mit Sveinn hätte ich sie nicht gehabt. Doch ich hätte andere Kinder. Sie kommen im Sonnenschein zu mir, sitzen an der Orgel und spielen, gekämmt und wohlerzogen. Plötzlich taucht Ingi auf, schmutzig und grinsend. Er stört das Bild, doch ich lächle, und es durchströmt mich warm.
Wenn ich vor mich hin döse, ist Hulda bei mir, manchmal sitzt sie am Bettrand und hält meine Hand. Sagt, dass man in der Menschenwelt nur wenigen trauen könne. Ich öffne die Augen, und sie ist verschwunden.
Als Blakkur und ich von Sveinns Hof galoppiert sind, hat Pétur Jakob keine Anstalten gemacht, mich aufzuhalten. Er kam mit einer Flasche Molke hinter mir her, die er mir gab, doch ich würdigte sie keines Blickes. War nicht durstig. Wollte bloß schnell weg. Wollte nicht reden. Mein Bruder sagte mir immer wieder, dass er keine Ahnung gehabt habe, wer der Gemeindevorsteher sei. Sonst wäre er dort nicht hingeritten, doch ich tat, als würde ich ihn nicht hören. War nicht bereit, darüber zu reden. Schwieg tagelang. Pétur Jakob band mich auch weiterhin am Pferd fest, weil ich immer wieder einschlief. Er war lieb zu mir, versuchte, mich mit neuen Geschichten aus Rom aufzuheitern, doch es war, als hätte alles seine Farbe verloren. Ich war abwesend und uninteressiert. Sogar die großen Ströme konnten mich nicht mehr schrecken. Wollte nur noch nach Reykjavík und schlafen.
Pétur Jakob hat eine Fahrt auf einem Dampfer gebucht, der in ein paar Tagen ausläuft. Die Sonne scheint, und nun stehe ich auf. Gunnhildur und Þórarinn wohnen im Westen der Stadt, im oberen Stock eines schönen Hauses. Ich nehme mir viel Zeit, mich zu kämmen und hübsch zu machen, stecke das Haar hoch und ziehe ein schönes Kleid an. Dann laufen wir hinunter in die Stadt, wir Schwestern haben Pétur Jakob zwischen uns. Müssen ein ganzes Stück laufen und genießen es, zusammen zu sein. Gunnhildur erzählt uns von Páll Jósúa. Er ist Lehrer in Akureyri und kommt selten nach Reykjavík. Sehnsucht befällt mich. Wann habe ich meinen kleinen Bruder zuletzt gesehen?
Þórarinn arbeitet immer noch in Hansens Magasín, und wir besuchen ihn.
Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen. Sie hat sich in alle Richtungen gestreckt. Es gibt jetzt eine neue Mädchenschule, ein prächtiges Steinhaus in der Nähe des Tjörnin, des Stadtsees. Ich habe keine Lust, sie mir genauer anzusehen. Gucke hoch zu den Fenstern des alten Wohnheims, und sofort befällt mich Platzangst. Halte kurz bei Bertel und Maria. Sie sind noch an ihrem Ort, und er sieht noch genauso melancholisch aus.
Pétur Jakob lädt uns in ein Kaffeehaus im Stadtzentrum ein. Er bestellt Sahnetorte und Schokolade. Eine Frau in schwarzem Kleid mit weißer Schürze und Haube auf dem Kopf bringt alles auf einem Tablett. Ich lehne mich zurück, der Sitz ist weich, ich sinke hinein, lasse die Augen zufallen und genieße es, in Rom zu sein.
Wir sind allein in Gunnhildurs Wohnstube. Pétur Jakob verspricht, Stefán zu helfen. Er will auch Vigfús schreiben und die Sache erklären. Wollte das neulich bei uns auf dem Hof nicht auch noch ansprechen, fand, dass es schon genug war. Ich sitze da, die Augen voller Tränen.
«Kann ich darauf vertrauen?»
«Selbstverständlich kannst du das», antwortet er und streichelt über meine Wange.
«Du weißt gar nicht, wie wichtig mir das ist», flüstere ich.
Wir halten uns an den Händen und flüstern uns zu, erzählen einander die geheimsten Gedanken und verabschieden uns in Wirklichkeit schon jetzt, obwohl das Schiff erst am nächsten Abend ausläuft.
Ich starre weiter, rühre mich nicht von der Stelle. Erkenne nicht mehr, wer auf Deck steht. Viele Menschen sind am Pier gewesen, doch nach und nach hat es sich geleert, und jetzt sind nur noch wenige da. Þórarinn ist ungeduldig, zerrt an Gunnhildur. Muss am nächsten Morgen früh aufstehen.
Als ich Pétur Jakob zum letzten Mal umarmte, hatte ich das Gefühl, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. Obwohl wir über die Möglichkeiten gesprochen hatten, dass ich mit Stefán ins Ausland reise und Pétur Jakob mit seiner Familie zu Besuch kommt. Ich sah ihn noch ein letztes Mal an, prägte mir seine Gesichtszüge ein, streichelte über seine Wange und durchs dicke Haar. Küsste seine Hände. Dann ging er.
Ich schlucke die Tränen runter, lasse mich von Gunnhildur vom Pier führen, gucke aber immer wieder zurück und winke, obwohl der Dampfer längst in der Dunkelheit verschwunden ist. Verschwinde unter der Bettdecke, glaube, dass ich nie wieder aufstehen kann.
«Jetzt ist es aber langsam gut», sagt Gunnhildur und schiebt entschlossen die Vorhänge zur Seite. «Du kannst nicht wochenlang nur im Bett liegen.»
Das Licht ist grell, und ich krieche noch tiefer unter die Decke. Doch Gunnhildur gibt keine Ruhe, setzt sich an den Bettrand und will, dass ich mich aufrichte. Ich murmele irgendetwas aus der Versenkung. Sie stürmt davon, ich glaube schon, dass sie mich jetzt in Frieden lässt, doch dann kommt sie mit einem Tablett zurück und stellt es auf den Nachttisch.
«Setz dich nun auf», sagt sie bestimmt und schiebt mir ein stützendes Kissen in den Rücken. Der dampfend heiße Kaffee wärmt. Ich lasse mich von Gunnhildur wie ein Kind füttern und gucke sie dabei an. Sie hat mit den Jahren zugelegt, ist nicht mehr direkt schön, aber immer zurechtgemacht. Und viel energischer als früher. Unwillkürlich betaste ich meinen Kopf, merke, wie zerzaust und wuschelig ich bin.
«Ist es nicht schlimm, mich so zu sehen?», flüstere ich.
«Ich habe dich schon in besserem Zustand gesehen», antwortet Gunnhildur bloß. Dann lacht sie. Ein Lachen kommt ihr immer leicht über die Lippen.
«Du musst dich bewegen und essen, kannst nicht wie ein Gespenst beim Arzt aufkreuzen.»
«Beim Arzt?»
«Ja, morgen gehst du zu ihm, und ich komme mit.»
«Ich schaffe es nicht aus dem Bett», sage ich und rutsche wieder unter die Decke.
«O doch, das tust du», antwortet sie und zieht mich wieder hoch. «Jetzt essen wir noch zu Ende und dann gehen wir nach draußen. Nichts ist so gut wie frische Luft!»
Ich laufe auf wackligen Beinen und stütze mich auf Gunnhildur, frisch gekämmt und gewaschen. Die Müdigkeit will mich unterkriegen. Doch die Luft ist klar, und es geht mir langsam besser. Wir schlendern über das Heideland rund ums Haus, ruhen uns auf glatten Felsen aus, und Gunnhildur macht mich auf den Berg Keilir aufmerksam.
«Ist er nicht schön?», fragt sie.
Ich nicke. Sage nichts über die Berge hier um Reykjavík, habe sie nie wirklich gemocht und merke, dass es auch jetzt nicht viel besser geworden ist.
«Es ist lange her, dass du bei uns im Osten warst. Vermisst du nicht den Gletscher?»
«Nein», antwortet sie. «Nein und ja. Ich vermisse ihn, bin aber froh, dass ich gegangen bin. Dort hätte ich nicht überlebt.» Ihre Stimme zittert.
Ich schaue sie an. Sehe meine kleine Schwester, den Wildfang, der an die Mädchenschule kam, weil man mich wegschicken musste, damit ich meine Liebe vergesse. Die Schwester, die nicht auf dem Land leben und von Papa bestimmt werden wollte. Wir sitzen schweigend, in Gedanken versunken. Doch die Sonne wärmt nicht. Ich habe eine Gänsehaut auf dem Rücken. Gunnhildur steht auf, hilft auch mir hoch und sagt: «Vielleicht hättest auch du gehen sollen, Engelchen?»
Ich antworte nicht, blicke zum Keilir und schweige. Dann geht sie energisch los und zieht mich hinter sich her.
Der Arzt ist die Ruhe in Person. Er und Gunnhildur kennen sich flüchtig. Sie hat meine Medikamente dabei, und der Arzt sieht sie sich an. Er schüttelt verärgert den Kopf. Will mehr wissen. Wo war ich vorher? Ich kann kaum etwas sagen, erinnere mich bloß, dass ich mich erholt habe und es mir im Westbezirk gut ging, unter all den Leuten, dass ich Orgel gespielt, gesungen und an der Nähmaschine gearbeitet habe. Dass ich Kräutersud getrunken und Gemüse gegessen habe. Teil des Haushalts war. Ich versuche, es ihm zu erzählen. Antworte wie ein Dummkopf, sage dann nichts mehr. Lasse Gunnhildur reden.
Der Arzt ist kurz angebunden, möchte mich vorerst nicht einweisen. Möchte abwarten, gibt mir aber einen weiteren Termin und ein neues Medikament. Behält die alten.
«Aber die haben viel Geld gekostet», sage ich. «Soll ich sie nicht aufbrauchen?»
«Das ist vollkommen unsinnig», antwortet er bloß und steht auf. Damit ist die Sache erledigt. Wie gut, dass Vigfús nichts davon erfährt, denke ich und stehe ebenfalls schnell auf. Wie entsetzlich arrogant dieser Mann ist!
Gunnhildur nimmt das Rezept, bezahlt den Arzt und führt mich hinaus. Ich bitte sie, mit mir zum Haus von Madam Poulsen zu gehen, möchte sie sehen, jetzt, da ich in der Stadt bin.
An der Haustür steht ein neuer Name. Madam Poulsen ist weggezogen oder tot. Und ich dachte schon, dass diese Frau für immer und ewig im Þingholt-Viertel leben würde. Dass sie viele Menschenleben lang Orgel unterrichten und Dänisch sprechen würde. Jetzt ist sie fort, und ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Konnte ihr nicht sagen, dass ich weitergeübt, mich am zweiten Band der Harmoniumschule abgerackert habe, aber nie so weit gekommen bin, wie ich wollte. Nicht die Konzerte gegeben habe, die ich geben wollte, nicht das Pedalspiel gelernt.
Gucke auf das Türschild mit einem unbekannten Namen und breche in Tränen aus. Gunnhildur nimmt mich in den Arm. Wir machen uns Hand in Hand auf den Heimweg, gehen langsam und ruhen uns unterwegs oft aus.
Die neuen Medikamente beginnen zu wirken, und ich lerne, mit dem Arzt umzugehen. Doch das braucht Zeit. Er ist förmlich und ziemlich langweilig. Einmal schlage ich ihm vor, sich eine Orgel zu besorgen und mit den Patienten zu singen. Oder eine Nähmaschine zu kaufen und sie während des Gesprächs nähen zu lassen. Weiße Behandlungszimmer wie seines brächten die Leute nicht gerade dazu, den Mund aufzumachen. Was hat mich da geritten, dass ich so etwas von mir gegeben habe? Einem wildfremden Mann gegenüber?
Er sieht mich verdutzt an, der feine Herr, als hätte er noch nie etwas so Komisches gehört. Dann prustet er los und lacht laut und lange. Seitdem bin ich seine kleine Schneiderin, und wir kommen besser miteinander aus.
Wenn ich mich umgucke, sehe ich, dass sich die Mode gewandelt hat. Gunnhildurs Kleider sehen anders aus als die, die ich trage. Es hat ganz den Anschein, als würde ich hinterherhinken. Und wenn ich es recht bedenke, nähe ich immer noch die alten Mädchenschulenschnitte. Das sage ich zu Gunnhildur und bin aufgebracht. Finde, dass sie mir Zeichnungen und Bilder hätte schicken können. Mich am Ende der Welt auf dem Laufenden hätte halten sollen.
«Liebstes Engelchen», sagt sie und nimmt mich in den Arm. «Es spielt keine Rolle, was du trägst. So gertenschlank wie ein junges Mädchen siehst du immer blendend aus!»
Doch ich lasse mich von ihr nicht aus dem Konzept bringen. Begreift sie nicht, dass ich auf dem neuesten Stand sein muss? Wissen muss, was gerade in Mode ist – selbst wenn ich im Moment nichts für die Nachbarschaft nähe. Sie gelobt Besserung, wird mir Schnitte und Zeichnungen schicken.
Je mehr ich mich erhole, desto größer wird die Anziehungskraft der Stoffläden. Dort kann ich ganze Tage verbringen, Stoffe angucken, Ballen befühlen und über Spitzen und Seidenbänder streichen. Am liebsten würde ich alles kaufen, mit nach Hause nehmen und nähen. Ich habe schon einen schönen dunkelblauen Stoff für Einars Kleidung entdeckt. Und auch Katrín muss ein Kleid bekommen. Sie sieht überhaupt nicht, wie hübsch sie ist, vergleicht sich mit Prinzessin Anna, die ihr immer die Schau stiehlt. Alle müssen etwas bekommen. Und auch ich selbst hätte nichts gegen ein modern geschnittenes Kleid. Doch dafür habe ich kein Geld.
Am Abend vor seiner Abreise hat mir Pétur Jakob ausländische Scheine gegeben. Mich gebeten, etwas Hübsches zu kaufen, tüchtig und stark zu sein. Doch ich habe beschlossen, das Geld für Einars Kleidung zu verwenden. Das hat er verdient, für all die Kaffeebohnen, die er mir im Laufe der Zeit zugesteckt hat.
Ich wende mich an Þórarinn, sage ihm, was ich kaufen möchte. Er guckt auf die Scheine von Pétur Jakob und wechselt die Farbe. Sagt, dass das viel Geld sei. Ich kann in Hansens Magasín einkaufen und bekomme über Þórarinn Rabatt. Ich drücke ihn an mich. Doch er sieht mich seltsam an und fragt:
«Weißt du, was Pétur Jakob arbeitet?»
«Er ist Tischler», antworte ich.
«Tischler? Bei dem Vermögen?»
Verbirgt sich hinter der Frage etwa eine gewisse Provokation? Ich antworte nicht. Habe Pétur Jakob nie gefragt. Er hat das Tischlern gelernt und ist nach Rom gegangen. Das ist alles, was ich weiß. Und er wird meinem Jungen die Schule bezahlen. Darüber verliere ich kein Wort.
Ich hätte nicht gedacht, dass es in Reykjavík so schön sein kann. Ich sehe die Stadt in neuem Licht. Die Angst ist gewichen und die Müdigkeit auf dem Rückzug. Die Angst los zu sein ist das Beste von allem. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Sie ist schon so lange da gewesen. Die neuen Medikamente sind wahnsinnig teuer, doch der Arzt sagt, dass ich sie nehmen muss. Gunnhildur streckt das Geld vor und schickt Vigfús die Rechnung. Sie will nicht, dass ich das Geld von Pétur Jakob dafür ausgebe. Sagt, dass ich nicht darüber reden und es für mich genießen solle.
Nicht weit von uns steht ein zweistöckiges Holzhaus mit spitzem Dach. Dort rührt sich nie etwas. Wenn ich allein bin, bleibe ich vor dem Haus stehen und träume vor mich hin. Tausche die Gardinen aus, hell und luftig sollen sie sein, lege einen Gemüsegarten hinter dem Haus an, und im Vorgarten pflanze ich Bäume. In Reykjavík gibt es viele schöne Gärten. Wahrscheinlich streiche ich das Haus rot und repariere den kaputten Zaun. Streiche ihn vielleicht weiß, das sieht so hübsch aus. Dann ziehe ich mit den Kindern ein, mit der Orgel und der Nähmaschine. Mehrmals in der Woche essen wir Fleisch, und ich verdiene durchs Schneidern unseren Lebensunterhalt. Papa ist da, und Hulda ist in einen Stein mitten im Garten gezogen. Abends bringe ich ihr Milch. Mutter ist in der Küche, und der Duft von Kaffee zieht durchs offene Fenster.
Diese Träume sind so schön, dass ich bis zu beiden Ohren lächle oder laut vor mich hin lache. Dann schaue ich mich schnell um, hoffe, dass mich niemand bemerkt hat, und gehe weiter.
Es tut gut, mit Gunnhildur und Þórarinn zu lachen. Wo ich doch überhaupt nicht mehr gelacht habe. Manchmal schießen mir aber auch mitten in einer Lachsalve die Kinder in den Sinn. Sie rufen mich, und ich verstumme. Muss schnell zu ihnen in den Osten. Dabei ist es so schön hier. Ich bringe es nicht über mich zu fahren.
Gunnhildur und Þórarinn haben zwei Kinder, Brynjólfur und Halldóra. Wie hat sie es bloß geschafft, nicht ständig schwanger zu werden? Ich würde sie gerne fragen, halte mich aber zurück. Ich kann ohnehin keine Kinder mehr bekommen, bin bloß neugierig. Ob Gunnhildur bei der Hebammenausbildung einen Trick gelernt hat? Und trotzdem – Stefán und Katrín allein wären mir nicht genug gewesen. Ohne die anderen wäre das Haus ziemlich leer.
Ich lächle, als ich an Ingi denke, stets zum Kampf bereit, wenn es Konflikte gibt. Sehe Anna vor mir, das kleine Hoffräulein. Alles tanzt nach ihrer Pfeife, und sie kommt damit durch, der einzige Mensch, der Vigfús dazu bringen kann, alles für sie zu tun. Jón – ein Stich in meinem Herzen, Papas Namensvetter. Ich weiß noch, wie stolz er war, als er den Jungen auf dem Arm hielt. Und Þorgerður, das halbe Portiönchen. Ach, wie sehr ich mich darauf freue, sie wiederzusehen. Sie ist so sanft und verschmust. Auch Guðmundur ist dort, mit Sternen unter den durchsichtigen Lidern – Sterne, die nie gefunkelt haben. Der Junge, der ging, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ja, ich bin zweifellos reicher als Gunnhildur. Da durchströmt es mich warm.
Wir gehen in Konzerte und sehen uns Theateraufführungen im Zunfthaus an. Und ich besuche Messen in der Dómkirkja. Dort gibt es jetzt eine Orgel mit Pedalspiel. Die Töne sind wundervoll. Ich sitze auf der Empore und starre wie hypnotisiert den Organisten an. Würde ihn so gerne um Erlaubnis bitten, einmal selbst spielen zu dürfen, halte mich aber zurück.
Sitze stundenlang an der Nähmaschine und nähe ein Kleid für mich. Fange mit einem weiteren an. Alles geht mir leicht von der Hand. Wenn ich Einars Maße hätte, könnte ich auch mit seinen Kleidern anfangen, doch damit warte ich noch. Gunnhildur schleppt mich unermüdlich mit auf Spaziergänge, sagt, dass ich viel draußen sein müsse. Das rege den Appetit an. Sie kocht viel und gut. Ich kann ein Lächeln nicht verkneifen. Vigfús müsste all das Fleisch sehen, das in diesem Hause verspeist wird. Er würde gleich sagen, dass sie ja auch alle zu gut dabei seien!
Im Haus gibt es ein Mädchen, das putzt und aufräumt. Gunnhildur ist sprachlos, als ich ihr erzähle, dass ich keine Magd haben möchte. Erinnert sie sich denn nicht mehr an die Mädchen daheim? Und wie Papa mit ihnen umgesprungen ist? Sie guckt entrückt und sieht mich seltsam an, als sie antwortet: «Unser Papa war schon ein wenig speziell.»
Ich will ihn sofort verteidigen, zu ihm halten, als Gunnhildur weiterspricht: «Vigfús würde dich nie betrügen.»
Ich vergesse Papa und freue mich über Gunnhildurs Versicherung. Erwähne nichts, sage ihr nicht, dass ich abends daliege und an Vigfús und die plumpe Magd denke. Möchte bloß glauben, was sie sagt.
Der Arzt ist zufrieden mit meinen Fortschritten. Er sagt, dass ich nach Hause könne, aber nicht vergessen dürfe, die Medikamente zu nehmen. Keinen einzigen Tag. Ich würde ihn so gerne fragen, ob es nicht doch besser wäre, wenn ich noch ein wenig länger in Reykjavík bliebe. Nur zur Sicherheit! Ich könnte ihm auch sagen, wie gut es mir hier geht. Sollte ich ihm sagen, dass ich in meinen Träumen hierher gezogen bin und nicht wieder nach Hause in die Einöde möchte? Ich tue es nicht, bringe kein Wort heraus, als hätte ich komplett die Sprache verloren.
Es stellt sich heraus, dass ein Dampfer auf dem Weg in den Osten ist, und Gunnhildur weiß von einem verlässlichen Mädchen, das mitfahren wird. Sie wird es bitten, mir behilflich zu sein. Gunnhildur möchte Einar die Nachricht persönlich übermitteln, denn nun ist es möglich, zwischen den Landesvierteln eine Telefonverbindung herzustellen. Dann kann er mich, wie besprochen, am Hornafjord abholen. Mit einem Mal hat man alles für mich entschieden.
Der Vogel regt sich, und die Angst hat Einzug gehalten.
Am letzten Tag gehe ich ins Kaffeehaus im Stadtzentrum. Ich bin allein und nehme mir Zeit, trinke Schokolade und esse ein Stück Sahnetorte. Währenddessen überlege ich, ob Sveinn und ich wohl so in Kopenhagen in Kaffeehäusern gesessen hätten und immer glücklich gewesen wären. Wäre ich nicht krank geworden? Wäre ich der Angst und den Seelenqualen entkommen? Wieso bin ich erkrankt? Diese Gedanken nehmen mir alle Kraft. Ein Toter ist auferstanden und verzerrt das Bild. Weshalb musste er jetzt so auf mich einstürzen, da alles zu spät ist?
Dann stehe ich auf, bezahle und werfe Bertel und Maria auf der Austurvöllurwiese einen Abschiedsgruß zu. Überlege, wann ich sie wohl das nächste Mal sehen werde. Versuche, mir vorzustellen, dass ich Maria bin. In Wind und Wetter leicht bekleidet an Bertels Seite. Wäre ich vom Sockel gestiegen? Meinen eigenen Weg gegangen? Da lächelt Maria mich an, nur einen winzigen Moment lang, aber es ist ein strahlendes Lächeln.
Ich gehe langsam nach Hause und verabschiede mich vom zweistöckigen Holzhaus, das nun seine rote Farbe verloren hat. Es ist abgeblättert und kahl, der Zaun kaputt, die Gardinen zerschlissene Lumpen, kein Papa davor, und kein Kaffeeduft weht aus dem geschlossenen Fenster. Ich laufe schnell nach Hause, packe die letzten Sachen zusammen. Der Dampfer legt am frühen Morgen ab.
Es macht Spaß, mit dem Küstenschiff zu fahren. Für Gunnhildur und Þórarinn war es keine Frage, dass ich in der ersten Klasse reise. Ich teile eine Kajüte mit dem Mädchen, das Gunnhildur kennt, und alles läuft reibungslos. Das Essen ist gut und ich genieße es, an Deck zu sitzen. Wir essen gemeinsam mit dem Kapitän, der Däne ist. Er ist ein lustiger Kerl, und ich bin überrascht, wie leicht ich mich mit ihm unterhalten kann. Der Salon ist groß, und an einer Wand steht ein Klavier. An einem Abend wird gespielt und gesungen.
Einar holt mich am Hornafjord ab. Er hilft mir aus dem Boot, das uns an Land bringt, wirbelt mich auf dem Pier im Kreis herum und ruft: «Du siehst blendend aus!»
Es durchströmt mich warm, und ich freue mich darauf, aus der blauen Stoffbahn, die ich im Gepäck habe, Kleider für ihn zu nähen. Ich schaue zum Schiff, das draußen auf See vor Anker liegt. Hätte mir gut vorstellen können, noch weiter in den Osten zu meiner Schwester Gauja nach Seyðisfjörður zu reisen.
«Sollen wir nicht einfach wieder an Bord gehen und nach Seyðisfjörður fahren?», frage ich scherzhaft. «Nur wir beide?»
Bilde ich mir bloß ein, dass Einar mich seltsam ansieht? Er zögert, denkt nach, lächelt dann aber und schüttelt den Kopf.
«Demnächst, Engelchen. Und dann fahren wir den ganzen Weg bis nach Norwegen!»
«Der Kapitän hat gesagt, dass es abends im Salon nicht halb so lustig sein wird, wenn ich weg bin», sage ich mit einem Augenzwinkern. «Er ist Däne!»
«Das glaube ich gern!» Einar lächelt noch mehr und drückt mich fest.
Er muss Verschiedenes erledigen, und ich sehe mich unterdessen in den Stoffläden um. Kaufe nur wenig, habe bereits alles, was ich brauchte, in Reykjavík bekommen. Im Vergleich zu Reykjavík gibt es hier keine große Auswahl. Wir besuchen Verwandte und Freunde, Einar hat es nicht eilig.
Als ich ihn frage, wie es zu Hause laufe, gibt er kaum Antwort. Doch er wiederholt, wie toll ich aussähe, und schärft mir ein, von jetzt an gut für mich selbst zu sorgen. Die Genesung weiter voranzutreiben.
Dann brechen wir in Richtung Westen auf und kommen gut über Gletscherflut und Flüsse.
Sie war hochschwanger, als ich nach Hause kam. Die Magd! Sagte nicht von wem, hatte aber ihre Arbeit verrichtet und war lieb zu den Kindern gewesen. Vigfús wollte, dass sie blieb. Sagte, dass das Mädchen fleißig und zuverlässig sei und seinetwegen das Kind bei uns bekommen könne.
Natürlich musste es dazu kommen. Wie konnte ich mir auch einbilden, dass Vigfús anders wäre als andere Männer? Dass er mich nicht betrügt? O nein! Aber in meinem eigenen Haus! Mit unseren Kindern um sich herum. Sollte ich das Kind vielleicht sogar auch noch aufnehmen?
Ich wollte, dass das Mädchen sofort ging, doch Vigfús versicherte, dass das Kind nicht von ihm sei. Als würde ich auch nur ein Wort seiner Beteuerungen glauben. Er antwortete ausweichend, wisse nicht, wer der Kindsvater sei. Sagte, dass das Mädchen das für sich behalte und es auch ihre Sache sei. Der Pfarrer werde schon früher oder später dahinterkommen. Er wolle bloß eine gute Magd behalten und bat mich um Zurückhaltung.
«Zurückhaltung!», keifte ich. «Nicht gerade eine Kleinigkeit, die du da verlangst!» Dann rauschte ich hinaus und ließ die Türen knallen. Schaffte es gerade noch hinauf zu meinem Stein und saß dort, bis ich eiskalt war.
Die Wut kochte in mir. Was hatte diese schwangere Magd noch hier zu suchen, seit ich nach Hause kam? Warum war Vigfús sie nicht schon längst losgeworden? Er weiß, dass Mägde mich völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn ich doch bloß meinen Frieden bekäme. Jetzt bin ich wieder in Form und kann mich selbst um meinen Haushalt kümmern.
Anna holte mich, und wir gingen Hand in Hand über die Wiese nach Hause.
Die Atmosphäre war geladen. Ich hatte mich so darauf gefreut, meine Familie in die Arme zu schließen, ihre Freude zu sehen, wenn ich etwas Schönes zuschneide und nähe, und jetzt merkte ich, wie sich alles gegen mich richtete. Die alte Angst attackierte mich im Schlaf. Mitten in der Nacht sprang ich auf. Konnte nicht mehr einschlafen. Sprach mir Mut zu und schaffte es morgens aus dem Bett. Träumte von Gunnhildurs Fleisch, während es hier ständig nur Fraß gab und mir der Appetit komplett vergangen war.
Ingi sagte, dass ich die beste Mutter der Welt sei und nichts Dummes denken dürfe. Die Mädchen waren lieb zu mir und versuchten, mich zu beruhigen. Katrín sagte mir mehrmals am Tag, wie schick und schön ich sei. Anna stimmte mit ein und erinnerte mich ans Haarekämmen, wenn ich es vergessen hatte. Jón war schweigsam, drückte mich aber fest. Die Mädchen zählten verschiedenste Männer auf, die sich in der Nähe des Hofes herumgetrieben hatten, und stritten ab, dass das Kind von ihrem Vater sei. Wie viel sie wohl davon wussten? So was kann schnell passieren.
Das Mädchen verrichtete still seine Arbeit und war lieb zu allen, besonders zu mir, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich nicht länger mit ihr unter einem Dach sein konnte. Nicht mit ihr sprechen konnte. Das Gefühl hatte, zu ersticken.
Du hattest dich so darauf gefreut, Pétur Jakob gute Neuigkeiten über Mutter zu schreiben. Dachtest, dass jetzt alles nur noch angenehm sein würde. Sie war glücklich und schön, als sie und Einar ankamen, aber dann hat sie sich komplett gewandelt. Unglaublich, wie sehr man sich in so kurzer Zeit verändern kann.
Pétur Jakob wartet sicherlich auf einen Brief, aber du kannst ihm absolut nichts schreiben. Was sollst du auch sagen? Dass es Mutter nach der Rückkehr einige Tage lang gut ging, es jetzt aber nur noch halb so gut ist? Nein, dann kannst du es gleich sein lassen. Aber er hat sich darauf verlassen, dass du schreibst.
Du beschließt, noch ein paar Tage abzuwarten. Vielleicht kommt es noch in Ordnung …
Ich holte die Nähmaschine hervor und fing an. Wollte versuchen, mich in die Näharbeit zu stürzen. Drapierte all die schönen Stoffbahnen um mich herum. Doch dann gewann die Müdigkeit die Oberhand, und ich wusste, wohin das führen würde. Die Medikamente waren durcheinandergeraten, aber ich war zu stolz, Vigfús um Hilfe zu bitten. Als Katrín sich der Sache annahm, hatte ich bereits ein Fläschchen zerbrochen und den Inhalt der Pillengläser vermischt.
Eines Abends ging es mir besonders schlecht, und die Angst hielt mich in ihrem Höllengriff. Ich saß an der Nähmaschine, brachte aber nichts zustande, alles war mir über den Kopf gewachsen. Wusste nicht mehr, wie ich früher an die Sache herangegangen war. Dabei hatte ich doch mein ganzes Leben lang so viel genäht.
Ich griff in die Orgeltasten, doch das war falsch. Ich musste an das Klavier in der ersten Schiffsklasse und an den dänischen Kapitän denken. Es schien so lange her zu sein. Das war bestimmt nicht ich, die auf dem Schiff gewesen ist, sondern eine andere Frau.
Als Vigfús aus dem Stall kam, verkündete ich ihm, dass er sich nun zwischen mir und dem Mädchen entscheiden müsse. Wenn sie nicht gehe, würde ich das tun. Er dachte nicht lange nach, antwortete seelenruhig: «Dann ist es wohl am besten, wenn du gehst, meine Liebe. Alles lief so blendend, bis du zurückgekommen bist.» Schwang in seiner Stimme etwa Erleichterung mit?
Mit Mühe gelang es mir, aufzustehen. Sah in einen tiefen Abgrund. Kroch die Treppe hinauf und legte mich ins Bett. Sang aus voller Kehle, um das Brummen im Kopf nicht hören zu müssen.
Ich erkenne keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Öffne bloß die Augen, um nach dem Topf unterm Bett zu tasten. Neulich war er voll. Es ist angenehm, die Wärme an den Füßen zu spüren, wenn es überschwappt. Doch der Uringeruch ist stechend, und ich lege mich schnell wieder ins Bett. Höre undeutlich, dass jemand schimpft. Kann nicht antworten, der Vogel liegt auf mir, und das Brummen im Kopf macht mich verrückt.
Lange konnte ich noch das gute Gefühl wachrufen, das meine Brust erfüllt hatte, als ich in Reykjavík war. Wenn ich tief genug unter die Decke kroch, fand ich es und klammerte mich daran. Jetzt ist es verschwunden.
Am ehesten stehe ich nachts auf, taste mich die Treppe hinunter und sitze allein in der Wohnstube. Manchmal kommt Vigfús hinter mir her und versucht, mich wieder ins Bett zu kriegen. Sagt, dass ich auskühlen, eine Lungenentzündung bekommen und sterben würde. Ich antworte ihm nicht. Dann bringt er eine Decke und wickelt sie um mich. Ich möchte ihn anlächeln, kann aber nicht.
Es kommt auch vor, dass ich mich an die Orgel setze. Spiele und singe. Versuche, das Brummen in den Ohren zu übertönen. Dann ist Vigfús ungehalten. Sagt, dass es mitten in der Nacht sei und er Ruhe zum Schlafen haben wolle. Schließt das Instrument. Ich öffne es wieder. Papa hat die Orgel für mich gekauft, für niemanden sonst. Soll Vigfús doch versuchen, mir das Spielen zu verbieten. Noch bin ich die Herrin in diesem Hause!
Auch Anna kommt und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Sie bittet mich, morgen mit ihr zu singen, führt mich die Treppe hinauf und hilft mir ins Bett. Die kleine Prinzessin umsorgt mich, und ich schlafe ein.
Als ich eines Nachts nach unten komme, ist die Orgel abgeschlossen. Und der Schlüssel, der immer im Schlüsselloch steckte, ist verschwunden. Ich suche überall, finde ihn aber nicht. Wer wagt es, das Instrument abzuschließen? Mir wird schwindelig vor Wut. Dann rausche ich in die Diele. An der Haustür nimmt mich ein kalter Windstoß in Empfang. Laufe barfuß über den Hof.
Er liegt am Fischstein, alt und schwerer, als ich gehofft hatte, doch es gelingt mir, ihn den ganzen Weg bis in die Wohnstube zu schleppen. Höre jemanden im Obergeschoss. Lasse mich nicht aufhalten.
«Engel, pass auf», schreit Vigfús, als ich den Vorschlaghammer in die Luft stemme. Es singt in der Orgel, als das Schloss zersplittert. Ich lasse ab, und um ein Haar wäre der Hammer auf meine Füße geknallt. Vor mir steht Vigfús und zittert vom Scheitel bis zu den Fußsohlen. Da packt er den Hammer und stürzt damit nach draußen.