»Jiri war der Einzige, der mir berichtet hat, was gesprochen wurde.« Ihre Stimme war ausdruckslos, doch ihre Hände drückten so fest auf die Oberschenkel, dass sich der schwarze Rock in Falten legte.

»Es war idiotisch … Aber ich musste Tapsa trotzdem fragen, ob er tatsächlich etwas derart Widerliches gesagt hat.«

Sie warf einen Blick auf Koivu, der seinerseits mich ansah und sagte:

»Ich geh mal kurz in die Garage.«

Nachdem er gegangen war, setzte Riikka sich zu mir. Ihre Gesichtshaut war so dünn wie die ihrer Mutter, schon in zehn Jahren würde ein Geflecht von Fältchen um Augen und Mund liegen. Die dunklen Augenbrauen waren sorgfältig gezupft.

»Du schreibst das doch nicht auf?«, fragte sie ängstlich. Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte nicht vor, Notizen zu machen. Wenn Riikkas Aussage für die Ermittlungen relevant war, würden wir allerdings bei der offiziellen Vernehmung darauf zurückkommen müssen.

»Vater hatte in der Sauna zu Tapsa gesagt, mit dem kleinen Schniepel vögelst du also meine Tochter, na, viel Staat ist damit aber nicht zu machen.« Auf ihren Wangen bildeten sich zwei rote, unregelmäßig geformte Flecken.

»Tapsa hat ihm entgegnet, am liebsten würde er seine Tochter wohl selber vögeln, wenn das nicht gesetzlich verboten wäre.

Dann haben sie aufeinander eingedroschen, und Jiri ist dazwi-schengegangen.«

»Hat sich dein Vater je an dich herangemacht?«

»Nein!« Sie sah mich konsterniert an. »Vater war nicht pervers, ich weiß nicht, warum Tapsa so etwas gesagt hat.«

»Hatte dein Vater zu deinen bisherigen Freunden auch so eine negative Einstellung?«

»Bisher war er damit nie konfrontiert worden. Ich hatte vor Tapsa noch keinen Freund«, sagte Riikka hastig. Ich erinnerte mich an Tapio Holmas Worte von Heirat und Kindern und fragte mich, ob Riikka es ebenso eilig hatte, sich zu binden.

Zu den weiteren Ereignissen des Samstagabends hatte sie nichts Neues beizutragen. Das einzige Interessante war, dass sich Seija Saarela ihrer Meinung nach selbst zur Geburtstagsfeier eingeladen hatte.

»In gewisser Weise ist sie zwar Mutters Freundin, oder sie wäre es gern, aber ich halte nichts von ihrem Steinkram. Steine sind schön, trotzdem finde ich es verrückt zu glauben, dass irgendwelche Energien in ihnen stecken. Seija hat Tapsa Manschettenknöpfe aus Quarz geschenkt und ein Amulett, das ihm angeblich helfen soll, seine Stimme zurückzubekommen.

Als ob ein Stein da etwas ausrichten könnte!«

»Tapsa ist bestimmt deprimiert wegen seines Stimmverlusts?«

»Stell dir doch mal vor, du würdest ein Bein verlieren und könntest nicht mehr Polizistin sein!«, fuhr Riikka auf.

»Hat er sich schon entschieden, ob er sich operieren lässt?«

»Er ist gerade bei einem Phoniater zur Konsultation. In den USA soll es einen Spezialisten für solche Fälle geben, aber die Behandlung ist furchtbar teuer …«

Riikka erbte die Hälfte der Aktien ihres Vaters. Ein Verkauf würde ihr mehrere Millionen einbringen. Ob das ein Motiv für einen Mord war? Obwohl ich zeitweise das Gefühl hatte, mindestens zwei der Geburtstagsgäste seien in die Tat verwickelt, schien mir die Vorstellung, Tapsa und Riikka wären in stockdunkler Nacht auf Rödskär herumgeschlichen, um Juha vom Felsen zu stoßen, an den Haaren herbeigezogen. Sie hätten beide nicht die Nerven dazu gehabt.

Ich stand auf, bevor die Versuchung, die Beine hochzulegen, übermächtig wurde.

»Zeigst du mir bitte das Schlafzimmer deiner Eltern?«

Riikka führte mich durch die breite Eingangshalle ans Ostende des Hauses. Das Elternschlafzimmer war geräumig, mindestens dreißig Quadratmeter groß. Vor dem wandbreiten Fenster schirmte ein Wäldchen das Grundstück vor den Blicken der Nachbarn ab. Das Zimmer war in heller Birke und Leinen eingerichtet, über dem Bett ging eine Graphik, ein Porträt von Anne Merivaara. Der einzige Stilbruch war das zweite Bild, ein romantisches Seestück, das ein Segelschiff vor einem Leuchtturm zeigte. Ich hatte das Gefühl, den Geruch von verbranntem Fleisch ins Zimmer zu tragen.

»Dein Vater hatte zu Hause kein Arbeitszimmer, nicht wahr?«, vergewisserte ich mich, da Koivu sich immer noch nicht blicken ließ.

»Nein. Und die Schränke haben die anderen Polizisten schon durchwühlt.«

An der Südwand des Schlafzimmers befand sich ein begehba-rer Kleiderschrank. Juha Merivaaras Kleidung war teuer und konservativ. Neben den Anzügen hing Freizeitkleidung, die er auf See und beim Tennis getragen haben mochte. Ich hatte zwar nicht erwartet, Abendkleider oder Spitzenwäsche in Männergrö-

ße zu entdecken, war aber dennoch enttäuscht, auch in Juha Merivaaras Schlafzimmer nichts zu finden, das den geringsten Aufschluss über ihn gegeben hätte.

»Und Jiris Zimmer?«, fragte ich in der Gewissheit, dass die Sicherheitspolizei früher oder später anrücken würde.

»Was ist damit?« Der Ärger in ihrer Stimme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Angst um ihren Bruder hatte.

Offenbar war ich nicht die Einzige, die Jiri für den Hauptverdächtigen hielt.

»Der Durchsuchungsbefehl gilt für das ganze Haus. Ich möch-te mir sein Zimmer ansehen.«

»Es ist neben der Küche. Jiri will aber nicht, dass man es ohne seine Erlaubnis betritt.«

»Maria!«, rief Koivu aus dem Flur, von dem eine Tür zur Garage führte. »Komm mal her!«

Ich ließ Riikka die Decke auf dem Bett ihrer Eltern glatt ziehen und lief durch den Flur in die Garage. Sie bot Platz für zwei Autos, doch Anne hatte mir erzählt, die Familie habe den Zweitwagen abgeschafft und sich angewöhnt, den Bus zu benutzen. Den freien Stellplatz füllten nun nagelneue Mountainbikes, Bootsleinen, Planen und Farbdosen.

»Man merkt, dass wir in der Garage eines Farbfabrikanten sind. Mit dem Zeug könnte man einen ganzen Ozeankreuzer streichen«, ächzte Koivu.

»Das ist kein Bootslack von der Merivaara AG, sondern ganz normale Wandfarbe«, lächelte ich und hob die Planen an, unter denen sich jedoch nur gewöhnliches Werkzeug befand.

»Hier sind auch ausländische Dosen. Was ist das denn für eine Sprache? Saugoti nuo saulés sviesos«, buchstabierte Koivu mühsam. »Sudetis … Estnisch ist das nicht und Polnisch auch nicht.«

»Lettisch oder Litauisch, die beiden kann ich nicht auseinander halten. Seltsam, dass Merivaara Konkurrenzprodukte in seiner Garage lagert. Wolltest du mir etwas Bestimmtes zeigen?«

»Diese Taschenlampe«, sagte Koivu und versuchte gleichmü-

tig zu wirken, obwohl seine Augen glänzten. Er hatte dünne Latexhandschuhe übergestreift und nahm eine etwa dreißig Zentimeter lange Taschenlampe von dem Metallregal an der Rückwand. Das Glas an der Lampe war zerbrochen.

»Ich war schon am Montag hier, aber diese Lampe habe ich nicht gesehen.«

Ich nickte. Ich hatte lange genug mit Koivu zusammengearbeitet, um zu wissen, dass er ungefähr dasselbe dachte wie ich: Die Person, die die Lampe hier abgelegt hatte, war überzeugt gewesen, die Polizei würde die Garage kein zweites Mal untersuchen.

»Schick sie ins Labor. Die Techniker sollen nach Fingerabdrü-

cken suchen und feststellen, ob das Glas den Splittern in Juha Merivaaras Wunde entspricht. Wenn wir Glück haben, finden sich sogar noch Blutspuren.«

Im Übrigen gab es in der Garage nichts Interessantes, Koivu zufolge sah alles so aus wie bei seinem vorigen Besuch. Also kehrten wir ins Haus zurück. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in die Küche. Sie war hell und steril wie ein Labor. Ein Mixer, zwei Pürierstäbe, eine Saftpresse, Keimschalen und die Kräutertöpfe auf dem Fensterbrett ließen darauf schließen, dass in dieser Küche oft und gesund gekocht wurde.

Vor dem Fenster in Jiris Zimmer hing ein dicker schwarzer Vorhang. Die dunkellila gestrichenen Wände vervollständigten den höhlenartigen Eindruck. Ich knipste das Licht an und schrak zurück, als ich das Plakat über dem Bett erblickte. Es zeigte eine an Elektroden angeschlossene Katze. Augen und Nase des Tieres waren vereitert, das Maul stand halb offen, als ob die Katze vor Schmerz hechelte, der Körper schien sich zu ver-krampfen. Es war schwer vorstellbar, dass sich jemand freiwillig ein solches Bild an die Wand hängte.

Im übrigen war das Zimmer normal, wenn auch ausgesprochen spärlich möbliert. Die graue Decke auf dem schmalen Bett war vielfach geflickt. Im Bücherregal standen mehr CDs und Videokassetten als Bücher. Obwohl Jiri Energieverschwendung ablehnte, besaß er einen Videorecorder und eine Stereoanlage.

Einen Computer hatte er dagegen nicht, nur eine altmodische, mechanische Schreibmaschine. Auf dem Tisch lagen stapelwei-se Papiere, dazwischen ein verloren wirkendes Biologiebuch.

Ich nahm das oberste Flugblatt in die Hand. Es informierte über die Gründe, Shell zu boykottieren. Die Beschreibungen der Umweltzerstörung in Nigeria und des Mordes an Ken Saro-Wiwa waren leidenschaftslos und doch beeindruckend, ich nahm mir vor, künftig darauf zu achten, wo ich tankte. Das nächste Flugblatt war in einem anderen Ton gehalten, es bezeichnete die Direktoren der fleischverarbeitenden Industrie in den EU-Ländern als Mörder, die Genmanipulation betrieben.

Das dritte Flugblatt trat für die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei ein und rief zum Boykott des Türkei-tourismus auf. Wie vielen Bürgerorganisationen gehörte Jiri eigentlich an?

»Interessante Videos«, sagte Koivu hinter mir.

Im Regal eines siebzehnjährigen Jungen hätte man Horrorfil-me oder Rockvideos erwartet, vielleicht auch den einen oder anderen Porno. Aber Jiris Kassetten trugen ganz andere Titel:

»Aktuelles Studio: Bericht über die Schlachtviehtransporte in der EU«, »Meet meat murderers«, »BBC: Animal Liberation Front and its supporters«, »Why do we do this? Legitime violence against animals«. Mehr als die Hälfte der Kassetten schien Material über die Tierrechtsbewegung zu enthalten.

Unter den Spielfilmen entdeckte ich einige bekannte, wie

»Trainspotting« und »Jurassic Park«.

»Nehmen wir die mit, oder überlassen wir sie der Sicherheitspolizei?«, fragte Koivu und deutete auf die Flugblätter.

»Irgendwer muss sie wohl durchsehen. Die Sicherheitspolizei interessiert sich bestimmt auch dafür«, seufzte ich. Die Durch-suchungen bei Tieraktivisten und in den Büros scheinbar harmloser Organisationen waren mir immer übertrieben erschienen, doch jetzt verhielt ich mich selbst nicht anders. Unter Jiris Papieren war eine Liste von Kosmetika, die nicht in Tierversu-chen getestet wurden. Bevor ich sie zurücklegte, vergewisserte ich mich, dass die Produkte, die ich verwendete, darauf standen.

Koivu schaltete den Fernseher ein und zappte sich durch die Kanäle. Das finnische MTV und sein internationaler Namens-vetter zeigten dasselbe Rapvideo, auf Eurosport kam eine Übertragung vom Traktorenziehen. Koivu suchte den Videoka-nal und drückte die Play-Taste.

Das Kreischen, das aus dem Fernseher drang, ließ uns beide zusammenfahren. Das Bild war körnig und dunkel, ganz offensichtlich war das Video ohne Stativ aufgenommen worden.

Eine Horde fast bewegungsunfähig gemästeter Schweine drängte sich in Panik aneinander. Die Person, die schrie, war maskiert, doch dem Körperbau nach handelte es sich um eine Frau. Sie kletterte verzweifelt an einem Stahlpfeiler hoch, um nicht von den Schweinen zertrampelt zu werden. Auch der Kameramann wich zurück, als die Herde die Richtung wechselte. Eine zweite schwarz gekleidete Gestalt öffnete die Tore am Ende der Halle, offenbar versuchte man die Schweine hinauszu-treiben. Ihr Grunzen und Quieken wurde lauter, sie wussten ganz offensichtlich nicht, was sie tun sollten. Ich glaubte den Geruch des Schweinestalls förmlich in der Nase zu spüren.

Dann ein Aufschrei, anscheinend vom Kameramann, denn die Aufnahme brach ab.

»Was nun?«, wunderte sich Koivu, doch da ging es bereits weiter. Jetzt stand eine Person in sackartigem Mantel und schwarzer Kommandomütze im Freien, im Hintergrund leuchteten die Lampen einer großen Fabrikhalle.

»Operation Free The Pigs was completed ten minutes ago. We succeeded …«

»Das ist ja gar nicht in Finnland«, dämmerte es Koivu. Wir hörten weiter zu, wie die Mitglieder des Stoßtrupps der ALF

berichteten, sie hätten Hunderte von Schweinen aus einer Massenzuchtanlage in der Nähe von Bristol befreit und würden ihre Anschläge fortsetzen, bis Großbritannien und die gesamte EU die Genmanipulation von Schweinefleisch untersagte. Ich stellte das Video ab.

»Igitt, ich glaube, morgen verzichte ich auf das Würstchen nach der Sauna«, stöhnte Koivu.

»Das hättest du sowieso getan, wir gehen doch zum Fußball.

Woher mag die Kassette stammen?«

Ich streifte Handschuhe über und drückte auf die Eject-Taste des Videogeräts. Auf der Kassette klebte lediglich das Etikett des Herstellers. Ich schob sie wieder ein und spulte ein Stück weiter. Es schien sich um einen Lehrfilm der englischen Tieraktivisten über Anschläge auf verschiedene Objekte zu handeln: Schweinefarmen, Pelzgeschäfte, Labors, in denen Tierversuche durchgeführt wurden.

»Das interessiert bestimmt nicht nur die Sicherheitspolizei, sondern auch die britischen Kollegen.« Ich kramte mein Handy hervor, rief bei der Sicherheitspolizei an und berichtete, wir hätten im Zuge der Ermittlungen über ein Kapitalverbrechen eine Haussuchung bei einer Person durchgeführt, die möglicherweise in die Brandstiftung in Kauklahti verwickelt sei.

»Der steht schon auf unserer Liste«, erfuhr ich. Das Memo über die Aktionsweise der RdT sei bereits an mich abgegangen.

Die Jungs von der Sicherheit schienen rasch zu handeln.

»Pack die Flugblätter und die Videos ein. Überprüf sämtliche Kassetten, womöglich ist statt Trainspotting Pigspotting drauf«, wies ich Koivu an, nachdem ich vereinbart hatte, dass wir das RdT-Material zum Polizeipräsidium mitnehmen und von dort an die Sicherheitspolizei weiterleiten würden. Jiri war nach wie vor festgenommen, seine Vernehmung hatte noch nicht begonnen.

»Wer hat dieses Zimmer durchsucht?«, fragte ich.

»Puustjärvi, nehme ich an. Ich hab mich auf die Garage konzentriert, Anu auf die Zimmer der Frauen.«

Jetzt erst ging mir auf, dass ich gar keinen Bericht über die Ermittlungen im Haus der Merivaaras am Montag erhalten hatte.

Oder hatte ich ihn in dem Wust von Papieren auf meinem Schreibtisch übersehen? Die Papierflut war bedrohlich ange-wachsen, seit ich das Dezernat leitete. Bei einer Besprechung der Dezernatsleiter hatte ich aus purer Boshaftigkeit die Gründung einer Arbeitsgruppe gegen Bürokratie angeregt, doch einige Kollegen hatten den Vorschlag ernst genommen. Erst als ich das erste Memorandum zu skizzieren begann, war ihnen ein Licht aufgegangen.

Jiris CD-Sammlung führte mir die Kluft zwischen den Generationen auf deprimierende Weise vor Augen: Von The Rasmus abgesehen, waren mir seine Lieblingsbands völlig unbekannt.

Ich warf einen Blick in den Kleiderschrank. Er enthielt nur wenige Kleidungsstücke, dafür aber weitere Papierstapel. Koivu holte Müllsäcke aus dem Auto. In den Schreibtischschubladen lag allerlei Krimskrams, unter anderem Ohrringe und schmutzi-ge Socken. Die oberste Schublade war abgeschlossen. Der Durchsuchungsbefehl erlaubte mir, das Schloss aufzubrechen, doch vorher wollte ich Riikka fragen, wo Jiri den Schlüssel aufbewahrte.

Das Fenster in Jiris Zimmer lag zur Straßenseite. Ich hörte ein Auto kommen und erwartete, Anne Merivaara zu sehen. Doch als ich durch die Jalousie spähte, erblickte ich Tapio Holmas dunkelblauen VW. Holma stieg aus und prallte fast mit Koivu zusammen, der mit den Müllsäcken kam. Offenbar fragte Holma etwas, denn Koivu schüttelte den Kopf. Dann lief Holma ins Haus. Ich hörte Riikkas Schritte, sie eilte ihm entgegen.

»Na, was hat der Arzt gesagt?«, wollte sie wissen.

»Später. Ist die Polizei wegen Jiri hier?«

»Wegen Jiri? Ist ihm was zugestoßen?«

»Hast du keine Nachrichten gehört? In Kauklahti ist ein Schlachthof angezündet worden. Drei Menschen sind mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, zwei wären beinahe gestorben. Die Polizei hat mehrere Mitglieder der RdT als Tatverdächtige festgenommen. Jiri war bestimmt dabei.«

»Davon haben sie mir nichts gesagt!« Riikkas Schritte näherten sich, die Tür zu Jiris Zimmer wurde aufgerissen.

»Ist Jiri festgenommen worden?«

Wenn sie wütend war, ähnelte Riikka ihrem Vater: Sie reckte das Kinn vor wie er und hob auf die gleiche, entschlossene Art die Augenbrauen.

»Ja. Er ist bei der Sicherheitspolizei«, sagte ich und legte weitere Papierstapel aus dem Schrank auf das Bett. Versehentlich stieß ich dabei an einen Kleiderbügel, von dem ein kuttenartiges Leinenhemd rutschte, eines der beiden Kleidungsstücke, die Jiri für wert befunden hatte, auf einen Bügel zu hängen. Zwei Hosen, T-Shirts und Pullover sowie Socken und Unterwäsche lagen ordentlich gestapelt in den Schrankfächern.

Alles war ungebügelt, wahrscheinlich hielt Jiri Bügeln für Energieverschwendung.

Tapio Holma tauchte hinter Riikka auf, fasste sie an den Schultern, drehte sie zu sich herum und schloss sie in die Arme.

»Guten Tag. Wie war es beim Arzt?«, fragte ich, als wäre von Jiri nie die Rede gewesen.

»Es ist ganz positiv verlaufen. Ich werde mich wohl operieren lassen. War Jiri tatsächlich an der Sache in Kauklahti beteiligt?

Im Radio war von Brandstiftung die Rede.«

»Jedenfalls war Jiri mit anderen RdT-Mitgliedern am Ort.«

Riikka stöhnte auf und begann zu schluchzen. Hatte die Sicherheitspolizei Anne Merivaara bereits benachrichtigt? Jiri konnte bis zum Sonntagvormittag festgehalten werden. Ich hoffte, sie würden ihn nicht freilassen, bevor auch ich Gelegenheit gehabt hatte, mit ihm zu sprechen. Eigentlich hatte ich mich auf das freie Wochenende und auf das Fußball-Länderspiel Finnland-Ungarn gefreut, bei dem sich entscheiden würde, ob Finnland an der Weltmeisterschaft teilnahm. Wer weiß, was nun aus meinen Plänen wurde.

»Jiri war also an der Brandstiftung beteiligt?«, hakte Holma nach.

»Es sieht so aus. Die Ermittlungen dauern noch an. Macht euch darauf gefasst, dass die Sicherheitspolizei auch euch vernimmt. Riikka, ich brauche eine offizielle Aussage von dir.

Wie ist es mit dem Montag?«

»Ich habe eine Prüfung, außerdem weiß ich nichts!« Sie wandte mir ihr verweintes Gesicht zu, Holma sah mich vor-wurfsvoll an. Dass Koivu sich gerade in diesem Moment an uns vorbeischob und anfing, Jiris Sachen in die Müllsäcke zu schaufeln, verbesserte die Atmosphäre nicht unbedingt.

»Riikka, weißt du, wo Jiri den Schlüssel zur obersten Schreibtischschublade aufbewahrt?«, fragte ich. Die Antwort war ein wütendes Nein. Ich überlegte kurz und beschloss dann, die Schublade nicht aufzubrechen. Mochte die Sicherheitspolizei es tun, wenn sie es für nötig hielt.

»Du hast also Aussichten, dass deine Stimme wiederhergestellt wird?«, fragte ich Holma freundlich. Sekundenlang sah er mich verständnislos an, doch dann sagte er:

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Der Phoniater meint, ein Versuch würde sich lohnen, wenn ich schnell genug in Behandlung komme. Er hat versprochen, sich mit einem Kollegen in Los Angeles in Verbindung zu setzen, wo schon mehrere derartige Operationen gemacht wurden.«

»Prima. Allerdings darfst du vorläufig das Land nicht verlassen.«

»Jetzt reicht’s aber!« Zum ersten Mal sah ich den jovialen Holma die Beherrschung verlieren. »Was soll dieser Zirkus?

Wegen Juha etwa …? Ich habe ihn nicht umgebracht! Klärt den Mord endlich auf, statt unschuldigen Leuten Scherereien zu machen!«

Er drehte sich um und zog Riikka mit sich fort. Koivu sah mich an und verzog das Gesicht, ich tat es ihm nach.

»Ich schau noch rasch in die Saunaräume und in Riikkas Zimmer«, sagte ich, als Koivu sich daranmachte, die Müllsäcke zum Auto zu schleppen.

Die Saunaabteilung war geräumig und gemütlich. Kaminzim-mer, Wintergarten und Duschraum bildeten einen Komplex, der zum Faulenzen einlud. In einer Ecke des Duschraums stand ein zwei Meter breiter Whirlpool, der mit Gärflaschen, offenbar zur Weinherstellung, vollgestellt war. Vielleicht benutzte die Familie die Energie verschwendende Wanne nicht mehr. Die Sauna wurde mit Holz geheizt, auf den Pritschen konnten sich mindestens zwei Personen lang ausstrecken. Im Untergeschoss befand sich außerdem ein Hauswirtschaftsraum, der einzige fensterlose Raum im ganzen Haus. Waschmaschine und Trockner waren teure, im Verbrauch sparsame Modelle, beide mit Umweltgütesiegeln dekoriert.

Was sagten diese Räume über Juha Merivaara aus? Eigentlich nur, dass er versucht hatte, komfortabel und dennoch umweltschonend zu leben. Für die Einrichtung waren ausschließlich haltbare, teure und hochwertige Produkte angeschafft worden.

Die Prinzipien des Mannes – oder seiner Frau – waren im ganzen Haus zu erkennen, aber über den Mann selbst sagte es wenig aus.

Außergewöhnlich wenig.

Ich ging zurück ins Obergeschoss. Koivu war ins Haus zu-rückgekehrt und unterhielt sich mit Holma über das Feuer in Kauklahti, Riikka hantierte geräuschvoll in der Küche. Ich hörte den Wasserkessel pfeifen und verspürte plötzlich unbändige Lust auf Kaffee. Es war schon fast vier Uhr, ich konnte mit gutem Gewissen Feierabend machen. Aber vorher wollte ich noch einen Blick in Riikkas Zimmer werfen.

Ich ging durch den Flur im Obergeschoss zum Nordende des Gebäudes und öffnete die einzige Tür, hinter die ich noch nicht geschaut hatte.

Der etwa fünfzehn Quadratmeter große Raum, dessen Wände mit einer grünlichen Stofftapete mit Tannenzweigmuster bespannt waren, wurde von einem Klavier beherrscht. Als Bett diente ein breiter Futon, der wie ein Sofa zusammengefaltet war.

Das Klavier stand auf einem schalldämpfenden Podest, auch die Tür und zwei Wände waren offenbar schallisoliert.

Zuoberst auf dem Notenbrett lagen Lieder von Sibelius, das Heft öffnete sich wie von selbst bei dem Lied »Der erste Kuss«.

Ungeschickt klimperte ich die Melodie. Obwohl ich eher auf Rockmusik stand, hörte ich mir gelegentlich die Sibelius-Platte von Jorma Hynninen an, sodass mir das Lied vage bekannt war.

Auf dem Klavier lagen weitere Noten: Kuula, Mozart, ein Heft mit Sopranarien. Dann fiel mein Blick auf ein silbern gerahmtes Foto von Tapio Holma, das auf dem Schreibtisch stand. An der Wand hingen Zeitungsbilder von ihm. Als wäre Holma nicht Riikkas Freund, sondern ein Idol, für das sie schwärmte.

Auch in diesem Zimmer standen kaum Bücher, offenbar wurde bei den Merivaaras nicht viel gelesen. Im Wohnzimmer hatte ich nur ein paar Bände Standardlektüre gesehen, von den

»Sieben Brüdern« bis zum »Unbekannten Soldaten«. In Riikkas Regal fand ich Ratgeber für Naturkosmetik, Musikbücher und Liebesromane, von Daphne du Maurier bis zu Tuija Lehtinen.

Man konnte nur hoffen, dass Riikka eher die Heldinnen der Letzteren als die der Ersteren als Rollenmodell betrachtete.

Ich wollte gerade den Kleiderschrank öffnen, da stürmte Riikka herein.

»Muss das sein! Schnüffelt dein Kollege als Nächstes in meiner Unterwäsche rum?«

Ich gab keine Antwort, woraufhin Riikka wissen wollte, warum das Haus zweimal durchsucht wurde.

»Meine Mutter und ich wissen nicht genau, was Jiri treibt. Wir meinen auch, dass Pelztierfarmen verboten werden müssten und Schlachtvieh besser behandelt werden sollte, aber über die Wege, das zu erreichen, sind wir anderer Meinung als Jiri. Ich finde, es ist wichtiger, sich um sich selbst und seine Nächsten zu kümmern, als Fenster einzuschlagen.«

»Hast du es schon geschafft, Tapsa das Wurstessen abzuge-wöhnen?«, fragte ich, während ich ihre Kleidung musterte. Es war die Garderobe einer eleganten Frau: viele lange, schmale Röcke und reinseidene Blusen, daneben immerhin ein paar Markenjeans und ein Sweatshirt vom World Wildlife Fund.

»Zwingen kann ich niemanden. Aber Tapsa hat schon vieles eingesehen.« Sie trat an ihren Schreibtisch und zog die Schubladen auf. »Die andere Beamtin, Wang, hat sich bereits alles angesehen. Ist seitdem irgendein Verdacht gegen mich aufgekommen?«

Ich schüttelte den Kopf und durchsuchte ungerührt die Schubladen. Riikka hatte das Recht, bei der Durchsuchung ihres Zimmers anwesend zu sein. Die Kondomschachtel in der obersten Schublade überraschte mich nicht, ebenso wenig die prächtige Schmuckkollektion in der mittleren. Als ich zur untersten Schublade kam, stammelte Riikka:

»Guck nicht da rein, das ist so albern.«

Ich zog die Lade dennoch auf. Sie war leer, bis auf ein Foto.

Die Aufnahme war sicher bei einer Opernaufführung gemacht worden, darauf deuteten jedenfalls die Bühnenschminke, der weitschwingende Rock und die hochtoupierten schwarzen Haare der Darstellerin hin. Ihr Mund lächelte, doch die Augen waren herausgeschnitten, und auch an der Stelle, wo das Herz saß, prangte ein Loch.

Ich kannte die Frau auf dem Foto nicht, doch ihr Beruf und Riikkas Reaktion ließen nur einen Schluss zu: Suzanne Holtzinger, Tapio Holmas Exfrau.

»Es war Suzannes Schuld, dass Tapsa die Stimme verloren hat«, ereiferte sich Riikka. »Die Stimme ist ein sensibles Instrument, sie spiegelt jeden seelischen Zustand wider. Der Schock, verlassen zu werden, kann sie zerstören.«

»Hast du das von Tapsa?«

»Nein, das habe ich mir selbst zurechtgelegt, so viel weiß ich immerhin über Gesangsphysiologie. Suzanne wollte keine Kinder von Tapsa, weil bei beiden die Karriere darunter gelitten hätte, aber jetzt ist sie von diesem italienischen Tenor schwanger. Tapsa hat es von einem Kollegen aus Hamburg erfahren.«

»An Steine glaubst du nicht, dafür aber an so etwas«, sagte ich trocken und legte das Foto zurück. »Am Dienstag um halb elf im Präsidium. Frag bei der Information nach mir. War übrigens Seija Saarela oder Mikke seit Montag im Haus?«

»Sie waren beide am Mittwoch hier, Mikke ist über Nacht geblieben, weil seine Untermieter gekommen waren. Mutter hat ihm angeboten, bis zu Vaters Beerdigung hier zu wohnen, aber Mikke schläft lieber auf seinem Boot.«

Ich ging in den Flur und inspizierte die Tür zur Garage. Sie ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Es war eine Leichtigkeit gewesen, die Taschenlampe unbemerkt in die Garage zu legen.

Koivu saß mit Holma in der Küche beim Kaffee. Der Kaffee-duft war verlockend, doch ich wollte bei den Merivaaras keine Zeit mehr verlieren. Auf meinem Schreibtisch wartete ein ganzer Stapel von Berichten, die ich wohl mitnehmen musste, wenn ich vor Iidas Schlafenszeit zu Hause sein wollte.

»Zu blöd, dass uns das Wochenende dazwischenkommt«, sagte ich unterwegs mit einem tiefen Seufzer. »Wenn die Lampe die Tatwaffe ist, kommen wir endlich einen Schritt weiter.

Zumindest haben wir dann nur noch sechs Verdächtige: die drei Merivaaras, Holma, die Saarela und Mikke Sjöberg. Katrina Sjöberg war schon auf dem Weg nach Åland, bevor die Lampe in die Garage gelegt wurde.«

»Welches Motiv sollte denn die Saarela haben?«, fragte Koivu zweifelnd.

»Vielleicht war es nichts weiter als ein typisch finnischer Streit um Alkohol: Juha Merivaara und Seija Saarela haben sich um eine Cognacflasche gezankt, und schließlich hat die Saarela ihm die Flasche über den Kopf gezogen.«

»Aber in der Wunde wurde kein Cognac gefunden …«

»Koivu!« Im Allgemeinen begriff mein lieber Kollege sofort, wenn ich einen Witz machte, doch der ereignisreiche Tag schien seinen Tribut zu fordern.

Eine Weile blickte ich stumm auf den riesigen Stapel auf meinem Schreibtisch. Der Briefumschlag von der Sicherheitspolizei wog mindestens zwei Kilo. Ein Bericht von Puustjärvi, ein weiterer von Lähde, ein Memorandum der Provinzialpolizei, dessen Thema aus der Überschrift nicht hervorging, und eine Mitteilung vom Kriminalamt, die ich rasch überflog. Pertsas Sündenregister war schon vor dem jüngsten Vorfall so lang gewesen, dass der Untersuchungsausschuss empfahl, seine Suspendierung bis zum Ausgang des Prozesses fortzusetzen.

Väätäinen würde zweifellos Anzeige erstatten. Auch die Personalabteilung hatte mir etwas mitzuteilen: Aufgrund finanzieller Engpässe könne für die Zeit von Ströms Suspendierung keine Vertretung gestellt werden. Frustriert versetzte ich dem Stuhlbein einen Tritt. Unser Dezernat würde sich in den nächsten Wochen zu Tode schuften müssen.

Ich stopfte die Papiere in den Rucksack und machte mich zu Fuß auf den Heimweg. Am Morgen war ich mit dem Bus gefahren, denn es kam mir immer noch seltsam vor, den Dienstwagen zu benutzen. Ich überquerte die Schnellstraße nach Turku und ging über gewundene Nebenstraßen auf die Felder von Henttaa zu. Die vertraute Landschaft westlich von Taavin-kylä gab es nicht mehr, auf den ehemals grünen Feldern lagen meterhohe Erdhaufen. Um meine gewohnte Abkürzung zu erreichen, musste ich quer über eine Baustelle laufen. Ich wusste, dass das Betreten verboten war, scherte mich aber nicht darum. In einiger Entfernung wühlten zwei Bagger die Erde auf, einer der Arbeiter rief mir etwas zu, doch ich ging einfach weiter.

In den rund drei Jahren, die wir nun schon in Henttaa lebten, hatte sich die Umgebung sehr verändert. Auf den unbebauten Grundstücken waren protzige Häuser entstanden, neben denen sich unser anderthalbstöckiges Holzhaus wie ein Elendsquartier ausnahm. Im Frühjahr hatte das Technische Zentralamt der Stadt den nahe gelegenen Bach über Hunderte von Metern ausgebag-gert und die Bäume am Ufer gefällt. Antti hatte sich einer Bürgerbewegung angeschlossen, die die Einstellung der Arbeiten gefordert hatte. Zwar hatten die Proteste die Trockenlegung des sumpfigen Naturschutzgebiets Lillträskmossen verhindert, doch die kahl geschlagenen Bachufer boten einen traurigen Anblick. Wo früher Schaumkraut wuchs, lag nun aufgewühlter Sand.

Einstein hockte schlotternd vor der Tür, auf der Treppe prangten die Überreste eines Maulwurfs. Um die Gefühle der Katze nicht zu verletzen, lobte ich sie für ihren Beitrag zur Nahrungs-beschaffung und beschloss, den kleinen Kadaver später zu entsorgen. An dem Tag, als ich mit Iida aus der Klinik gekommen war, hatte Einstein mit der Intensivjagd begonnen und eine Woche lang täglich mindestens zwei kleine Nagetiere ange-schleppt. Als er die ersten Vögel erlegte, banden wir ihm eine Glocke um den Hals, die er hasste.

Meine Schwestern hatten uns vor Iidas Geburt gedrängt, den Kater abzuschaffen, weil er in den Wagen springen und das Baby ersticken oder ihm die Augen auskratzen würde. Wir hatten uns stellvertretend für unser Haustier beleidigt gefühlt; zu Recht, denn Einstein hielt gebührenden Abstand von Iida, vor allem, seit sie sich allein fortbewegen konnte. Ein paar Mal hatten wir Iida erlaubt, dem Kater ein Milchdragee zu geben.

Nur dann hatte er sich in ihre Nähe gewagt.

In der unteren Etage herrschte der übliche frühabendliche Lärm. Iida spielte mit ihrer Holzeisenbahn, Antti lag auf dem Fußboden, trank Rotwein und hörte Eppu Normaali: »Alles Schöne ist naiv – warum? Der Markt die treibende Kraft –

warum? Weshalb ist das Schöne nur ein Witz, Glück nur Tand und Kitsch? Einst waren Pfeifen aus Holz und Hippies stark und stolz.«

»Entspricht das deiner Stimmung?«, fragte ich und drehte die Lautstärke herunter.

»Hast du von dem Feuer im Schlachthof in Kauklahti gehört –

ach was, natürlich hast du davon gehört.«

»Ich war sogar dort, riechst du es nicht?«

»Haben die Typen von der RdT das Feuer gelegt?«

»Die Ermittlungen laufen noch, aber die Sicherheitspolizei hat den Fall übernommen.«

»Die verdammten Idioten! Begreifen die nicht, dass sie der ganzen Umweltbewegung schaden? Durch ihre blödsinnigen Aktionen werden auch die vernünftigen Kampagnen abgestem-pelt!« Antti trank einen Schluck Rotwein. Ich setzte mich neben ihn, Iida krabbelte auf meinen Schoß.

»Du brauchst Abwechslung, sonst grübelst du zu viel. Komm doch morgen mit zum Fußballspiel, unser Freizeitkomitee hat noch ein paar Karten. Wir können Iida zu deiner Schwester nach Tapiola bringen, wenn deine Mutter keine Zeit hat, auf sie aufzupassen.«

Antti schüttelte den Kopf, Fußball interessierte ihn nicht. In unserer Familie war ich diejenige, die sich Sport ansah, hauptsächlich Eiskunstlauf und Leichtathletik, manchmal auch Eishockey und Fußball.

»Ist noch Rotwein übrig?«

Ich goss mir ein Glas ein, schmierte ein Butterbrot und beschloss, gewissenhaft zu sein und einen Blick auf die Liste der mutmaßlichen RdT-Mitglieder zu werfen. Die erste Fassung war vor anderthalb Jahren entstanden, als die Organisation ihre ersten spektakulären Auftritte inszeniert und unter anderem die Schaufenster von Metzgereien und Pelzgeschäften mit ihren Parolen beschmiert hatte. Ich suchte nach Jiri Merivaara, doch er stand damals noch nicht auf der Liste. Dafür fand ich einen anderen Namen, den ich kannte.

Harri Immonen.

Elf

Das dunkle tschechische Bier schmeckte himmlisch. Zigaretten-rauch kroch in meine Lungen, halb Helsinki schien sich im

»Mr. Pickwick« an der Mannerheimintie zu drängen, um sich vor dem Länderspiel Finnland-Ungarn in Stimmung zu bringen.

Von der Espooer Polizei hatten sich etwa vierzig Fans eingefun-den. Unser Dezernat war fast vollständig vertreten, nur Puustjärvi hatte es vorgezogen, zum Gospielen zu gehen.

Taskinen übte sich im Fahnenschwingen, und Puupponen hatte sich die finnische Flagge auf die schmalen, sommersprossigen Wangen gemalt.

»Nieder mit den Paprikas!«, grölte er, offenbar erschien ihm diese Bezeichnung für den Gegner herabsetzend genug.

»Trinkt euer Bier aus, dann gehen wir!«, kommandierte Taskinen mit Chefstimme. Ich zog die Wollsocken an, darüber Gummistiefel. Der Regen, der den ganzen Tag heruntergepras-selt war, schien gegen Abend immer heftiger zu werden. Wie gut, dass wir uns von innen gewärmt hatten.

Es machte Spaß, mit den Kollegen ins Stadion zu gehen und ordentlich Radau zu machen, ich hielt dabei aber trotzdem nach Kantelinen vom Wirtschaftsdezernat Ausschau, denn der Bericht über die wirtschaftliche Lage der Merivaara AG hatte wider Erwarten nicht auf meinem Schreibtisch gelegen. Offenbar war Kantelinen überarbeitet, jedenfalls erschien er nicht zum Spiel.

Man sah es unserer grölenden Clique, die schon ein oder zwei Bierchen gekippt hatte, sicher nicht an, dass sie aus Polizeibeamten bestand. Wir trugen Lederjacken, Jeans oder ausgebeulte Trainingshosen, Schirmmützen, Zipfelmützen, Wegwerf-Regencapes – nicht einer von uns wäre auf die Idee gekommen, die offizielle dunkelblaue Regenkleidung der Polizei anzulegen.

Auch Taskinen hatte Anzug und Popelinemantel zu Hause gelassen. In seinem Sportdress sah er aus wie der Marathonläufer, der er war. Am Stadioneingang kam einer der Kollegen auf die dumme Idee, einen Wächter wegen der nachlässigen Sicherheitskontrolle anzupflaumen, woraufhin alle Folgenden trotz strömenden Regens die Taschen vorzeigen mussten. Zum Glück merkte niemand, dass Lähdes Fernglas in Wahrheit ein Flachmann war.

Wir stiegen den D-Block hinauf und suchten uns Plätze auf Höhe der Mittellinie. Ein Meer von Regenschirmen verdeckte den Blick aufs Spielfeld. Ich zwängte mich zwischen Taskinen und Koivu und hoffte, die beiden würden mich trotz Regen und Wind warm halten. Zu Koivus anderer Seite saß Anu Wang. Die beiden sprachen über einen Film, den sie sich offenbar gemeinsam angesehen hatten. Als Koivu die Hand ausstreckte und Anu eine Haarsträhne aus der Stirn strich, musste ich schlucken.

Koivu war mehr als ein Kollege, er war auch ein guter Freund.

Warum hatte er mir nicht erzählt, dass er mit Wang ins Kino gegangen war? Fürchtete er sich vor kritischen Bemerkungen?

Das Publikum ließ sich von Dunkelheit und Regen nicht die Stimmung verderben. Lähde nahm die letzten Wetten entgegen, ich tippte optimistisch auf eins zu null für Finnland. Wir hofften, die Kälte würde die Ungarn lähmen.

»Hatte Ström nicht auch eine Karte? Weiß jemand, was mit ihm ist?«, fragte ich plötzlich mit einem Blick auf den leeren Platz neben Lähde.

»Er kommt nicht«, antwortete Lähde ausweichend und schraubte sein Fernglas auf.

»Pertsa hat Angst vor Schnupfen«, witzelte Puupponen und erntete dröhnendes Gelächter.

»Hast du ihn in den letzten Tagen gesehen?«, erkundigte ich mich bei Lähde.

»Wir waren gestern im ›Durstigen Lachs‹ in der Nähe seiner Wohnung. In der Zeit, die ich für zwei Bier gebraucht hab, hat er fünf geschluckt«, sagte Lähde, nahm einen Schluck aus seinem Fernglas und verzog das Gesicht.

Ich hatte am vorigen Abend versucht, Ström zu erreichen, und war wieder erleichtert gewesen, als er nicht abnahm. Es war nämlich kein Vergnügen, seine Wutausbrüche anzuhören. Dem Vernehmen nach hatte Väätäinen ein Tauschgeschäft vorgeschlagen: Er würde auf die Anzeige gegen Ström verzichten, wenn wir die Anklage gegen ihn wegen fortgesetzter Misshand-lung seiner Frau fallen ließen. Darauf konnten wir uns natürlich nicht einlassen.

Jetzt liefen die Mannschaften auf. Die Ungarn wurden mit Buhrufen empfangen, die Finnen, vor allem Fußballgott Jari Litmanen, mit frenetischem Beifall. Auch ich johlte aus vollem Hals. Ich war richtig aufgeregt, immerhin zog die Fußballwelt-meisterschaft weltweit die meisten Zuschauer an. Es wäre phantastisch, wenn Finnland sich diesmal für die WM qualifizie-ren würde.

Die finnischen Spieler kämpften hart, aber erfolglos. Zwar machte die Kälte die Ungarn steif, doch auch das Spiel der Finnen kam nicht recht in Gang. Der Regen wurde immer heftiger, ein Rinnsal lief mir von der Kapuze des Regencapes auf die Nase, die Lederhandschuhe waren nach zwanzig Minuten durchnässt. Dankbar nahm ich einen wärmenden Schluck aus Lähdes Fernglas.

»Litti! Litti!«, rief Puupponen anfeuernd.

»Litmanen ist süß«, vertraute Wang mir lächelnd an.

»Er spielt verdammt gut, aber als Mann ist er nicht ganz mein Geschmack«, antwortete ich, woraufhin Anu Wang, Liisa Rasilainen und ich, nur um die männlichen Kollegen zu ärgern, den schönsten Mann auf dem Spielfeld kürten.

»Marias Traummänner kennt man ja. Wieso hängen sie übrigens nicht in deinem neuen Büro?«, fragte Koivu. Er spielte auf die Collage mit Fotos von Geir Moen, Jon Bon Jovi, Jarmo Mäkinen und anderen Prachtexemplaren an, die mir meine Freundinnen zum Polterabend geschenkt hatten.

»Was der Hauptmeisterin recht ist, ist der Kommissarin noch lange nicht billig … Verdammt nochmal! Lasst die Ungis nicht durch! Bravo, Teuvo!«, brüllte ich, als unser Torwart glänzend parierte.

In der Pause merkte ich, dass ich Schüttelfrost hatte. Zum Glück waren wenigstens die Füße noch trocken. Vielleicht war es klug von Ström gewesen, zu Hause zu bleiben, womöglich holte sich das ganze Dezernat eine Lungenentzündung und war wochenlang außer Gefecht gesetzt. Taskinen holte sich Kaffee und brachte mir einen Becher mit, dessen Wärme mich über den Beginn der zweiten Halbzeit hinwegtrug. Das Spiel der Finnen war lebhafter geworden, und als Antti Sumiala in der zweiund-sechzigsten Minute eindrucksvoll das Führungstor erzielte, spielte der Regen keine Rolle mehr. Wir schrien und umarmten uns, Taskinen ließ den Arm wie versehentlich auf meiner Schulter liegen.

»Eins zu null, na, was hab ich gesagt?«, grinste ich, als die letzte Minute der Spielzeit anfing. »Durchhalten, Jungs, durchhalten! Scheißschiri, pfeif ab!« Der Zeiger stand auf Null, und die Ungarn machten Druck.

»Solche Machosprüche aus dem Mund einer Feministin?«, frotzelte Koivu. In dem Moment kam die Katastrophe.

Eigentor. Eins zu eins, keine Chance mehr, an der WM teilzunehmen.

Niedergeschlagen und frierend verließen wir das Stadion. Ich versuchte mir einzureden, es sei kindisch, über ein verlorenes Fußballspiel Tränen zu vergießen, war aber stinksauer. Außerdem fror ich erbärmlich.

»Zum Heulen ist das, verdammt nochmal«, jammerte Puupponen. Die blauen Kreuze auf seinen Backen waren im Regen zerlaufen, die nasse Hose klebte ihm an den Beinen.

»Kommt mit, jetzt saufen wir uns einen an.«

»Mit Grog«, seufzte ich. »Ich trink nie mehr Eger Stierblut.«

»Und mir kommt kein Paprika mehr ins Haus«, sagte Puupponen mit einer Verzweiflung, die mich an Ström denken ließ.

Pertsa hätte sich allerdings drastischer geäußert und gedroht, den Schiedsrichter umzulegen, wie die jungen Burschen, die neben uns aus dem Stadion strömten.

Wir landeten im »Durstigen Lachs«, wo wir uns die Kehlen wärmten. Trotz der bitteren Niederlage zog sich der Abend in die Länge. Am nächsten Morgen um acht krabbelte Iida aus ihrem Gitterbettchen zu mir, und ich kam mir vor wie die schlechteste Mutter der Welt, weil ich absolut keine Lust hatte, aufzustehen und Brei für sie zu kochen. Als sie mich an den Haaren zog, wollte mir schier der Kopf platzen. Heldenmütig schleppte ich mich an den Herd, denn Antti war schon im Morgengrauen zu einer ausgedehnten Wanderung aufgebrochen.

Es regnete den ganzen Tag, ich las Iida, die wahrscheinlich kaum etwas verstand, aus »Muminvaters Memoiren« vor.

Während die Kleine ihren Mittagsschlaf hielt, versuchte ich meinen Kater auszuschlafen. In meinen wirren Träumen tauchten immer wieder qualvoll quiekende Schweine und die Polizeifotos von Harris Leiche auf. Harri war Mitglied der Revolution der Tiere gewesen, Harri und Jiri … Aber was war mit Juha Merivaara? Hatte er womöglich die Aktionen der RdT

finanziert?

Am Montagmorgen verwarf ich diese Theorie wieder. Neben den üblichen Wochenendschlägereien waren gleich drei Ver-misstenanzeigen in unserem Dezernat gelandet. Eine vierzigjährige Betriebswirtin, Mutter von zwei Kindern, war vom Pilzesammeln am Sonntagnachmittag nicht zurückgekehrt, ein arbeitsloser Familienvater aus Suvela war seit seiner samstäglichen Kneipentour verschollen. Schon seit Freitagabend wurde der Primaner Arttu Aaltonen aus Tapiola vermisst; er war zuletzt gegen Mitternacht gesehen worden, als er eine Party in einer Strandvilla in Westend verließ. Da er seit Wochen von Selbstmord gesprochen hatte, befürchteten seine Freunde, er sei von der nahe gelegenen Brücke ins Meer gesprungen. Die Feuerwehr musste schleunigst zum Draggen angefordert werden. Ich delegierte den Fall an Koivu.

»Drei Vermisste. Da treibt bestimmt ein Serienmörder sein Unwesen«, kommentierte der hustende und schniefende Puupponen.

»Begründung?« Ich war nicht in der Stimmung für Witze.

»Wir müssen Prioritäten setzen. Die Körperverletzungen können warten. Vermisste und Kapitalverbrechen zuerst. Puustjärvi, du führst mit Lehtovuori die Vernehmungen der Primaner fort. Und Puupponen …«

Es mussten schnelle Entscheidungen getroffen werden, weil einfach zu viele Fälle anlagen. Ich merkte, dass mir Ström geradezu fehlte, nicht nur als zusätzliche Arbeitskraft. Bei Vermisstenfällen war er seltsamerweise unschlagbar, was Puupponen darauf zurückführte, dass sich Ström während seiner Ehe mehr als einmal selbst abgesetzt hatte – einer der Gründe, weshalb ihn seine Frau verlassen hatte.

Der Mangel an Mitarbeitern bot mir einen willkommenen Vorwand, mich weiterhin selbst mit dem Mord an Juha Merivaara zu befassen. Nach der Besprechung ging ich in mein Büro und rief bei der Sicherheitspolizei an. Jiri war nach Ablauf der Höchstfrist von achtundvierzig Stunden freigelassen worden, sollte jedoch später erneut vernommen werden. Die Sicherheitspolizei hatte herausgefunden, dass die Praktikantin, von der der Betriebsleiter der Fleischfabrik gesprochen hatte, die Schwester eines RdT-Mitglieds war. Die fünfzehnjährige Schülerin des Gymnasiums Espoonlahti war unter dem Verdacht verhaftet worden, den Schlüssel zur Fleischfabrik gestohlen und damit Beihilfe zur Brandstiftung geleistet zu haben.

Ich musste geschickt lavieren, um nicht zu viele Details über meinen eigenen Fall preiszugeben. Ich wollte nicht, dass die Sicherheitspolizei die Ermittlungen an sich riss, denn die Verbindung zur Revolution der Tiere war bisher reine Spekula-tion. Ob Mikke Sjöberg etwas über Harris Mitgliedschaft in der Organisation wusste?

Über das Bordtelefon erreichte ich ihn nicht, obwohl ich es im Lauf des Vormittags mehrmals versuchte. Bald kam Puupponen mit der Nachricht, der als vermisst gemeldete Mann aus Suvela sei verkatert, aber wohlbehalten in der Wohnung eines Kumpels gefunden worden. Offenbar hatte seine Frau die Sauftouren ihres Mannes so satt, dass sie ihm die Polizei auf den Hals gehetzt hatte.

»Dann übernimmst du jetzt die Körperverletzung in Kivenlahti«, sagte ich zu Puupponen, dessen Nase auf die doppelte Größe angeschwollen war. »Dich hat es ja ganz schön erwischt.«

»Fieber hab ich keins«, schniefte er. »Nur die Scheißnase läuft wie eine Regenrinne.«

Das fehlte uns noch, dass Puupponen ausfällt, dachte ich, während ich versuchte, Kantelinen vom Wirtschaftsdezernat zu erreichen.

»Kallio, Gewalt eins, hallo. Was ist mit dem Bericht über die Finanzlage der Merivaara AG?«

Ich hörte ihn aufstöhnen.

»Du, ich hab’s noch nicht geschafft, mir ist eine Unterschla-gung dazwischengekommen.«

»Ich brauch den Bericht schnellstens, am besten noch heute Vormittag«, sagte ich und versuchte erfolglos, meinen Ärger zu verbergen. »Fehlt denn noch viel?«

»An sich nicht, aber über die Teilhabergesellschaft Mare Nostrum ist kaum etwas zu erfahren. Die Beziehung zwischen den beiden Unternehmen ist überhaupt sehr eigenartig.«

»Inwiefern?«

»Ich muss jetzt zu einer Besprechung, ich ruf dich am Nachmittag an.«

Ich schmetterte den Hörer auf die Gabel und versuchte noch einmal, Mikke Sjöberg zu erreichen. Wieder vergebens. Hatte er sich etwa aus dem Staub gemacht? Ich bat die Beamten, die in Richtung Kaitaa Streife fuhren, im Yachthafen von Suomenoja nachzusehen, ob die »Leanda« noch dort lag, und machte mich auf den Weg zur nächsten Sitzung, der wöchentlichen Dezer-natsleiterkonferenz. Unterwegs klingelte mein Handy: Streife sechs meldete, die »Leanda« liege in Suomenoja vor Anker.

»Sollen wir jemanden festnehmen?«, fragte der Beamte diensteifrig.

»Nein. Ich kümmere mich selbst um die Angelegenheit.«

Noch einmal rief ich Mikke an, wieder erfolglos. Bei der Besprechung ging es ausschließlich um das Feuer in der Fleischfabrik Malinen. Zwar hatte die Sicherheitspolizei den Fall übernommen, doch wir mussten auf weitere Anschläge gefasst sein. Das Pharmaunternehmen Orion hatte in den letzten Wochen anonyme Drohungen erhalten: Man werde in das Labor einbrechen und die Versuchstiere befreien. Nach dem Brand in Kauklahti hatte die Firmenleitung um verstärkte Polizeistreifen gebeten.

»Ich habe ihnen geraten, sich an eine Wach- und Schließgesellschaft zu wenden«, erklärte Taskinen gelassen. »Wir können leider nicht überall sein. Die Schutzpolizei ist informiert, und das Begeka stellt eine Liste der potenziell gefährdeten Objekte in der Stadt auf.«

»Hör mal, Kallio, wie aktiv ist eigentlich dein Mann an der Tätigkeit dieser Ökoterroristen beteiligt?«, fragte Laine, der Leiter des Begeka, des Dezernats für Berufs- und Gewohnheitskriminalität, aus heiterem Himmel.

»Antti hat mit der Revolution der Tiere nichts zu tun«, sagte ich konsterniert.

»Mit denen vielleicht nicht, aber hat er nicht letzte Woche mit eurem Kind an der Demonstration gegen den Autoverkehr teilgenommen?«

Laines Augenbrauen hoben sich im Rhythmus seiner Worte, das millimeterkurz geschnittene dunkle Haar glänzte in der Sonne.

»Na und?« Ich musste schwer an mich halten, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Ehepartner von Kommissaren sollten keinen Umgang mit Kriminellen pflegen. Sonst kommen Zweifel an der Unpartei-lichkeit der Polizei auf.«

»Demonstranten sind doch keine Verbrecher! Gilt das Ver-sammlungsrecht etwa nicht für Angehörige von Polizeibeamten?

Ich werde Anttis Freiheiten jedenfalls nicht beschneiden, er schreibt mir ja auch nicht vor, was ich zu denken habe!«

Ich war kurz davor, laut zu werden, und Taskinen lenkte das Gespräch rasch auf ein anderes Thema. Da es im Fall Merivaara keine neuen Entwicklungen gab, befassten wir uns für den Rest der Sitzung mit einem Drogenring, der gerade aufgeflogen war.

Als Taskinen ansetzte, die Besprechung zu beenden, fragte Mäkinen von der Wirtschaftskriminalität:

»Wie steht es mit Kommissar Ström? Wird er noch lange suspendiert sein?«

Taskinen schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe, die Sache wird bald geklärt. Die Ermittlungen dauern noch an, meines Wissens hat Hauptmeister Puupponen heute im Kriminalamt ausgesagt.« Taskinen sah mich fragend an, ich nickte.

»Hauptmeister Koivu und ich sind morgen an der Reihe. Wir werden sicher alle vor Gericht aussagen müssen. Die Anklage wird mindestens auf Körperverletzung und grobes Dienstverge-hen lauten.«

Im selben Moment klingelte mein Handy, der Anrufer war Puustjärvi, der meine Unterschrift für eine vorläufige Festnahme brauchte. Ich musste die Runde überhastet verlassen, und als Taskinen mir nachrief, wann unser mehrfach verschobenes Mittagessen stattfinden solle, konnte ich nur mit den Schultern zucken.

Nach zwei Uhr konnte ich mich endlich dem RdT-Bericht der Sicherheitspolizei widmen, während ich ein Butterbrot und einen Joghurt aus der Kantine aß. Außer Harri enthielt das Mitgliederverzeichnis vom Frühjahr 1996 noch einige weitere Leute um die dreißig, die auf den neuesten Listen nicht mehr auftauchten. Eine separate Akte gab es über Harri nicht, wohl aber über Jiri Merivaara. Es hätte ihm sicher geschmeichelt zu sehen, welche Mühe die Sicherheitspolizei darauf verwendet hatte, ihn zu observieren. Das jüngste RdT-Mitglied mit eigenem Dossier war erst vierzehn.

Koivu musste sich mit Harris Angehörigen und Freunden in Verbindung setzen, so schmerzhaft die Wiederaufnahme der Ermittlungen für sie sein würde. Nach einem weiteren vergebli-chen Versuch, Mikke Sjöberg zu erreichen, sah ich unschlüssig zum Fenster hinaus. Der Himmel war wolkenlos, ein Ausflug nach Suomenoja würde mir gut tun. Da es nicht um eine offizielle Vernehmung ging, konnte ich ruhig allein hinfahren.

Einer der Vorteile meiner Stellung als Dezernatsleiterin bestand darin, dass ich in der Regel über meine Unternehmungen und Ermittlungsmethoden keine Rechenschaft abzulegen brauchte.

Die meisten Inhaber eines Liegeplatzes in Suomenoja hatten ihre Boote bereits an Land geholt, denn es wurde allmählich zu kalt, um hinauszufahren. Einige Motorboote schaukelten noch auf dem Wasser, außerdem zwei Segelboote. Der Holzrumpf der

»Leanda« stach deutlich von den weißen Glasfaseryachten ab.

Es wunderte mich nicht, Mikke bei dem herrlichen Sonnenschein lesend an Deck sitzen zu sehen.

»Hallo, Mikke!«, rief ich und merkte, dass ich viel breiter lächelte als beabsichtigt.

Mikke stand auf und kam ans Ende des Bootsstegs, um mir die Absperrung aufzuschließen.

»Tag.« Er schien nicht gerade begeistert.

»Ich hab versucht, dich anzurufen, aber du gehst offenbar nicht ans Telefon«, sagte ich und sprang aufs Deck der »Leanda«.

»Nee. Hast du was Dringendes auf dem Herzen, da du dich extra herbemühst?«

»Ja und nein.« Ich suchte mir einen Platz neben dem Ruder.

War Mikke am Vormittag hinausgesegelt? Jedenfalls hing das Großsegel am Mast, wenn auch gerefft.

»Möchtest du einen Kaffee? In der Thermoskanne müsste noch welcher sein.«

Als ich dankend annahm, stand Mikke auf und öffnete das Luk zur Kajüte.

»Herzlich willkommen in meinem schwimmenden Palast«, sagte er mit schiefem Grinsen und winkte mich nach unten. Ich stieg die Leiter zur Achterkajüte hinunter. Sie wirkte überraschend geräumig. Auf dem zusammenklappbaren Navigationstisch, der genügend Platz für große Seekarten bot, lagen ein Olivetti-Laptop und ein paar Bücher. Bei Laptops dieser Art hielt der Akku im Allgemeinen nur einige Stunden vor – was fing Mikke auf dem Boot damit an?

»Das Boudoir befindet sich in der Vorderkajüte«, sagte Mikke fröhlich, als wäre ich eine ganz normale Besucherin.

»Milch, Zucker?«

»Milch, bitte.« Ich warf einen Blick in die Vorderkajüte, die von einem breiten Bett ausgefüllt wurde. Zwischen den beiden Kajüten befanden sich die Toilette und ein offener Kleiderschrank. In der Achterkajüte war eine Kompaktküche mit Herd und Wasserfilter untergebracht, die Regalwände standen voller Bücher, neben Belletristik und Reiseberichten entdeckte ich Vogel- und Pflanzenführer.

»Leanda … Hast du dein Boot nach dem alten Krimi benannt?«, fragte ich und griff nach der Kaffeetasse, die Mikke mir reichte. Unsere Finger berührten sich.

»Hast du ihn gelesen?«

»Ja, aber das ist schon Jahre her«, sagte ich und dachte bei mir, Mikke müsse im Grunde seines Herzens ein Romantiker sein, wenn er sein Boot nach der idealistischen Heldin des Romans von Andrew Garve benannte.

»›Ein Held für Leanda‹ ist bis heute eins meiner Lieblingsbü-

cher.« Er zog ein blaugrün eingebundenes altes Taschenbuch aus dem Regal. »Auf Reisen lese ich am liebsten finnisch, damit ich die Sprache nicht ganz vergesse. Bei den vielen Ländern und Sprachen bringe ich manchmal alles durcheinander. Magst du Schokokekse?«

Süßigkeiten hatte ich noch nie widerstehen können. Mikke setzte sich auf das eine der beiden Sofas, ich ließ mich auf das andere fallen. Der Keks, den ich fast mit einem Bissen verschlang, bestand praktisch nur aus Schokolade. Na ja, besser als gar kein Mittagessen.

»Willst du mit mir über Jiri reden?«, fragte Mikke und leckte sich die Schokolade von der Lippe.

»Eigentlich nicht. Hast du nach seiner Freilassung schon mit ihm gesprochen?«

»Ja, ich war gestern bei den Merivaaras, Anne hatte mich darum gebeten. Jiri war ziemlich kleinlaut nach den zwei Tagen in der Zelle. Zu seinem Anteil an dem Brand wollte er sich nicht äußern. Was ist da in Kauklahti eigentlich passiert?«

Während ich ihm kurz Bericht erstattete, verfinsterte sich sein Gesicht, und er sah nachdenklich zum Bullauge hinaus. Dann lächelte er plötzlich und sagte:

»Wahrscheinlich sollte ich das nicht tun, aber ich habe trotzdem vor, nach dem Kaffee eine kleine Runde zu drehen, vielleicht nach Hirsala und zurück. Komm doch mit!«

»Keine gute Idee«, murmelte ich, die Augen fest auf die Kaffeetasse geheftet.

»Wieso denn nicht, du kannst doch segeln. Du fährst eben mit, um aufzupassen, dass ich mich nicht davonmache.«

Mikke lächelte immer herausfordernder, ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

»Genau genommen wollte ich mit dir über Harri Immonen sprechen. Er war nämlich auch bei der RdT.«

»Harri? Kann ich mir kaum vorstellen. Er war so – du weißt schon. Sanft wie ein Lämmchen.«

»Ich glaube auch nicht, dass er bei Krawallen oder Brandstif-tungen mitgemacht hat. Vielleicht war er nur bei irgendeiner Demo dabei, das reicht der Sicherheitspolizei schon, um Leute auf ihre Liste zu setzen. Du hattest nicht den Eindruck, dass Jiri und Harri sich kannten?«

Mikke verneinte. Jiri habe sich Harri gegenüber gleichgültig verhalten, einmal allerdings zu ihm gesagt, Harri interessiere sich immerhin für Vögel als Lebewesen, während es Tapsa nur darum ginge, sie mit dem Fernglas aufzuspüren.

»Es ist ja auch wirklich verrückt, dass die Leute Hunderte von Kilometern mit dem Auto fahren, um irgendwelche Bachstelzen zu beobachten. Echt umweltfreundlich«, lachte ich nervös, und Mikke lachte mit. Dann schlug er erneut einen Segeltrip vor, und ich war verrückt genug einzuwilligen.

»Ich leg den Spinnaker bereit. Wir fahren das erste Stück nur mit dem Großsegel, aber wenn wir erst mal auf Ostkurs sind, haben wir Wind von achtern. Bist du warm genug angezogen?

Pullover und lange Unterhosen kann ich dir leihen.«

Da ich mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren war, hatte ich Jeans und eine Lederjacke an. Ich nahm die Ohrenschützer aus der Tasche und setzte sie auf. Wir fuhren mit Motorkraft aus dem Hafen, wobei Mikke sich über seine eigene Faulheit lustig machte.

»Wenn ich den Start unter Segeln verpatze, hältst du mich am Ende für einen Sonntagssegler«, witzelte er. Sobald wir den Hafen hinter uns gelassen hatten, setzten wir das Großsegel und segelten hart am Wind.

»Tapsa war gestern stinksauer auf Jiri, der mit seiner Meinung aber auch nicht hinter dem Berg gehalten hat. Er hat Tapsa sogar des Mordes beschuldigt!«

»Was?« Der Wind blies mir die Haare vor die Augen, sodass ich Mikkes Gesicht nicht sah.

»Ein absurder Gedanke. Ich weiß, die beiden haben sich auf Rödskär in der Sauna geprügelt, aber damit war die Sache wohl auch erledigt. Sie mussten einfach Dampf ablassen.« Er zog die Pfeife aus der Brusttasche seines Jacketts und bat mich, die Pinne zu halten.

»Wenn Juha wirklich ermordet wurde, was ich immer noch nicht glauben kann, kommen Tapsa und Riikka doch wohl nicht als Täter infrage«, meinte er, während er die Pfeife anzündete.

Als er dann die Pinne wieder übernahm, streiften sich unsere Hände erneut. Die Berührung elektrisierte mich. Auf dem Meer tanzten Sonnenflecken, der Ostwind hatte die Birken entkleidet, die am Ufer der Schäreninseln wuchsen. Meine Augen begannen zu tränen.

»Du hast gehört, wie Jiri in der Nacht das Haus verließ. Bist du sicher, dass er nur eine Minute draußen war? Vielleicht bist du zwischendurch eingeschlafen?«

»Nein, bin ich nicht.« Seine Stimme klang fest. »Ich hatte Reisefieber wie ein kleiner Bub und konnte nicht einschlafen.

So ist es immer, der Abschied ist schwierig und herrlich zugleich. In der ersten Nacht auf dem Boot schlafe ich dann wie ein Stein. Auf dem Meer bin ich zu Hause.«

Mikke sah mir in die Augen. »Jiri ist ganz schön fanatisch, aber ein Killer ist er nicht. Letzten Endes hat er seinen Vater gern gehabt. Ich mach mir trotzdem Sorgen um den Jungen.

Eines Tages wird er tatsächlich eine Dummheit begehen.«

»Das hat er schon getan, wie es scheint.« Ich versuchte, die Haare unter den Reif der Ohrenschützer zu schieben, damit sie mir nicht ständig ins Gesicht wehten. Meine Hände waren steif vor Kälte, die Lederhandschuhe längst durchnässt. Vielleicht sollte ich mir doch besser Handschuhe von Mikke leihen.

»Ich habe schon überlegt, ob ich den Winter über hier bleiben sollte. Aber das bringe ich nicht fertig, ich muss raus. Ich kann nicht monatelang an Land leben.«

Die Sonne holte das Blau des Meeres in Mikkes Augen, sie sahen traurig aus und so tief, dass ich das Gefühl hatte, in ihnen zu versinken. Dann zog er an seiner Pfeife, was mir einen Vorwand gab, zu husten und den Blick abzuwenden.

Ich musste mich zusammennehmen, um mich nicht meinerseits zu einer Dummheit hinreißen zu lassen. In den mehr als zehn Jahren meiner Laufbahn bei der Polizei hatte ich es mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun gehabt, mit Topmanagern, debilen Kleinkriminellen, Kindsmörderinnen und Psychopathen.

Aber noch nie hatte ich mich so stark zu einem Zeugen oder Verdächtigen hingezogen gefühlt, weder damals zu Antti noch zu meiner Jugendliebe Johnny, den ich vor einigen Jahren in meiner Heimatstadt Arpikylä des Mordes verdächtigt hatte.

Mikke Sjöberg hatte etwas, das mich völlig durcheinander brachte. Als schön konnte man ihn nicht unbedingt bezeichnen.

Sein sehniger Körper war mager, fast knochig, das Gesicht hart, der Blick unstet. Dennoch war ich bereit zu vergessen, dass ich glücklich verheiratet war und Mikke des Mordes an seinem Halbbruder verdächtigte.

Doch ich konnte meinen Beruf nur für einige traumverlorene Sekunden beiseite schieben.

»Die RdT fordert von ihren Mitgliedern aggressives Vorgehen, das steht in ihrem Grundsatzprogramm. Wäre es denkbar, dass Jiri seinen Vater im Namen der Organisation getötet hat?«

Mikke versuchte vergeblich, das Zucken in seinem Gesicht zu verbergen. Wortlos schüttelte er den Kopf. Ich ertrug die Stille nicht, denn sie zog mich zu ihm hin.

»Also weder Riikka noch Tapio, noch Jiri. Und was ist mit dir? Wie hast du zu deinem Bruder gestanden?«

Wieder verschwanden seine Augen hinter einer Rauchwolke.

Dann stand er auf und sagte hastig:

»Zeit für einen Kurswechsel, übernimm die Pinne. Ich setze den Spinnaker. Dreh nach Westen bei, wenn ich’s dir sage!«

Ich packte das Ruder und fluchte über mich selbst. Warum hatte ich mich auf diesen idiotischen Segeltörn eingelassen?

Mein Job war ohnehin kompliziert genug, was sollte erst daraus werden, wenn ich mich in einen der Verdächtigen verliebte.

Mikke hisste den Spinnaker und lockerte die Großschot.

»Fertig zum Halsen!«

Das Boot legte sich in den achterlichen Wind, der Spinnaker blähte sich, das Großsegel legte sich zum anderen Bug. Der achterliche Wind trieb keine hohen Wellen auf, sodass die

»Leanda« gleichmäßig über das Wasser glitt. Wir fuhren in Richtung Porkkala, im Süden war Rödskär als rötlicher Punkt zu sehen. Als Mikke sich wieder hinsetzte, stellte ich meine nächste Frage.

»Kannst du dir vorstellen, dass dein Bruder Harri getötet hat?«

Mikke riss die Augen auf.

»Harri ist doch nicht umgebracht worden!«

»Und wenn doch?«

»Um Himmels willen, nein! Warum denn?«

»Sag du es mir.«

Er starrte auf den Landstreifen, der sich am Horizont abzeichnete. »Wir waren uns doch darüber einig, dass Harri ein sanfter Mann war. Wer würde einen wie ihn umbringen?«

»Hat Seija Saarela ihn gekannt?«

»Sie waren ein paar Mal gemeinsam auf der ›Leanda‹. Aber das ist ja völlig absurd, du kannst doch nicht annehmen, dass Seija …« Mikke seufzte, sein Gesicht spannte sich, es wurde blass und maskenhaft, seine magere Hand umschloss das Ruder so fest, dass die Fingerknöchel die Haut zu zerreißen schienen.

Ohne noch einmal halsen zu müssen, schafften wir die Durch-fahrt zwischen Pentala und Stora Herrö. Mikke übergab mir erneut das Ruder und holte die Fock für die Rückfahrt aus der Kajüte. Wir fuhren etwa zehn Minuten, ohne ein Wort zu sprechen, und genossen die Farben des Herbstlaubs an der Küste. Im Westen ballten sich dunkle Wolken zusammen, vor denen sich die tiefrot und leuchtend gelb gefärbten Bäume scharf und zugleich unwirklich abzeichneten. Schließlich kletterte Mikke an den Bug, um den Spinnaker zu fieren. Ich drehte das Ruder nach seinen Anweisungen und zog das Großsegel straff, er gab seine Befehle mit ruhiger, fester Stimme. Jeder künftige Polizeioffizier hätte sich Mikkes Auftreten zum Vorbild nehmen können. Die »Leanda« bewegte sich jetzt in schärferem Rhythmus, aber dennoch weich, sie nahm die gelegentlichen höheren Wellen so mühelos, dass ich nicht länger an ihrer Seetüchtigkeit zweifelte. Mikke schob den Spinnaker durch die Vorderluke ins Bootsinnere und begann die Fock zu setzen.

»Etwas mehr in den Wind! Gut so! Du warst wohl schon oft auf See?«

Gerade weil ich keine erfahrene Seglerin war, tat mir das Lob gut. Mikke zog die Fokk auf und ließ sie flattern, dann wendeten wir um hundertfünfzig Grad.

»Und nun zurück nach Suomenoja«, sagte er niedergeschlagen und sprang herunter auf den Sitzkasten. »Schade, dass wir nicht öfter solche Ausflüge machen können. Du bist ein guter Gast.«

»Madeira klingt verlockend«, lachte ich und war froh, dass mein Gesicht bereits vom Wind gerötet war.

»Du sagst es. Vielleicht wäre ich tatsächlich abgehauen, wenn du nicht mitgefahren wärst. Was hättest du dann getan?«

»Ich hätte den Küstenschutz auf dich gehetzt. Wenn du weiterhin solche Reden schwingst, muss ich dir den Pass abnehmen.«

»Und wenn Juhas Tod nicht aufgeklärt wird? Wollt ihr mich den ganzen Winter über hier behalten?«

»Er wird aufgeklärt, keine Sorge«, sagte ich mit aller Überzeugung, die ich aufbrachte. Dann erkundigte ich mich, wie die Bordtoilette funktionierte, und zwängte mich in die Kajüte.

Drinnen war das Schaukeln stärker zu spüren, doch jeder Gegenstand lag an seinem Platz. Vor der Abfahrt hatte Mikke den Laptop verstaut und die herumliegenden Bücher ins Regal gestellt. Die Vorstellung, ein halbes Jahr lang auf einem Zehnmeterboot zu leben, war faszinierend und beängstigend zugleich. Zumindest würde man dabei kein überflüssiges Gepäck mitschleppen. Das Boot schaukelte plötzlich heftiger, ich sah zu, dass ich wieder an Deck kam.

»Wir schlagen einen Bogen um Miessaari und fahren an der nächsten Insel vorbei, an der Iso Vasikkasaari, so geht es bei diesem Wind am leichtesten. Zieh mal die Fokk straff.«

Ich zog am Seil und spürte den Ruck bis in die Rückenmuskeln.

»Hinter Miessari müssen wir ordentlich kreuzen. Schaffst du das, oder sollen wir lieber den Motor anlassen?«

»Ich schaff es schon«, schnaufte ich, obwohl es immer später wurde und dieser blödsinnige Segeltörn mir nichts brachte außer Herzklopfen und dem immer deutlicheren Gefühl, dass Mikke mir etwas verschwieg. Aber wie sollte ich es anstellen, ihm sein Geheimnis zu entreißen? Der Einzige, den Mikke vermutlich nicht decken würde, war Tapio Holma, der die Merivaaras zum Zeitpunkt von Harris Tod noch nicht gekannt hatte. Trotz der steifen Brise kam ich bei den Wendemanövern ins Schwitzen.

Ich betrachtete die Sommervillen auf der Insel und den kleinen Neptuntempel, an dem Antti und ich im vorletzten Winter bei einer Skiwanderung vorbeigekommen waren. Im selben Moment entdeckten meine Polizistenaugen etwas Ungewöhnliches.

»Hast du ein Fernglas an Bord?«

»In der Kajüte.«

»Hol es her, schnell!«

Ohne Fragen zu stellen, übergab Mikke mir das Ruder und sprang hinunter. Wertvolle Sekunden verstrichen, bevor ich das Fernglas eingestellt hatte, doch dann fand ich meine Beobachtung bestätigt.

An der südöstlichen Spitze der Insel Iso Vasikkasaari trieb eine Leiche im Wasser.

»Wir müssen die Segel reffen! Guck mal!« Ich hielt Mikke das Fernglas hin, er schaute hindurch und wurde noch blasser.

Wieder ließ er mich das Ruder halten, rannte los und holte die Fokk ein, während ich mit der freien Hand die Schnellwahltaste für das Präsidium drückte und ein Polizeiboot anforderte.

Mikke reffte auch das Großsegel und ließ den Motor an. Er bewegte sich ruhig und sicher, aber ich sah, dass seine Lippen zuckten.

»Achte auf das Echolot, unser Tiefgang ist eins Komma sechs.

Schade, dass wir die Jolle nicht dabeihaben.«

Etwa zwanzig Meter von der Leiche entfernt fanden wir einen Ankerplatz. Ich sprang an Land und merkte erst jetzt, dass ich nicht trockenen Fußes zu der Leiche kommen würde, die bäuchlings im Schilf lag.

»Hast du Gummistiefel dabei?«

»Ja, Größe vierundvierzig.«

»Umso höher reichen sie. Wirf sie rüber«, bat ich, während ich das Boot an einer Kiefer vertäute.

»Sie sind dir viel zu groß. Ich kann ja hingehen …«

»Nein! Du bleibst auf dem Boot!«

Mikke sah reichlich mitgenommen aus. Ich hoffte, das Polizeiboot käme bald, damit ich ihn fortschicken konnte. Am Fundort einer Leiche störten Zivilisten nur.

Ich zog die Stiefel über die Schuhe, so hatte ich besseren Halt.

Dann watete ich so weit ins Geröll, bis ich die Leiche am Ärmel fassen und etwas näher ans Ufer ziehen konnte, damit sie nicht hinaustrieb. Mehr konnte ich vorläufig nicht tun.

»Kann ich irgendwie helfen?«, rief Mikke.

»Bleib nur, wo du bist. Hast du Gummihandschuhe?«

Er schüttelte den Kopf. Ich ging zurück ans Ufer und rief unser Dezernat an, wo sich Koivu meldete.

»Die Personenbeschreibung von dem vermissten Oberschü-

ler?«

»Eins neunundsiebzig, schlank. Dunkle, glatte, schulterlange Haare, braune Augen. Tätowierung …«

»Bekleidung?«

»Braune Samtjacke, grüne Twillhose, Turnschuhe Marke Adidas und …«

»Das genügt schon. Er schwimmt hier vor der Iso Vasikkasaari.«

Das Polizeiboot traf ein und brachte den Fotografen gleich mit.

Nachdem er seine Aufnahmen gemacht hatte, zogen wir Schutzkleidung über, hoben die Leiche aus dem Wasser und drehten sie um. Ich hatte mir inzwischen das Foto des verschwundenen Arttu Aaltonen ins Gedächtnis gerufen, und als ich nun das Gesicht des Ertrunkenen sah, war ich sicher, ihn vor mir zu haben. Ich klopfte die Leiche ab und fand eine Brieftasche in der Brusttasche. Vom laminierten Führerschein starrte mir ein pickliges Knabengesicht entgegen. Arttu Henrikki Aaltonen, geboren am 21.10.1979.

»Er wird seit der Nacht zum Samstag vermisst, Selbstmord-verdacht«, erklärte ich den uniformierten Kollegen. Mit bloßem Auge entdeckte ich keinen Hinweis auf Fremdverschulden, aber Genaueres würde erst die Obduktion ergeben.

Mikke war nicht mehr an Deck. Ich kletterte aufs Boot, um die Stiefel zurückzubringen, und fand ihn in der Vorderkajüte, wo er auf dem Bett lag und durch die Luke in den Himmel starrte. Sein Gesicht war immer noch farblos.

»Von mir aus kannst du dich jetzt auf den Rückweg machen, ich fahre im Polizeiboot mit. Danke für den Ausflug«, sagte ich leise.

Mikke setzte sich auf und nahm mir die Stiefel ab.

»Wie gewöhnt man sich an so was?«, fragte er bedrückt.

»Verfolgen die Toten dich nicht im Schlaf?«

»Manchmal. Aber wenn man diesen Job machen will, muss man sich daran gewöhnen oder jedenfalls irgendwie damit klarkommen. Du bist kein Profi, und trotzdem ist das für dich schon die zweite Leiche in gut einer Woche. Denk daran, dass du mit diesen Erlebnissen nicht allein fertig zu werden brauchst.«

»Das war doch ein ganz junger Mann. Ist er ermordet worden?«

»Vermutlich Selbstmord«, sagte ich, obwohl ich ihm keine Auskunft hätte geben dürfen.

Mikke stöhnte auf, ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und er presste das Gesicht an meinen Arm. Ich strich ihm über die Haare, und plötzlich zog er mich so fest an sich, dass es wehtat. Wir hielten uns umschlungen, bis ich den Polizeifoto-grafen nach mir rufen hörte. Er brauchte weitere Anweisungen.

»Ich muss gehen. Soll ich die Vorderleine losmachen?«

Mikke nickte und folgte mir an Deck. Wir schauten uns eine Weile an, dann erblickte ich ein Ambulanzboot, das hinter der Inselspitze hervorkam, und ging zur Landestelle hinüber. Vom Felsen aus sah ich, wie Mikke den Motor anließ und durch die schmale Passage nach Suomenoja davontuckerte. Bevor er hinter der Landspitze verschwand, schaute er noch einmal zurück, doch auf mein Winken reagierte er nicht.

Zwölf

Die Aufgabe, Arttu Aaltonens Eltern die Todesnachricht zu überbringen, fiel Puustjärvi und mir zu. Sosehr ich mich auch bemühte, auf Distanz zu bleiben, der Schmerz der Eltern ging nicht spurlos an mir vorüber. Der Junge hatte schon früher mit Selbstmord gedroht, seine Mutter hatte vergeblich versucht, ihn zu einem Gespräch mit einem Psychologen zu bewegen. Als ich am nächsten Morgen die kurze, sachliche Nachricht in der Zeitung las, ein seit zwei Tagen vermisster junger Mann sei tot aufgefunden worden, fühlte ich mich wie ausgebrannt.

Am Dienstagmorgen rief Lehtovuori an, um mitzuteilen, er habe Bronchitis und neununddreißig Grad Fieber und sei für drei Tage krankgeschrieben. Das bedeutete, dass ich jemand anderen für die Fahndung nach der verschwundenen Pilzesammlerin abstellen musste.

»Pfleg dich gut und werd bald wieder gesund«, sagte ich in mütterlichem Ton, bemüht, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Koivu und ich mussten am Nachmittag im Kriminalamt über Pertsas Verfehlungen aussagen. Eigentlich hatte ich Riikka Merivaaras Vernehmung delegieren wollen, doch nun war außer mir niemand verfügbar.

Kantelinens Bericht über die Finanzlage der Merivaara AG lag endlich auf meinem Schreibtisch. Vor der Morgenbesprechung blätterte ich ihn hastig durch. Das Unternehmen war stabil, in den letzten Jahren waren keine größeren Investitionen nötig gewesen. Die Bilanz machte einen guten Eindruck. Im Aufsichtsrat saßen außer Juha und Anne Merivaara nur der Finanzchef Heikki Halonen sowie ein gewisser Marcus Enckell, dem Namen nach vermutlich ein Verwandter der verstorbenen Mutter von Juha Merivaara. Das Einzige, was Kantelinen mit einem Fragezeichen versehen hatte, war die Firma Mare Nostrum, die zwölf Prozent der Merivaara-Aktien hielt. Über die Besitzer dieses Unternehmens gab weder die Aktienliste der Merivaara AG noch das Handelsregister Auskunft. Die Spur endete bei einem Postfach auf Guernsey.

Mein erster Gedanke war Steuerbetrug. Ich tippte Kantelinens Nummer ein, um ihn nach seiner Meinung zu fragen, doch er war nicht zu erreichen. Missmutig machte ich mich auf den Weg zur Lagebesprechung. Der Anblick von Koivu und Wang, die die Köpfe zusammensteckten wie zwei verliebte Teenager, verbesserte meine Laune keineswegs. Weil Koivu am Nachmittag mit mir ins Kriminalamt musste und ich zudem für Riikka Merivaaras Vernehmung einen Partner brauchte, ordnete ich an, dass Lähde Anu Wang bei dem Vermisstenfall unterstützte.

»Was hat dich denn so überaus passend an den Fundort von diesem Aaltonen geführt? Warst du wieder bei dem Mordleucht-turm?«, fragte Lähde plötzlich.

»Nein. Es war reiner Zufall«, sagte ich kurz angebunden und versuchte zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen.

»Du bist also nicht extra mit einem Polizeiboot rausgefahren, um nach dem Jungen zu suchen?«, hakte Lähde nach.

»Nein. Ich war im Fall Merivaara unterwegs.« Es ärgerte mich, dass Lähdes hartnäckige Fragen mich verlegen machten.

»Ein zentraler Ermittlungsstrang in diesem Fall wird der ökonomische Aspekt sein. Nach außen hin ist die Firma sauber, aber mit einem der Anteilseigner stimmt etwas nicht. Koivu und Puustjärvi übernehmen zusammen mit mir die weiteren Zeugen-vernehmungen. Pete, du kümmerst dich um die Mitglieder des Aufsichtsrats. Wir setzen uns zusammen, sobald unser guter Herr Kantelinen sich meldet. Koivu, um halb elf im Vernehmungsraum zwei!«

Ich flüchtete mich in mein Büro, um ein paar Minuten Ruhe zu haben. Vor der Besprechung hatte ich mein Handy ausgeschaltet; nun sah ich, dass sechs Nachrichten eingegangen waren, darunter vier von zu Hause. Antti musste irgendein Problem haben.

»Sarkela«, meldete er sich außer Atem. Im Hintergrund hörte ich Iida brüllen. »Ich hatte nur angerufen, weil ich den Auto-schlüssel nicht finden konnte. Iida hat sich am Klavier böse den Kopf angeschlagen, direkt neben dem Auge, ich muss zum Arzt mit ihr.«

»Um Himmels willen! Kommst du klar?«, fragte ich erschrocken. Natürlich wurde Antti mit der Situation fertig. Dennoch überfiel mich der Rabenmutterkomplex: Ich hätte alles stehen und liegen lassen und zur Poliklinik nach Matinkylä rasen müssen, um mein verletztes Kind zu trösten. Aber das war einfach nicht möglich.

»Ruf an, wenn du mehr weißt, ich lass das Handy eingeschaltet«, sagte ich. Antti hatte es eilig loszufahren. Der eine der beiden anderen Anrufe war von der Sicherheitspolizei gekommen. Ich rief nur deshalb zurück, um nicht unablässig an Iida denken zu müssen und mir auszumalen, wie sie mit blutendem Auge und laut schreiend im Kindersitz saß. Dass die Sicherheitspolizei mit mir über Jiri Merivaara reden wollte, überraschte mich nicht. Man war dort auf denselben Gedanken gekommen wie ich: Hatte der Junge seinen Vater im Zuge eines Initiationsritus getötet, der ihm Zugang zum harten Kern der Revolution der Tiere verschaffte? Auch bei der Sicherheitspolizei hielt man diese Theorie für nicht besonders wahrscheinlich, aber immerhin für möglich, und man war genau wie ich der Ansicht, es sei ein merkwürdiger Zufall, dass das RdT-Mitglied Harri Immonen vor genau einem Jahr an derselben Stelle ums Leben gekommen war wie Jiri Merivaaras Vater. Wir stritten eine Weile darüber, wer Jiri im Fall Harri Immonen vernehmen sollte. Zum Glück konnte ich den Hickhack unterbrechen, weil Riikka Merivaaras Vernehmung anstand.

Koivu wartete mit verdrossener Miene im Besprechungsraum.

»Ein Anruf vom kriminaltechnischen Labor. Das Glas von der Taschenlampe ist nicht identisch mit den Splittern in Juha Merivaaras Kopfwunde, die Form kommt auch nicht hin. Die Lampe war nicht die Tatwaffe.«

»Wär ja auch zu schön gewesen«, seufzte ich. »Sonst noch was?«

»Der Fingerabdruck auf dem Kragenspiegel an Merivaaras Jacke stammt von seiner Frau. An der Jacke selbst wurden Fasern von Mikke Sjöbergs Pullover gefunden, aber die sind möglicherweise erst später haften geblieben, als er seinen Bruder aus dem Wasser gezogen hat.«

»Verdammter Mist«, schimpfte ich vor mich hin. Nirgends ein Fortschritt.

»Schlecht gelaunt?«, erkundigte sich Koivu, als wir die Treppe zu den Vernehmungsräumen erreicht hatten.

»Du hast doch sicher auch keine Lust auf die Befragung beim Kriminalamt.«

»Wieso nicht? Ist doch gut, wenn wir Ström loswerden. Letzten Winter haben wir alle darum gebetet, dass du nur ja nicht Erziehungsurlaub nimmst oder gleich noch ein zweites Kind kriegst. Anu hat bestimmt am inständigsten gebetet, obwohl sie noch nie mit dir zusammengearbeitet hatte.«

»Ist sie Christin?«

»Was?« Er sah mich verdutzt an, dann fiel der Groschen.

»Anu? Weiß ich nicht. Über so was haben wir nicht geredet.«

»Vielleicht ist der buddhistische Hochzeitsritus ganz interessant. Oder ist ihre Familie taoistisch? Sie stammt doch ursprünglich aus China.«

»Maria!« Koivu gab sich alle Mühe, mich strafend anzusehen.

»Anu ist echt interessant. Sie kommt aus einer Kultur, in der die Frauen schweigen müssen, und ist trotzdem Polizistin …« Er verstummte, denn Tapio Holma und Riikka Merivaara standen wartend auf dem Hur.

Holma hatte Riikka also begleitet. Vielleicht meinte er, das Polizeipräsidium sei zu beklemmend für sie. Oder wollte er sie unter Kontrolle halten?

»Du kannst hier warten oder irgendwo einen Kaffee trinken«, sagte ich zu ihm. »Es wird mindestens eine Stunde dauern.«

»Darf Tapsa nicht mitkommen?« Riikka rang die Hände wie eine Sopranistin bei einer hochdramatischen Arie.

»Riikka hat doch das Recht auf einen Beistand bei der Vernehmung«, setzte Holma hinzu.

»Wer selbst zu den Verdächtigen gehört, kommt dafür nicht in Betracht«, sagte ich entschieden, und Holma gab klein bei. Er blieb auf dem Flur zurück, als wir den Vernehmungsraum betraten.

Riikka beantwortete die einleitenden Routinefragen verkrampft und immer wieder schluckend, als wäre eine polizeiliche Vernehmung der reine Horror. Für ein unbescholtenes, schüchternes Mädchen mochte die Situation tatsächlich beängstigend sein, doch sie erlebte sie ja nicht zum ersten Mal.

Wir gingen die Ereignisse auf Rödskär noch einmal durch, wobei ich zu der Überzeugung kam, dass sie nicht die Täterin sein konnte. Physisch wäre sie zwar imstande gewesen, einen Menschen zu erschlagen – ihr großer, schlanker Körper wirkte durchtrainiert –, aber sie hätte keinesfalls die seelische Kraft gehabt, eine solche Tat zu verheimlichen.

»Mutter arbeitet wie verrückt. Das hätte Vater so gewollt, sagt sie. Die Herbstbestellungen müssen ausgeliefert werden.«

»Wie gut bist du über die Merivaara AG informiert? Wer steht hinter dem Anteilseigner Mare Nostrum?«

Riikka zuckte mit den Schultern. Sie wisse es nicht, habe den Namen nie gehört. Geschäftliche Dinge interessierten sie nicht, sie wolle nur singen.

»Aber nun erbst du die Hälfte der Aktien deines Vaters. Da wirst du dich schon für die Firma interessieren müssen. Und warst du nicht diejenige, die deinen Vater dazu gebracht hat, sich für Umweltfragen zu engagieren und die Geschäftsidee der Merivaara AG zu ändern?«

Aus irgendeinem Grund errötete sie.

»Ganz so war es nicht. Gegen seinen Willen ließ mein Vater sich für nichts begeistern. Mutter behauptet zwar, als ich Vegetarierin wurde und so weiter, hätte er begonnen, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen, aber Vater … ›Sieh du nur zu, dass du in der Schule gut mitkommst, Kindchen, und überlass es den Erwachsenen, die Welt am Laufen zu halten!‹ So hat er immer geredet.«

»Wie hat dein Vater auf den Vergewaltigungsversuch reagiert?«

»Muss ich darüber sprechen? Ich möchte das Ganze endlich vergessen«, protestierte Riikka, doch darauf konnte ich mich nicht einlassen.

»Er war natürlich wütend, am liebsten wäre er losgezogen und hätte den Kerl zusammengeschlagen. Mich hat er ausge-schimpft, weil ich zu denen ins Auto gestiegen bin, statt ein Taxi zu nehmen. Typisch Vater. Es war nicht das erste Mal, dass er behauptete, die Frauen wären selber schuld, wenn ihnen so etwas passiert.« Ihre Lippen bebten. »Alles ist so leer, seit Vater nicht mehr da ist. Er war so groß und laut und wusste alles …«

Sie kramte ein Taschentuch aus der Handtasche.

»Obwohl … für mich hat er sich gar nicht interessiert. Er hat sich immer wieder darüber lustig gemacht, dass ich keinen Freund hatte. Männer wollen eine Sexbombe und keine Kolora-turpiepserin in langweiligen Klamotten, hat er gesagt. Als wäre es heute noch die Pflicht eines Vaters, seine Tochter unter die Haube zu bringen!«

Mein Handy klingelte, und da ich auf Anttis Anruf wartete, meldete ich mich, entschuldigte mich bei Riikka und ging auf den Flur, wo Tapio Holma mich finster anstarrte. Er schien immer noch zu glauben, er müsse Riikka vor der bösen Polizei beschützen.

»Wir sind im Krankenhaus, der Arzt hat uns gleich überwie-sen. Iidas Wunde ist mit drei Stichen genäht worden, in Vollnarkose. Der Sehnerv ist zum Glück unversehrt.«

»Gott sei Dank! Wie konnte das überhaupt passieren?«

Erst im Nachhinein merkte ich, wie anklagend sich meine Frage anhörte.

»Ich hab Klavier gespielt, und Iida ist hinter ihrem Ball herge-laufen. Sie muss ausgerutscht sein, nehme ich an, jedenfalls ist sie mit vollem Schwung gegen das Klavier gestoßen.«

»Die Kante müssen wir abpolstern. Schläft Iida noch?«

»Sie liegt im Aufwachraum. Ich muss jetzt zurück, damit sie keine Angst bekommt, wenn sie wach wird. Kannst du heute ein bisschen früher nach Hause kommen?«

»Ich werd’s versuchen, aber ich muss am Nachmittag noch zum Kriminalamt. Im Moment steck ich mitten in einer Vernehmung.«

Ich brauchte eine Weile, um mich zu beruhigen, obwohl ich eigentlich nicht der hysterische Muttertyp war. Mitunter kam ich mir vor wie ein Monster, wenn ich die müde Iida in ihrem Bettchen quäken ließ, bis sie von allein einschlief, statt sie in den Schlaf zu singen. Ich machte mir keine Sorgen um ver-schluckte Katzenhaare, hatte dem Kind auch nicht beigebracht, sich vor Wespen zu fürchten, und der Schutzhelm fürs Laufen-lernen, den uns meine Schwester Helena geschenkt hatte, lag unbenutzt in der Ecke.

»Hatte dein Vater im Sommer auf Rödskär Besucher, die du nicht kanntest?«, fragte Koivu gerade, als ich zurückkam.

»Im Sommer waren eine Menge Segler auf der Insel, aber Bekannte von Vater waren kaum darunter«, erwiderte Riikka nach kurzem Überlegen. »Viele haben ganz zufällig angelegt. Es waren wohl auch ein paar Geschäftspartner meiner Eltern dabei.

Aber ich war nicht die ganze Zeit dort, ich habe mich in der Stadt auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet. Am besten fragt ihr meine Mutter.«

Sie warf die ebenholzfarbenen Haare zurück. In ihrer schwarzen Kleidung – Rollkragenpullover, kurzer Rock und dicke Strumpfhose – wirkte sie noch eckiger und langgliedriger als sonst, und plötzlich fiel mir ihre Ähnlichkeit mit Mikke auf.

»Wie hat deine Mutter auf Jiris Festnahme reagiert?«

Riikka wandte mir das Gesicht zu und lachte beinahe laut auf.

»Kannst du dir das nicht denken? Ich begreife nicht, wie sie das alles aushält. Zum Glück hat Mikke versprochen, die Beerdigung mit zu organisieren, und Seija bietet auch andauernd ihre Hilfe an. Aber die Leute in der Fleischfabrik hätten sterben können! Jiri behauptet, er hätte nicht gewusst, dass der Anschlag Menschenleben gefährdet, aber ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

»Hast du an den Aktionen der RdT nicht teilgenommen?«

»Ich war letztes Jahr bei ein paar Demonstrationen gegen Pelzmode dabei und bei der großen Blaualgendemo, an der auch viele andere Umweltorganisationen teilgenommen haben. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die RdT macht.«

Koivu fragte noch einmal nach der Nacht, in der Juha Merivaara gestorben war, wohl in der Hoffnung, Riikka werde sich in Widersprüche verwickeln. Doch vergeblich, sie blieb bei ihrer Aussage, Tapio und sie selbst hätten fest geschlafen. Es war sinnlos, die Vernehmung fortzusetzen, ich ließ Riikka gehen.

Durch die offene Tür zum Gang schnappte ich ihren Wortwechsel mit Tapio Holma auf.

»Komm mit zu mir. Wir sind so lange nicht mehr ungestört zusammen gewesen«, klagte Holma.

»Jetzt nicht. Ich möchte eine Weile allein sein«, wehrte Riikka ab.

»Ich brauche dich, Riikka. Ich muss bis morgen früh entscheiden, ob ich die Operation riskieren will. Du musst mir dabei helfen.«

»Ich will aber nicht! Ich trau mich nicht, die Verantwortung für deine Stimme und deine Zukunft zu übernehmen!«, zischte Riikka. »Bring mich nach Hause. Ach was, ich kann auch mit dem Bus fahren.«

Dem Klopfen der Absätze nach ging sie mit raschen Schritten davon. Holma folgte ihr bald darauf.

»Am besten machen wir uns auf den Weg nach Tikkurila, wir können ja unterwegs was essen«, seufzte ich. Koivu hatte das Tonband zurückgespult und schrieb gerade die Vernehmungsda-ten auf die Kassette.

»Fahren wir bei McDonald’s vorbei«, schlug er vor und sah mich erstaunt an, als ich schroff ablehnte.

»Nein danke, keine Hamburger. Ich möchte ohne ideologische Konflikte essen. Wie wäre es mit Kartoffelbrei in der Kantine?«

Im Schatten der Grünpflanzen saß Taskinen mit Laine vom BGK beim Mittagessen. Ich setzte mich dazu, während Koivu erklärte, er speise lieber mit Gleichgestellten, und sich zu den Kriminalmeistern vom Raubdezernat verzog.

»Orion hat wieder einen Drohbrief bekommen«, berichtete Taskinen. »Wenn die Firma ihre Tierversuche nicht einstellt, würden die Tiere in nächster Zeit befreit. Unterschrift: Revolution der Tiere.«

»Die jungen Leute sind ja ganz schön rege. Soweit ich weiß, sitzen doch immer noch einige von ihnen bei der Sicherheitspolizei.«

»Das ist eine ernste Sache, Kallio!«, mahnte Laine und wischte sich einen Klecks Kartoffelbrei von der dunkelblauen Seidenkrawatte.

»Warum sollten wir die Orion-Labors schützen, wenn unsere Ressourcen nicht mal ausreichen, den Opfern häuslicher Gewalt beizustehen?«, sagte ich schneidend und dachte sowohl an Ari Väätäinen und seine Frau als auch an einen Fall vom letzten Wochenende, bei dem eine Frau fast ums Leben gekommen wäre. Auch in dieser Familie war Gewalt seit langem an der Tagesordnung gewesen.

Taskinen nahm meine Bemerkung zum Anlass, das Gespräch auf Pertti Ström zu bringen.

»Bei Perttis langem Sündenregister sieht es schlecht für ihn aus. Es bleibt uns keine andere Wahl, als die Suspendierung mindestens bis zum Prozess zu verlängern. Durchaus möglich, dass er danach aus dem Dienst entlassen wird.«

»Wie wird dein Gutachten ausfallen?«

Ich schaute tief in Taskinens nüchterne, graublaue Augen. Er konnte Ström noch weniger leiden als ich, das war mir klar.

»Pertti hat seine guten Seiten, aber als Vorgesetzter hat er sich nicht bewährt. Er hatte zwar eine hohe Aufklärungsrate, aber um welchen Preis! Im letzten Winter stand das halbe Dezernat kurz vor dem Burn-out, weil das Arbeitsklima unerträglich war.«

Taskinen erwiderte meinen Blick und hätte mich sicher bei den Händen gefasst, wenn Laine nicht mit am Tisch gesessen hätte.

»Dem Väätäinen hätte ich in der Situation auch eine runter-hauen mögen«, knurrte ich.

»Ich genauso. Aber wir hätten es nicht getan.«

Dazu gab es nicht viel zu sagen. Ich stand auf und gab Koivu das Zeichen zum Aufbruch. Während der Fahrt rief ich zu Hause an. Antti berichtete, Iida sei problemlos aus der Narkose erwacht und esse jetzt gerade Möhrenpastete, als hätte sie seit einer Woche nichts bekommen. Trotzdem versprach ich, spätestens um vier zu Hause zu sein.

Ich war schon einige Male vernommen worden, zuletzt nach dem Geiseldrama, bei dem mein Kollege Palo und sein Entführer, ein entflohener Sträfling, während der polizeilichen Belagerung ums Leben gekommen waren. Dennoch fiel mir der Rollenwechsel von der Vernehmerin zur Befragten schwer. An der Vernehmung nahmen nur zwei Beamte teil, Kommissar Suurpää und Hauptmeister Peltonen, der jedoch kein Wort von sich gab. Suurpää war ein Schrank von einem Mann, über eins neunzig groß, massig, mit dichtem schwarzem Haar, das von grauen Strähnen durchsetzt war. Man sah ihm an, dass er lange vor seinem sechzigsten Geburtstag schlohweiß sein würde.

»Sehr bedauerlich, dieser Vorfall«, begann Suurpää, als wolle er deutlich machen, dass wir auf der gleichen Seite standen.

»Der Staatsanwalt ist gezwungen, Anklage zu erheben, zumal die Sache an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Aber sprechen wir zuerst über Kommissar Ströms Vorgeschichte. Sie haben etwa drei Jahre mit ihm zusammengearbeitet, kennen ihn also recht gut.«

»Genau genommen haben wir uns bereits Anfang der achtziger Jahre auf der Polizeischule kennen gelernt, und auch danach sind wir uns gelegentlich über den Weg gelaufen.«

»Ström hat früher bereits einige Verwarnungen wegen aggressiven Verhaltens gegenüber Festgenommenen erhalten. Haben Sie diesbezügliche Erfahrungen?«

Ich sah mich gezwungen, von Kimmo zu erzählen, einem jungen Mann, dessen Verteidigung ich während meines kurzen Intermezzos in einer Anwaltskanzlei vor rund vier Jahren übernommen hatte. Ström hatte Kimmo, der unter Mordverdacht stand, beim Sexspiel in schwarzem Gummi angetroffen und ihn vom Fleck weg aufs Revier geschleift. Und dann war da noch Joona Kirstilä, den Pertsa zu einer Schlägerei provoziert hatte.

Anschließend hatte er Kirstilä mit einer Anzeige wegen Widerstand gegen einen Beamten gedroht, obwohl er selbst viel härter zugeschlagen hatte.

Aber so mancher Polizist hatte ein ähnliches Sündenregister wie Pertsa. Und ich hatte ihn auch anders erlebt. Bei einer Festnahme hatte die Tatverdächtige versucht, sich in einem Eisloch zu ertränken. Pertsa war ihr nachgesprungen und hatte ihr das Leben gerettet. Ich erwähnte auch diesen Vorfall, obwohl Kommissar Suurpää meinte, das gehöre nicht zur Sache.

»Kommen wir nun zu der Tat selbst. Hauptmeister Koivu und Sie waren nicht im Raum, als die Prügelei begann, haben aber den Lärm bis auf den Flur gehört?«

Ich berichtete, wie wir in den Vernehmungsraum gestürmt waren und Ström von Väätäinen fortgezerrt hatten.

»Meiner Ansicht nach hat Väätäinen Kommissar Ström provoziert. Ström hat seit Jahren immer wieder gegen den Mann ermitteln müssen, aber er war einfach nicht hinter Gitter zu bringen. Zuerst hat seine Frau sich geweigert, Anzeige zu erstatten, dann wurde ein Schlichtungsverfahren angeordnet.

Insofern ist es kein Wunder, dass Ström frustriert war.«

»Es ist natürlich lobenswert, dass Sie als Ströms unmittelbare Vorgesetzte ihn verteidigen, aber Sie kennen das Gesetz so gut wie ich. Gewaltanwendung bei einer Vernehmung ist unent-schuldbar. Väätäinen hat, wie Sie wissen, auch auf Ströms Scheidung angespielt, die aber schon Jahre zurückliegt. Wieso hat diese Bemerkung Ström derart aufgebracht?«

»Ich habe mit Kommissar Ström nicht darüber gesprochen, da er ungern über sein Privatleben redet, ich kann also nur Vermu-tungen anstellen. Ströms Exfrau hat vor knapp zwei Wochen wieder geheiratet. Ström selbst hatte die Scheidung damals nicht gewollt und hing sehr an seinen Kindern. Deshalb fand er es wohl unbegreiflich, dass jemand wie Väätäinen immer wieder seine eigene Familie misshandelt.«

»Sie scheinen das Seelenleben Ihres Untergebenen ja sehr gut zu kennen. Offenbar hegen Sie nicht den Wunsch, dass Kommissar Ström aus dem Polizeidienst entlassen wird?«

»Das steht hier wohl nicht zur Debatte«, fuhr ich auf. Ich wusste selbst nicht, wie ich darüber dachte. Einerseits wäre es eine Erleichterung, Ström loszuwerden, andererseits hatte ich zu meinem Erstaunen gemerkt, dass ich sein grimmiges Gesicht vermisste.

»Ström hatte zur Tatzeit null Komma sechs Promille«, erklärte Kommissar Suurpää. »Ist Ihnen aufgefallen, dass er Alkohol-probleme hatte, Hauptkommissarin Kallio?«

Nun steckte ich in der Zwickmühle. Wenn ich behauptete, nichts bemerkt zu haben, stand ich als naives Dummerchen da.

Sagte ich aber, ich hätte davon gewusst, konnte man mir vorwerfen, meine Pflichten als Vorgesetzte vernachlässigt zu haben.

»Ich hatte es bemerkt und mir vorgenommen, die Sache bei nächster Gelegenheit zur Sprache zu bringen und Kommissar Ström in Behandlung zu schicken. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen, aber ich kümmere mich darum, sobald Kommissar Ström wieder im Dienst ist.«

»Das möchte ich Ihnen dringend raten. Wissen Sie, ob das Alkoholproblem bereits seit längerem bestand?«

Ich schüttelte den Kopf und berief mich darauf, ein Jahr lang nicht im Dezernat gearbeitet zu haben. Zwar erinnerte ich mich an die leere Schnapsflasche, die ich kurz vor dem Mutterschaftsurlaub in Pertsas Schreibtisch gefunden hatte, aber es stand ja keineswegs fest, dass er sie in der Arbeitszeit geleert hatte.

»Kommissar Ström war während Ihres Mutterschaftsurlaubs stellvertretender Dezernatsleiter. Fiel es ihm schwer, sich danach Ihrer Leitung unterzuordnen?«

Ich sah Suurpää verwundert an.

»Geht es bei dieser Voruntersuchung nicht ausschließlich darum, ob Ström wegen tätlichen Angriffs angeklagt wird?«

Suurpää hatte die Hände gefaltet und ließ die Daumen kreisen.

»Ström war offenbar nicht sehr beliebt. Wäre es nicht denkbar, dass einer seiner Kollegen Väätäinen bestochen hat, die Attacke zu provozieren?«

Pertsa, der Schweinehund! Auf diese Weise versuchte er also seine Haut zu retten? Natürlich fragte ich, ob Ström selbst diese Theorie vorgebracht und ob Väätäinen sie bestätigt hatte, und natürlich weigerte sich Suurpää zu antworten. Ich war hier nicht diejenige, die die Fragen stellte.

»Meiner Meinung nach ist das eine lächerliche Behauptung.

Möglicherweise hat Väätäinen Ström absichtlich provoziert, um die Voruntersuchung zu Fall zu bringen, aber niemand aus meinem Dezernat würde mit ihm gemeinsame Sache machen, davon bin ich überzeugt«, sagte ich mit Nachdruck, obwohl ich unwillkürlich an Puupponen denken musste. Er hasste Ström, daran gab es nichts zu deuteln. Aber selbst er hätte es wohl nicht fertig gebracht, sich mit einem Kerl von Väätäinens Schlag zusammenzutun, um gegen Ström zu intrigieren.

Natürlich wusste ich, wem nach allgemeiner Überzeugung am meisten daran lag, Ström loszuwerden: mir. Wenn Pertsa tatsächlich versuchte, mir die Schuld für seinen eigenen Fehler zuzuschieben, sollte er von mir aus zur Hölle fahren. Als ich das Gebäude des Kriminalamts endlich verlassen durfte, war ich so geladen, dass ich mit voller Wucht gegen die Reifen unseres Autos trat. Dann rief ich Ström an. Nach dem siebenten Klingeln legte ich auf, drückte die Wiederholungstaste und ließ es achtmal klingeln. Beim dritten Anruf ging Ström an den Apparat.

»Maria hier. Wie geht’s?« Ich bemühte mich, mir meinen Zorn nicht anmerken zu lassen.

»Scheiße, du hast mich geweckt«, polterte er mit verkaterter Stimme. »Was ist denn so verdammt wichtig?«

»Ich musste deinetwegen zum Kriminalamt. Wen hast du bezichtigt, Väätäinen bestochen zu haben?«

Ich war froh, dass Ström weit weg war und meine vor Wut zitternden Hände nicht sah, die kaum das Handy halten konnten.

»Was zum Teufel redest du da? War das etwa arrangiert?«

»Du behauptest also, du weißt nichts davon?«

»Wovon?« Seine Stimme klang schon wesentlich klarer.

»Worauf willst du hinaus?«

»Vergiss es! Die Holzköpfe vom Kriminalamt spinnen.«

Ich wusste nicht mehr, wem ich glauben sollte.

»Und, hast du mich ordentlich angeschwärzt? Ein Scheißkerl, läuft immer mit geballten Fäusten rum, nur gut, dass wir ihn loswerden, was?« Nun klang seine Stimme wieder so mürrisch, wie ich sie kannte, im Hintergrund hörte ich eine Kühlschrank-tür, dann das Zischen beim Öffnen einer Bierflasche.

»Ich habe gesagt, was passiert ist. Ich hab wahrhaftig genug zu tun, auch ohne diesen Idioten die dummen Ideen meiner Kollegen zu erklären! Hoffentlich wird dein Fall schnell behandelt, damit du bald wieder zur Arbeit kommen kannst.«

»Ach, hör doch auf, Maria! Du weißt genau, dass ich nicht zurückkommen kann«, sagte Ström und legte auf.

Ich rief sofort wieder bei ihm an, hörte aber nur das Besetzt-zeichen. Wahrscheinlich hatte er den Hörer neben die Gabel gelegt. Ich spazierte zum Fluss und setzte mich auf den Rasen, um ein paar weitere Telefonate zu erledigen, während ich auf Koivu wartete.

Diesmal erreichte ich Kantelinen. Er schlug vor, wir sollten uns nach fünf zusammensetzen, das sei in dieser Woche sein einziger freier Termin. Nach kurzem Zögern lehnte ich ab.

Schließlich musste ich auch einmal Zeit für meine Familie haben.

»Wie ist es mit morgen früh? Ich bin bereit, zeitig zu kommen.

Um halb acht?«, schlug ich vor. Kantelinen stöhnte demonstrativ, ließ sich dann aber doch überreden. Puustjärvi, den ich dazubat, war nicht gerade erfreut, da er in Kirckonummi wohnte, würde er schon vor sieben Uhr losfahren müssen. Ich fühlte mich wie eine supergemeine Chefin, und aus irgendeinem Grund erfüllte mich das mit Genugtuung.

Suurpää fragte Koivu vermutlich, ob er mir zutraute, Väätäinen gegen Ström eingespannt zu haben. Bei dem Gedanken wurde ich von neuem wütend und verlor die Lust, auf Koivu zu warten. Ich steckte einen Zettel unter den Scheibenwischer, ich sei schon weg und er solle morgen um halb acht zur Besprechung kommen. Dann ging ich zum Bahnhof Tikkurila. Das Wissenschaftsmuseum Heureka glänzte in der Sonne wie ein Raumschiff. Als ich auf den Bahnsteig kam, klingelte mein Handy. Seija Saarela wollte mich sprechen.

»Sie haben Mikke nach Harri Immonen gefragt. War sein Tod denn kein Unfall?«

»Das steht im Moment noch nicht fest. Haben Sie mir denn etwas zu Harri zu sagen?«

»Ja, aber ich kann jetzt nicht lange sprechen. Ich muss bis morgen früh eine Partie Steine schleifen.«

»Gut, dann sehen wir uns morgen auf dem Präsidium.«

»Das geht nicht. Ich habe versprochen, den ganzen Tag im Reformhaus im Einkaufszentrum ›Lippulaiva‹ auszuhelfen, ich darf da gleichzeitig meinen Schmuck verkaufen.«

»Vielleicht hat einer meiner Leute Zeit«, sagte ich säuerlich.

Heute war offenbar einer der Tage, an denen nichts klappte.

»Ich möchte aber mit Ihnen persönlich sprechen. Nicht nur über Harri, sondern zum Beispiel auch über Mikke. Es war ein furchtbarer Schock für ihn, diesen Selbstmörder zu sehen.

Warum hat der arme Junge sich denn das Leben genommen?«

»Das dürfte Sie wohl nichts angehen. Ich muss jetzt Schluss machen.«

Der Zug fuhr ein, ich schaltete das Handy aus. Zu meinem Pech geriet ich in einen Wagen voll lärmender, fluchender Halbwüchsiger. Als einer von ihnen auch noch anfing, auf den Boden zu rotzen, war ich versucht einzugreifen, wagte es aber nicht, denn bei der Wut, die in mir steckte, hätte ich für nichts garantieren können. Womöglich hätte ich mich genauso verhalten wie Ström.

Ich hielt durch bis zum Helsinkier Hauptbahnhof. Dort wäre ich am liebsten schnurstracks in die nächste Kneipe marschiert, doch der Rabenmutterkomplex hielt mich davon ab. Natürlich würde ich mit dem nächsten Bus zu meinem verletzten Kind fahren. Die Zeit bis zur Abfahrt reichte jedoch für einen Abstecher ins Alkoholgeschäft. Ich kaufte eine große Flasche Anisschnaps und eine Taschenflasche Whisky, die ich gleich auf der Straße aufschraubte und leerte. Brennende Wärme floß durch meinen Körper und verwandelte sich während der Busfahrt in Entspannung. Ganz in der Nähe von Ströms Wohnung musste ich umsteigen, aber selbst wenn ich Zeit gehabt hätte, ich hätte ihn nicht besucht. Erst als ich die Ison-Henttaantie entlangging, wurde ich endlich ruhiger. Auf den Feldern wechselten Braun und Gelbgrün miteinander ab, ein Spatzenschwarm plünderte den Vogelbeerbaum. Leider störte das unaufhörliche Dröhnen der Bossiermaschinen an der neuen Umgehungsstraße die Idylle. Dann wurde auf der Baustelle gesprengt, und eine Staubwolke senkte sich über den Acker wie außerirdisches Gift in einem Science-Fiction-Film.

Iida, die mir durch den Flur entgegentapste, sah mit ihrer Augenklappe aus wie ein Piratenbaby. Die Wunde schien sie nicht zu stören. Ich nahm meine Tochter auf den Arm und küsste ihre kleinen, nach Grießbrei duftenden Bäckchen.

»Komm, wir legen uns eine Weile hin, Mama ist müde.«

»Iida aua«, sagte sie und zeigte auf ihre Schläfe.

»Was? Sag das nochmal«, rief ich, denn bisher hatte sie nur einzelne Wörter gesprochen, und auch das nur selten. Aber Iida wiederholte ihren ersten Satz nicht, sondern verkroch sich in meine Arme. Ich holte in der Küche eine Banane, von der Iida die Hälfte für sich forderte. Antti, der im Wohnzimmer saß und in der Zeitung des Naturschutzbundes las, reckte sich, um mir einen Kuss zu geben.

»Du riechst nach Whisky«, stellte er verwundert fest.

»Ich bekenne mich schuldig, Euer Ehren. Nach dem Kriminalamt war das nötig. Ich leg mich mit Iida ein bisschen lang.«

»Dann mach ich inzwischen einen Spaziergang. Du hast doch nicht vergessen, dass ich morgen Abend ins Konzert der Tapiola-Sinfonietta gehe?« Ich brummte etwas Undefinierbares, denn natürlich war mir das völlig entfallen. Dann trug ich Iida nach oben, hörte sie glucksen und betrachtete die kleinen Finger, die abwechselnd einen Turm aus Duplosteinen bauten und mit meinen Haaren spielten. Bald darauf legte sie sich zu mir und drückte den Kopf an meine Brust, als wollte sie Milch. Das Stillen war eine der wenigen Seiten der Mutterschaft, bei denen ich den Anforderungen gerecht geworden war. Ich hatte genug Milch gehabt, und das Baby hatte die Kunst des Trinkens schnell gelernt. Es war ein aufregendes Gefühl gewesen, dass mein Körper Iida Nahrung und Geborgenheit gab, er war wie ein großes warmes Nest, in dem sie sich verkroch, nachdem sie sich das Bäuchlein mit der besten Speise gefüllt hatte, die sie kannte.

Mit drei Monaten hatte sie mittags nach dem Stillen zum ersten Mal gelächelt: Am Strahlen ihrer Augen hatte ich erkannt, dass es kein unbewusstes Engelslächeln war. Am bezauberndsten waren ihre lachenden Augen gewesen, wenn ich sie nach dem Mittagsschlaf an der frischen Luft, in Decken gehüllt und den Schnuller im Mund, aus dem Wagen hob und ins Haus trug.

Zum Glück hatte die Klavierkante sie nur an der Schläfe getroffen … Ich küsste Iida auf die Augenlider, beschnupperte sie und brummte dabei, bis wir beide zu nichts anderem mehr fähig waren, als zu lachen und uns gegenseitig das Gesicht abzuküssen. Den Anisschnaps brauchte ich jetzt nicht mehr.

Dreizehn

Als um halb sieben der Wecker klingelte, verfluchte ich meinen Eifer, am frühen Morgen eine Besprechung abzuhalten. Der fast volle Mond warf einen breiten Lichtstreifen über die dunklen, von Raureif überzogenen Felder, das Thermometer zeigte zwei Grad unter Null. Ich hoffte, unser alter Fiat würde anspringen, am Abend hatte ich nämlich vergessen, den Heizer einzuschalten.

Ich stellte die Kaffeemaschine an und setzte Iidas Frühstücksbrei auf, bevor ich zum Briefkasten am Gartenzaun ging, um die Zeitung zu holen. Der Frost öffnete mir die verquollenen Augen.

Der Wald roch nach Moder, als versuchte er, mit seinem kräftigen Aroma gegen den Herbst und den Tod anzukämpfen.

Die Erlenblätter, die sich rund um den Briefkasten angesammelt hatten, waren schwarzgrau, der Nachtfrost hatte sie mit Reifper-len bestickt.

Nach einigen beschwörenden Worten sprang der Fiat tatsächlich an, doch das Lenkrad war so kalt, dass ich es nur mit Handschuhen anfassen konnte. In Mankkaa stand ich im Stau und drehte wütend am Knopf des Autoradios, um einen Sender zu finden, der keine künstliche Munterkeit verbreitete. Zum Glück saß in irgendeinem Studio ein Morgenmuffel, der so verdrießlich gestimmt war wie ich und »The Unforgiven« von Apocalyptica aufgelegt hatte. Die hysterischen Celloklänge versetzten mich beinahe in gute Laune.

Puustjärvi und Koivu saßen bereits mit ihren Kaffeetassen im Konferenzzimmer und kommentierten den gestrigen Eishockey-spieltag.

»Du bist gestern in Tikkurila einfach verschwunden«, sagte Koivu zur Begrüßung.

»Ich war derart mies gelaunt, ich wollte nur noch weg. Haben sie dich lange festgehalten?«

»Eine Dreiviertelstunde. Komische Fragen hatten sie. Zum Beispiel, ob du Ström loswerden willst. Sie meinten, vielleicht hättest du Väätäinen bestochen, ihn zu provozieren. Ich hab ihnen erklärt, als Feministin würdest du mit einem, der seine Frau verprügelt, nie im Leben gemeinsame Sache machen.«

Ich grinste schief. Mir war nicht ganz klar, was da ablief. Von wem hatte Suurpää seine Bestechungstheorie, wenn nicht von Ström? Und wen wollte man hier eigentlich loswerden, ihn oder mich?

Kantelinen kam drei Minuten zu spät. Als Erstes sprach er kurz über die Finanzlage der Merivaara AG, an der es nichts auszusetzen gab. Die Firma hatte die schwierige Zeit zu Beginn des Jahrzehnts unbeschadet überstanden, und in der letzten Rechnungsperiode war der Export in Schwung gekommen. Ein traditionsreicher Familienbetrieb mit modernem Umweltbewusstsein war offenbar eine zugkräftige Kombination. Die Bücher waren einwandfrei geführt, die Investitionen gerechtfer-tigt. Der Erwerb von Rödskär war nicht nur gut fürs Image, sondern auch ein geschickter Steuertrick gewesen. Das Einzige, was das makellose Bild trübte, war der Anteilseigner Mare Nostrum, über den die Unternehmenspapiere außer der Post-fachadresse auf Guernsey nichts hergaben.

»Steuerhinterziehung?«, erkundigte sich Puustjärvi.

»Vielleicht, es gibt aber auch andere Möglichkeiten«, antwortete Kantelinen. »Die Firma hat in den letzten zehn Jahren keine hohen Dividenden ausgeschüttet, bei einem Aktienanteil von zwölf Prozent kommt dabei nicht viel zusammen, insgesamt vielleicht eine Million Finnmark. Lohnt es sich, für eine solche Summe einen riskanten Geldumlauf aufzuziehen? Wenn es um Steuerbetrug ginge, müsste man annehmen, dass hinter der Mare Nostrum dieselben Leute stehen wie hinter der Merivaara AG.

Das erscheint mir sinnlos.«

»Worum geht es denn dann?«, fragte ich ungeduldig.

»Die Mare Nostrum hat die Merivaara-Aktien 1991 gekauft, also auf dem Tiefpunkt der Rezession, als das Unternehmen gezwungen war, seinen Kurs zu ändern. Es hat den Anschein, als sei der Übergang zur Produktion umweltfreundlicher Bootslacke weitgehend aus dem Erlös des Aktienverkaufs finanziert worden. Deshalb macht es selbst aus steuertechni-schen Gründen keinen Sinn, dass beide Firmen denselben Besitzer haben.«

»Die Mitglieder des Aufsichtsrats müssen doch wissen, wer die Aktien hält«, schnaubte Puustjärvi. »Warum reden wir hier rum, statt sie einfach zu fragen!«

»Ich könnte ja nach Guernsey reisen und das geheimnisvolle Postfach aufspüren«, meinte Koivu hoffnungsvoll.

»Im Zeitalter von Fax und E-Mail kannst du dir das abschmin-ken! Wir setzen uns mit den dortigen Kollegen in Verbindung, aber vorher fragen wir Anne Merivaara und Finanzdirektor Halonen. Puustjärvi, du versuchst Marcus Enckell ausfindig zu machen. Koivu und ich fahren nach der Morgenbesprechung zur Merivaara AG.«

»Glaubst du denn, die Besitzverhältnisse von dieser Mare Dingsbums hätten etwas zu bedeuten?«, zweifelte Puustjärvi.

»Das kann durchaus sein. Juha Merivaara war für meinen Geschmack leicht halbseiden, und bis auf weiteres haben wir außer familiären Konflikten kein Motiv für den Mord entdeckt.

Mare Nostrum … war das nicht die Bezeichnung der alten Römer für das Mittelmeer? Worauf mag das hindeuten?«

»Latein stand bei uns nicht auf dem Stundenplan«, schnaubte Koivu. Kantelinen schob seine Papiere zusammen und versprach, sich mit den Ermittlern vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität bei Scotland Yard in Verbindung zu setzen, die er bereits kannte. Die Chance, auf diesem Weg an die Postfachfirma heranzukommen, war minimal, aber wir durften nichts unversucht lassen.

»Dieser Enckell ist übrigens recht betagt«, sagte Kantelinen, die Hand bereits auf der Türklinke. »Jahrgang 1918. Für den Rest der Woche bin ich nicht zu erreichen. Heute bei Gericht, danach feiere ich Überstunden ab. Soll ich Scotland Yard bitten, sich direkt mit dir in Verbindung zu setzen?«

Ich nickte und zog mich in mein Büro zurück. Dieses eine Mal hatte ich genügend Zeit, mich auf die Morgenbesprechung vorzubereiten. Die anderen waren mit ihren Fällen gut vorange-kommen. Wang hatte mit den Kollegen der vermissten Betriebswirtin gesprochen und dabei erfahren, dass in den letzten Wochen regelmäßig ein offenbar aus Estland stammender, gut aussehender junger Mann namens Toomas in ihrem Büro aufgetaucht war.

»Ist sie etwa losgezogen, um estnische Schwellpilze zu suchen, oder wie die Klunker bei denen heißen?«, warf der triefnasige Puupponen ein.

Wang wurde rot, sprach aber unbeirrt weiter. »Der Pass der Frau wurde nicht gefunden. Nach Aussage des Ehemanns trug sie ihn immer in der Handtasche, die ebenfalls verschwunden ist. Soll ich mir die Passagierlisten der Fähren nach Tallinn vornehmen?«

»Natürlich. Wie ist es mit der Kleidung? Sie ist wohl kaum in Pilzsammlerklamotten zu ihrem Liebhaber gereist«, überlegte ich laut.

»Vielleicht handelt es sich um die Art von Urlaub, bei der man keine Kleider braucht …«

»Schluss jetzt, Puupponen«, sagte ich wie eine Mutter zu ihrem quengelnden Dreijährigen. »Anu, informier dich über diesen Toomas. Und frag in Estland nach, ob sie eine nicht identifizierte Frauenleiche gefunden haben.«

Taskinen stürmte herein, als wir die Besprechung gerade beendeten.

»Gute Nachrichten, Maria! Väätäinen wird wegen fortgesetzter schwerer Körperverletzung angeklagt. Wir kriegen ihn endlich hinter Gitter.«

»Hurra«, antwortete ich mit gebremster Freude. »Hat Väätäinen diese Bestechungsgeschichte in Umlauf gebracht?«

Da Taskinen mich fragend ansah, erzählte ich ihm, wonach die Männer vom Kriminalamt Koivu und mich gefragt hatten. Er hörte schweigend zu, aber ich sah, wie seine schmalen Lippen sich spannten.

»Darüber reden wir in deinem Büro weiter«, sagte er und berührte mich flüchtig an der Schulter.

»Koivu, in einer Viertelstunde bist du startklar! Wir nehmen meinen Wagen«, rief ich meinem Kollegen zu und folgte Taskinen in mein Dienstzimmer, das sich auf mysteriöse Weise in sein Reich zurückverwandelte, sobald er es betrat. Beinahe hätte ich mich auf das Besuchersofa gesetzt statt auf meinen eigenen Bürostuhl, wenn Taskinen mir nicht zuvorgekommen wäre.

»Wenn Pertti dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, riskiert er zu allem anderen noch eine Anzeige wegen übler Nachrede«, sagte er wütend.

»Ich hatte den Eindruck, dass es sich nur um vage Gerüchte handelt, die sich nicht direkt gegen eine bestimmte Person richten. Pertsa bestreitet, etwas davon zu wissen.«

»Hast du ihn rundheraus gefragt? Natürlich streitet er es ab.

Sei nicht so naiv, Maria. Pertti hat dir die Beförderung mehr als übel genommen. Er weiß, dass seine Karriere in diesem Haus vorbei ist, und versucht auch deine Chancen zu zerstören.«

»Willst du behaupten, er hätte Väätäinen angestiftet, mich der Bestechung zu bezichtigen? Das kann ich nicht glauben. Pertsa hasst den Kerl, mit solchen Typen würde er sich nie auf einen Handel einlassen.«

Während viele altgediente Polizisten sich im Lauf ihrer Karriere mit Kriminellen angefreundet und gelernt hatten, so zu denken wie sie, hatte Pertsa sich immer bemüht, genau zwischen uns und den anderen, zwischen Polizei und Verbrechern zu unterscheiden. Es hatte ihm schwer zugesetzt, dass die Kriminellen heute nicht mehr das gleiche Spiel spielten, sondern die Regeln zu ihren Gunsten auslegten.

»Vielleicht wollte Suurpää lediglich unsere Reaktionen testen.

Offenbar hat jeder, den er befragt hat, beteuert, unser Dezernat wäre froh, Ström loszuwerden«, sagte ich in einem Ton, der mir einen überraschten Blick von Taskinen eintrug.

»Würdest du dich etwa nicht freuen?«

»Ich weiß es nicht!«, sagte ich verdrossen. »Entschuldige bitte, ich muss ein paar Dinge überprüfen, bevor ich zur Merivaara AG fahre.«

Taskinen stand beleidigt auf. Das Leben ist merkwürdig, dachte ich, als sich die Tür hinter ihm schloss. Da stritt ich mich nun mit meinem geliebten und verehrten Chef, der mich immer unterstützt hatte, über Pertti Ström. Über Pertti, der behauptet hatte, ich sei nur deshalb befördert worden, weil ich eine Affäre mit Taskinen hätte – was nicht stimmte. Mitunter kam mir allerdings der Verdacht, Taskinen hätte nichts dagegen gehabt, wenn an dem Gerücht etwas drangewesen wäre – und wenn ich ganz ehrlich war, musste ich zugeben, dass es mir bisweilen auch so ging.

Koivu hatte sich vergewissert, dass Finanzdirektor Halonen und Anne Merivaara anwesend waren. Er sollte Halonen übernehmen, während ich versuchen wollte, von Frau zu Frau mit Anne zu sprechen. Ich fragte mich, woher sie die Kraft nahm zu arbeiten, nachdem ihr Mann ermordet und ihr Sohn der Brandstiftung beschuldigt worden war.

Die Empfangsdame bat Koivu, in der Eingangshalle zu warten, Finanzdirektor Halonen werde gleich da sein. Ich wurde von Paula Saarnio, der Sekretärin, abgeholt und in die obere Etage geführt. In einer Ecke ihres Büros ratterte ein Faxgerät, doch sie warf keinen Blick auf das Papier, das es ausspuckte. Anne Merivaara war in das Büro des Geschäftsführers umgezogen, wo sie gerade telefonierte, offenbar mit einem deutschen Geschäftspartner.

»Ja. Sehr gut. Vielen Dank, Herr Dr. Schubert. Auf Wiederhö-

ren!« Anne lächelte müde, stand auf und gab mir die Hand. Ihre zarte Haut spannte sich an Wangen und Schläfen, das Make-up konnte die dunkelvioletten Schatten unter ihren Augen nicht verdecken.

»Paula, würdest du für Dr. Schubert bitte ein Doppelzimmer für die beiden Nächte vor und nach Juhas Beerdigung reservieren, wenn möglich, im Tapiola Garden. Und jetzt schalte bitte meinen Apparat ab und bring uns Tee. Vielleicht möchte die Hauptkommissarin etwas essen?«

»Nein danke.«

»Wie gehen die Ermittlungen voran?«

»Wir machen Fortschritte«, schwindelte ich unverfroren. Anne nickte und sagte, das sei eine Erleichterung für sie. Sie sprach gefasst, doch ich musste unwillkürlich an ein wackliges Glas denken, das jederzeit vom Tisch kippen und zerschellen kann.

Dennoch hielt ich mich nicht mit belanglosem Geplauder auf, sondern setzte mich in einen der beiden Sessel und kam direkt zur Sache:

»Ich hätte gern genauere Angaben über die Besitzverhältnisse der Merivaara AG, speziell darüber, wem der Anteilseigner Mare Nostrum gehört.«

Annes Blick schweifte durch den Raum. Seit meinem letzten Besuch war die Ahnengalerie an der Wand um ein Schwarzweißfoto von Juha Merivaara erweitert worden. Das Schild mit Namen und Lebensdaten fehlte allerdings noch. Die Aufnahme zeigte Juha mit Kapitänsmütze, er blickte mit vorgerecktem Kinn in die Ferne.

»Geht das nicht aus den Firmenpapieren hervor? Dein Kollege hat doch alles mitgenommen.«

»Seltsamerweise nicht. Die Adresse der Firma ist ein Postfach in einer bekannten Steueroase. Aber als Aktionärin und Mitglied des Aufsichtsrats wirst du mir sicher sagen können, wer der Besitzer der Mare Nostrum ist.«

»Irgendeine litauische Firma … Wahrscheinlich wurde der Firmensitz außer Landes verlegt, weil die Verhältnisse in Litauen so instabil sind.«

»Die Mare Nostrum hat die Aktien bereits im Frühjahr 1991

erworben, also bevor Litauen unabhängig wurde«, sagte ich kühl. »Unter sowjetischer Herrschaft war ein solcher Handel kaum möglich. Was ist das für eine seltsame Geschichte?«

Anne sah noch erschöpfter aus als zuvor, auf ihrer Stirn und rund um die Augen bildeten sich tiefe Falten.

»Es war wohl ursprünglich ein finnisches Unternehmen, das dann an Litauer verkauft wurde. Anfang der neunziger Jahre gab es große Schwierigkeiten, Juha hatte kein Geld, um Mikkes Aktien zu übernehmen, wollte die Firma aber auch nicht mit jemandem teilen, der nicht zur Familie gehörte. Wir haben vergebens versucht, die Enckells als Aktionäre zu gewinnen.

Dann hat Juha die Leute von der Mare Nostrum kennen gelernt, bei einem Segeltörn auf Gotland, ich bin damals nicht mitgefahren.«

»Wie ist es möglich, dass der Kaufvertrag in den Geschäftspa-pieren fehlt?«

»Wahrscheinlich liegt er im Banksafe. Fragt Finanzdirektor Halonen, er wird es wissen!« Annes Gelassenheit bröckelte, sie war sichtlich erleichtert, als Paula Saarnio mit dem Tee hereinkam. Diesmal entströmte der Kanne Kamillenduft.

»Als Aktionärin und Aufsichtsratsmitglied musst du doch den Hintergrund der Mare Nostrum kennen. Oder hat Juha nie etwas darüber gesagt?«

Sie hielt die Teetasse mit beiden Händen umfasst, als wolle sie sich wärmen.

»Die Aufsichtsratssitzungen sind nicht weiter bemerkenswert gewesen. Heikki, also Finanzdirektor Halonen, hat nach Juhas Anweisungen gehandelt, und Marcus Enckell ist eher aus Loyalität dabei, weil er damals die Aktien nicht kaufen und seinem Vetter aus der Klemme helfen konnte. Ich habe mich in den letzten Jahren nur um die PR gekümmert, nicht um die Finanzen.«

»Willst du damit sagen, dass du tatsächlich nicht weißt, wem die Mare Nostrum gehört? Hast du dich nie dafür interessiert?«

Ihre Augen verschwammen, doch sie hob den Kopf und sah mich an.

»So ist es. Es war damals eine schwierige Zeit für mich.

Vielleicht steckte ich in der Midlife-Crisis. Ich fing an zu grübeln, was ich vom Leben erwartete, ob ich es im Lackgeruch verbringen wollte, ständig bemüht, Juhas Kollisionen mit der Welt auszubügeln, oder ob es andere Möglichkeiten gab. Auf verschiedenen Wegen habe ich versucht, zu mir selbst zu finden: durch Bücher über spirituelle Entwicklung, durch Fasten und Meditation. Um die gleiche Zeit begann Riikka sich für Umweltschutz und Vegetarismus zu interessieren. Damals habe ich lange darüber nachgedacht, ob ich noch mit Juha zusammenle-ben will, oder ob ich ihn verlasse. Ich habe mich dann entschieden zu bleiben und beschlossen, gewisse Dinge zu ignorieren, etwa Juhas Angewohnheit, Geschäftsfreunde ins Bordell einzuladen.«

Ihre Stimme war leise und kühl, doch es fiel mir schwer, ihr zu glauben. War es ihr wirklich gleichgültig gewesen, wer die Aktien des Familienunternehmens erwarb? Hatte sie es fertig gebracht, vor gewissen Dingen die Augen zu verschließen wie die Eltern eines drogenabhängigen Teenagers: Was man nicht sieht, das existiert nicht?

So etwas gab es. Vielleicht hatte ich mich gegenüber Ströms Alkoholproblem auch nicht viel anders verhalten.

»Marcus Enckell weiß also genauso wenig wie du?«, fragte ich. Allem Anschein nach verschwendete Puustjärvi mit dem alten Mann seine Zeit.

»Marcus leidet seit zwei Jahren an Alzheimer. Wahrscheinlich kann er nicht einmal an Juhas Beerdigung teilnehmen.«

Demnach war Enckell möglicherweise nicht rechtsfähig. Anne hielt daran fest, dass Finanzdirektor Halonen als Juhas Vertrau-ensmann genauestens über die Firmenangelegenheiten informiert sei.

»Ich habe mir überlegt, ihm nach der Beerdigung den Posten des stellvertretenden Geschäftsführers anzubieten. Allein kann ich die Firma nicht leiten, dazu fehlt mir die Kraft. Ich muss das mit den Kindern besprechen. Am liebsten würde ich alles verkaufen und nur Rödskär behalten.«

»Rödskär ist Eigentum der Merivaara AG, demnach besitzt die Mare Nostrum auch von der Insel zwölf Prozent. Höchste Zeit, sich über die Aktionäre zu informieren.« Ich stand auf, um mich Koivu und Halonen anzuschließen, doch Anne fasste mich am Handgelenk.

»Ich möchte nicht, dass du mich für eine komplette Idiotin hältst. Juha war …« Sie drückte mein Handgelenk, als wolle sie mich zum Bleiben zwingen. Es erstaunte mich, wie kräftig der Griff dieser zierlichen Frau war. Sie ließ mich erst los, als ich wieder saß.

»Am leichtesten ließ es sich mit Juha leben, wenn man manche Dinge einfach nicht beachtete. Er war furchtbar starrköpfig, seiner Meinung nach gab es nur eine richtige Vorgehensweise, nämlich seine. Und Jiri ist auch nicht anders als alle Männer der Familie Merivaara«, sagte Anne und deutete auf die Porträts an der Wand. »Er ist wie sein Vater und sein Großvater, wenn er es auch nicht zugeben will. Katrina hat Marttis Selbstherrlichkeit nicht ertragen können, deshalb hat sie ihn verlassen. Sie und ich, wir haben gelegentlich überlegt, ob Fredrika, Juhas Mutter, deshalb krank wurde, weil sie in der Ehe ihren eigenen Willen komplett aufgeben musste. Juha ist bei seinem Vater aufgewachsen und sein Ebenbild geworden, deshalb hat er in mir einerseits die Ersatzmutter gesucht, andererseits jemanden, über den er verfügen kann. Als die Kinder noch klein waren, hat er mich oft Mutti genannt und überhaupt nicht begriffen, wieso ich das nicht mochte. Er hat erst damit aufgehört, als Jiri mit sechs Jahren die Bemerkung fallen ließ, ›das ist unsere Mutter, nicht deine‹.«

»Hattest du denn so viel Vertrauen in Juha, dass du ihm erlaubt hast, das Unternehmen nach seinem Willen zu führen?«

»In geschäftlichen Dingen habe ich ihm vertraut, ja. Wieso?

Stimmt mit der Mare Nostrum etwas nicht?«

»Da über die Aktionäre Stillschweigen bewahrt wurde, könnte man das vermuten. Anne, wenn du etwas weißt, dann sag es mir!«

»Ich weiß gar nichts mehr!« Ihre Stimme wurde mindestens eine Quarte höher. »Juha ist tot, und ich versuche das Unternehmen in Gang zu halten, damit wir die Bestellungen ausliefern können! Jiri ist unter die Terroristen gegangen, und Riikka hat plötzlich beschlossen, dass sie Tapsa nicht mehr sehen will.«

»Wie bitte?« Ich erinnerte mich sehr wohl, wie sie Holma nach der Vernehmung stehen gelassen hatte. »Haben sie sich gestritten?«

»Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Riikka ist auch so kom-promisslos. Vielleicht nimmt sie es Tapsa übel, dass er Juha damals, an seinem letzten Abend, angegriffen hat. Riikka ist in mancher Beziehung recht kindlich, es wäre ganz gut, wenn sie sich von Tapsa trennt. Aber ich habe jetzt nicht die Kraft, mir auch ihre Sorgen noch aufzubürden.«

Anne goss sich Kamillentee nach und trank ihn so gierig wie ich am Vortag den Whisky. Auch die Wirkung war ähnlich, sie schien sich zu beruhigen, und ihre Stimme kehrte in die normale Tonlage zurück.

»Ich habe zuerst nicht wahrhaben wollen, dass Juha ermordet wurde, aber allmählich verstehe ich es. Er hatte etwas Zerstöre-risches an sich, auch Jiri hat er damit infiziert. Ich werde Jiri nicht mehr verteidigen, die Gefährdung von Menschenleben kann ich nicht gutheißen. Besser, er bekommt jetzt eine Lehre, bevor …«

Anne trank von ihrem Tee, als wollte sie verhindern, dass ihr der Rest ihres Gedankens entschlüpfte: bevor er wirklich jemanden umbringt. Womöglich befürchtete sie, dass Jiri es bereits getan hatte.

»Und Mikke Sjöberg? Ist er auch so eigensinnig wie sein Vater und sein Bruder?«, fragte ich scheinbar leichthin.

»Mikke ist ein Sjöberg, eher Katrinas Sohn als Marttis. Vielleicht hat er die negativen Eigenschaften der Merivaaras, Egoismus und Starrsinn, an sich entdeckt und lebt deshalb die Hälfte des Jahres als Einsiedler auf seinem Boot. Ich kenne Mikke kaum, er lässt niemanden an sich heran.«

Ich stand auf, und diesmal hielt Anne mich nicht zurück. Als ich die Tür öffnete, kam Paula Saarnio herein.

»Hier ist ein Fax vom Bestattungsinstitut, das Angebot für Sarg und Angebinde. Hast du Zeit, es dir anzuschauen?«

Anne nickte. Ich machte mich auf die Suche nach dem Büro des Finanzdirektors. Auf dem Flur kam mir die Idee, Puustjärvi anzurufen. Er saß bei Marcus Enckell in einem privaten Pflege-heim in Tapiola und berichtete, der alte Herr erinnere sich praktisch nicht an die letzten Jahre, habe aber umso eifriger von der Hochzeit seiner Cousine Fredrika mit Martti Merivaara erzählt.

»Komm hier her. Wir knöpfen uns den Finanzdirektor vor.«

Halonen war knapp unter dreißig, sicher einer derjenigen, die in den Yuppie-Jahren Ende der Achtziger an die Handelshoch-schule geströmt waren, in der Hoffnung auf große Karriere und schnellen Reichtum. Bald darauf war diese Traumwelt allerdings zusammengebrochen, und die Aktien, die die Studenten von den Geldgeschenken zum Abitur gekauft hatten, waren in der Rezession wertlos geworden.

Halonens Anzug saß nicht ganz so perfekt und der Stoff war nicht ganz so hochwertig, wie es dem Image eines erfolgreichen jungen Mannes entsprochen hätte, aber das dunkelblonde Haar war so perfekt geschnitten, dass es die beginnende Glatze kaschierte, und sein Körper wirkte durchtrainierter, als es der seines Chefs gewesen war.

Er gab nur ungern zu, wie wenig er über die Mare Nostrum wusste. Der Aktienhandel war zwei Jahre vor seinem Eintritt in die Firma abgeschlossen worden, und Juha Merivaara hatte sogar seinem Finanzdirektor jede Auskunft über die Aktionäre verweigert. Andererseits hatte Halonen sich auch nicht weiter darum gekümmert, denn die Aktionäre waren auf keiner Hauptversammlung störend in Erscheinung getreten und hatten nie Forderungen gestellt.

»Juha hat mir gesagt, der Kaufbrief läge im Banksafe. Daraus geht ja hervor, wer für die Mare Nostrum unterschrieben hat«, sagte Halonen und lockerte die Krawatte. Er wusste, dass er in Schwierigkeiten war. »Den Schlüssel hat Anne, nehme ich an.«

»Ihr beiden fahrt mit zur Bank, und du, Koivu, suchst dir im Wirtschaftsdezernat jemanden, der Kontakt zu den Kollegen von Scotland Yard hat. Wir können nicht warten, bis Herr Kantelinen sich wieder an seinen Arbeitsplatz bequemt. Sagt mir sofort Bescheid, wenn ihr etwas herausgefunden habt.«

Voller Unruhe fuhr ich zurück zum Präsidium. Es kam mir vor, als versuchte ich, mit bloßen Händen eine schleimige Aalraupe zu fangen. Zerstreut holte ich mir die Angaben über das Bootsunglück vor sechs Jahren auf mein Terminal. Das Opfer Aaro Koponen hatte keine Vorstrafen. Ich loggte mich ins Melderegister ein und rief die Daten auf. Koponen, Aaro Juhani, geboren 15.6.1947. Geschieden 1989, ein Sohn, Ari Juhani, geboren am 23.4.1972.

Hatte der Sohn Juha Merivaara für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht? Laut Melderegister wohnte er in Turku. Dann stach mir der Name von Koponens Exfrau in die Augen: Saarela, Elvi Seija Johanna.

Der Vorname Elvi machte mich unsicher, doch als ich mir die Personenkennziffer noch einmal ansah, wusste ich, dass ich auf eine heiße Spur gestoßen war: Seija Saarela war die Frau des tödlich verunglückten Aaro Koponen gewesen.

Ich zog die Jacke über und lief die Treppe zur Garage hinunter. Seija Saarela hatte gesagt, sie arbeite heute den ganzen Tag im Reformhaus ihrer Freundin im Einkaufszentrum »Lippulaiva«. Als ich dort die korkenzieherförmige Rampe zur Tiefgarage hinunterfuhr, kam ich mir vor wie auf der Rennstrecke eines Vergnügungsparks. Tatsächlich wirkte das Einkaufszentrum wie ein riesiger Vergnügungspark mit Restaurants, Spielautomaten und Kinderspielecken, nur vergnügte man sich hier nicht mit Achterbahnfahrten, sondern mit Geldausgeben. Der heftige Regen hatte sowohl gelangweilte Schüler als auch plaudernde Rentner in die überdachten Ladenpassagen getrieben. Das Reformhaus befand sich im ersten Stock neben einem Sportge-schäft. Eigentlich brauchte ich neue Joggingschuhe. Ich warf im Vorbeigehen einen Blick auf die Herbstmodelle, probierte sie jedoch nicht an, obwohl die stoßdämpfenden Luftkissenschuhe für siebenhundert Finnmark verlockend aussahen. Ob Antti sie mir wohl zum dritten Hochzeitstag spendieren würde?

Das Reformhaus »Wassermann« bot alles Mögliche an, von diversen Nährstofftabletten bis zu Biogemüse, Ökomehl und Kräuterkosmetik. An einer Wand stand ein Regal mit esoteri-scher Literatur: Astrologie, Tarot, Meditation. Eine etwa vierzigjährige Frau blätterte in einem dicken Opus, das dazu riet, mittels Numerologie den Sinn des Lebens zu finden. Seija Saarelas Schmuck war auf einem Regal neben dem Verkaufs-tisch ausgestellt, auf dem Tisch selbst stand eine große, kunstvoll arrangierte Schale mit Halbedelsteinen. Ich erkannte Rosenquarz, Amethyst und gewöhnlichen Quarz.

»Guten Tag, Frau Kommissarin«, sagte Seija Saarela und blickte von einem silbernen Ohrring mit kleinen Türkisen auf, an dem sie gerade einen Haken befestigte.

»Können wir uns hier unterhalten?«, fragte ich mit Blick auf die Kundin.

»Es geht doch nicht um Geheimnisse«, sagte sie munter.

Bildete sie sich wirklich ein, ihre Verbindung zu Juha Merivaara würde der Polizei verborgen bleiben? Ich trat an den Verkaufs-tisch. Die Steine schimmerten im Licht wie ein Piratenschatz aus dem Märchenbuch. An der Tischecke stand eine halbmeter-lange Truhe mit kleinen Schmucksteinen, die für zehn Mark pro Stück angeboten wurden. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Hand hineinzutauchen.

»Nehmen Sie einen heraus, ganz blindlings, schauen Sie, was Ihre Hand für Sie auswählt«, forderte Seija mich auf.

Auf dieses Spiel wollte ich mich nicht einlassen. Ich zog die Hand zurück.

»Sie wollten mir etwas über Harri Immonen erzählen.«

Ihre kurzen, runden Finger schoben den Haken an seinen Platz, dann drückte sie mit einer winzigen Zange die Öse zu.

»Ich fand Harris Tod von Anfang an merkwürdig. Dass er Selbstmord begangen hätte, wie Juha andeutete, habe ich nie geglaubt. Die Polizei ist ja dann zu dem Ergebnis gekommen, es sei ein Unfall gewesen. Ich war damals schon sicher, dass auf der Insel negative Energien wirken, nach den blutigen Schlachten, die dort ausgetragen wurden! Auf Rödskär gehen die Geister all dieser ruhelosen Toten um.«

»Hat das irgendetwas mit Harri zu tun?«, fragte ich abweisend, denn in der Gesellschaft von Menschen, die an übernatürliche Erscheinungen glaubten, fühlte ich mich unbehaglich. Falls es solche Kräfte wirklich gab, wollte ich nichts mit ihnen zu tun haben.

»Ja, oder eigentlich eher mit den toten Eiderenten und Muscheln.«

»Was für tote Muscheln?«

»Harri ist doch Anfang Oktober gestorben. Ein paar Wochen vorher, Mitte September, hat Mikke mich auf Rödskär abgesetzt.

Er wollte ein Stück allein segeln, um das neue Ruder der

›Leanda‹ zu testen. Es war schönes Wetter vorhergesagt, und ich wusste, dass die Merivaaras mitten in der Woche nicht auf der Insel sein würden. Mit Harris Anwesenheit hatte ich nicht gerechnet, aber wir haben uns nicht aneinander gestört, jeder ist seiner eigenen Beschäftigung nachgegangen. Am zweiten Abend haben wir zusammen Tee getrunken. Plötzlich erschrak ich fürchterlich, denn in der Küchenecke lag eine tote Eiderente.

Ich habe mit Harri geschimpft, weil er sie ins Haus gebracht hatte, sie konnte ja alle möglichen Krankheitskeime verbreiten.«

Die Frau, die in dem Numerologiebuch geblättert hatte, trat auf Seija zu und meinte, sie finde das Buch wahnsinnig interessant.

»Das macht zweihundertzweiunddreißig Mark«, sagte Seija, woraufhin die Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, zwei Hunderter und einen Fünfziger hinblätterte.

»Ganz schön teuer«, bemerkte ich, als die Kundin gegangen war.

»Nicht wahr? Die Leute sind eben bereit, viel Geld auszugeben, um den inneren Frieden zu finden oder den inneren Helden, je nachdem, was gerade aktuell ist. Ich selbst glaube nicht an Numerologie, aber bei manchen funktioniert sie offenbar. Bei mir wirken eher die Steine, damit kuriere ich mich.

Was wäre wohl der passende Stein für Sie? Welches Sternzeichen sind Sie?«

»Warum hatte Harri die tote Eiderente ins Haus gebracht?«, unterbrach ich sie.

»Er meinte, er hätte in der Umgebung von Rödskär ungewöhnlich viele verendete Exemplare gefunden, sowohl Eiderenten als auch Miesmuscheln, von denen sich die Enten hauptsächlich ernähren. Er wollte den Kadaver aufs Festland bringen und untersuchen lassen.«

»Warum? Hatte er den Verdacht, die Vögel wären vergiftet worden?«

»Das hat er nicht gesagt, er schien mir nicht zu vertrauen. Da später von der Sache nicht mehr die Rede war, habe ich den ganzen Vorfall vergessen und erst wieder daran gedacht, als Mikke sagte, Sie hätten den Verdacht geäußert, dass auch Harri ermordet wurde.«

In dem Moment drängte eine Schar junger Mädchen herein, die die Steine bewunderten und die Naturkosmetik testeten. Das schien mir der geeignete Augenblick für einen Themenwechsel.

»Haben Sie sich immer schon Seija genannt, oder haben Sie früher Elvi geheißen? Elvi Koponen?«

Sie legte die Zange aus der Hand, als wäre sie plötzlich glü-

hend heiß geworden.

»Wieso? Elvi habe ich mich nie genannt, den Namen habe ich schon als kleines Mädchen gehasst.«

»Warum haben Sie uns verschwiegen, dass Ihr geschiedener Mann bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist, an dem Juha Merivaara beteiligt war?«

»Weil ich keinen Grund sah, es zu erwähnen.« Sie nahm die Zange auf und begann einen Haken an einem winzigen Amethyst zu befestigen. »Aaro und ich hatten uns schon fünf Jahre vorher getrennt. Aaro war Alkoholiker, und Juha trug an dem Unfall keine Schuld.«

»Betrunken war er aber auch.«

»Sein Blutalkohol lag unter dem damaligen Limit. Vielleicht hätte er ausweichen können, wenn er nüchtern gewesen wäre, vielleicht auch nicht. Womöglich ist Aaro absichtlich vor das Segelboot gerast. Für mich spielte das keine Rolle. Er war der Vater meines Sohnes, aber davon abgesehen war er mir längst fremd geworden.«

Wütend nahm sie einen zweiten violett leuchtenden Amethyst zur Hand und brachte den nächsten Haken an. Eines der Mädchen kam mit Arnika-Lippenbalsam zur Kasse. Ich überlegte, ob ich Seija Saarela gleich mitnehmen sollte, entschied mich aber dagegen, weil ich keine handfesten Beweise gegen sie hatte.

»Wollen Sie etwa behaupten, es sei purer Zufall gewesen, dass Sie sich mit den Merivaaras angefreundet haben?«, fragte ich, als sie kassiert hatte.

»Gibt es überhaupt so etwas wie Zufall? Vielleicht war es Schicksal.«

»Als Sie Mikke kennen gelernt haben, wussten Sie also nicht, dass er Juha Merivaaras Bruder war?«

»Sein Stiefbruder. Nein. Und als ich es erfuhr, waren wir schon gute Freunde. Da spielte es keine Rolle mehr.«

»Wissen Mikke und Anne, dass der Verunglückte Ihr geschiedener Mann war?«

»Mikke weiß es. Anne habe ich es nicht erzählt, Juha hat ihr ohnehin genug Kummer bereitet.«

Die Mädchen drängten sich um die Steintruhe.

»Echt cool, der Amazonit, den muss ich haben«, rief eine, worauf alle anderen auch einen Stein kauften. Es war unmöglich, weiter mit Seija zu reden, weil pausenlos neue Kunden hereinkamen. Also sagte ich ihr, sie müsse eine offizielle Aussage machen, jemand aus unserem Dezernat werde einen Termin mit ihr vereinbaren.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus bat ich sie, mir ebenfalls einen Amazonit herauszusuchen. Der Name gefiel mir auch dann noch, als sie mich belehrt hatte, er gehe auf eine Ver-wechslung mit dem grünen Nepherit zurück, der am Amazonas gefunden wurde. Obwohl der Amazonit also nichts mit den sagenhaften starken Frauen zu tun hatte, drehte ich ihn zufrieden zwischen den Fingern, als ich die Treppe hinunterging. Er fühlte sich kühl und warm zugleich an. Als ich ihn in die Jackentasche steckte, merkte ich, dass dort bereits ein Stein lag: der quarzge-streifte rote Granit, den ich, ohne weiter darüber nachzudenken, in Rödskär aufgelesen hatte. Im Vergleich zu dem blank polierten Amazonit war der Granit rau und lauwarm, nur die Quarzeinsprengsel fühlten sich wärmer an.

Als Mittagessen holte ich mir bei Mövenpick ein Hörnchen mit zwei Kugeln Schokoladeneis. Die Portion hatte garantiert nicht weniger Kalorien als die von den Gesundheitsexperten empfohlene Hauptmahlzeit. Dann fuhr ich zurück zum Präsidium. Seija Saarela und die toten Eiderenten spukten mir im Kopf herum, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da gab es nur eine Lösung: Ich beschloss, auf der Stelle die im Arbeitsver-trag vorgesehene Fitnesspause in Anspruch zu nehmen. Danach würde mein Gehirn hoffentlich wieder funktionieren. Ich zog das Trikot, die Leggings und die alten Turnschuhe an, die im Schrank lagen, band die Haare zusammen und war bereit für den Kraftraum im Keller des Präsidiums. Vorsichtshalber nahm ich jedoch das Handy mit, denn Koivu und Puustjärvi wollten sich sofort melden, wenn sie etwas über den Besitzer der Mare Nostrum herausgefunden hatten. Stand das Unternehmen womöglich in Kontakt zur Revolution der Tiere? Vielleicht hatte Juha Merivaara die Organisation über Strohmänner unterstützt.

Oder er hatte nicht gewusst, dass die Leute, die hinter der Mare Nostrum standen, auch die RdT finanzierten.

Ich strampelte mich eine Viertelstunde auf dem Hometrainer ab, dann ging ich in die Boxecke. Pam, pam, pam, ich drosch auf den Sandsack ein und stellte mir vor, er wäre Ari Väätäinen.

Oft hatte mir der Sandsack als Ersatz für Pertti Ström gedient, ein paar Mal auch für Antti. Eigentlich hätte ich beim Boxen gern Musik gehört, alte Punksongs von Eppu Normaali oder den Dead Kennedys wären genau das Richtige gewesen. So aber begnügte ich mich damit, meine Schläge mit einem blutrünstigen Knurren zu untermalen, was mir verwunderte Blicke von den Männern des Hundertkiloclubs der Schutzpolizei eintrug, die sich auf der Ringermatte abmühten.

Anschließend trainierte ich die Oberschenkel und die Bauchmuskeln, die nach der Schwangerschaft immer noch nicht in alter Form waren. Nachdem ich mich eine Stunde lang ausgetobt hatte, war ich wieder fähig, an die Arbeit zu gehen. Als Erstes holte ich Harris Akte, doch bevor ich sie aufschlagen konnte, klingelte das Telefon. Wang teilte mir mit, die Pilzsammler-Betriebswirtin und ihr Toomas seien am Montagmittag in der estnischen Stadt Pärnu gesehen worden. Die estnische Polizei werde die Suche fortsetzen.

»Soll ich den verzweifelten Ehemann ins Bild setzen?«

»Vermutlich freut er sich zu hören, dass seine Frau nicht von den Wölfen gefressen wurde, sondern sich ein kleines Vergnü-

gen gönnt. Weiß man etwas über diesen Toomas? Ist die Frau möglicherweise in Gefahr?«

»Bei uns keine Vorstrafen. In Estland hat er ein halbes Jahr wegen wiederholten Betrugs abgesessen.«

»Mach den Esten Dampf. Vielleicht täuscht sich unsere Betriebswirtin über die Absichten ihres Galans.«

»Wieso fallen intelligente Frauen immer wieder auf solche Schwindler herein?«, fragte Wang, und ich konnte mir eine boshafte Bemerkung nicht verkneifen:

»Koivu ist jedenfalls kein Schwindler, im Gegenteil, er ist selbst zu oft an der Nase herumgeführt worden. Diesmal hoffentlich nicht.«

Als Wang wortlos auflegte, wurde mir klar, wie idiotisch ich mich benommen hatte. Koivus Frauengeschichten gingen mich nichts an. Solange er mich nicht um Rat fragte, hatte ich kein Recht, mich als fürsorgliche große Schwester aufzuspielen. Und warum musste ich Anu Wang vor den Kopf stoßen?

Ich schlug Harris Akte auf, breitete die Fotos von der Leiche vor mir aus und las den Obduktionsbericht noch einmal durch.

Nichts deutete darauf hin, dass Harris Tod kein Unfall war.

Mord war aber nicht ausgeschlossen: Wenn jemand von einem Felsen gestoßen wurde, blieben nicht unbedingt Spuren zurück.

Wie aber sollte ich das ein Jahr nach der Tat beweisen?

Als Nächstes nahm ich mir die Aufstellung von Harris Besitztümern vor, die auf Rödskär sichergestellt worden waren.

Spektiv, Fernglas, Fotoapparat, Laptop. Schlafsack, zwei Pullover, lange Unterhosen, Wollsocken … Moment mal!

Ein Laptop Marke Olivetti. Wo hatte ich so was kürzlich erst gesehen?

Auf Mikke Sjöbergs Boot.

Natürlich konnte es reiner Zufall sein, aber ich hatte mich ja bereits gefragt, was Mikke auf seinem Boot, ohne Stroman-schluss, mit einem Computer anfing. Ich musste herausfinden, was aus Harris Laptop geworden war. Koivu hatte auf der Festplatte nach dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders gesucht. Aber vielleicht war dort etwas ganz anderes gespeichert gewesen: ein Hinweis auf den Mörder.

Ich suchte die Telefonnummer von Harris Eltern heraus.

Wenn ich mich als Hauptkommissarin Kallio vorstellte, würden sie mich vielleicht nicht mit der Jurastudentin Maria in Verbindung bringen, mit der ihr Sohn einige Monate lang befreundet gewesen war. Unsere einzige Begegnung lag zehn Jahre zurück, wahrscheinlich erinnerten sie sich gar nicht mehr an mich.

Meine Überlegungen waren müßig, denn es meldete sich niemand. Koivu würde die Immonens bei nächster Gelegenheit besuchen müssen. Aber selbst wenn wir den Laptop ausfindig machen sollten, waren Harris Dateien vermutlich längst ge-löscht.

Ich wollte mir gerade in der Kantine ein Brötchen holen, als das Handy klingelte.

»Pekka hier, hallo!« Schon der hastig ausgestoßene Gruß verriet, dass Koivu wichtige Neuigkeiten hatte. »Die Angaben über die Mare Nostrum liegen tatsächlich im Bankschließfach.

Sie hat ihren Sitz an zwei Orten: in Saint Peter Port auf Guernsey und in Wilna in Litauen. Die Firma hat drei Aktionäre, von denen zwei allerdings nur je fünf Prozent der Aktien besitzen.

Bei den Kleinaktionären handelt es sich um die litauischen Staatsbürger Vitalis Ramanauskas und Imants Peders. Und jetzt halt dich fest: Hauptaktionär ist ein gewisser Juha Merivaara!«

Vierzehn

Am späten Nachmittag kam ich so gut gelaunt nach Hause wie seit langem nicht mehr. Ich hatte die litauische Polizei um Amtshilfe bei der Suche nach Ramanauskas und Peders gebeten und anschließend mit Puupponen am Kaffeeautomaten darüber gewitzelt, wie international unser Dezernat neuerdings war –

Kontakte mit der estnischen und der litauischen Polizei sowie mit Scotland Yard, und das alles an einem Tag.

Koivu hatte versprochen, sich bei Harris Eltern nach dem Verbleib des Computers zu erkundigen. Außerdem sollte er Seija Saarela, wenn sie am Freitag zur Vernehmung kam, nach Mikkes Olivetti fragen.

Als ich nach Hause kam, saßen Antti und Iida gerade bei einem kleinen Imbiss. Iida wollte ihr Blaubeerkompott unbedingt selbst löffeln, wobei mindestens die Hälfte auf ihrem Lätzchen oder auf dem Fußboden landete. Auch der Gazever-band an der Schläfe hatte einige Flecken abbekommen, und die ganze Mundgegend leuchtete in sattem Blau. Iida sah aus wie ein Clown, der beim Schminken die falsche Farbe erwischt hat.

Ich küsste meine Tochter auf den Scheitel und meinen Mann auf den Mund. Einstein schubberte an meinen Knöcheln und schien zu glauben, ich würde ihm etwas zu fressen geben. Stattdessen schmierte ich mir ein üppiges Butterbrot.

»Ich hab einen Anruf vom Mathematischen Institut bekommen. Sie haben gefragt, ob ich nicht eine Verlängerung meiner Assistentur beantragen will.«

»Wann läuft die Bewerbungsfrist ab?«, fragte ich mit vollem Mund.

»Heute. Deshalb hat die Sekretärin ja angerufen, sie dachte nämlich, mein Antrag wäre verloren gegangen.«

»Du willst also keine Verlängerung?«

Anttis fünfjährige Assistentur lief zum Jahresende aus. Ich hatte mich nicht in seine Karriereplanung eingemischt, weil mir die Entscheidung darüber nicht zustand. Trotz seiner Promotion vor drei Jahren war er über die Assistentur bisher nicht hinaus-gekommen, denn ihm fehlten die kräftigen Ellbogen und die edle Kunst, Konkurrenten zu verbeißen. Außerdem war ihm der Universitätsbetrieb verleidet, weil er meinte, heutzutage komme es nur noch auf Prüfungen und Scheine an, Wissensdurst und Entdeckerfreude zählten nichts mehr.

»Du weißt ja, dass ich ein paar Stipendienanträge laufen habe.

Jedenfalls würde ich mich das Frühjahr über gern noch um Iida kümmern. Aber dann … Vielleicht finde ich einen anderen Mathematikerjob.«

»Du als Versicherungsmathematiker? Oder bei einer Bank, im dunklen Anzug? Das kann ich mir kaum vorstellen!«

Antti ging es wie mir, in Jeans und Pullover fühlte er sich am wohlsten. Seine glatten schwarzen Haare fielen ihm bis auf die Schultern, wenn er sie nicht im Nacken zusammenband. Das schmale Gesicht, die Hakennase und der große Mund legten den Verdacht nahe, dass Indianer unter den Vorfahren der Sarkelas waren.

»Ich hatte etwas ganz anderes im Sinn. Vielleicht hat der Naturschutzbund oder Greenpeace Verwendung für meine mathematischen Fähigkeiten. Oder das Meeresforschungsinsti-tut. Ich hab neulich gehört, dass im nächsten Sommer ein von der EU finanziertes Ostseeforschungsprojekt beginnt, bei dem auch Mathematiker gebraucht werden.«

»Kategorietheoretiker?« Die Sparte, auf die sich Antti spezialisiert hatte, war denkbar weit von jeder praktischen Anwendung entfernt.

»Den Winter über hätte ich Zeit genug, mich wieder in die elementare Mathematik einzuarbeiten.«

»Du willst also hauptberuflicher Weltverbesserer werden«, grinste ich, obwohl mir Anttis ernsthafte Einstellung zur Welt und zum Leben von Anfang an gefallen hatte. Manchmal übertrieb er allerdings und versank tagelang in Melancholie, bis ich ihn mit Gewalt aus seiner trüben Stimmung riss.

»Man kann doch nicht sein Leben lang unbeteiligt zuschauen, wie rundherum alles zum Teufel geht. Wenn ich meine Welt-verbesserungsmanie, wie du das nennst, irgendwie mit meinen Fachkenntnissen verbinden kann, warum nicht? Du bist ja auch nicht der Typ, einfach alles laufen zu lassen.« Er kam zu mir und schlang die Arme um mich, Iida drängte sich dazwischen, und schließlich fanden wir uns in einer Hotdog-Umarmung wieder, wobei wir Eltern die beiden Brötchenhälften waren und Iida das Würstchen. Die Rolle des Senfes übernahm das Blaubeerkompott, mit dem wir bald alle drei beschmiert waren.