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Let the cold wind blow / as long as you love me / East or West / I can stand the test / as long as you love me. Das war Nummer sieben in der Westküstenhitparade, es ist lange, lange her. Ich glaube Nummer sieben. Der Titel besteht aus sechs Wörtern. Die 6 wird von Venus bestimmt, dem Planeten der Liebe und der Schönheit. Nach der irokesischen Astrologie ist der sechste Tag der Körperpflege gewidmet, man lässt sich die Haare machen und zieht aufwendig geschmückte Kleider mit eingewobenen Muscheln an, man bemüht sich um das andere Geschlecht und nimmt an Glücksspielen oder Ringkämpfen teil. Whats the reason Im not pleasing you? Irgendwo in der Hitparade. Heute ist ein eiskalter 6. März. Mit Frühling hat das in den kanadischen Wäldern noch nichts zu tun. Zwei Tage hat der Mond im Widder gestanden. Morgen tritt er in den Stier ein. Die Irokesen würden mich umbringen, wenn sie mich jetzt sehen könnten, ich habe nämlich einen Bart. Als sie irgendwann im siebzehnten Jahrhundert den Missionar Jogues gefangen nahmen, bestand eine der milderen Folterungen (gerade erst hatte ihm ein algonquinischer Sklave den Daumen mit einer Muschelklinge abgehackt) darin, dass man den Kindern erlaubte, ihm mit den Fingern die Barthaare zu ziehen. »Schick mir ein Bild von Christus ohne Bart«, schrieb der Jesuit Garnier an einen Freund in Frankreich und verriet so, dass er bestens über die Sonderbarkeiten der Indianer Bescheid wusste. F. hat einmal von einem Mädchen erzählt, das mit einem derart gewaltigen Busch gesegnet war, dass es ihr mit täglichem Bürsten gelang, ihn beinahe zwanzig Zentimeter längs der Oberschenkel herabfallen zu lassen. Knapp unterhalb ihres Nabels malte sie mit flüssigem, schwarzem Eyeliner zwei Augen auf und Nasenlöcher. Unmittelbar über der Klitoris teilte sie das Haar und zog es in zwei Bögen auseinander, wodurch der Eindruck eines Schnurrbarts über spitzen, rosafarbenen Lippen entstand, von denen der übrige Haarwuchs als Bart herabhing. Ein eigens angefertigter Nabelring, der Eingeweihten ihre Kaste zu verraten schien, rundete das komische Bild eines exotischen Wahrsagers oder Mystikers ab. Es gefiel ihr, den restlichen Teil ihres Körpers unter einem Laken zu verstecken und F. in parodistischem Vortrag mit den damals so beliebten östlichen Weisheiten zu vergnügen, ihre Stimme unter dem Bettlaken sprach die Rolle mit bauchrednerischer Sicherheit. Wieso habe ich keine Erinnerungen dieser Art? Was nützen mir all deine Geschenke, F., die Seifensammlung, die Bücher voller weiser Worte, wenn deine Erinnerungen nicht Teil dieses Erbes sind, Erinnerungen, die deinen langsam dahinrostenden Hinterlassenschaften eine Art Bedeutung verleihen würden? Kommen nicht auch alte Dosen und Autowracks zu neuen Ehren, wenn man sie in einer edlen Galerie aufstellt? Was habe ich von deinen ganzen esoterischen Lehrreden, wenn ich die Umstände nicht kenne, unter denen du sie entwickelt hast? Ihr wart mir zu exotisch, du und all die anderen Lehrer, ihr mit euren Atemtechniken und wissenschaftlichen Erfolgsrezepten. Und wenn wir Asthma haben? Und wenn wir Verlierertypen sind? Was ist mit uns, die wir nicht ordentlich scheißen können? Was ist mit uns, die wir keine Orgien gefeiert, die wir nicht bis zum Überdruss gefickt haben, wovon sollen wir uns frei machen? Was ist mit uns, die wir am Boden zerstört sind, weil unsere Freunde unsere Frauen gefickt haben? Was ist mit denjenigen, die so sind wie ich? Was ist mit uns, die wir nicht im Abgeordnetenhaus sitzen? Was ist mit uns, die wir am 6. März grundlos frieren? Du hast damals den Telefontanz getanzt. Du hast gehört, was in Ediths Innerem vorging. Und was ist mit uns, die nur in totem Gewebe stochern? Was ist mit uns Historikern, die immer nur die gemeinen Rollen lesen dürfen? Was ist mit uns, die ein Baumhaus vollgestunken haben? Warum war alles so beeindruckend und irritierend bei dir? Warum hast du mich nicht getröstet wie der Heilige Augustinus, der sang: »Sehet die Ahnungslosen emporsteigen, um uns den Himmel vor den Augen wegzuschnappen«? Warum konntest du nicht zu mir sprechen, wie die Heilige Jungfrau einst, irgendwann im neunzehnten Jahrhundert, auf der Rue du Bac, einer ganz normalen Straße, zu dem Bauernmädchen Catherine Labouré gesprochen hat? »Gnade wird über euch kommen, die ihr sie mit Glauben und Inbrunst erbittet.« Warum muss ich das vernarbte Gesicht der Catherine Tekakwitha absuchen wie das Fernrohr einer Mondrakete? Was hast du gemeint, als du blutend in meinen Armen lagst und sprachst: »Jetzt bist du an der Reihe.« Leute, die diesen Satz sagen, wollen immer andeuten, dass sie den schwierigeren Teil der Aufgabe bereits erledigt haben. Wer hat schon Lust, die Aufräumarbeiten zu machen? Wer hat schon Lust, sich auf den angewärmten Fahrersitz zu setzen. Ich will kühles Leder, wie du. Ich habe Montréal geliebt, wie du. Ich bin nicht immer so ein Waldschrat gewesen. Ich war ein Bürger. Ich hatte eine Frau und Bücher. Am 17. Mai 1642 näherte sich Maisonneuves kleine Armada (bestehend aus einem kiellosen Segelboot, der sogenannten Pinasse, und zwei Ruderbooten) Montréal. Am folgenden Tag glitten sie das grüne, einsame Ufer entlang und landeten an der Stelle, die Champlain einunddreißig Jahre zuvor als Ort für eine Siedlung ausgewählt hatte. Über dem frischen Gras wippten die ersten Frühlingsblüten. Maisonneuve sprang an Land. Ihm folgten Zelte, Gepäck, Waffen und Proviant. An einer hübschen Stelle errichtete man einen Altar. Die ganze Siedlergemeinde versammelte sich vor dem Heiligtum: der hoch gewachsene Maisonneuve, dicht umdrängt von seinen Männern, herben Typen, sowie Mademoiselle Mance, Madame de la Peltrie, ihr Diener, Handwerker und Arbeiter. Und hier, prachtvoll hergerichtet zur Ausübung seines Amtes, stand Pater Vimont, Superior der Missionen. Andächtige Stille lag über den Knieenden, als die Hostie emporgehoben wurde. Nun wandte sich der Priester an die kleine Gemeinde und sagte:

– Ihr seid das Senfkorn, das aufgehen und wachsen soll, bis der Schatten seiner Zweige die Erde bedeckt. Ihr seid nur wenige, aber euer Werk ist das Werk Gottes. Sein Lächeln ist über euch, eure Kinder sollen das Land füllen.

Am späten Nachmittag wurde es dunkler. Die Sonne verlor sich in den westlichen Wäldern. Glühwürmchen blitzten über der dämmrigen Wiese auf. Sie fingen sie, zogen sie auf Fäden und banden die funkelnden Girlanden an den Altar, wo noch die Hostie ausgestellt war. Dann bauten sie die Zelte auf, entzündeten Lagerfeuer, stellten Wachen auf und legten sich zur Ruhe. Dies war die erste Messe, die in Montréal gelesen wurde. Und ja, von dieser Hütte aus sehe ich die Lichter der großen Stadt, die damals prophezeit wurde, einer Stadt, die dereinst ihren Schatten über den gesamten Erdball werfen sollte, ich sehe die Lichter von Downtown, Glühwürmchen, die in locker fallenden Girlanden funkeln. So finde ich Trost an einem verschneiten 6. März. Mir fällt eine Zeile aus der jüdischen Kabbala ein (Sechster Teil aus dem Bart des Macroprosopus), »dass der Zweck eines jeden Werkes darin besteht, die Gnade zu mehren …« Komm näher, Leichnam der Catherine Tekakwitha, es ist zwanzig Grad unter null, ich weiß nicht, wie ich dich in meine Arme nehmen soll. Riechst du in diesem Kühlschrank? Die Heilige Angela Merici starb 1540. 1672 wurde sie wieder ausgegraben (Kateri Tekakwitha, du warst damals ein Kind von sechs Jahren), ihr Leichnam duftete lieblich und war auch 1876 noch unversehrt. Der Heilige Johannes Nepomuk starb 1393 in Prag den Märtyrertod, er hatte sich geweigert, ein Beichtgeheimnis preiszugeben. Seine Zunge ist vollständig erhalten. Dreihundertzweiunddreißig Jahre später, 1725, wurde sie von Fachleuten untersucht, die bezeugten, dass sie in Form, Farbe und Länge der Zunge eines lebendigen Menschen entsprach, und dass sie weich und biegsam war. Der Leichnam der Heiligen Katharina von Bologna (1413-1463) wurde drei Monate nach dem Begräbnis ausgegraben, ein lieblicher Duft stieg von ihm auf. Der Körper des Heiligen Pacificus di San Severino, der 1721 starb, wurde vier Jahre später exhumiert, er roch frisch und war unverdorben. Als man den Leichnam aufhob, rutschte einer der Träger aus. Der Kopf des Heiligen schlug mit einer solchen Wucht gegen eine Treppenstufe, dass er vom Körper getrennt wurde. Und aus dem Hals schoss frisches Blut! Der Heilige Johannes Vianney wurde 1859 begraben. Sein Körper war unversehrt, als er 1905 exhumiert wurde. Unversehrt: Kann auf Unversehrtheit eine Liebe gründen? Der Körper des Heiligen Franziskus Xavier wurde 1552, vier Jahre nach seiner Beerdigung, ausgegraben, er hatte noch seine natürliche Farbe. Eine natürliche Farbe – genügt das? Der Heilige Johannes vom Kreuz, gestorben 1591, sah neun Monate nach seinem Tod noch ziemlich gut aus. Als man ihm die Finger abschnitt, blutete er. Dreihundert Jahre später (oder etwas weniger), nämlich 1859, war sein Leichnam unversehrt. Nur unversehrt. Der Heilige Joseph Calasanticus starb im Jahr 1649 (im selben Jahr, in dem jenseits eines weiten Ozeans Lalemant von den Irokesen verbrannt wurde). Seine Eingeweide wurden entnommen, aber nicht einbalsamiert. Herz und Zunge sind bis zum heutigen Tag unversehrt, über den Rest ist nichts bekannt. Meine Küche im Souterrain war sehr stickig, manchmal sprang der Ofen von selbst an, weil der Timer defekt war. F., ist das der Grund, warum du mich diesen gefrorenen Baumstamm hinaufgeführt hast? Es gibt kein Parfüm, das mir Angst macht. Die Indianer sahen in Krankheiten einen Ausdruck unerfüllter Wünsche. Töpfe, Felle, Pfeifen, Wampums, Angelhaken, Waffen wurden vor dem Kranken auf einen Haufen geworfen, »in der Hoffnung, dass in der Vielfalt das Desideratum enthalten sei«. Oft geschah es, dass der Patient träumte, was ihm Genesung verschaffen würde. Seinen Forderungen verweigerte man sich nicht, »egal wie extravagant, sinnlos, ekelerregend oder abscheulich sie auch waren«. O Himmel, mach mich zu einem kranken Indianer. Welt, schenk mir die Träume des Mohawk. Nicht die feuchten, die in der Wäsche enden. Ich besitze gewisse Informationen über die Sexualität der Indianer, die Himmelspsychiatrie ist, ich würde sie gern dem Teil meines Gehirns verkaufen, der an Lösungen interessiert ist. Wenn ich sie an Hollywood verkaufen würde, dann wäre Hollywood ihr Ende. Ich ärgere mich, und mir ist kalt. Ich drohe, Hollywood ein Ende zu machen, wenn ich nicht unverzüglich von einem Geist geliebt werde, einem, der nicht nur unversehrt ist, sondern von überwältigendem Wohlgeruch. Ich werde der Filmindustrie ein Ende machen, wenn es mir nicht bald besser geht. In naher Zukunft werde ich das Kino in ihrem Viertel zerstören. Ich werde die Spätvorstellung hinter Milliarden Vorhängen verbergen. Ich mag meine Situation nicht, sie ist schwierig. Warum muss ich derjenige sein, der Finger abschneidet? Muss ich die Skelette auf Syphilis testen? Viel lieber wäre ich die Kinderleiche, der einzige Sohn, der von ungeschickten Ärzten getragen wird, dass sich sein dreihundert Jahre altes Blut über die Betontreppe ergießt. Ich wäre viel lieber das Licht im Sein. Warum bin ich derjenige, der F.s alte Zunge sezieren muss? Die Indianer haben das Dampfbad erfunden. Das ist nicht so wichtig.

Beautiful Losers
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