»Findest du, Polizisten sind Weltverbesserer?«, fragte ich, als wir uns endlich voneinander lösten.

»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass du deinen Job auch ernst nimmst.«

»Aus irgendeinem Grund mag ich diesen Scheißjob und würde ihn um keinen Preis gegen einen anderen eintauschen«, gab ich zu. »Mit anderen Worten, wenn du wieder arbeiten gehst, müssen wir eine Betreuung für Iida finden. Oder sind wir Rabeneltern, wenn wir uns nicht selbst um unser Kind kümmern?«

Das schlechte Gewissen plagte mich jedes Mal, wenn ich in der Zeitung einen der Leserbriefe las, in denen berufstätige Mütter verteufelt wurden, obwohl ich genau wusste, dass niemand davon profitierte, wenn Iida bis zum Schulbeginn zu Hause blieb und ich meine eigenen Bedürfnisse verdrängte. Als ich mich mit meiner Schwester Eeva darüber unterhalten hatte, hatte sie wieder einmal gefragt, warum ich mir unter diesen Umständen überhaupt ein Kind zugelegt hätte. Sie war Englisch-lehrerin, wollte aber zu Hause bleiben, bis auch ihr im Frühsommer geborenes drittes Kind im Schulalter war.

Iidas Gesicht lief rot an, sie ächzte. Ich erkannte die Anzei-chen, es war Zeit, die Windeln zu wechseln. Iida riss sich los und lief lachend ins Wohnzimmer. Das Einfangen des kleinen Stinktiers wurde zum Spiel. Sie versteckte sich hinter dem Sofa, dann hinter einem Sessel und kicherte fröhlich, weil ich tat, als bekäme ich sie nicht zu fassen. Als ich sie endlich ins Badezimmer im Obergeschoss verfrachtet hatte, war die Bescherung schon aus der Windel in beide Hosenbeine gelaufen, und Iidas triumphierendes Strampeln sorgte dafür, dass sie sich noch weiter ausbreitete. Unten klingelte das Telefon, Antti erschien mit verärgertem Gesicht an der Badezimmertür.

»Für dich. Was Dienstliches, Lähde ist dran.«

»Ich hab die Hände voller Kacke, außerdem hab ich frei!«

»Es scheint wichtig zu sein, Lähde war ganz verstört.«

»Scheiße!«, sagte ich aus vollem Herzen. »Mach du weiter, ehe Iida vom Wickeltisch fällt.«

Ich wusch mir die Hände und rannte ans Telefon. Lähde, der Abenddienst hatte, klang verängstigt.

»Ein Notfall, Maria! Ström hat mich hier auf dem Präsidium angerufen, ziemlich betrunken. Er bestand darauf, dass ich das Gespräch aufzeichne. Als ich sagte, jetzt liefe das Band, hat er erklärt, er würde gleich auflegen und sich dann erschießen. Er hätte nur angerufen, um uns die Arbeit zu erleichtern.«

Ich fühlte mich auf einmal völlig leer, irgendetwas in mir weigerte sich zu begreifen.

»Hat er es ernst gemeint?«

»Ich glaube ja. Er wollte meine Einwände nicht hören, hat den Hörer aufgeknallt, und als ich zurückgerufen habe, hat er nicht abgenommen.«

»Kam der Anruf aus seiner Wohnung?«

»Der Nummernanzeige nach ja. Ich hab schon zwei Streifenwagen losgeschickt.«

»Gut. Ich fahr sofort hin. Bleib in der Nähe des Telefons, ich ruf dich an, sobald ich weiß, was los ist.«

Ich nahm mir nicht die Zeit, nach oben zu rennen, sondern rief zu Antti hinauf, ich müsse weg. In fliegender Hast zog ich Schuhe und Lederjacke an, steckte Brieftasche und Handy ein.

Erst als ich mit dem Schlüssel am Zündschloss herumstocherte, merkte ich, wie heftig meine Hände zitterten. Was zum Teufel war in Pertsa gefahren? Ich bog in die Vähän-Henttaantie ein, beschleunigte auf neunzig, obwohl ich wusste, dass ich mich selbst und andere gefährdete. Verflucht, warum hatte ich kein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn! An der nächsten Kreuzung wäre ich fast mit einem Müllwagen zusammengesto-

ßen. Der Fahrer hupte und schüttelte die Faust, doch ich raste unbeirrt weiter. Eine Weile klammerte ich mich an den Gedanken, dass Pertsa für die Zeit seiner Suspendierung die Dienstwaffe hatte abgeben müssen, doch dann erinnerte ich mich an die .38er Beretta, für die er ebenfalls einen Waffen-schein besaß.

Nach seiner Scheidung war Pertsa in ein Einzimmerapparte-ment in Olari gezogen. Ein paar Mal hatte ich an der Wohnungstür mit ihm gesprochen, hereingebeten hatte er mich nie. Nun standen zwei Streifenwagen vor dem Haus, Hauptmeisterin Liisa Rasilainen von der Schutzpolizei sprintete sofort los, um mir den Zutritt zu verwehren. Als sie mich erkannte, hellte sich ihr Gesicht auf.

»Maria! Gut, dass du da bist. Wir sind vor einer Minute angekommen. Nachbarn haben vor drei Minuten einen Schuss aus Ströms Wohnung gehört, einer hatte auch schon den Notruf alarmiert.«

Ich nickte nur, zu sagen gab es nichts. Auf dem Hof und an den Fenstern der Nachbarhäuser waren die ersten Schaulustigen aufgetaucht. Liisa blieb zurück, um sie in Schach zu halten, ihre Kollegen waren bereits im zweiten Stock. Ich rannte die Treppe hinauf, obwohl mir die Beine kaum gehorchen wollten.

Die Tür zur Nachbarwohnung stand offen, einer der Polizeimeister im dunkelblauen Overall sprach beruhigend auf einen grauhaarigen, gebrechlichen Mann ein, den der Schuss in der Nachbarwohnung verständlicherweise aus der Fassung gebracht hatte. Die anderen Streifenbeamten grüßten mich, offensichtlich erleichtert, dass ich das Kommando übernahm.

»Wir haben es mit der Klingel und dem Megaphon versucht.

Keine Reaktion. Der Hausmeister ist unterwegs«, sagte Polizeimeister Haikala.

»Und der Schuss kam aus dieser Wohnung, ist das sicher?«

»Sagen die Nachbarn jedenfalls.«

»Gib mir das Megaphon!« Ich riss ihm die Flüstertüte fast aus der Hand und hob sie an die Lippen.

»Pertsa! Maria hier! Mach keine Dummheiten, deine Kinder brauchen dich! Und wir im Dezernat …«

Meine Worte verhallten, es kam keine Antwort. Ich spähte durch den Briefschlitz, sah aber nur einen Haufen Reklamesen-dungen und ein Stück abgetretenes, graues Linoleum.

Vergeblich versuchte ich, den Arm durch den Briefschlitz zu schieben, um die Tür zu öffnen. Der Pulvergeruch, der mir entgegenwehte, war unverkennbar.

»Habt ihr es über den Balkon versucht?«, fragte ich und wunderte mich, dass meine Stimme kaum zitterte. Von draußen hörte man Sirenengeheul, offenbar war jemand auf die Idee gekommen, einen Krankenwagen anzufordern.

»Schwierig. Ström hat die Eckwohnung. Und das Türschloss aufzuschießen ist zu riskant.«

»Grundriss?«

»Bringt der Hausmeister mit, aber der Nachbar von unten hat uns schon informiert. Die Wohnungen sind alle gleich. Vom Flur geht die Toilette ab, links ist die Küche, rechts das einzige Zimmer.«

»Habt ihr einen Schraubenzieher? Wir könnten das Schloss abschrauben. Und wieso soll es gefährlich sein zu schießen? Gib mir deine Waffe, wenn du dich nicht traust.«

Ich wollte so schnell wie möglich in die Wohnung. Vielleicht war Ström nur verletzt, vielleicht konnte man ihn noch retten.

Jede Sekunde zählte.

»Der Hausmeister muss gleich hier sein, er hat sein Büro ganz in der Nähe. Wir können nicht schießen, du kennst Ström doch.

Wenn er durchgedreht ist und besoffen herumballert, kann er einen von uns treffen.«

»Ich glaube nicht, dass er das tut. Hol wenigstens einen Schraubenzieher!«

Mit schleppendem Schritt kam der Hausmeister die Treppe herauf und steckte wortlos den Generalschlüssel ins Schloss.

Pertsa hatte oft über die Dummheit der Leute geschimpft, die ihr Eigentum nicht schützten, aber auch er hatte weder das Patent-schloss benutzt noch die Sicherheitskette vorgelegt. Die Tür ging mühelos auf, ich stürmte hinein, obwohl ich das, was mich in der Wohnung erwartete, eigentlich nicht sehen wollte.

Im Flur waberte immer noch Pulverdampf. Pertsa lag im Wohnschlafzimmer, halb auf dem Sofa, halb auf dem Fußboden.

Der blutige Mund stand offen, die Hälfte des Hinterkopfes war auf die Sofalehne gespritzt, eine unleserliche Karte seines Geistes.

»Gib mir Handschuhe«, flüsterte ich Haikala zu. Ich streifte sie über, trat hinter das Sofa und tastete am schlaff herabhängenden linken Arm nach dem Puls. Natürlich fühlte ich keinen, auch am Hals nicht.

»Der Kerl hat genau gewusst, wohin er schießen muss, um sicherzugehen«, sagte ich zu mir selbst. Ström hatte eine unfehlbar tödliche Kugel verwendet, die ihm den Kopf fast weggesprengt hatte. Offenbar hatte er durch den Gaumen auf den Hinterkopf gezielt, damit das Gesicht einigermaßen unversehrt blieb. Seine bierbraunen Augen standen offen, die großen Poren zeichneten sein Gesicht, das bald jede Farbe verlieren würde. Noch war die Zeit nicht gekommen, ihm die Augen zu schließen und das Blut vom Kinn zu wischen.

»Fordert die Techniker und den Fotografen an«, befahl ich und trat vorsichtig von der Leiche zurück.

Ich war völlig ruhig. Bald würde die Routine einsetzen, eine großartige Untersuchung war nicht nötig, denn es handelte sich eindeutig um Selbstmord. Pertsa hielt die Beretta in der rechten Hand, die Schmauchspuren würden mit Sicherheit übereinstim-men. Vor seiner Tat hatte er eine Halbliterflasche Schnaps fast leer getrunken. Sie lag zu seinen Füßen auf dem Teppich, offenbar hatte er sie umgestoßen, als er nach dem Schuss vom Sofa gesackt war.

Meine Augen registrierten die Einzelheiten so routiniert wie an jedem anderen Tatort. Das Zimmer war spärlich möbliert und, von dem übervollen Aschenbecher abgesehen, peinlich sauber.

Fernseher und Video standen so, dass man vom Sofa aus die beste Sicht hatte. Der Esstisch und die beiden Stühle, zierliche Korbmöbel, passten nicht zu Pertsa. Sicher hatte er die erstbeste Esszimmergarnitur gekauft, die billig zu haben war. Auf dem Sofatisch lagen die neueste Ausgabe der Zeitschrift »Polizei und Justiz« und ein halb ausgefüllter Lottoschein. Das Doppelbett im Alkoven war so sorgfältig gemacht, dass es beim strengsten Stubenappell durchgegangen wäre.

Obwohl ich glaubte, meine fünf Sinne beisammen zu haben, hätte ich nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis die Techniker eintrafen. Ich streifte den Schuhschutz über, zog eine Schutzjacke an und steckte die Haare unter eine Art Duschhau-be. Der Fotograf trat in Aktion, die Sanitäter erklärten Ström offiziell für tot.

Ich warf einen Blick in die Küche, die, abgesehen von zwei leeren Bierflaschen auf der Spüle, sauber wie geleckt war. So ordentlich wie seine Wohnung war auch Ströms Schreibtisch immer gewesen, jedes Papier hatte exakt auf seinem Platz gelegen. Als Nächstes ging ich ins Bad. Auf einer grünen, rostfleckigen Waschmaschine lagen zwei Briefe, der eine an Ströms Kinder Jani und Jenna adressiert, der andere an das Gewaltdezernat der Espooer Polizei. Ihn nahm ich in die Hand.

Pertsa hatte sich offenbar nicht entscheiden können, ob er Druck- oder Blockschrift verwenden sollte, seine Handschrift war schwer zu entziffern.

An das Dezernat für Gewaltverbrechen der Polizei Espoo. Wir haben im Kollegenkreis mitunter darüber geklagt, dass nicht alle Selbstmörder einen Brief hinterlassen. Die Polizei muss ihre Zeit für Ermittlungen verschwenden, bis feststeht, dass der Tote sich selbst ins Jenseits befördert hat. Diese Mühe will ich euch ersparen. Ich gehe aus eigenem Entschluss, ich weiß genau, was ich tue. Mein Leben ist nicht mehr lebenswert, also werde ich mich erschießen. Wenn man mir nun auch noch den Beruf wegnimmt, bleibt mir nichts mehr. Ich habe immer versucht, ein guter Polizist zu sein, mich dafür einzusetzen, dass anständige Steuerzahler sich jederzeit sicher fühlen können. Das ist für mich frustrierend, denn die Kriminellen haben heute mehr Rechte als die ehrlichen Bürger. Auch dieser Väätäinen wird eines Tages seine Frau umbringen, die Polizei kann ihn nicht daran hindern.

Viele von euch sind sicher froh, mich los zu sein, aber rächt euch bitte nicht an mir, indem ihr ein prunkvolles Begräbnis feiert. Schon beim Gedanken an dieses Theater wird mir schlecht. Mir wird sicher niemand eine Träne nachweinen, und das ist auch nicht nötig. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, ich habe mir immer gewünscht, in den Sielen zu sterben. Eine Zeit lang habe ich mit dem Gedanken gespielt, zuerst noch Väätäinen und ein paar andere Kotzbrocken zu erschießen, aber ich lasse es. Ihr habt sowieso zu viel zu tun.

Bleibt gute Polizisten.

Hauptkommissar P. Ström.

Zum Ende hin fielen die Zeilen immer steiler nach unten ab, die Handschrift wurde undeutlicher. Vielleicht hatte Pertsa beim Schreiben die Schnapsflasche geleert. Ich rief den Technikern zu, ich hätte Abschiedsbriefe gefunden und brauchte Plastikbeutel. Da Pertsa den Brief an seine Kinder nicht zugeklebt hatte, las ich auch ihn.

Liebe Jenna und lieber Jani, ich habe euch immer lieb gehabt, auch in den letzten Jahren, in denen ich nicht mehr bei euch leben durfte. Nun gehe ich für immer fort, aber bei eurer Mutter und Kai wird es euch an nichts fehlen, das weiß ich.

Jani, du bekommst meine gesamte Polizeiausrüstung, und du, Jenna, sollst Omis Amethystring haben, der in der verschlossenen Waffenkiste unter dem Bett liegt. Verkauft alles andere und verwendet das Geld für eure Ausbildung. Viel kann ich euch nicht hinterlassen.

An dem, was geschieht, trägt niemand Schuld außer mir selbst, auf gar keinen Fall ihr beide oder eure Mutter. Denkt immer daran. Seid in der Schule fleißig, bleibt anständige Menschen und trauert nicht zu sehr um mich. So ist es für alle am besten.

In Liebe, Vati.

Hakkarainen von der Technik stand an der Badezimmertür und hielt mir Plastikbeutel hin. Irgendwer musste Jenna und Jani den Brief ihres Vaters überbringen; in der Asservatenkammer würde er jedenfalls nicht enden, dafür wollte ich schon sorgen. Ich schob die Briefe in die Schutzhüllen und legte sie wieder auf die Waschmaschine. Beim Aufschauen sah ich mich in dem blitzblank polierten Spiegel und wischte zerstreut einen Blau-beerfleck am Hals ab. Über der Vorhangstange an der Dusche war eine dunkelbraune lange Unterhose mit grünen Streifen zum Trocknen aufgehängt. Ich versuchte vergeblich, mir Ström beim Wäschewaschen vorzustellen. Er hatte immer verkündet, für Weiberarbeit gebe er sich nicht her.

Zu meiner Überraschung hörte ich Puupponens Stimme im Flur, offenbar hatte Lähde in seiner Verzweiflung auch ihn alarmiert. Ich ging zurück in das Wohnschlafzimmer, wo Techniker und Fotografen geschäftig, aber ungewohnt still zugange waren. Kein Theoretisieren, keine Frotzeleien wie sonst. Jeder der Anwesenden hatte zigmal unter Ströms Kommando einen Tatort untersucht.

»Herr des Himmels«, sagte Puupponen, als er Pertsas Leiche sah, und fügte fast scheu hinzu: »Maria …«

»Grüß dich. Was machst du denn hier?«

»Ich habe einen Zeugen nach Hause gefahren, weil er kein Busgeld hatte, und auf dem Rückweg hab ich es über Funk gehört. Da musste ich einfach herkommen …«

»Gut, dass du hier bist. Ströms Exfrau und die Kinder müssen benachrichtigt werden. Als unmittelbare Vorgesetzte übernehme ich das natürlich, aber es wäre leichter, wenn jemand mitkommt.

Hast du Zeit?«

Puupponen nickte und zog ein Taschentuch hervor. Er war noch blasser als sonst, nur die Nase war leuchtend rot und geschwollen, doch das kam sicher nur vom Schnupfen.

»Großartige Untersuchungen brauchen wir wohl nicht anzustellen, der Fall ist ja völlig klar«, sagte Hakkarainen von der Technik unschlüssig.

»Das schon, aber zieht die ganze Routine durch, damit keinerlei Unklarheiten bleiben. Von mir aus kann Pertsa abtransportiert werden, sobald ihr fertig seid. Hat schon jemand Lähde auf dem Präsidium informiert?«, wandte ich mich an einen der Streifenbeamten. Da er verneinte, wählte ich Lähdes Nummer.

»Maria hier. Wir sind leider zu spät gekommen. Ström hat sich unmittelbar nach dem Anruf erschossen.«

»Er ist tot?« In Lähdes Stimme schwang Entsetzen. »Um Himmels willen …«

»Genau. Würdest du Taskinen bitten, morgen früh an der Dezernatsbesprechung teilzunehmen? Die wird diesmal ein wenig anders ausfallen …«

Die Sanitäter brachten eine Bahre und legten Ström darauf.

Auf dem Sofa blieben die blutigen Umrisse seines Körpers zurück. Ich überlegte, wer die Wohnung putzen würde, und stellte fest, dass ich von Ströms Angehörigen, von Geschwistern oder Eltern, nichts wusste, obwohl ich jahrelang mit ihm zusammengearbeitet hatte. Der Leichnam, über den nun ein Tuch gebreitet wurde, wirkte zu grobschlächtig für die schmale Bahre. Haikala nahm die Uniformmütze ab, als Ström hinausge-tragen wurde.

»Warum zum Teufel hat der Idiot …« Puupponens Stimme zitterte. Wortlos reichte ich ihm die Schutzhülle mit dem an uns adressierten Brief.

»Wäre er wirklich gefeuert worden?«, fragte er, nachdem er Pertsas Zeilen gelesen hatte. Ich wusste es nicht. Aber selbst wenn – sich deshalb das Leben zu nehmen, erschien mir unverständlich. Andererseits war mir klar, dass anhaltender Alkoholmissbrauch den Blick verzerren konnte. Ich übergab Hakkarainen den Brief und bat ihn, mir bis zum nächsten Morgen eine Kopie zukommen zu lassen. Dann gab ich Puupponen das Zeichen zum Aufbruch. Gerade da klingelte mein Handy. Antti rief an, er war fuchsteufelswild.

»Wo steckst du denn!«, brüllte er. »Ich muss in anderthalb Stunden im Kulturzentrum sein!«

»Ich bin in Ströms Wohnung. Er hat sich erschossen.«

Das brachte ihn zum Verstummen. Ich sagte, ich wäre wahrscheinlich in einer Stunde zu Hause, dann würde er es noch schaffen, wenn er das Auto nahm. Doch er hatte bereits seine Schwester Marita angerufen und sie gebeten, auf Iida aufzupassen.

Obwohl der Krankenwagen längst abgefahren war, standen immer noch Gaffer auf dem Hof. Ich musste ziemlich kurbeln, um am Fahrzeug der Techniker vorbeizukommen. Zum Glück fuhr ich allein und konnte mich unterwegs ein wenig sammeln.

Ströms Exfrau wohnte mit ihren Kindern und ihrem zweiten Mann in Mankkaa, in dem Reihenhaus, in dem sie vor der Scheidung mit Pertsa gelebt hatte. Puupponen parkte hinter mir, wir betrachteten das stimmungsvolle Licht, das durch die Spitzengardinen vor dem Küchenfenster drang, und es tat mir Leid um die Idylle, die wir nun zerstören mussten.

Marja Hirvi, geschiedene Ström, öffnete uns die Tür. Ich hatte sie ein paar Mal flüchtig im Präsidium gesehen, wenn sie die Kinder bei Pertsa ablieferte. Sie war Ende dreißig, klein und braun gebrannt, und wirkte irgendwie schutzbedürftig. Die dunkelgrünen Leggings und die hüftlange, sonnengelbe Bluse betonten ihr mädchenhaftes Aussehen.

»Guten Abend, ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Hauptkommissarin Maria Kallio und Kriminalmeister Puupponen von der Espooer Polizei.«

In ihrem Gesicht erschienen plötzlich Falten. Sie war lange genug mit einem Polizisten verheiratet gewesen, um zu wissen, dass wir ihr keinen Höflichkeitsbesuch abstatteten.

»Pertti?«, fragte sie. »Was ist passiert?«

Von drinnen hörte man einen aufgebrachten Wortwechsel in kalifornischem Englisch: Die Reichen und die Schönen berede-ten wieder einmal ihre verwickelten zwischenmenschlichen Beziehungen.

»Sind Jani und Jenna zu Hause?«

Marja nickte.

»Am besten erzählst du es ihnen. Es tut mir aufrichtig Leid, Pertti hat sich vor etwa einer Stunde erschossen. Als wir eintrafen, konnten wir nichts mehr für ihn tun.«

Eine Weile starrte sie uns nur an. Sie musste die Lippen be-feuchten, bevor sie sprechen konnte.

»Erschossen, so. Eigentlich überrascht mich das nicht. Damit hat er schon damals gedroht, als ich ihn verlassen habe. Aber warum gerade jetzt?«

»Er war vorläufig vom Dienst suspendiert worden, weil er einen Verdächtigen bei der Vernehmung geschlagen hatte.«

»Davon wusste ich nichts, wir sind erst vorgestern Abend von unserer Hochzeitsreise nach Lanzarote zurückgekommen. Die Kinder hatten wir mitgenommen.« Als sie sich zur Tür umwand-te, sah ich, dass sie schwanger war, etwa im sechsten Monat, schätzte ich. »Sie sollten das nächste Wochenende bei Pertti verbringen. Wie soll ich ihnen das erklären?«

»Möchtest du, dass wir …«

Sie schüttelte den Kopf, nein, sie wolle es ihnen selbst sagen.

Ich fragte nach Ströms Angehörigen. Sein Bruder wohnte mit seiner Familie in Tikkurila, der Vater in Vammala, die Mutter war vor drei Jahren an Krebs gestorben. Auch das hatte ich nicht gewusst, es war kurz vor meinem Dienstantritt bei der Espooer Polizei geschehen. Ich erzählte ihr von Perttis Wunsch, keine aufwendige Beerdigungsfeier zu veranstalten, und gab ihr den an Jani und Jenna gerichteten Brief. Sie las ihn, brach in Tränen aus und legte die Arme um den Leib, wie um sich vor der Kälte zu schützen, die durch die offene Tür ins Haus zog. Wir standen immer noch im Windfang, sie hatte uns nicht hereingebeten.

»Was ist denn los?« Der Mann, der nun an die Tür kam, musste Kai Hirvi sein. Ich zuckte zusammen, denn mit seiner stämmigen Figur und der unreinen Haut sah er Pertsa verblüf-fend ähnlich. Er legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und funkelte uns böse an, als wären wir Sektierer, die von Haus zu Haus gehen und die Leute zum Weinen bringen. Als Marja ihm berichtete, was passiert war, machte er ein betroffenes Gesicht.

»Komm, wir müssen es den Kindern sagen«, stammelte er.

»Marja, wir sprechen später über die Beerdigung. Sag Jani und Jenna, wenn sie über ihren Vater und seinen Selbstmord reden wollen, stehen wir Kollegen jederzeit zur Verfügung.«

Ich gab ihr meine Visitenkarte, dann zogen wir uns zurück.

»Kommst du klar?«, fragte ich Puupponen, als wir zu unseren Autos gingen.

»Wieso nicht? Ich hab den Kerl doch gehasst.« Er wischte sich die triefende Nase am Handrücken ab. »Allerdings … dass er sich den Kopf wegpustet, hätte ich nicht einmal ihm gewünscht.

Bis morgen«, sagte er und schloss seinen Wagen auf.

»Wir fangen um acht mit der Besprechung an. Bis dann!«

Ich holte tief Luft, dann setzte ich mich ans Steuer. Auf dem Heimweg fuhr ich sehr langsam, als könnte ich meine Raserei vor ein paar Stunden damit ungeschehen machen. Maritas Wagen stand auf dem Hof. Hoffentlich hatte Antti ihr nicht gesagt, worum es bei meinem Einsatz ging, denn ich hatte jetzt nicht die Kraft, mit ihr über Pertsa zu reden.

Die Dunkelheit und der Geruch der modernden Blätter wirkten tröstlich. Ich atmete tief ein, eins, zwei, drei. Es war Vollmond und sehr still, die Espenblätter fielen einzeln ab, als zelebrierten sie ein uraltes Ritual. Ich schaute ihnen so lange zu, bis ich ruhig genug war hineinzugehen.

Noch am nächsten Morgen wunderte ich mich, wie ich es fertig gebracht hatte, mit Anttis Schwester zu plaudern, als wäre nichts geschehen. Hauptsächlich hatten wir über Iida gesprochen und sie mit Maritas inzwischen elfjährigen Zwillingen Matti und Mikko verglichen. Dabei hatte ich mich bemüht, nicht zu zeigen, wie sehr ich darauf wartete, dass Marita ging. Schon kurz nach acht hatte ich Iida den Schlafanzug angezogen und geschwindelt, sie lasse sich leichter zu Bett bringen, wenn kein Besuch im Haus sei. Nachdem meine Schwägerin gegangen war, hatte ich Iida statt einer Gutenachtgeschichte drei vorgele-sen und mich gewundert, dass ich nicht weinen musste.

Schließlich hatte ich ein halbes Wasserglas Anisschnaps getrunken und eine Schlaftablette genommen und war eingeschlafen, bevor Antti nach Hause kam.

Am Morgen zog ich ein schlichtes schwarzes Kostüm an, das ich im Frühjahr zur Beerdigung von Anttis Onkel gekauft hatte.

Ich frühstückte, obwohl ich keinen Hunger hatte, und überlegte auf der Fahrt, wie das Dezernat nach Pertsas Tod umstrukturiert werden sollte. Eine Minute nach acht betrat ich den Besprechungsraum. Alle anderen waren bereits da, auch Taskinen.

»Guten Morgen. Vielen Dank, Lähde, dass du allen Bescheid gesagt hast. Wie ihr sicher wisst, hat sich Pertti Ström gestern Abend das Leben genommen. Pertti war kein bequemer Kollege, wir haben wohl alle gelegentlich mit ihm gestritten. Aber seine Arbeit hat er immer getan, wenn er dabei auch manchmal andere Wege gegangen ist als wir. Die Situation ist gerade deshalb schwierig für uns, weil unsere Gefühle gegenüber Pertsa widersprüchlich sind. Deshalb fühlen wir uns wahrscheinlich alle mitschuldig an seinem Selbstmord. Der Psychologe kommt heute Nachmittag um zwei, macht eure Nachmittagstermine rückgängig. Wir werden das Geschehene unter seiner Regie durchsprechen.«

Meine Stimme war belegt. Ich räusperte mich und schaute meine Kollegen an, die heute fast alle Trauerkleidung trugen: Einige waren im dunklen Anzug gekommen, Koivu in schwarzen Jeans und schwarzem Pullover. Nur Wang stach in ihrem dunkelroten Hosenanzug von den anderen ab.

»Pertsa hat zwei Briefe hinterlassen, von denen einer an uns, seine engsten Mitarbeiter, gerichtet ist. Eine Kopie wird im Lauf des Vormittags allen zugehen. In diesem Brief äußert er den Wunsch, wir möchten uns nicht an ihm rächen, indem wir eine großartige Beerdigung veranstalten. Darüber haben seine Angehörigen zu entscheiden. Ich bitte nun um eine Minute stilles Gedenken an Hauptkommissar Pertti Ström.«

Alle senkten den Kopf. Puupponen bemühte sich, das Niesen zu unterdrücken, Lähde schluckte. Ich konnte immer noch nicht weinen. Nach der Schweigeminute zog ich die Lagebesprechung durch wie immer. Die einzige neue Entwicklung betraf die Betriebswirtin Haataja, die mit ihrem Toomas auf der estnischen Insel Ösel gesichtet worden war. Den Rest des Vormittags schlug ich mich mit der Personalabteilung herum. Dort versuchte man nämlich, die Sparzwänge mit der Behauptung zu kaschieren, es sei pietätlos, Ströms Stelle auszuschreiben, bevor er unter der Erde lag. Ich bestand darauf, dass man mir bis Montag eine Vertretung besorgte. Dann wies ich den Putzdienst an, Pertsas Sachen aus dem Büro zu räumen, das er mit Lähde geteilt hatte. Ich sprach mit seinem Bruder über die Beerdigung und versuchte ihn davon zu überzeugen, dass Pertsa kein Spalier uniformierter Polizisten in der Kirche gewollt hätte. In der Trauersitzung des Psychologen hörte ich hauptsächlich den anderen zu. Als ich nach meinen Gefühlen gefragt wurde, sagte ich nur, ich sei verwirrt und traurig.

Zu Hause spielte ich mit Iida, als wäre nichts vorgefallen.

Antti versuchte, über Ström zu sprechen, aber ich wehrte ab. In der Dämmerung gingen wir spazieren, ich las bunte Ahornblätter auf und dekorierte Iidas Zimmer damit.

Nachdem Iida eingeschlafen war, setzte ich mich vor den Fernseher und zappte mich durch die Programme. Im Ersten sang Jorma Hynninen Schuberts »Winterreise«. Antti setzte sich zu mir und legte behutsam die Arme um mich. Der warme, melancholische Bariton sang federweiche und zugleich schmerzerfüllte Intervalle, Ralf Gothonis Klavierspiel fügte hinzu, was mit Worten nicht auszudrücken war. Die Musik durchströmte mich wie Medizin. Im zwanzigsten Lied, »Wegweiser«, erkannte ein an seinem Leben zweifelnder, in der Liebe enttäuschter Mann, dass er bald jenen Weg einschlagen würde, von dem es keine Wiederkehr gab. Da begann ich zu weinen, und die Tränen wollten kein Ende nehmen.

Fünfzehn

Am Freitagmorgen meldete die litauische Polizei, Vitalis Ramanauskas und Imants Peders seien vor zwei Jahren ausge-wandert. Sie hatten eine vorläufige Adresse in Nizza angegeben, wo sie jedoch nicht gemeldet waren. Ramanauskas und Peders waren ehemalige Offiziere der sowjetischen Marine und damals für die Wartung von Kriegsschiffen, Flugzeugträgern und Kanonenbooten zuständig gewesen. Nachdem Litauen unabhängig geworden war, hatten die Männer zwischen der Roten Armee und ihrem eigenen Staat wählen müssen und offenbar weder der einen noch dem anderen mehr angehören wollen.

Wie betäubt starrte ich auf das Fax aus Litauen. Hatte Juha Merivaara der sowjetischen Marine ökologische Bootslacke verkauft? Wohl kaum. Welche Funktion hatte die Mare Nostrum? Ohne große Hoffnung auf Erfolg bat ich die litauischen Kollegen per Fax um nähere Informationen über die spezifischen Aufgaben von Peders und Ramanauskas in der Marine. Außerdem schickte ich eine Suchmeldung an die Polizei in Nizza und an Interpol. Ich war immer mehr davon überzeugt, dass Juha hinter der gediegenen Fassade der Merivaara AG

dunkle Geschäfte getrieben hatte. Vielleicht war Harri ihm auf die Spur gekommen und deshalb ermordet worden? Was hatte Seija Saarela noch gleich gesagt? Harri wollte eine tote Eiderente aufs Festland bringen und untersuchen lassen. Aber wo? Im Institut für Biologie der Universität Helsinki? Aber wenn es zwischen Harris und Juhas Tod eine Verbindung gab, musste jemand von Juhas Machenschaften gewusst haben. Jiri oder Anne? Handelte es sich überhaupt in beiden Fällen um denselben Täter? Vielleicht hatte Juha Harri ermordet?

Ich schaltete den Computer ein und klickte mich voran, bis ich die Homepage der Merivaara AG auf dem Bildschirm hatte. Die Firma hatte ein Ökozertifikat der EU beantragt, das erst nach mehrjährigen strengen Produkttests verliehen wurde. Unter diesen Umständen hätte Juha Merivaara es eigentlich nicht riskieren können, mit einer dubiosen Tochterfirma in Verbindung gebracht zu werden. Oder hatte er sich darauf verlassen, dass sich niemand die Mühe machen würde, die Mare Nostrum genauer unter die Lupe zu nehmen? Das konnte ich nicht recht glauben.

Ich stützte den Kopf in die Hände, die Augen wollten mir zufallen. Trotz meiner juristischen Ausbildung hatte mich der Bereich der Wirtschafts- und Unternehmenskriminalität nie besonders interessiert. Lieber befasste ich mich mit zwischenmenschlichen Beziehungen, durchleuchtete komplizierte Familienverhältnisse, verschaffte mir ein Bild von der Hierarchie unter Schnapsbrüdern oder vom Machtgefüge verfeindeter Jugendbanden. Geld war kalt und ausdruckslos, es hatte keine Vergangenheit und keine Gefühle, auch wenn es die Gemüter der Menschen erhitzte. Geld hatte nur einen Zweck: sich zu vermehren.

Also beschloss ich, noch einmal über Juha Merivaara als Mensch nachzudenken, nicht als Akteur im undurchsichtigen Spiel der Mare Nostrum. Was für ein Mensch war Juha gewesen? Ein achtjähriger Junge, der miterlebte, wie seine Mutter von einer langsam voranschreitenden Krankheit dahingerafft wurde, ein junger Mann, der von Geburt an ausersehen war, eines Tages das Familienunternehmen zu leiten. Ein Mann, der seine Frau betrog, seiner Sekretärin unsittliche Anträge machte und seinen Sohn zu seinem Ebenbild erziehen wollte. Was war Juha Merivaara wichtig gewesen – die Familie, die Natur, ein guter Ruf im Geschäftsleben, Geld?

Doch es gelang mir nicht, Juha Merivaara auch nur in Umris-sen zu skizzieren, denn vor sein Bild schob sich immer wieder das eines anderen Mannes. Ebenso groß und stämmig, aber ungepflegter, bärbeißiger. Schon in der letzten Nacht hatte er mich so bedrängt, dass der Schlaf sich nicht zu mir gewagt hatte.

Die Kollegen hatten sich gewundert, als ich Ströms Schreibtisch so überstürzt räumen ließ, nicht einmal Koivu war auf den Gedanken gekommen, der Anblick seines Namensschildchens und des penibel aufgeräumten Schreibtisches könnte mir wehtun.

Meist hatte ich Ström gehasst, seinen Rassismus und Chauvi-nismus, sein Misstrauen gegenüber allem Neuen und Unbekannten, seinen Umgang mit anderen Menschen. Ich wusste immer noch nicht, ob ich ihn je gemocht hatte, ich erinnerte mich an zu viele Konflikte und Gemeinheiten.

Aber ich erinnerte mich auch an seine gelegentliche Freundlichkeit, an die unbeholfenen Versuche, sich mit mir über den Verlauf meiner Schwangerschaft und über Iidas Entwicklung zu unterhalten, an die Anrufe während meines Mutterschaftsurlaubs, für die er sich immer wieder neue Vorwände ausgedacht hatte, und schließlich an seine Wutausbrüche, wenn ich unbedacht mein Leben aufs Spiel setzte. Zumindest bei diesen Gelegenheiten hatte Ström Recht gehabt.

In gewisser Weise war es eine Erleichterung, nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, wahrscheinlich würde das Arbeitsklima im Dezernat besser werden. Und doch quälte mich ein Schuldgefühl, es pikste wie eine aufgesprungene Sicher-heitsnadel. Natürlich war es ganz richtig gewesen, dass nicht Ström, sondern ich zur Dezernatsleiterin ernannt worden war, ich erledigte den Job besser als er. Aber dass man ihm angeboten hatte, mich im Mutterschaftsurlaub zu vertreten, war ein dummer Fehler gewesen, das hätte man anders regeln müssen.

Und das Alkoholproblem – warum hatte ich nicht energischer eingegriffen? Warum hatte ich mir eingeredet, es werde sich von selbst erledigen, wenn ich Pertsa Zeit ließ, sich mit meiner Rückkehr in den Dienst abzufinden? Warum hatte ich ihn nicht besucht, als er nicht ans Telefon gegangen war?

Schluss jetzt, ich war doch nicht der liebe Gott! Bildete ich mir etwa ein, ich hätte Ströms Selbstmord verhindern können?

Ich zwang mich, wieder an Juha Merivaara zu denken. Wenn er voller Widersprüche gesteckt hatte, wie Pertsa, dann musste ich es vermeiden, mir ein allzu glattes Bild von ihm zu machen.

War es denn nicht denkbar, dass er gleichzeitig geldgierig und ein Naturfreund war, seine Ehe für wichtig hielt und Geschäftsfreunde in Sexlokale ausführte? Vielleicht war die Mare Nostrum ein Fehlgriff gewesen, aus einer Notsituation heraus gegründet. Eine Tochterfirma, deren Tätigkeit Juha Merivaara auf Eis gelegt hatte, sobald ihm klar geworden war, dass sie sich nicht mit dem Profil des Hauptunternehmens vereinbaren ließ.

Der Türsummer riss mich aus meinen Überlegungen. Die wichtigtuerische Türampel, die allen Dezernatsleitern zustand, verwendete ich nur, wenn ich in meinem Büro mit Zeugen sprach. Die Kollegen, die mich schon als Hauptmeisterin gekannt hatten, klopften meistens einfach an, Ström hatte allerdings nicht einmal das für nötig gehalten. Als ich auf den grünen Knopf drückte, kam Anu Wang herein.

»Hallo, Maria. Hast du einen Moment Zeit?«

Ich nickte, Wang setzte sich und begann: »Ich wollte bei der Morgenbesprechung nicht davon anfangen, es ist ein bisschen unangenehm, aber …«

Sie verstummte. Ihr leicht gelb getöntes, rundes Gesicht wirkte bekümmert, der rabenschwarze Zopf schwang von der Schulter auf den Rücken. Für eine Vietnamesin war Wang mit ihren eins siebzig groß, aber ihre Hände waren so zierlich, dass meine eigenen daneben wie Schaufeln anmuteten.

»Was gibt es denn?«, fragte ich, bemüht, den Ton der verständnisvollen Chefin zu treffen, mit der man über alles reden kann. Hoffentlich ging es nicht um meine dämliche Äußerung über Koivus Frauengeschichten.

»Ich möchte den Fall El Haj Assad abgeben«, sagte Wang zögernd. »Ich habe lange darüber nachgedacht, es widerstrebt mir, einfach aufzugeben, aber ich fürchte, es geht nicht anders.«

Der aus Saudi-Arabien stammende Wirtschaftswissenschaftler El Haj Assad hatte Anfang August versucht, seine halbwüchsige Tochter zu erwürgen, weil sie gegen seinen Willen zu einer Party gegangen war und obendrein statt langem Rock und Schleier Jeans und ein ärmelloses Top getragen hatte, was der Vater für unverzeihlich hielt. Amal hatte ihren Vater in die Hand gebissen, war weggerannt und hatte die Polizei alarmiert. Jetzt wohnte sie auf eigenen Wunsch bei der Familie einer Klassen-kameradin. Pertsa hatte Wang den Fall zugeteilt, denn seiner Meinung nach war sie als Vertreterin einer ethnischen Minderheit bestens geeignet, Fälle zu übernehmen, in denen Opfer oder Täter ausländischer – gleich welcher – Herkunft waren.

»Warum? Es ist doch eine eindeutige Körperverletzung, und du hast hervorragende Arbeit geleistet.«

»Aber … ich habe das Gefühl, bei den Vernehmungen nichts aus dem Mann herauszubekommen! Er verachtet mich, wahrscheinlich stehen Polizisten in seinem Land weit unter den Ölmagnaten. Die Familie hat ein philippinisches Hausmädchen, Rosita, und als ich zum ersten Mal ins Haus kam, um El Haj Assad zu vernehmen, nahm er wie selbstverständlich an, ich wäre Rositas Freundin. Asiaten sind für ihn Abschaum! Und von einer Frau vernommen zu werden, empfindet er als unglaubliche Beleidigung. Als Pekka mich einmal begleitet hat, sprach Assad prompt nur mit ihm. Gestern hat er mir auf jede Frage eine Beleidigung an den Kopf geworfen.«

Mit ihren onyxfarbenen Augen sah sie mich halb beschämt, halb herausfordernd an. Ich kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn sie sprach bereits weiter:

»Andere Länder, andere Sitten, hat Ström gesagt, als er mir den Fall zuteilte und ich meine Zweifel vorbrachte, ob ich die Richtige dafür sei. Als müsste mir das irgendwer sagen! Seit Jahrzehnten tut meine Familie nichts anderes als sich anzupas-sen, zuerst in Nordvietnam, wohin die Angehörigen meines Vaters vor der chinesischen Revolution und Maos Truppen geflohen waren, dann hier in Finnland. Ich habe sogar meinen Vornamen geändert, und du hast selbst gehört, welche Mannschaft ich letzten Samstag beim Fußball angefeuert habe. Aber wenn die anderen sich nicht an die Regeln halten, was dann?«

Wang hatte vor gut anderthalb Jahren die Polizeischule abgeschlossen, sie war erst dreiundzwanzig. Beinahe erkannte ich mich in ihr wieder, wie ich vor zehn Jahren gewesen war, eine junge eifrige Polizistin, die geglaubt hatte, die Welt gerechter machen zu können. Ein Teil von mir hielt wohl immer noch an dieser Überzeugung fest, obwohl ich im Lauf der Jahre zu oft erlebt hatte, wie Schuldige vor Gericht freigesprochen wurden.

Ab und zu spielte ich mit dem Gedanken, wieder als Juristin zu arbeiten, um auf die Urteilssprechung Einfluss nehmen zu können, doch die Aufgabe der Juristen schien heutzutage eher darin zu bestehen, Paragraphen auszuspielen, als Gerechtigkeit walten zu lassen.

»Ich verstehe deine Situation. Was schlägst du vor?«

»Dass Pekka und ich tauschen. Ich würde die Vergewaltigung in Leppävaara übernehmen und er meinen Fall. Wir haben schon darüber gesprochen.«

Ich nickte. Der Fall war schwierig, so viel hatte ich den Akten entnommen. Ismael El Haj Assad war der Mittelsmann zwischen der finnischen Shell-Niederlassung und dem saudiarabischen Konzern Musoil, ein internationaler Topmanager, der es als ungeheuerlich empfand, dass sich die finnische Polizei in seine Familienangelegenheiten einmischte. Als islamischer Funda-mentalist war er der Überzeugung, Frauen gehörten ins Haus und hätten sich zu verschleiern. Die Espooer Schulbehörde hatte sanften Druck ausüben müssen, damit Amal die gesetzlich vorgeschriebene neunte Klasse besuchen durfte.

Hätte ich mich darüber aufregen sollen, dass Koivu und Wang ihr Tauscharrangement hinter meinem Rücken vereinbart hatten? Nein, das wäre dumm gewesen. El Haj Assad verdiente eine Anklage, obwohl Amals Leben dadurch vermutlich nicht leichter wurde. Über die Folgen nachzudenken, war nicht Aufgabe der Polizei.

»Hältst du mich jetzt für einen Loser?«, fragte Wang.

Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihr zum Trost einige Ereignisse aus meinen ersten Jahren im Polizeidienst, als ich des öfteren nicht ernst genommen wurde.

»Eine dumme Frage: Was hat dich eigentlich bewogen, zur Polizeischule zu gehen?«

Anu grinste. »Das, was andere dazu bringt, Graffiti zu sprühen oder Drogen zu nehmen: Aufmüpfigkeit. Ich wollte mich von der Kultur meiner Eltern lösen, und was könnte finnischer sein als eine Polizistin? Meine beste Freundin und ich haben uns an der Polizeischule in Tampere beworben, damit wir während des Studiums nicht zu Hause zu wohnen brauchten. Ich wurde angenommen, Nina nicht.«

»Welchen Beruf hatten deine Eltern denn für dich vorgesehen?«

Wie eigenartig, dass Anu mit ihrer Berufswahl gegen ihre Eltern aufbegehrte, genau wie ich damals.

»Ärztin oder Architektin, ich hatte das Abitur mit Eins bestan-den. Ich habe versucht, ihnen klar zu machen, dass ich als Polizeibeamtin Einfluss darauf nehmen kann, wie unsere Leute hier behandelt werden. Ich zum Beispiel werde mal für eine Thai-Masseuse gehalten, mal für die philippinische Frau eines Bauern. Manchmal bereue ich es fast, dass ich nicht mehr bei der Schupo bin, die Uniform hat mir immerhin ein bisschen Autorität verliehen.«

Sie sah auf die Uhr und bedankte sich für die Erlaubnis, mit Koivu zu tauschen. Die Tür hatte sich schon fast hinter ihr geschlossen, als sie noch einmal zurückkam.

»Wegen Pekka … Mach dir keine Sorgen, ich mag ihn wirklich.«

»Ich mag Pekka auch«, sagte ich ein wenig stockend, denn es war ungewohnt, Koivu beim Vornamen zu nennen. »Er ist wie ein Bruder für mich. Ich würde mich freuen, dich zur Schwägerin zu bekommen.«

»Mal sehen.« Sie lächelte, dann schloss sich die Tür hinter ihr, und ich war wieder allein mit meinen Gedanken.

Wenn, wenn, wenn. Wenn ich versucht hätte, mit Pertsa zu reden …

Um den beklemmenden Gedanken zu entfliehen, rief ich bei Birdlife an, dem Dachverband der ornithologischen Vereine Finnlands, um mich zu erkundigen, wohin Harri die tote Eiderente von Rödskär gebracht haben konnte.

Der Birdlife-Vertreter war freundlich, er hatte Harri gekannt.

Er tippte auf das Institut für Veterinärmedizin und Lebensmittelhygiene, das auch das mysteriöse Vogelsterben untersuchte, das sich im Hochsommer in Suomenoja zugetragen hatte. Ich beauftragte Puustjärvi mit den weiteren Nachforschungen, obwohl er murrte, er hätte nie gedacht, dass er eines Tages die Leiche einer Eiderente suchen müsse. Dann blätterte ich weiter in Harris Akte. Sie enthielt verschiedenstes Material, unter anderem das Mitgliederverzeichnis des ornithologischen Vereins Tapiola, dem Harri angehört hatte.

Auf der Liste stand auch Tapio Holmas Name.

War Holmas Behauptung, er habe Harri nicht gekannt, eine Lüge? Vielleicht hatte er sich in die Familie Merivaara eingeschlichen, um Nachforschungen über Harris Tod anzustellen, nicht aus Liebe zu Riikka. Das schien weit hergeholt, aber nicht völlig unmöglich.

Wieder blätterte ich in Harris Akte. Wahrscheinlich würde ich seine Ermordung nie beweisen können, zumal sein Leichnam eingeäschert worden war. Meine Hilflosigkeit machte mich rasend. Menschen starben, und ich fand keinen Grund, keinen Schuldigen. Obendrein musste ich in einer halben Stunde zu einer der unzähligen Planungssitzungen aufbrechen. Diesmal ging es um den Kampf gegen Graffiti. Ich hatte versucht, mich davor zu drücken, weil das Gewaltdezernat mit diesem Problem nichts zu tun hatte, doch es hieß, die führenden Vertreter der Stadt wollten bei einem gemeinsamen Mittagessen mit allen Dezernatsleitern und höheren Polizeibeamten sprechen. Ich fragte mich, ob die Stadt Espoo wirklich keine dringlicheren Umweltprobleme hatte als ein paar beschmierte Wände.

Außerdem würde die vor einiger Zeit gegründete Arbeitsge-meinschaft gegen Wandalismus, an der auch Jugendliche beteiligt waren, garantiert mehr ausrichten können als offizielle Sitzungen auf Chefebene.

Bevor ich ging, rief ich Antti an. Ich störte ihn beim Klavierspiel, Iida hielt gerade draußen ihren Mittagsschlaf.

»Nenn mir mal ein Gift, das Vögel tötet.«

»Damit kenn ich mich nicht aus, ich bin Mathematiker. Frag einen Biologen. Worum geht’s denn?«

»Harri hatte auf Rödskär eine tote Eiderente gefunden. Können Lacke irgendwelche Stoffe enthalten, die für Vögel giftig sind? Irgendetwas, das in der Nahrungskette angereichert wird und von den Vögeln dann in tödlicher Konzentration aufgenommen wird?«

»Früher enthielten Farben alles Mögliche, vom Blei angefangen, aber die Merivaara AG stellt so was doch nicht mehr her.

Was vermutest du denn?«

»Ich weiß es selbst nicht«, seufzte ich, denn solange ich nichts Genaueres über die Aktivitäten von Peders und Ramanauskas wusste, konnte ich nur spekulieren. Antti schlug vor, am Wochenende nach Inkoo zu fahren; seine Eltern waren verreist, wir hätten die Villa am Meer für uns. Das Boot war noch nicht aus dem Wasser geholt worden, sodass wir bei gutem Wetter segeln konnten. Mir war klar, dass Antti mich von der Arbeit und von den Gedanken an Pertsa ablenken wollte. Warum nicht?

Eigentlich hatte ich Lust darauf, mit Iida in der Rückentrage durch den Wald zu streifen, Pilze zu suchen und noch einmal im Boot durchs Wasser zu gleiten, bevor es zufror.

»Gute Idee, wir könnten schon heute Abend los. Und das Handy bleibt zu Hause!«

Es wurde höchste Zeit, zur Besprechung zu gehen. Ich kämmte mir die Haare und zog die Lippen nach. Unter den Augen hatten sich neue Falten gebildet, an den Schläfen schien ich allmählich grau zu werden. Als ich an dem Büro vorbeiging, in dem Lähde nun allein saß, sah ich unwillkürlich auf. Der Anblick des leeren Namensschildes schnitt mir ins Herz. Nun begriff ich, dass ich vergeblich versucht hatte, die Erinnerung an Pertsa zu verdrängen, indem ich in hysterischer Eile seine Sachen fortschaffen ließ. Bei der Morgenbesprechung hatte ich mich eine ganze Weile suchend nach seiner massigen, nach Zigaretten stinken-den Gestalt umgesehen.

Der größte Knüller der Planungssitzung, die kostenlose Mahlzeit, war eine Enttäuschung. Lustlos stocherte ich an der zähen Regenbogenforelle herum. Seit wir im Sommer gelesen hatten, dass die Forellenzucht zur Vermehrung der Blaualgen beitrug, kauften wir keinen Zuchtfisch mehr. Vielleicht steckte Anttis Umweltbewusstsein mich allmählich an, denn ich überlegte auch, womit die Kartoffeln, die man uns servierte, gedüngt worden waren. Diese Gedanken waren sicherlich fruchtbarer als die Sitzung, die die Stadtverwaltung, der Technikausschuss und das Technische Zentralamt einberufen hatten.

»Für das Image der Stadt ist es eminent wichtig, dass die Schmierer gefasst werden. Denken Sie nur daran, welchen Eindruck ausländische Besucher erhalten, wenn sie über die Schnellstraße vom Flughafen kommen und die beschmierten Lärmschutzwälle sehen. Am Westring ist es nicht anders. Eine moderne Technologiestadt wie Espoo darf nicht aussehen wie ein Slum«, beschwerte sich ein Ingenieur vom Technischen Zentralamt.

»Natürlich tun sowohl die Kripo wie die Schutzpolizei ihr Bestes. Die Stadt könnte ihrerseits bei der Regierung intervenie-ren, um eine bessere Finanzierung der Polizeikräfte zu erreichen«, antwortete unser neuer Polizeipräsident.

Die Forelle schmeckte so miserabel, dass ich den Teller beiseite schob. Ein Kontaktbereichsbeamter der Schupo sprach von Informationskampagnen an den Schulen und von neuen Jugend-zentren, doch sämtliche Vorschläge, die eine Beteiligung der Stadt erfordert hätten, schienen auf taube Ohren zu stoßen. Zu meiner eigenen Verwunderung bat ich ums Wort.

»Es wundert mich gar nicht, dass die Jugendlichen mit den Stadtvätern einen Wettstreit in Sachen Umweltzerstörung austragen. Diese Lärmwälle schreien doch geradezu nach Farbe.

Solange die Stadt sich nach Kräften bemüht, Grüngebiete zuzupflastern, steht ihr nicht zu, sich über Umweltverschande-lung zu beschweren.«

»Hat die Polizei etwa vor, das Strafgesetz umzuschreiben?«, unterbrach mich ein Mitglied der Stadtverwaltung mit eisiger Stimme. »Im Gegensatz zu den Graffitischmierern hält sich die Stadt bei ihrer Bautätigkeit an die Gesetze.«

Die peinlich berührten Blicke des Polizeipräsidenten und meiner Kollegen fachten meinen Ärger weiter an.

»Diese Gesetze haben Sie, die Politiker, doch selbst gemacht.

Da hier offenbar jeder einen Wunsch frei hat, möchte ich anregen, die Bordkanten der Fahrradwege abzuflachen. Zehn Zentimeter sind für ein Auto kein Problem, aber mit dem Fahrrad schwer zu überwinden. Wenn sich ein Radfahrer den Hals bricht, muss sich das Gewaltdezernat um den Fall kümmern. Mit Graffitimalern hatten wir bisher nichts zu tun, daher darf ich mich wohl verabschieden. Unser zweiter Kommissar hat sich vorgestern umgebracht, ich habe alle Hände voll zu tun.«

Ich schob polternd den Stuhl zurück und stand auf. Obwohl ich wusste, wie idiotisch mein Verhalten war, hatte ich mich nicht beherrschen können. Im Hinausgehen spürte ich Taskinens enttäuschten Blick im Rücken. Vielleicht fragte er sich allmählich, ob meine Ernennung zur Dezernatsleiterin ein Fehler gewesen war. Er hatte kämpfen müssen, um seinen Vorschlag durchzusetzen. Manchen war ich suspekt erschienen, weil ich unter anderem dem Frauenverband und dem Verein für sexuelle Gleichstellung angehörte. Nun würde man wahrscheinlich munkeln, ich träte nicht nur für die radikalen Tierschützer, sondern auch für Graffitimaler ein.

Ich rannte die Treppen zu unserer Etage in Rekordzeit hoch. In meiner Schreibtischschublade musste noch eine Tüte Salmiak liegen, die beste Medizin gegen meine Wut.

»Du wirst erwartet«, sagte Lähde, der mir an der Tür zum Dezernatskorridor entgegenkam.

»So?« Schon von weitem sah ich die grünen Haare von Jiri Merivaara, der sich an meine Tür lehnte. War er freiwillig aufs Präsidium gekommen? Als er mich bemerkte, wurde sein Gesicht noch abweisender.

»Hallo, Jiri. Wie geht’s?«

Er zuckte die Achseln, folgte mir in mein Büro und ließ sich aufs Sofa fallen. Die grüne Haarfarbe war seit unserer letzten Begegnung etwas verblasst, durch die zerrissene Jeans schimmerte ein spitzes Knie. Der voll gestopfte grüne Rucksack stand offen.

»Müsstest du nicht in der Schule sein?«

»Da geh ich nicht mehr hin! Im Februar werd ich achtzehn.

Wenn ich erst mal Vaters Geld hab, mach ich’s vielleicht wie Mikke und reise rund um die Welt.«

Ich erinnerte mich an Anne Merivaaras Worte, Jiri wolle Biologie studieren. War das nur mütterliches Wunschdenken gewesen?

»Außerdem hab ich schon drei Klausuren verpasst, weil die Sicherheitspolizei uns tagelang festgehalten hat, obwohl wir nichts getan haben.«

»Wirklich nicht? Haben nicht einige von euch die Brandstiftung schließlich zugegeben? Hast du von dem Anschlag gewusst?«

»Nein«, sagte Jiri, und ich war sicher, dass er log. Die Schülerin, die in der Fleischfabrik ein Praktikum gemacht hatte, ihre ältere Schwester und ein Mädchen aus Jiris Klasse hatten eine Anklage wegen Brandstiftung zu erwarten, Jiri würde vermutlich wegen Beihilfe angeklagt werden. Bei der hohen Geldstrafe, mit der er zu rechnen hatte, würde er sein väterliches Erbe sofort angreifen müssen.

Jiri saß stumm und grimmig auf dem Sofa, als wäre er gegen seinen Willen aufs Präsidium geschleppt worden. Das Telefon klingelte, Puupponen erkundigte sich nach einer Routinesache, ich antwortete ausführlich, als wäre Jiri gar nicht vorhanden. Er betrachtete abwechselnd seinen Rucksack und die Spitzen seiner roten Turnschuhe, kaute auf den Nägeln herum und zog die Finger gleich darauf angewidert aus dem Mund.

Auch nachdem ich aufgelegt hatte, sagte er kein Wort. Also schaltete ich den Computer ein, rief die Akte Juha Merivaara auf und las sie von vorn bis hinten durch. Dann kramte ich die Salmiaktüte hervor, stopfte zwei Stück auf einmal in den Mund und hielt Jiri die Tüte hin. Er beäugte sie misstrauisch – dem Aufdruck nach enthielten die Salmiakdrops drei Zusatzstoffe –, nahm dann aber doch einen. Nachdem er eine Weile darauf herumgekaut hatte, fing er an zu reden.

»Ich hab gelogen über die Nacht, als Vater starb. Ich hab nicht die ganze Zeit gepennt. Einmal war ich pinkeln, und auch sonst hab ich unruhig geschlafen. Der Streit zwischen Vater und Tapsa hat mir zugesetzt. Es ging den Alten doch nichts an, mit wem Riikka vögelt! Immer wollte er kommandieren!«

Jiris Augen glühten mit seinen Wangen um die Wette. »In dem kleinen Zimmer hört man alles, was der andere tut. Mikke war einmal draußen, oder jedenfalls auf dem Flur. Ich hab gehört, wie er mit seiner Mutter gesprochen hat.«

»Mit Katrina Sjöberg?«, fragte ich überrascht. Weder sie noch ihr Sohn hatten die nächtliche Begegnung erwähnt.

»Es wurde schwedisch gesprochen, also muss es Katrina gewesen sein.«

»Um welche Zeit war das?«

»Ich hab nicht auf die Uhr geguckt. Es war noch ganz dunkel.

Aber ich weiß nicht … Ich glaub nicht, dass sie nach draußen gegangen sind. Also hat sicher keiner von ihnen … Vati umgebracht …«

Jiri wurde rot und verhaspelte sich immer mehr. Ganz offensichtlich wollte er weder Mikke noch Katrina direkt verdächtigen, und ich fragte mich, ob er sich die ganze Geschichte ausgedacht hatte, um die Aufmerksamkeit von jemand anderem abzulenken. Fürchtete er, seine Mutter hätte den Mord begangen?

»Und noch was. Riikka und Tapsa haben ja im Nebenzimmer geschlafen, meine Mutter hat sie immer möglichst weit von ihrem eigenen Zimmer untergebracht, als hätte sie Angst zu hören, was die beiden miteinander treiben. In dem Zimmer ist nachts auch jemand aufgestanden und rausgegangen. Den Schritten nach war es Tapsa, Riikka tritt leiser auf. Die Einzigen, die ich definitiv nicht gehört habe, sind Mutter und Riikka.«

Etwas in der Art hatte ich erwartet. Ich wechselte das Thema und fragte nach Harri Immonens Verbindung zur Revolution der Tiere.

»Harri bei der RdT? Bestimmt nicht. Der war doch schon ziemlich alt, bei unseren Aktionen ist keiner über zwanzig.«

Ich nickte. Die direkte Aktion, der sich die Revolution der Tiere verschrieben hatte, schien zu einem pazifistischen Einzel-gänger wie Harri ohnehin nicht zu passen. Aber irgendeine Verbindung musste er zu der Organisation gehabt haben, sonst wäre er nicht auf der Observationsliste der Sicherheitspolizei gelandet. Ich bat Jiri, noch einmal genauer darüber nachzudenken, doch er schien sich eher für den Inhalt seines Rucksacks zu interessieren als für Harri. Er wühlte zwischen einem Pullover und einem Netzbeutel Möhren herum, bekam das Gesuchte offenbar zu fassen, zog es aber nicht heraus.

»Harri war ein netter Kerl, er hat keinem dreingeredet. Die RdT-Aktionen fand er nicht immer richtig, aber wenigstens hat er versucht zu diskutieren. Ich denk oft, warum war Vati nicht so wie Harri oder Mikke, warum hat er nie zugehört, sondern einen immer mit seiner Meinung überfahren.«

Ich wunderte mich über Jiris Redseligkeit und Kooperations-bereitschaft. Hatte die Sicherheitspolizei ihm einen Schrecken eingejagt? Oder die Tatsache, dass das Feuer in der Fleischfabrik die Tieraktivisten beinahe zu Mördern gemacht hatte?

Vielleicht wirkte ich im Vergleich zu den Ermittlern der Sicherheitspolizei sanft und verständnisvoll, wer weiß.

»Jetzt erinnere ich mich, Harri war mal auf einer Demo gegen Tierversuche dabei«, sagte Jiri plötzlich. »Er hat mit mir Flugblätter verteilt, und ein paar Schlipsträger haben gebrüllt, es wäre eine Schande für einen ausgewachsenen Mann, mit diesen Öko-Mädchen gemeinsame Sache zu machen.« Er verzog das Gesicht. »Als dürften nur Frauen sich für Tiere einsetzen! Vater war allerdings auch verblüfft, als er gehört hat, dass ich Harri kenne. Er hat versucht, ihn nach seiner politischen Überzeugung auszufragen, aber Harri hat sich auf keine Diskussion eingelassen. Vielleicht hatte er Angst, gefeuert zu werden.«

Wieder steckte Jiri die Hand in den Rucksack, während ich überlegte, wieso er mir verändert vorkam. Er redete so engagiert wie früher, auch seine aggressive Verschlossenheit war noch zu spüren, doch er wirkte weniger bedrückt.

Dann ging mir auf, dass die Augen unter dem grünen Schopf zwar noch funkelten wie ehedem, aber nicht mehr vor Hass sprühten. Ich hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob er aufgehört hatte, mich persönlich zu hassen, oder ob er mit der Menschheit im Allgemeinen Frieden geschlossen hatte, denn er zog den Rucksack auf und holte eine Fünfliterdose Farbe heraus.

»Ich weiß nicht, ob das irgendwas mit Vaters Tod zu tun hat, aber …« Er zögerte einen Moment, dann hielt er mir die Dose hin. Sie hatte Rostflecken und ähnelte den litauischen Farbdosen, die ich in der Garage der Merivaaras gesehen hatte, nur war der Aufdruck diesmal russisch. Ich konnte ihn nicht lesen, doch der rot umrandete Totenschädel sagte mir genug. Ich nahm die Dose vorsichtig entgegen, als könnte sie explodieren.

»Was ist da drin? Wo hast du sie gefunden?«

»Auf Rödskär, vorletzten Herbst. Es muss Anfang September gewesen sein, Harri war auf der Insel, um den Abflug der Zugvögel zu beobachten.«

Da Harri wegen einer Mittelohrentzündung zum Arzt musste, hatte Mikke ihn von Rödskär abgeholt. Juha hatte ihm geraten, sich auszukurieren und erst nach dem Wochenende zurückzu-kommen, aber Harri hatte eingewandt, seine Untersuchungen hinkten bereits hinter dem Zeitplan her.

»Da hat Vater knallhart gesagt, er hätte am Wochenende Gäste auf der Insel und wollte nicht gestört werden. Ich weiß nicht, wen er da zu Besuch hatte. Jedenfalls hat Mikke am Sonntagmorgen angerufen und gefragt, ob ich mitfahren will, wenn er Harri nach Rödskär bringt. Es war ein herrlicher Tag, warm wie im Juni.«

Da Mikke bald darauf zu seiner Winterreise aufbrechen wollte, hatte Jiri die Chance genutzt, noch einmal mit ihm zu segeln.

Schon von weitem hatten sie im Hafen von Rödskär ein 15-Meter-Motorboot gesehen, das aussah wie ein Marinekreuzer.

Da es ihnen nicht ratsam schien, auf der Insel anzulegen, bevor Juhas Gäste abgefahren waren, hatten sie eine Runde um die Landspitze von Porkkala gedreht, und auf dem Rückweg war ihnen das Boot begegnet. Es hatte die litauische Flagge gehisst.

Juha Merivaara war über Harris vorzeitige Rückkehr keineswegs erfreut gewesen.

»Vater hatte einen entsetzlichen Kater, er hatte mit seinen Gästen ordentlich gebechert. Die Küche war voll von russischen Wodkaflaschen. Ich wollte die Sauna heizen, aber Vater ist völlig ausgeflippt, wie er das hörte. Als Mikke fragte, ob er in der Sauna eine Frau versteckt hätte, wäre er fast auf ihn losge-gangen. Dann hat er gesagt, einer der Männer hätte alles voll gekotzt, und er wollte selbst sauber machen. Ich war sauer, bin ans Ufer gegangen und hab gesehen, dass eine von den Grasnarben am Südufer umgegraben worden war. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt …«

Jiri nagte verlegen an seinen Fingernägeln. »Wahrscheinlich hab ich zu viel Fernsehen geguckt, als ich klein war. Ich dachte, denen ist irgendwas schief gelaufen mit ‘ner Frau, und sie ist tot und die Sauna voller Blut, und die Frau haben sie unter der Grasnarbe verscharrt. Ich hab mal ein Buch gelesen, wo so was passiert ist. Ich Blödmann hab nicht daran gedacht, dass es ja viel leichter gewesen wäre, die Leiche ins Meer zu werfen. Erst hab ich in der Sauna nachgeguckt, aber mein Alter hatte nicht gelogen, die war tatsächlich voll gekotzt. Trotzdem hat mir das Grab keine Ruhe gelassen. Eine Leiche lag nicht drin, sondern ein Haufen rostige Farbtonnen und ein paar kleinere Dosen. Ich weiß nicht, warum ich eine davon mitgenommen und in den Felsen am Westufer versteckt hab, vielleicht bloß, um Vater eins auszuwischen. Irgendwie hab ich mich so geschämt wegen der Leichengeschichte, dass ich die ganze Sache vergessen hab.«

Bald darauf war Jiri krank geworden und erst im Januar wieder nach Rödskär gekommen. Auf den Felsen lagen Eis und Schnee.

Erst im Sommer hatte er wieder an die mysteriösen Farbtonnen gedacht, aber keine Gelegenheit zu Grabungen gehabt, bis zu dem Wochenende im August, als Antti, Iida und ich auf Rödskär übernachtet hatten. Die vergrabenen Fässer waren inzwischen verschwunden, doch die Dose lag noch in ihrem Versteck am Westufer. An einem der nächsten Wochenenden hatte er sie in seinen Schlafsack gerollt und nach Hause mitgenommen. Bei den Haussuchungen war sie nicht gefunden worden, da Jiri sie auf dem Grundstück der Merivaaras vergraben hatte.

»Ich hab versucht, von Mutter was über diese litauischen Geschäftspartner zu erfahren, aber sie behauptet, das wären bloß Investoren, die mit den Lacken, die die Firma verkauft, nichts zu tun hätten. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Irgendein Scheißgift ist jedenfalls in der Farbe. Was, wenn Harri das Versteck gefunden hat? Er konnte ja ein bisschen Russisch.

Vielleicht hat er begriffen, dass Vater unter der Hand irgendwelche verdammten Giftlacke verkauft hat, und Vater hat ihn deshalb umgebracht?«

Jiris Gesicht war jung und verletzlich. Es musste schlimm für ihn gewesen sein, mit dem Gedanken zu leben, dass sein Vater nicht nur ein rücksichtsloser Opportunist war, der die Umwelt zerstörte wie alle anderen auch, sondern womöglich einen Mord begangen hatte.

»Hattest du deinen Vater schon damals in Verdacht, als Harri starb?«

Bei dieser unverblümten Frage heulte Jiri beinahe auf, er sah mich nicht an, als er antwortete:

»Ich hab damals darüber nachgedacht. Vater war in der Nacht nicht zu Hause. Er behauptete, er wäre geschäftlich in Tallinn gewesen und früh um sieben mit der Fähre zurückgekommen. Er hatte massenhaft Champagner und Kaviar für Muttis Geburtstag mitgebracht. Dabei mag sie gar keinen Kaviar! Über Vaters Reisen hat keiner so genau Buch geführt, er war mindestens einmal im Monat in Tallinn, weil die Firma immer mehr Kunden in Estland hat. Er kann genauso gut auf Rödskär gewesen sein.«

»Aber euer Boot … Deine Mutter hätte doch gemerkt, wenn es nicht am Steg gelegen hätte.«

»Im letzten Herbst lag es noch in Suomenoja. Vater hat unser Ufer erst im Frühjahr ausbaggern lassen.«

Ich spürte plötzlich einen bohrenden Schmerz im Hinterkopf.

Die Farbdose musste schleunigst ins kriminaltechnische Labor.

Und Anne Merivaara musste noch einmal zu Harris Tod vernommen werden, der sie ganz offensichtlich bedrückt hatte.

Vielleicht hatte sie keinen Selbstmord vermutet, sondern Mord.

Hatte sie womöglich gewusst, dass Juha in der fraglichen Nacht auf Rödskär gewesen war?

Konnte es sein, dass Anne ihren Mann umgebracht hatte, um Harris Tod zu rächen? Wahrscheinlich fürchtete Jiri insgeheim, dass beide Eltern zu Mördern geworden waren.

»Die Farbdose kann sehr wichtig sein. Interpol fahndet bereits nach den mysteriösen litauischen Aktionären. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in unsaubere Geschäfte verwickelt. Aber das heißt nicht unbedingt, dass dein Vater und vor allem deine Mutter an kriminellen Handlungen beteiligt waren«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

»Alle kriminell. Und ich dachte, ich wäre der Einzige.« Jiri versuchte wieder, den harten Mann zu markieren, doch das verzweifelte Nägelkauen machte seinen Auftritt zunichte.

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Sie schuftet die ganze Zeit und kann nicht schlafen. Nachts geht sie durch das Haus und trinkt Kamillentee, aber der hilft nicht. Die Schlaftabletten, die Tapsa ihr gegeben hat, will sie nicht nehmen. Und Riikka will Tapsa nicht mehr sehen. Ich glaube, sie …« Er zögerte, dann sah er mir direkt ins Gesicht und schrie beinahe: »Sie glaubt wahrscheinlich, dass Tapsa Vater umgebracht hat! Sie hat mir erzählt, er hätte eine Verletzung am Arm, angeblich von der Schlägerei in der Sauna, aber Riikka erinnert sich genau, dass die Wunde noch nicht da war, als sie in der Nacht gebumst haben, erst am nächsten Morgen.«

Mir schwirrte der Kopf. Lacke, tote Vögel und unerklärliche Wunden. Ich musste unbedingt eine Weile allein sein, deshalb log ich Jiri an, ich hätte in fünf Minuten einen Termin, und dankte ihm für seine Hilfe. Er brachte sogar ein vorsichtiges Lächeln zustande, als ich ihm zum Abschied die Hand gab.

Der Himmel war bewölkt, es war ein grauer Tag. Ich knipste das Licht aus, legte mich aufs Sofa, schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen. Bei den Zehenspitzen fing ich an.

Doch es gelang mir nicht, meine Gedanken zu ordnen. Die Einzelheiten des Falls Merivaara und Pertsas zerstörtes Gesicht drehten sich in meinem Kopf wie ein außer Rand und Band geratenes Karussell. Nein, es hatte keinen Zweck. Inzwischen war es schon Viertel nach drei, und ich hatte in letzter Zeit so viele Überstunden gemacht, dass ich guten Gewissens nach Hause fahren konnte. Nur noch einen Moment liegen bleiben …

Offenbar war ich eingenickt, denn ich schreckte plötzlich auf, als es klopfte. Im selben Moment steckte Koivu den Kopf zur Tür herein.

»Sorry. Hältst du Mittagsschlaf?«

»Komm rein«, sagte ich müde. Ich hatte den Geschmack von ausgelutschtem Kaugummi im Mund.

Koivu setzte sich neben mich aufs Sofa. Zum ersten Mal nahm ich die Falten um seine Augen wahr. Auch blonde Teddybären bleiben nicht ewig jung.

»Anu und ich haben gerade mit Seija Saarela gesprochen.«

»Und?«

»Sie hat uns eine Stunde lang die traurige Geschichte ihrer Ehe erzählt. Zwangsheirat mit zwanzig, der Mann interessierte sich nur für Angeln und Alkohol. Mitte der achtziger Jahre haben sie sich scheiden lassen und sich danach nur noch einmal wieder gesehen, beim Schulabschluss des Sohnes. Die Saarela hat sich aus ihrem Exmann mit Sicherheit nicht genug gemacht, um Juha Merivaara seinetwegen umzubringen.«

Ich schloss die Augen wieder. So war es wohl, auch wenn ich es eigenartig fand, dass sich Seija nach dem Tod ihres Mannes ausgerechnet mit der Familie Merivaara angefreundet hatte.

Noch war ich nicht hundertprozentig bereit, sie von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Zumindest hatte sie gute Gründe, Juha Merivaaras Mörder zu decken.

»Die Immonens habe ich auch erreicht. Rate mal, ob sie erfreut waren, an den Tod ihres Sohnes erinnert zu werden.«

»Geschenkt.«

Mühsam setzte ich mich auf.

»Sie haben den Computer im Frühjahr verkauft. An Mikael Sjöberg.« Koivu sah aus, als liege ihm noch etwas auf der Zunge, behielt es aber zum Glück für sich.

Der Olivetti-Laptop in der Kajüte der »Leanda« hatte also Harri gehört. Warum hatte Mikke nichts davon gesagt? Wahrscheinlich einfach deshalb, weil er es für unwichtig hielt.

Bestimmt hatte er Harris Dateien längst von der Festplatte gelöscht.

Ich fragte Koivu nach den Dateien, die er bei der Untersuchung unmittelbar nach Harris Tod auf dem Laptop gefunden hatte. Er erinnerte sich nur vage an den Inhalt.

»Irgendwelche Vogeltabellen. Hat mich nicht weiter interessiert, mir reicht es, wenn ich eine Elster von einer Krähe unterscheiden kann. Von irgendwelchen Umweltgiften war die Rede, von Dünger, an dem Seeadler sterben oder so was. Mit Rödskär schien das alles nichts zu tun zu haben. Aber wir können ja Sjöberg fragen. Frau Immonen sagt, er hätte Harris Disketten gleich mitgekauft.«

Sechzehn

Ich lag im sieben Grad kalten Wasser und empfand die Regen-tropfen, die mir ins Gesicht fielen, als warm. Nur das einsame Licht aus der Sauna durchdrang die Schwärze. Das Wasser war tödlich, bei dieser Temperatur setzte bereits nach einer halben Stunde Hypothermie ein. Ich betrachtete meine Brüste, die weiß und warm im Wasser schwammen. Zu schützen brauchte ich sie nicht mehr, sie hatten keine Nahrung mehr für das Kind, das in seiner Tragetasche im kühlen Vorraum der Sauna friedlich schlief.

Die Eltern des ertrunkenen Arttu Aaltonen hatten wissen wollen, ob der Fundort des Leichnams darauf schließen lasse, dass ihr Sohn seinen Entschluss bereut hatte. Sie fürchteten, er habe sich in letzter Sekunde anders besonnen und versucht, an Land zu schwimmen, aber nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Ich hatte ihnen nur sagen können, dass Arttu offenbar weit hinaus-geschwommen war, bevor er ertrank.

Das Holz des Bootsstegs war feucht und glatt, anders als meine Arme, die von einer Gänsehaut überzogen waren. Ich klapperte mit den Zähnen, mir lief die Nase. Auch ich kam nicht von der Frage los, was Pertsa in der letzten Sekunde vor dem Schuss gedacht hatte. Sich zu erschießen war leichter und zugleich brutaler, als ins Wasser zu gehen. Wenn man sich ertränkte, riskierte man zudem, gerettet zu werden. Pertsa, der beste Schütze unseres Polizeischuljahrgangs, hatte den sicheren Weg gewählt.

Ich griff nach der Leiter. Meine Arme waren stark, sie zogen mich ins Warme, meine Schenkel, in denen das Blut pulsierte, trugen mich auf den Steg. Der Regen sprühte mir ins Gesicht, ich spürte jeden stechenden Tropfen und dazu die Peitschenhie-be des Windes auf meinem Rücken. Ich wandte dem Meer das Gesicht zu und lachte ihm in die schwarze Fratze, dann lief ich in die warme Sauna.

»Kann man noch schwimmen?«, fragte Antti. Ich überließ meinem Körper die Antwort, drängte mich an ihn und saugte den Dampf von seiner saunaheißen Haut. Salziger Schweiß und salziges Meerwasser vermischten sich, auch die Kälte in meinem Innern verschwand, an ihre Stelle trat der Wunsch, unter die Haut des anderen zu kriechen.

Ich hatte Koivu gebeten, Harris alten Laptop von der »Leanda« zu holen, und Puustjärvi beauftragt, für Montag einen Termin mit Anne Merivaara zu vereinbaren. Dann hatte ich mein Handy abgeschaltet auf den Schreibtisch gelegt und war nach Hause gefahren. Die Telefonnummer meiner Schwiegerel-tern in Inkoo kannte niemand im Präsidium außer Koivu, der ebenfalls ein freies Wochenende hatte.

Den ganzen Samstag über hatte es gestürmt, doch das hatte uns nicht davon abgehalten, nach dem Mittagessen Regenkleidung anzuziehen und Iidas Wagen wasserdicht abzudecken. Wir hatten einen Ausflug in den nahe gelegenen Wald gemacht und nach einer Weile die ersten Trompetenpfifferlinge im Moos entdeckt. Als ich ein Stück vom Pfad abgewichen war, um eine Plastiktüte aufzuheben, die irgendein Idiot in den Wald geworfen hatte, war ich auf eine Stelle gestoßen, an der Pfifferlinge in Hülle und Fülle wuchsen. Nun garte im Ofen eine Pilzpastete.

Ich hatte es fertig gebracht, fast den ganzen Tag lang nicht an die Arbeit zu denken. Das Hauptverdienst kam Iida zu, die plötzlich ihr Plappermäulchen entdeckt hatte. Während sie bisher nur einzelne Wörter von sich gegeben hatte, produzierte sie nun Dreiwortsätze: »Iida will essen«, »Mama Milch geben«.

Antti und ich hatten ihr fasziniert zugehört, in unseren Ohren klangen ihre Sätze bezaubernder als die Sentenzen der größten Dichter. Iida hatte uns mit ihrem ersten Lächeln, mit Krabbeln, Aufstehen und den ersten Schritten so erfreut und überrascht, dass wir ihr jedes Mal stundenlang mit dümmlich-glücklichem Gesicht zugeschaut hatten. Zwar hatten wir diese Augenblicke nicht auf Video und nur selten auf Fotos festgehalten, doch ich war sicher, ich würde sie nie vergessen.

Als ich nach der Sauna den Fernseher anschaltete, brachten alle Sender Krimiserien, und ich stellte den Kasten gleich wieder aus, um nicht an die Arbeit erinnert zu werden. Antti schlief bald ein, ich hörte seine gleichmäßigen Atemzüge und Iidas leises Schnaufen. Mich hatte das Sandmännchen offenbar vergessen, ich wälzte mich im Bett hin und her und lauschte dem brüllenden Meer. Der Leuchtanzeiger des Weckers zeigte halb eins, als ich beschloss, aufzustehen und eine Weile an die frische Luft zu gehen. Ich zog unter dem Regencape drei Lagen Kleidung an, das Thermometer zeigte ein Grad über null.

Der Wind machte mich im Nu restlos wach, ich ging den Strandweg hinauf, höher und höher. Einige hundert Meter vom Grundstück der Saarelas ragte eine schroffe Felswand auf, unter der das scheinbar grenzenlose Meer tobte. Im Westen leuchteten die Doppeltürme des Kraftwerks, im Osten zeigten vereinzelte Lichter den Verlauf der Küstenlinie bei Porkkala an. Das Meer kümmerte sich um niemanden, es kämpfte mit dem Wind und warf seine Wellen auf das Ufergeröll. Es hatte die Blaualgen besiegt, und nun stand ihm der immer wiederkehrende Kampf mit dem Winter bevor. Im letzten Dezember waren wir gerade in der Nacht in Inkoo gewesen, als die offene See zufror. Das Meer hatte schmerzvoll geheult, als es unter die kalte Haut gezwungen wurde, während das Eis triumphierend knirschte und knackte, als hätte der Winter zur Feier seines Sieges Sektkorken springen lassen.

Ich dachte an Juha Merivaara, der vor zwei Wochen auf den Felsen von Rödskär gestorben war. Die Nacht war regnerisch und stürmisch gewesen wie jetzt. War auch Juha auf der Suche nach dem Sandmännchen nach draußen gegangen und stattdes-sen auf seinen Mörder gestoßen? Auch an Mikke Sjöberg musste ich denken, der in Suomenoja auf der »Leanda« schlief, obwohl er eigentlich bereits an der Westküste Dänemarks vorbeisegeln wollte. Der Südwind trieb die Wellen immer höher und versuchte mich umzuwerfen. Ich breitete die Arme aus und ließ das Regencape wie Flügel flattern. Wie ein Stromstoß durchfuhr der Sturm meinen Körper, und wie zuvor im eiskalten Meer spürte ich, dass ich lebendig war, dass ich feste Muskeln, weiche Kurven, warmes, dickes Blut besaß. Ich ging zurück ins Haus und fiel in tiefen, friedlichen Schlaf.

Am nächsten Tag stand Juha Merivaaras Todesanzeige in der Zeitung, die Beerdigung sollte am kommenden Samstag stattfinden. Der Sinnspruch in der Anzeige wirkte seltsam unpersönlich, es war eine beliebige Zeile aus einem Kirchenlied, als hätte Anne Merivaara weder Zeit noch Lust gehabt, passende Worte auszuwählen. Vielleicht hatte sie ihre Sekretärin Paula Saarnio beauftragt, einen Vers auszusuchen, in den man auf keinen Fall einen Hinweis auf einen gewaltsamen Tod hineinle-sen konnte.

Ob Pertsa am selben Wochenende beerdigt wurde? Auch wenn ich seine Abscheu vor Begräbnisfeiern verstand, hatten die Rituale ihren Sinn; geteilte Trauer war leichter zu tragen. Das hatten wir vor zwei Jahren bei der Beerdigung unseres Kollegen Juhani Palo erlebt. Ich musste daran denken, wie Pertsa und ich in einer Ecke gestanden, uns über die steifen Ansprachen der Chefs mokiert und an Palo gedacht hatten. Die Erinnerung daran trieb mir die Tränen in die Augen. Ich erinnerte mich auch daran, wie Pertsa in der Kirche neben mir gesessen und während der Predigt versucht hatte, sein heftiges Schlucken zu verbergen.

Da saß ich nun und weinte, obwohl Pertsa in seinem Abschiedsbrief bezweifelt hatte, dass ihm jemand nachtrauern würde. Ich hatte Lähdes Gesicht gesehen, als Pertsas Sachen aus dem gemeinsamen Dienstzimmer entfernt worden waren, und auch diese Erinnerung schmerzte. Nicht einmal Puupponen und Koivu, die Pertsa inbrünstig gehasst hatten, kamen über seinen Tod leicht hinweg, denn sie verstanden nur allzu gut, warum er sich das Leben genommen hatte. Und wenn man es verstand, war es schwer, es nicht zu akzeptieren. Die größte Bürde hatte Lähde zu tragen. Er würde wieder und wieder darüber grübeln, ob er Pertsa bei seinem letzten Telefonat nicht doch noch von seinem Entschluss hätte abbringen können. Ich war dankbar, dass Pertsa nicht mich angerufen hatte. Auch wenn es fast unmöglich war, einen Menschen, der fest entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen, noch einmal umzustimmen, hatte jeder die moralische Pflicht, es bis zuletzt zu versuchen. Ich aber traute meinen Überredungskünsten nicht mehr. Kurz vor dem Mutterschaftsurlaub hatte ich versucht, eine bewaffnete Frau davon abzubringen, ihren ehemaligen Geliebten zu erschießen, der als Mörder ihrer Tochter verdächtigt wurde. Es war mir nicht gelungen, sie hatte den Mann, der sich letzten Endes als unschuldig erwiesen hatte, kaltblütig abgeschlachtet. Die Erinnerung daran verfolgte mich immer noch, obwohl ich als Polizistin darauf trainiert war, Fehlschläge abzuhaken. Ich fürchtete mich davor, in einer ähnlichen Situation erneut zu versagen.

Antti sah mein tränennasses Gesicht, zog mich an sich und sagte glücklicherweise kein Wort. Der Sturm war abgezogen, die Sonne hatte ihre Herrschaft wieder angetreten und ließ die Bäume hell aufleuchten. Wir brachten den ganzen Tag damit zu, das Laub zusammenzurechen und uns darin zu wälzen. Man konnte einfach nicht traurig sein, wenn man Iidas blaugrüne Augen zwischen den roten Ahornblättern funkeln sah.

Am Montagmorgen holte mich der Alltag ein. Auf meinem Schreibtisch türmten sich die Faxe, und das Wochenende hatte uns neue Arbeit beschert. Jemand war krankenhausreif geprügelt worden, in Soukka hatte es eine Messerstecherei und in Kilo eine Schießerei gegeben. Erfreulicherweise enthielt wenigstens das obenauf liegende Fax von der estnischen Polizei eine gute Nachricht: Die vermisste Betriebswirtin und ihr Toomas waren bei einer Razzia im teuersten Nachtclub von Pärnu aufgegriffen worden. Die Frau war zwar über das abrupte Ende ihres Liebes-urlaubs aufgebracht, ansonsten aber wohlauf.

Bei der Morgenbesprechung wurde diese Nachricht mit Pfiffen und Gejohle quittiert, doch die Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt.

Wahrscheinlich versuchten wir verzweifelt, so zu tun, als hätte Pertsa nie existiert. Nach seiner Suspendierung hatte ich seine Fälle unter den Kollegen verteilt, doch die Schießerei in Kilo wäre automatisch ihm zugefallen, weil Ström unser Experte für Schusswaffen gewesen war. Ich fragte mich, ob die Mitarbeiter der Merivaara AG ebenfalls versuchten, mechanisch weiterzu-machen, um nicht daran zu denken, dass ihr Geschäftsführer ermordet worden war und seine Frau, die PR-Chefin, zu den Hauptverdächtigen zählte.

»Koivu, hast du Harri Immonens Computer bekommen?«, fragte ich, als wir endlich zum Fall Merivaara kamen.

»Ja, allerdings behauptet Sjöberg, es wären nur seine eigenen Reisedaten drauf. Er hätte Immonens Dateien sowohl von der Festplatte als auch von den Disketten gelöscht. Die Disketten hab ich gecheckt, hat mich den halben Abend gekostet.«

»Wo ist das Ding jetzt?«

»Ich hab es mit den Disketten bei den Computerexperten im Wirtschaftsdezernat abgeliefert, wie du gesagt hattest. Sjöberg behauptet zwar, er hätte die Festplatte neu formatiert, aber vielleicht findet sich doch noch was.« Koivu zuckte mit den Schultern, er war kein Computerfreak.

»Wie hat Sjöberg reagiert, als du den Laptop geholt hast?«

»Verwundert. Außer Immonens Bericht über die Vogelwelt von Rödskär wäre nichts Wichtiges gespeichert gewesen, meinte er. Und dann wollte er wissen, ob unser Interesse für den Computer bedeutet, dass auch Harri Immonen ermordet wurde.

Ich hab ihm gesagt, dass soll er dich fragen.«

Koivus Gesichtsausdruck war unergründlich.

»Danke. Puustjärvi, hast du den Termin mit Anne Merivaara vereinbart?«

»Um zwei in der Firma.«

Gegen Ende der Besprechung fragte Puupponen, ob wir Aussicht hätten, einen Nachfolger oder wenigstens eine Vertretung für Ström zu bekommen.

»Ich rück den Chefs auf den Pelz, Ehrenwort«, versprach ich feierlich. Die traurige Kriminalstatistik des Wochenendes war immerhin ein gutes Argument. In der Personalabteilung hatte man mir in der letzten Woche gesagt, es gebe keine geeigneten Kandidaten für eine hausinterne Besetzung, deshalb habe man die Stelle unter anderem im Internet ausgeschrieben.

Neugierig sah ich am Computer nach, sobald ich wieder in meinem Büro war. Es hatten sich bereits einige Bewerber gemeldet, darunter Marcus Huttunen, mein Kommilitone beim Jurastudium, der sich wie ich auf Strafrecht spezialisiert hatte und in den letzten Jahren als stellvertretender Staatsanwalt in Vantaa tätig gewesen war. Warum wollte er auf einmal zur Polizei? Zwei weitere Bewerber machten ebenfalls einen passablen Eindruck, ich musste so bald wie möglich mit der Personalabteilung Termine für die Einstellungsgespräche vereinbaren.

Im Faxstapel lag ein Schreiben der litauischen Polizei. Peders und Ramanauskas hatten bei der sowjetischen Marine in der Abteilung Produktentwicklung gearbeitet und waren unter anderem für Lacke zuständig gewesen. Die Verbindung zum Geschäftsbereich der Merivaara AG lag also auf der Hand. Ich bat die Kollegen um Informationen über die Lacke, die die Sowjets verwendet hatten. Wo sich die beiden Männer zur Zeit aufhielten, war immer noch nicht geklärt, in Nizza wusste man nur, dass sie vor zwei Wochen zu einem Segeltörn nach Korsika und Sardinien aufgebrochen waren. Woher hatten ehemalige Offiziere der sowjetischen Marine das Geld für ein Luxusleben an der Riviera?

Ich rief Tapio Holma an. Zu Hause meldete er sich nicht, doch am Handy erreichte ich ihn. Die Verbindung war schlecht, im Hintergrund hörte man Möwen schreien.

»Können wir uns kurz unterhalten?«

»Nicht jetzt. Ich bin in Elfvik, ich habe noch nie so viele Zwergsäger auf einmal gesehen.«

»Zwergsäger? Ich glaube, die habe ich überhaupt noch nie gesehen. Ich will dich nicht stören, aber wäre es möglich, dass wir uns in Elfvik unterhalten und dabei Zwergsäger beobachten?

Wo finde ich dich?«

»Muss das sein?«, seufzte Holma. »Na, meinetwegen. Ich bin hier im Feuchtgebiet. Vergiss deine Gummistiefel nicht.«

Im Kleiderlager fand ich tatsächlich ein Paar Stiefel, die mir nur zwei Nummern zu groß waren. Auf dem Hof vor der Villa Elfvik zog ich sie an. Das Gebäude weckte romantische Erinne-rungen: Hier hatten Antti und ich geheiratet. Damals, im Dezember, waren die Bäume von Reif überzogen gewesen. Jetzt trugen sie noch ihr Laubkleid, das sich allerdings bereits lichtete. Die Waldwege sahen aus, als wären sie mit einem Gemisch aus Kurkuma und Tomatensoße überzogen.

Tapio Holma war bei weitem nicht der einzige Vogelfreund im Feuchtgebiet von Elfvik, ich entdeckte ein knappes Dutzend.

Holma stand vor einem supermodernen Fernrohr. Vorsichtig watete ich zu ihm hin, obwohl der Zwergsägerschwarm etwa hundert Meter von seinem Standort entfernt war und sich von den Betrachtern nicht stören ließ. Aus Holmas praktischem Rucksack mit integriertem Hocker ragte eine Thermoskanne.

»Hallo«, sagte ich leise. Dennoch fuhr er zusammen.

»Hallo. Ist das nicht ein phantastischer Anblick? Guck mal durchs Fernrohr, das ist noch besser.« Er stellte das Stativ auf die richtige Höhe, ich regulierte die Schärfe, und dann sah ich einen Schwarm Vögel, einige schneeweiß, mit kleinen schwarzen Recken auf dem Rücken, die anderen in bescheidenem Braun. Die weißen Prachtexemplare waren wahrscheinlich Männchen, so verhielt es sich in der Vogelwelt ja immer. Um Harri zu ärgern, hatte ich ihm einmal gesagt, Männer interessierten sich nur für Ornithologie, weil sie sich eigentlich selbst gern so prächtig herausputzen würden wie die Vögelmännchen.

»Meine Frage hat auch etwas mit Ornithologie zu tun«, sagte ich, nachdem ich die friedlich auf dem Wasser treibenden Zwergsäger, die der Lärm von der Schnellstraße und vom Westring nicht zu stören schien, ausgiebig bewundert hatte. »Du hast ausgesagt, du hättest Harri Immonen nicht gekannt, dabei wart ihr beide Mitglied des ornithologischen Vereins in Tapiola.«

Holma, der auf die Bucht gestarrt hatte, drehte sich um und sah mich verwundert an.

»Tatsächlich? Ich habe ihn wirklich nicht gekannt. Ich bin zwar Vereinsmitglied, habe aber nur gelegentlich an den gemeinsamen Veranstaltungen teilnehmen können, weil ich meistens in Deutschland war.«

»Na gut, aber ihr seid dem Verein beide vor mehr als zehn Jahren beigetreten, und Harri war unter Ornithologen ziemlich bekannt. Versuch doch mal, dich zu erinnern!«

Einer der weißen Zwergsäger schwang sich plötzlich auf und flog ans Ufer. Holma trat an sein Fernrohr, machte einen Schwenk und beobachtete den Vogel.

»Ein prächtig gemusterter Schnabel. Willst du mal sehen?«

»Nein danke. Am Freitag habe ich mit Jiri Merivaara gesprochen und erfahren, dass es zwischen dir und Riikka aus ist. Er meint, sie hätte dich verlassen, weil sie dich für den Mörder ihres Vaters hält.«

Das Fernrohr entglitt ihm, doch er konnte das Stativ im letzten Moment festhalten. Als er mich ansah, war sein Gesicht nicht mehr jungenhaft.

»Jiri redet Unsinn. Keiner hat irgendwen verlassen. Sagen wir, die Beziehung ruht, und das hat mit dem seligen Juha Merivaara nicht das Geringste zu tun. Natürlich wäre es Jiri lieber, wenn ich der Schuldige wäre und nicht seine Mutter oder Mikke.«

Er justierte das Fernrohr und sah wieder hindurch. Der weiße Zwergsäger lieferte sich vor dem strahlend blauen Himmel einen Wettflug mit einer grauschwarzen Krähe. Als die beiden Vögel an den leuchtend gelben Bäumen am Ufer entlangflogen, hatte ihr Gefieder plötzlich einen ganz anderen Ton als vor dem blauen Hintergrund.

»Im Herbst ist es mir mittlerweile noch wichtiger, Vögel zu beobachten. Im Sommer überlagern sich ihre Stimmen gewissermaßen, aber im Oktober klingt selbst das Krächzen einer Krähe wie eine Serenade«, sagte Holma leise. »Natürlich ist es wunderschön, wenn im Frühling die Zugvögel eintreffen und die Welt plötzlich voller Töne ist, aber aus irgendeinem Grund hat mich ihr Abflug im Herbst immer besonders interessiert.«

»Riikka hat also Schluss gemacht. Warum?«

Holma schwenkte das Fernrohr, sodass er mich im Visier hatte, eine zugleich kindische und drohende Geste. Ich schob es weg, denn ich wollte sein Gesicht sehen, wenn er antwortete.

»Kannst du dir das nicht denken? Riikka meint, ich wäre zu alt für sie. Sie behauptet, ich würde sie ohnehin verlassen, wenn meine Stimme wiederhergestellt ist. Die Ärzte sind zuversicht-lich, sie glauben, dass die Operation erfolgreich sein wird und meine Stimmbänder schon im nächsten Frühjahr ausgeheilt sind.

Nur bin ich nicht mehr sicher, ob ich den Beruf wirklich wieder aufnehmen will, diesen höllischen Kampf um jedes Engagement, den entsetzlichen Druck, unter dem man jedes Mal steht, wenn man sich in eine Rolle einlebt. Seija Saarela behauptet, meine Stimme hätte gestreikt, weil ich im Grunde nicht mehr singen möchte. Vielleicht hat sie Recht.«

Er fuhr sich durch die Haare, diesmal wirkte die vertraute Geste gequält.

»Natürlich habe ich die ganze Zeit gewusst, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein kann. Einundzwanzig Jahre Altersunterschied, das ist viel, obwohl ich die Distanz nicht für unüberwindlich halte. Aber Riikka war recht unerfahren, sie hatte ja noch nie einen Freund gehabt. Damit will ich nicht sagen, dass ich ihr die Jungfernschaft geraubt habe, aber beinahe

…« Er brachte es fertig zu erröten. »Nach Suzanne kam mir Riikka frisch und außergewöhnlich vor, und ich habe mich aufgeführt wie ein Pennäler …«

»Wenn wir verliebt sind, werden wir wohl alle wieder jung.

Du lässt dich also operieren?«

»Ja. Ich fliege nach Kalifornien, sobald die Polizei mir grünes Licht gibt.«

Ich konnte mir Holma eigentlich nicht als perfiden Rächer vorstellen, der sich nach Harris Tod in die Familie Merivaara eingeschlichen hatte, aber vorläufig stand er noch unter Verdacht. Vielleicht hatte er seine Auseinandersetzung mit Juha in der Nacht fortgesetzt.

»In der Mordnacht soll an deinem Arm eine Wunde aufgetaucht sein. Darf ich die mal sehen?«

Er warf mir einen wütenden Blick zu, bevor er den Ärmel hochschob. Der blaue Fleck am Unterarm war kaum noch zu erkennen.

»Du hast mit Riikka gesprochen. Du solltest ihr nicht alles glauben. Den blauen Fleck hat mir Juha vor dem Essen in der Sauna zugefügt.«

»Riikka behauptet, als ihr in der Nacht miteinander geschlafen habt, wäre er noch nicht da gewesen.«

»Sie hat ihn nicht gesehen. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber es war dunkel.«

»Dein Wort gegen ihres.«

»So weit ist es also gekommen?«, fragte Holma traurig und hob das Fernglas an die Augen. Ich gab keine Antwort, sondern ging ein Stück weiter ins Schilf und schaute auf die Bucht. Zu gern hätte ich den ganzen sonnigen Oktobertag im Feuchtgebiet von Elfvik verbracht, doch das Handy holte mich in den Alltag zurück. Koivu brauchte einen Haftbefehl gegen einen Mann, der seine betagte Mutter verprügelt hatte. Also fuhr ich zurück zum Präsidium. In der Tiefgarage traf ich auf Taskinen.

»Hattest du ein erholsames Wochenende?«, fragte er fürsorglich. Offenbar hatte er meinen Wutanfall auf der Graffiti-Besprechung am Freitag noch nicht vergessen.

»Jedenfalls konnte ich mal richtig abschalten.«

Wir zwängten uns gleichzeitig durch die Tür zum Treppen-haus, ich roch sein dezentes Rasierwasser und spürte seine festen Armmuskeln. Seine Berührungen hatte ich immer genossen, auch wenn mich dieses Gefühl anfangs erschreckt und mir ein schlechtes Gewissen gemacht hatte, vor allem, als mir klar wurde, dass es nicht einseitig war. Allmählich hatte ich aber gelernt, es als Geschenk zu betrachten: Es war schön, am Arbeitsplatz jemanden zu haben, dessen Umarmung einem Kraft schenkte.

»Ströms Bruder hat mich gestern angerufen. Er hatte vergeblich versucht, dich zu erreichen.«

»Mein Handy war ausgeschaltet.«

»Sie haben sich für eine stille Feier entschlossen, wie Pertti es gewollt hat, hoffen aber, dass seine engsten Mitarbeiter daran teilnehmen. Der Bruder hat ein schwaches Herz und der Vater ist sehr krank, deshalb bitten sie uns, den Sarg zu tragen.

Freunde hatte Pertti offenbar nicht. Die schriftliche Einladung kommt Ende der Woche.«

»Ich seh mir den Dienstplan an und frage die Jungs, wer hingehen kann. Lähde wird bestimmt teilnehmen und Hirvonen von der Technik, mit den beiden ist Pertsa ja durch die Kneipen gezogen. Ist die Beerdigung schon an diesem Wochenende?«

»Erst am nächsten. Ich stelle mich auch als Sargträger zur Verfügung. Wie steht es mit Perttis Nachfolger?«

Der Aufzug hielt in meinem Stockwerk, ich stieg aus, doch Taskinen hielt die Tür offen. Wir redeten über die Stellenbeset-zung, bis von unten eine wütende Stimme nach dem Aufzug verlangte.

Auf meinem Tisch lag ein Fax aus Korsika. Peders und Ramanauskas waren im Bootshafen von Calvi ausfindig gemacht worden, und der Ortspolizist wollte wissen, was er sie fragen solle, wenn der deutschsprachige Dolmetscher eintraf. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, nach Korsika zu fliegen. Dort war sicher noch Sommer. Dann tippte ich eine Liste von Fragen auf Englisch und überlegte, wie sich der Inhalt verändern mochte, wenn die Korsen sie erst ins Französische und dann weiter ins Deutsche übersetzten. Ich wollte lediglich wissen, warum die Mare Nostrum gegründet worden war und in welcher Branche sie sich betätigte. Außerdem schickte ich eine Kopie des Etiketts von der Farbdose, die Jiri gefunden hatte, und bat den korsischen Kollegen, Peders und Ramanauskas zu fragen, ob sie etwas darüber wussten.

Vor dem Gespräch mit Anne Merivaara blieb mir keine Zeit mehr, zu Mittag zu essen. Ich hoffte inständig, sie würde mir wieder Tee und Möhrenkuchen anbieten. Mein Blutzucker war mittlerweile so niedrig, dass ich mir nicht zutraute, in diesem Zustand konzentriert fahren zu können, also holte ich mir, selbst auf die Gefahr hin, mich zu verspäten, einen Schokoriegel vom Kiosk. Um vier Minuten nach zwei war ich im Firmengebäude.

Paula Saarnio, die Chefsekretärin, erwartete mich im Foyer und führte mich in die obere Etage.

»Anne hat noch eine Besprechung mit ihrem Rechtsanwalt.

Sie lässt Sie bitten, eine Viertelstunde zu warten. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Natürlich nahm ich dankend an. Paula Saarnio hatte offenbar den Auftrag erhalten, mir Gesellschaft zu leisten, denn auf ihrem Tisch standen zwei Tassen und eine Platte Feta-Spinat-Quiche bereit. Erst als ich ein großes Stück Quiche zur Hälfte vertilgt hatte, kam ich auf die Idee, die Gelegenheit zu nutzen und Juha Merivaaras Sekretärin zu fragen, was sie von Peders und Ramanauskas wusste.

»Ach, Juhas Litauer, die nie Dividenden bezogen haben.«

Sie lächelte amüsiert. »Heikki, also Finanzdirektor Halonen und ich haben uns oft darüber gewundert, denn in den letzten Jahren konnte die Merivaara AG Dividenden ausschütten. Die Mare Nostrum hat ihren Anteil jedoch nie beansprucht.«

»Im Gegensatz zu Finanzdirektor Halonen und Anne Merivaara wissen Sie also immerhin, wer die Aktionäre der Mare Nostrum sind.« Offenbar war meine Stimme scharf geworden, denn Paula Saarnio warf mir einen verwunderten Blick zu.

»Ja. Obwohl der Aktienverkauf getätigt wurde, bevor ich ins Haus kam. Nach einem weinseligen Abend ist Juha einmal etwas entschlüpft, was er mir unter normalen Umständen wohl nicht anvertraut hätte. Zuvor hatte er mit Anne einigen Kunden einen Vortrag über die ökologischen Prinzipien des Unternehmens gehalten, danach gab es ein ausgiebiges Geschäftsessen.

Anne hatte Fieber und ist früher nach Hause gegangen. Nachdem alle weg waren, hat Juha mich gebeten, zum Schluss die letzte Sektflasche mit ihm zu leeren. Er brachte einen Toast auf die grandiose Show aus und meinte lachend, was die Kunden wohl für ein Gesicht machen würden, wenn sie wüssten, dass die ganze Ökolinie mit Geldern aus Geschäften mit weniger respektablen Lacken finanziert wurde. Dann erschrak er und erklärte hastig, er spreche natürlich von der Zeit seines Vaters.«

Paula Saarnio lehnte sich zurück und schlug die langen Beine übereinander. Die Bügelfalten ihrer Nadelstreifenhose waren messerscharf.

»Was meinte er damit?«

»Nun, die Bootslacke, die die Firma zu Martti Merivaaras Zeit herstellte, enthielten reichlich Blei, das ja damals allgemein verwendet wurde, um die Außenwände der Boote sauber zu halten. Ich hätte Juha wahrscheinlich geglaubt, wenn nicht gerade in dem Moment ein Fax gekommen wäre, das ich kurz überflog, bevor ich es an ihn weiterreichte. Ramanauskas kündigte darin die nächste Lieferung für Samstag an. Als Juha merkte, dass ich ein Fax gelesen hatte, das nicht für meine Augen bestimmt war, dachte er lange nach. Offenbar wusste er nicht, wie er mir die Sache erklären sollte. Schließlich sagte er, es handle sich um den Geschäftsabschluss einer Teilhaberfirma, und er werde nun bald in der Lage sein, die Merivaara-Aktien von der Mare Nostrum zurückzukaufen. Da kam mir zum ersten Mal der Verdacht, die Aktien könnten in betrügerischer Absicht verkauft worden sein.«

Ich runzelte die Stirn und wünschte, Kantelinen säße neben mir.

»In betrügerischer Absicht? Wieso?«

»Anfang des Jahrzehnts brauchte die Firma zusätzliches Kapital, aber Juha wollte die Aktien bekanntlich nicht an Außenstehende verkaufen. Vielleicht war die Mare Nostrum eine Scheinfirma, und Peders und Ramanauskas haben für etwas ganz anderes bezahlt als für Aktien.«

Im selben Moment ging die Tür zum Chefzimmer auf. Anne Merivaara geleitete einen grauhaarigen Herrn im gediegenen Maßanzug und mit einer großen goldenen Uhr am Handgelenk hinaus. Sie sah verweint aus.

»Einen Augenblick noch«, flüsterte sie mir zu und bat Paula Saarnio, Rechtsanwalt Heikkilä zum Ausgang zu begleiten. Ich hoffte, sie würde vor ihrer Chefin zurückkommen, doch Anne brauchte nur eine Minute, um sich frisch zu machen und die Tränenspuren verschwinden zu lassen.

»Entschuldige bitte, dass du warten musstest. Gibt es etwas Neues?«

»Eine ganze Menge. Zum Beispiel kennen wir jetzt die Aktionäre der Mare Nostrum. Hauptaktionär war dein Mann. Willst du immer noch behaupten, du hättest von dem Arrangement nichts gewusst?«

»Ja, das behaupte ich.« Anne bemühte sich um einen resoluten Ton, obwohl es in ihrem Gesicht zuckte. »Offenbar gibt es vieles, was ich nicht gewusst habe. Zum Beispiel ist das Boot voll bezahlt, obwohl Juha vorgab, er hätte es auf Kredit gekauft, und letzten Herbst, nach seinem ersten Infarkt, hat er die höchste Lebensversicherung abgeschlossen, die er bei seinem Gesund-heitszustand bekommen konnte. Als hätte er seinen baldigen Tod vorausgeahnt.«

»Läuft denn die Yacht auf Juhas Namen und nicht auf die Firma?«, fragte ich rasch, denn ihr stiegen wieder Tränen in die Augen.

»Auf meinen Namen, und ich verstehe nicht, wovon Juha sie bezahlt hat. Eigentlich hatten wir noch nicht …«

»Vermutlich ist vieles in diesem Haus anders, als du geglaubt hast. Was hast du vor, wirst du die Firma verkaufen?«

»Ich weiß es nicht. An sich würde ich gern verkaufen, aber wenn Riikka und Jiri ihre Aktien behalten wollen, was dann?

Juha hätte gewollt, dass wir die Firma behalten, deshalb hat er ja die Lebensversicherung abgeschlossen. Ich habe Mikke gebeten, die Geschäftsführung zu übernehmen, obwohl ich schon im Voraus wusste, dass er ablehnen würde. Heikki Halonen wäre interessiert, aber ihm traue ich nicht mehr über den Weg.«

»Was würdest du selbst denn gern tun?«

Anne lächelte müde.

»Ich komme kaum dazu, an die Zukunft zu denken, ich bin schon froh, wenn ich den nächsten Tag glimpflich überstehe.

Seija und ich haben gelegentlich überlegt, auf Rödskär ein Kurszentrum aufzumachen. Seija könnte Kurse über ihre Steine halten, eine Freundin von mir würde Lehrgänge über Rohkost anbieten und so weiter. Das Inselmilieu ist so inspirierend. Man könnte auch Meditationswochenenden veranstalten. Ich glaube nicht an die negativen Energien, von denen Seija spricht. Schon der Gedanke an die Insel schenkt mir inneren Frieden, daran hat selbst Juhas Tod nichts geändert.«

Ich nahm ein zweites Stück Quiche und aß nachdenklich einen Bissen nach dem anderen. Eine Krähe flog an dem großen Fenster vorbei, bei der Bewegung fuhr Anne zusammen. Ich steckte die Hand in die Hosentasche und betastete den Granit von Rödskär und den Amazonit, den Seija Saarela mir gegeben hatte, doch die Steine machten mir die nächste Frage nicht leichter.

»Du hast befürchtet, Juha könnte Harri Immonen getötet haben

– oder hast du es sogar gewusst?«

»Nein!« Anne zuckte so heftig zusammen, dass das überge-schlagene Bein an den Tisch stieß. Die Teetassen klirrten.

»Ich hatte einfach nur Angst, dass jemand von uns von den Klippen stürzt und stirbt wie Harri.«

Ich glaubte ihr nicht. Daher bat ich sie, mir zu berichten, wie sie und ihr Mann Harris Leiche gefunden hatten. Zunächst sträubte sie sich, sagte, ich hätte die Vernehmungsprotokolle gelesen und wüsste doch ohnehin Bescheid. Die Erinnerung sei zu schmerzhaft für sie. Es widerstrebte mir, sie mit der Drohung unter Druck zu setzen, das Gespräch vor Zeugen und bei laufendem Tonband auf dem Präsidium fortzusetzen. Zum Glück genügte ein dezenter Hinweis in dieser Richtung, um sie zum Reden zu bringen.

Juha war damals früh am Morgen aus Tallinn gekommen und hatte gesagt, er sei müde von den anstrengenden Verhandlungen. Anne hatte seine roten Augen und zitternden Hände auf übermäßigen Alkoholgenuss zurückgeführt und vorgeschlagen, auf den Ausflug nach Rödskär zu verzichten und ihren Geburtstag zu Hause zu feiern. Aber Juha hatte unbedingt auf die Insel gewollt. Schließlich hatte Anne unter der Bedingung zugestimmt, dass sie das Boot steuerte. Auch davon hatte er nichts hören wollen, sie hatte tausend Ängste ausgestanden, denn er hatte in einem Tempo auf Rödskär zugehalten, als säßen ihm die Seeungeheuer im Nacken.

Am Bootssteg war ihnen noch nichts aufgefallen. Erst als sie in der Wohnküche Harris Sachen entdeckt hatten, waren sie stutzig geworden. Juha hatte geschimpft: Harri hätte doch wissen müssen, dass sie an diesem Wochenende ungestört sein wollten. Zuerst hatten sie im Haus nach ihm gerufen, dann waren sie zu den Felsen gegangen. Dort hatte Juha die Leiche entdeckt und einen erfolglosen Wiederbelebungsversuch gemacht. Anne war dankbar gewesen, dass er sie fortgeschickt hatte, um ihr den Anblick des Toten zu ersparen.

»Ich muss unter Schock gestanden haben, ich war zu nichts fähig, saß nur auf einem Felsbrocken und starrte vor mich hin.

Juha hat die Polizei alarmiert und die Leiche zugedeckt.«

»Wie hat er auf den Fund reagiert?«

»Ich weiß es nicht, ich war ja so durcheinander. Zumindest war er fähig, rational zu handeln. Einmal, als wir gerade erst verlobt waren, sagte er, er fürchtet sich nicht vor Toten, weil er als Kind das langsame, qualvolle Sterben seiner Mutter miterlebt hat. Als das Ende kam, sei es für alle eine Erleichterung gewesen. Allerdings glaube ich nicht, dass er es so leicht genommen hat. Unmittelbar vor Harris Beerdigung hatte er seinen ersten Herzinfarkt.«

Wie clever von Juha, dafür zu sorgen, dass er selbst den Toten fand, noch dazu in Anwesenheit einer Zeugin. Der Wiederbelebungsversuch hätte als Erklärung herhalten können, falls an der Leiche Fasern, Haare oder Ähnliches gefunden worden wären.

Danach hatte die Polizei allerdings gar nicht erst gesucht.

»War Juha allein in Tallinn? Mit wem hat er dort verhandelt?«

Anne wusste es nicht, sie meinte, das müsse ich Paula Saarnio fragen. Im Stillen fluchte ich: Die Reise lag mehr als ein Jahr zurück, die Passagierliste war längst vernichtet. Hoffentlich hatte die Sekretärin über Reservierungen und Verhandlungen Buch geführt. Anne rief sie herein und bat sie, die Reiseunterla-gen vom letzten Jahr durchzusehen.

»Gesprächstermine stehen im Kalender, die Reisekostenab-rechnungen sind in der Buchführung. Einen Augenblick, ich sehe nach.«

»Glaubst du wirklich, Juha könnte etwas mit Harris Tod zu tun haben?«, zischelte Anne, als Paula die Tür hinter sich geschlossen hatte. Als ich keine Antwort gab, fuhr sie fort:

»Weißt du, weshalb ich dachte, Harri hätte sich das Leben genommen? Wegen eines Anrufs, von dem Katrina mir erzählt hat. Mikke hatte Harri ja auf Rödskär abgesetzt und war dann nach Åland zu seiner Mutter gefahren. Harri hatte von der Insel aus mit Katrina telefoniert und gesagt, Mikke solle ihn gleich nach seiner Ankunft zurückrufen. Sie hat aber vergessen, es ihm auszurichten, und erinnerte sich erst wieder daran, als Mikke schon in dänischen Gewässern segelte und Harri tot aufgefunden worden war. Katrina sagte, Harri hätte ängstlich gewirkt. Sie spricht nicht gern über sich, aber ich glaube, die Sache geht ihr immer noch nach. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass Harri Selbstmord begangen hat, und überlegt, ob ein Rückruf von Mikke ihn daran gehindert hätte.«

Annes Bericht klang verworren, wie ein verzweifelter Versuch, die Schuld an Harris Tod jemand anderem zuzuschieben als ihrem Mann. Dennoch musste ich mit Katrina Sjöberg sprechen. Um welche Zeit ging die erste Maschine nach Mariehamn? Wenn ich schon nicht nach Korsika kam, konnte ich wenigstens auf eine etwas näher gelegene Insel fliegen. Wen von meinen Kollegen sollte ich mitnehmen? Die Gedanken schossen mir durch den Kopf, ziellos wie aus ihren Käfigen befreite Pelztiere. Kurz darauf erschien Paula Saarnio mit verblüfftem Gesicht an der Tür.

»Ich finde keine Notiz über Verhandlungen in Tallinn am dritten Oktober letzten Jahres, auch keine Tickets für die Fähre.

Anne, bist du sicher, dass Juha an dem Tag einen Termin in Estland hatte?«

»Ja! Er war über Nacht auf der Fähre und hat Champagner und Kaviar mitgebracht!«, stieß Anne hervor, doch ihre Stimme schwankte. Ich betrachtete ihre Hände, erinnerte mich an ihren festen Griff. Vielleicht hatte sie gewusst, dass ihr Mann Harri getötet hatte, womöglich hatte sie auch herausgefunden, warum.

Juhas Seitensprünge hatte sie toleriert, doch dass er hinter der makellosen Fassade der Merivaara AG unsaubere Geschäfte trieb, war zu viel gewesen. Hatte sie ihren Mann umgebracht, als ihr klar wurde, dass das Familienunternehmen bleihaltige Farbe nach Litauen exportierte?

Ich wusste noch nicht genug über die Bedeutung der Farbdose, die Jiri gefunden hatte. Daher beendete ich die Befragung und fuhr zurück ins Büro, um den Flug nach Mariehamn zu buchen.

Ich fluchte ausgiebig, als ich erfuhr, dass die Maschine um sieben Uhr zwanzig abflog, sodass ich schon vor sechs aufste-hen musste. Ich vergewisserte mich, Katrina Sjöberg zu Hause anzutreffen, bestätigte die Reservierung und bestellte einen Mietwagen. Gleich darauf kam ein Anruf vom kriminaltechnischen Labor.

»Es geht um die Farbe, die ihr uns geschickt habt. Woher habt ihr die?«

Ich sagte, ich wisse es nicht, vermute aber, sie stamme aus den Beständen der sowjetischen Marine.

»Wir haben noch nicht alle Analysen durchgeführt, aber schon jetzt steht fest, dass die Farbe Tributylzinn enthält«, erklärte der Kriminalchemiker Niinimaa fröhlich.

»Tributylzinn? Was ist das?«

»Eine Organozinnverbindung, die man früher für Bootslacke verwendet hat, um die Verschmutzung der Außenwände zu verhindern.«

»Himmelherrgott nochmal!«, sagte ich aus tiefstem Herzen, worauf der erfahrene Niinimaa fragte:

»Passt das nicht in deine Theorie?«

»Nur zu gut. Handelt es sich um eine verbotene Chemikalie?«

»Die Helsinki-Konvention von 1988 untersagt die Verwendung in Lacken, aber soweit bekannt, wurde Tributylzinn in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auch danach noch eingesetzt.«

»Auswirkungen, in Kurzfassung?«

»Die sind bisher kaum erforscht, aber man hat zum Beispiel männliche Geschlechtsmerkmale an weiblichen Schnecken beobachtet. Bei Forellen wurden Veränderungen des Blut- und Lebermetabolismus und an den Augen festgestellt. Bei hoher Konzentration wird der Laich der Lachse zerstört. Es gibt auch Berichte über tote Miesmuscheln und über den Verfall des Immunsystems bei Vögeln, die sich von Miesmuscheln ernähren. Die Halbwertszeit des Stoffes im Wasser beträgt rund drei Monate.«

Der nächste Fluch lag mir auf der Zunge. Wenn ich nur wüss-te, wie dringend das Problem war. Jiri hatte mir von den Farbtonnen berichtet. Konnten einige Fässer Tributylzinn im Wasser bleibende Schäden verursachen?

Ich bat Niinimaa, die Untersuchungen zu beschleunigen, dachte an die tote Eiderente und an die Dateien auf Harris Laptop. Ein kostspieliger Tauchereinsatz auf Rödskär kam erst infrage, wenn ich wusste, wo das Gift ins Meer gekippt worden war.

Ich rief Mikke Sjöberg an, wieder erfolglos. Der Ermittler, der sich mit Harris Computer herumschlug, meldete sich dagegen, wenn auch verärgert und abgehetzt.

»Es dauert noch eine Weile. Der jetzige Besitzer sagt doch, er hätte die Festplatte neu formatiert. Ich kann nicht versprechen, dass sich die vor der Umformatierung gespeicherten Dateien retten lassen, aber ich tue mein Bestes. Nur liegt hier noch einiges andere an, unter anderem muss ich mich mit den Hackern befassen, die in das Computersystem der Merita-Bank eingedrungen sind.«

»Ich weiß«, sagte ich ohne Mitgefühl. Wir alle schufteten mit letzter Kraft. Mir war längst klar geworden, dass ich niemanden nach Åland mitnehmen konnte, denn alle Kollegen waren bis über die Ohren mit Arbeit eingedeckt. Wenn ich Zeugen für eine offizielle Vernehmung brauchte, würde ich mich an die Polizei in Degerby wenden müssen.

Ich delegierte die Leitung der Morgenbesprechung an Lähde und bat ihn, die Kollegen zu fragen, wer sich als Sargträger für Pertsas Beerdigung zur Verfügung stellte. Wir hatten immer ein ausgesprochen steifes Verhältnis zueinander gehabt, denn Lähde war Pertsas Vertrauter gewesen und hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass seiner Meinung nach die falsche Person zur Dezernatsleiterin ernannt worden war. Deshalb überraschte mich seine Reaktion:

»Sargträger, soso. Ich weiß, was Ström dazu gesagt hätte.«

»Was denn?«

»Nehmt die verdammte Emanze, die brennt doch darauf, Männerarbeit zu tun«, sagte Lähde, und in seiner Stimme lag nichts als Trauer.

»Mir soll’s recht sein, falls jemand bereit ist, auf der anderen Seite mit gebeugten Knien zu gehen«, sagte ich und flüchtete mich in mein Büro. Schon im Flur hörte ich das Telefon, ich schaffte es gerade noch, den Hörer abzunehmen, bevor der Anrufer auflegte.

»Puustjärvi hier. Ich hab den Vogelkadaver gefunden.«

»Prima! Wo?«

»Im Institut für Veterinärmedizin und Lebensmittelhygiene.

Aber er ist eines natürlichen Todes gestorben.«

Seltsamerweise war ich enttäuscht, statt mich zu freuen, dass Juha Merivaara keine Umweltkatastrophe herbeigeführt hatte.

»Aber hier liegt noch ein anderes totes Viech von Immonen«, fuhr Puustjärvi fort. »Ein prächtiger Lachs. Er hat irgendwelche Veränderungen an der Leber, im Blutkreislauf und an den Augen. Das kommt von einem chemischen Stoff namens …«

»Ich weiß«, sagte ich. »Tributylzinn.«

Siebzehn

Es war dunkel, als die Maschine abhob. Um halb sieben war ich ins Taxi gestiegen und hatte Antti und Iida schlafend zurückge-lassen. Das Thermometer hatte fünf Grad minus angezeigt: Der Winter kam zeitig.

Am Vortag war ich ungewöhnlich früh nach Hause gekommen, hatte aber fast den ganzen Abend dienstliche Telefonate führen müssen. Iida, die mit mir spielen wollte, hatte mir quengelnd am Hosenbein gehangen, während ich versuchte, aus dem rudimentären Englisch meines korsischen Kollegen schlau zu werden. Die Herren Peders und Ramanauskas waren sehr aufgebracht gewesen, als man sie zur Vernehmung auf die Polizeistation von Calvi gebeten hatte. Ja, sie seien Teilhaber eines Unternehmens namens Mare Nostrum, das wiederum Aktionär der Merivaara AG war, doch das sei kein Verbrechen.

Über Juha Merivaaras Tod waren sie sehr erschüttert. Ihrer Aussage nach war die Mare Nostrum gegründet worden, um finnische Lacke in die baltischen Länder zu exportieren, doch die Ausfuhr hatte sich nicht so gut entwickelt wie erwartet. In den letzten Jahren hatte die Firma nur noch auf dem Papier existiert, und Juha Merivaara hatte den Litauern angeboten, ihre Aktien zu übernehmen. Man hatte sich darauf geeinigt, die Transaktion durchzuführen, wenn die beiden Männer das nächste Mal nach Finnland kamen.

Daraufhin hatte die korsische Polizei Peders und Ramanauskas gehen lassen, denn am Samstag, dem 4. Oktober, hatten sie mit französischen und monegassischen Freunden in einem Restaurant an der Promenade Anglaise in Nizza zu Abend gegessen.

An Zeugen herrschte kein Mangel.

»Antti, nimm mir Iida ab!«, rief ich schon zum sechsten Mal, denn die Kleine schrie so laut, dass der korsische Kollege mich kaum noch verstehen konnte. Ich fragte ihn nach der Telefonnummer des litauischen Bootes.

Antti kam polternd aus der Küche und trug die umso heftiger schreiende Iida hinaus. Die Aussicht, ihm beim Backen helfen zu dürfen, schien sie nicht zu trösten. Als das Gespräch beendet war, ging auch ich in die Küche. Iidas Gesicht war tränenüberströmt, doch sie patschte zufrieden auf ein mehlbestäubtes Brot.

»Wenn du von der Arbeit kommst, klebt das Kind nun mal an dir, das musst du doch verstehen!«, giftete Antti. Auch er hatte Mehl im Gesicht.

»Ja, schon gut, aber diese eine Sache musste ich unbedingt heute Abend noch erledigen. Ein einziges Gespräch noch, dann kann ich Iida übernehmen.«

Dann hatte ich wieder einmal vergeblich versucht, Mikke Sjöberg zu erreichen und schließlich die zuständige Streife gebeten, im Hafen von Suomenoja nachzusehen, ob die »Leanda« noch vor Anker lag. Kurz darauf hatte ich die Meldung erhalten, sie sei am Bootssteg vertäut und in der Kajüte brenne Licht. Bei der Vorstellung, dass Mikke frierend und allein auf seinem Boot hockte, war mir schwer ums Herz geworden, doch ich hatte mir verboten, weiter über ihn nachzudenken.

Unter den Wolken tauchten die Lichter von Turku auf. Mein Magen, der etwas gegen Flüge am frühen Morgen hatte, zog sich krampfhaft zusammen, als die Maschine an Höhe verlor.

Mir brach kalter Schweiß aus, und der dünne Kaffee, den man uns serviert hatte, stieß mir sauer auf.

Im Osten leuchteten die ersten Sonnenstrahlen, doch unsere Maschine flog nach der Zwischenlandung in die Dunkelheit.

Das Meer war grau und kältestill, die Inseln ragten golden oder preiselbeerrot heraus, als wollte die Welt sich noch einmal schmücken, bevor sie braun und schließlich schneeweiß wurde.

Sicher waren Antti und Iida jetzt gerade in der Küche und kochten den Frühstücksbrei. Warum hatte ich ein schlechtes Gewissen, anstatt es zu genießen, im Flugzeug zu sitzen, wo kein Familienmitglied, kein Kollege oder Zeuge etwas von mir wollte, wo man mir im Gegenteil Kaffee vorsetzte und die leere Tasse abräumte, ohne dass ich auch nur darum zu bitten brauchte?

Hatte ich die Dienstreise womöglich auf mein Programm gesetzt, um allein zu sein? Denn danach sehnte ich mich, nach der Freiheit, mit niemandem reden zu müssen, die ich sonst nur auf dem Weg zwischen zu Hause und Arbeitsplatz hatte, und danach, nicht ständig von anderen in Anspruch genommen zu werden. Hatte ich meine Kräfte überschätzt, als ich den Posten der Dezernatsleiterin angenommen und geglaubt hatte, ihn mit der Versorgung eines Kleinkindes verbinden zu können?

Wir hatten ab und zu überlegt, ob Iida Geschwister bekommen sollte. Im Moment schien es mir allerdings unmöglich, wieder mit der Arbeit auszusetzen. Meine Schwestern versuchten mir einzureden, Einzelkinder würden kleine Egoisten, aber ich hatte schon früher gemerkt, dass sie nicht immer Recht hatten.

Die Maschine flog einen Bogen nach Süden, und plötzlich stand die aufgehende Sonne vor mir wie ein unermessliches Feuerwerk in dunkelgelben und tiefroten Tönen. Die Farbe fiel vom Himmel auf das Meer, verwandelte das Totengrau in Goldblau, ließ die Granitklippen in tiefem Rubinrot aufleuchten.

Ich hätte stundenlang zusehen mögen, wie die Farben ineinander übergingen und die Sonne Schatten über das Meer jagte. Doch die Hauptinsel von Åland lag bereits vor uns, und aus dem Lautsprecher kam die Ansage, die Maschine werde in fünf Minuten in Mariehamn landen.

Der Mietwagen stand am Flughafen bereit. Zum Hafen von Svinö, wo ich um zehn Uhr die Autofähre erreichen musste, waren es gut zwanzig Kilometer. Ich hätte Zeit für einen Abstecher ins Zentrum von Mariehamn gehabt, zog es aber vor, in aller Ruhe nach Svinö zu fahren und die Landschaft zu genießen. Die Straße führte durch herbstbraune Felder und gelblich gefärbte Wälder, ab und zu erhaschte ich einen Blick auf das tiefe Blaugrün des Meeres. Die Häuser waren vorwiegend aus Holz gebaut und hellgelb oder dunkelrot angestrichen, die Felder sauber umgepflügt. An schattigen Stellen waren sie bereift.

Die Kaffeestube am Fährhafen war leer, wahrscheinlich hatte sie nur im Sommer geöffnet. Am Steg lag ein verlassener Prahm, blühendes Kreuzkraut trotzte der Kälte. Der Wind wurde böiger, ich zog den Mantel enger um mich. Ich hatte mich an der kargen Landschaft längst satt gesehen, als die MS Knipan mit sieben Minuten Verspätung eintraf. Nachdem ich den Wagen auf die Fähre rangiert hatte, ging ich in den Salon auf dem Oberdeck, wo nur wenige Passagiere saßen, dem Dialekt nach Einheimische.

Die Fähre tuckerte an kleinen roten Felsinseln vorbei nach Osten. Ich betrachtete die Leuchtturminsel im Norden und malte mir aus, wie die Herbststürme über ihre Klippen und die windgebeugten, kleinwüchsigen Erlen hinwegbrausten. Der Südwind brachte die Fähre zum Schaukeln, doch sie schob sich unbeirrt an dem Wall kleiner Inseln vorbei, hinter dem plötzlich das Dorf Degerby auftauchte. Zwischen den Seezeichen drehte die Fähre nach Nordosten bei. Offenbar lagen felsige Untiefen vor dem Dorf, denn die Fahrrinne war dicht markiert. Auf einer Klippe entdeckte ich ein Schwanenpaar, dessen Flügel in der Sonne aufleuchteten.

Das Dorf schlängelte sich an der Küste entlang. Rote und hellgelbe Häuser, ein grauweißes Strandlokal. Im Hafen dümpelten ein paar Segelboote, ansonsten schien das Dorf im Winterschlaf zu liegen. Ich setzte mich in den Wagen. Die Besatzung musste gegen den Südwind ankämpfen, um die Fähre zu vertäuen.

Die Fahrt durch Degerby dauerte etwa eine Minute. Im Dorf gab es ein Heimatmuseum, einen Laden, eine Poststelle, eine Bibliothek und eine bereits geschlossene Minigolf-Anlage, bei der ein Wegweiser zum Strandlokal stand. Die Kirche lag etwas außerhalb, Katrina Sjöberg hatte mir genaue Fahranweisungen gegeben.

»Mein Haus ist schwer zu finden, aber am Dienstagvormittag bin ich in der Kirche von Föglö, um die Lieder für den Sonn-tagsgottesdienst zu üben. Der Weg ist gut ausgeschildert, treffen wir uns dort«, hatte sie gesagt. So nahm ich nun die direkt nach Osten führende Straße, bog zwei Kilometer hinter dem Dorf rechts ab und überquerte dann eine schmale Brücke, neben der verfroren aussehende Seeschwalben schwammen.

Der Kirchturm war eine gute Landmarke, er war kilometerweit zu sehen. Ich ließ den Wagen auf dem Parkplatz stehen und stieg die kleine Anhöhe hinauf. Der offenbar frische Anstrich der Kirchentüren bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem uralten grauroten Stein der Wände. Durch ein Tor betrat ich den Friedhof. Der erste Grabstein, den ich sah, trug den Namen Sjöberg. Ob Johan Erik Emanuel und Hilda Erika, die hier ruhten, mit Katrina und Mikke verwandt waren?

Der Friedhof war ein kleines, offenes Feld, von moosbewach-senen Steinen und rostzerfressenen Kreuzen übersät. Manche Grabsteine zierte ein Anker oder ein Schiff, ein Zeichen, dass hier ein Kapitän oder Lotse begraben war. Der Haupteingang der Kirche war verriegelt. Also ging ich um das Gebäude herum, an einem drei Meter hohen Denkmal vorbei. Till minne av på

havet omkomna – Zum Gedenken an die Opfer der See. Der rote Granit des Gedenksteins erinnerte an die Klippen von Rödskär, die Sonne ließ hier und da blutrote Streifen aufleuchten.

Ich öffnete die Seitentür. Alte Steinkirchen hatten etwas Friedliches und Einladendes, ich besuchte sie gern, obwohl ich nicht einmal wusste, woran ich glaubte. Durch die Innentür gelangte ich in gleißende Helligkeit.

Als Erstes sah ich das von der Decke hängende Votivschiff.

Die Orgel spielte eine unbekannte Melodie. Ich wollte Katrinas Spiel nicht unterbrechen, sondern ging weiter in die Kirche hinein. Über dem Altar hing ein Gemälde mit der Aufschrift Hjälp mig Gud och Maria att allt jag börjar får ett gott slut

Gottvater und Maria helft, dass alles, was ich beginne, ein gutes Ende finde. Die ältesten Teile der Kirche stammten aus dem 14.

Jahrhundert, aus der Zeit vor der Reformation, vielleicht erklärte das die Anrufung der Jungfrau, deren Namen ich trug. Als Kind hatte ich mich über den altmodischen Namen geärgert, den damals nur alte Frauen und die Töchter von Sektengläubigen trugen. In der Oberstufe war ich als Jungfrau Maria verspottet worden, obwohl mein Benehmen alles andere als jungfrauenhaft war. Ich hatte mich oft gefragt, warum meine Eltern als Agnos-tiker einen so unverkennbar christlichen Namen für mich gewählt hatten. Sie behaupteten, der einzige Grund sei, dass meine beiden Großmütter Maria hießen.

Beim Altar stand ein Kerzenhalter, in dem einige dünne, erloschene Wachslichter steckten. Auf einer Bank an der Wand sah ich eine Schachtel mit Kerzen, daneben eine Dose für das Geld. Ich warf ein Fünfmarkstück hinein, nahm eine Kerze und riss ein Streichholz an. Dabei überlegte ich, was Pertsa sagen würde, wenn er wüsste, dass ich für ihn eine Kerze aufstellte. Es hätte ihm wohl nicht behagt, aber seiner eigenen Überzeugung nach war er jenseits allen Bewusstseins. Der Gedanke bereitete mir einen fast körperlichen Schmerz, ich war sekundenlang versucht, die Hand in die Flamme zu halten, um die eine Qual durch eine andere zu betäuben.

Da verstummte die Orgel. Ich hörte ein Poltern auf der Empo-re, dann Katrina Sjöbergs Stimme:

»Grüß dich, du hast also hergefunden.«

Gleich darauf kam sie herunter. Der Druck ihrer stark geäderten Hand war fest, die Haut hatte die Sommerbräune noch nicht ganz verloren. Sie trug einen dicken Pullover, eine verblichene schwarze Samthose und schwere Stiefel. Eine Öljacke hing ihr über dem Arm.

»Herzlich willkommen auf Föglö. Warst du schon einmal auf Åland?«

»Nur auf der Hauptinsel, in dieser Gegend war ich noch nie.

Bist du neben allem anderen auch noch Kantorin?«

»Der reguläre Kantor ist krank, ich springe für ihn ein. Also, gehen wir. Die Kerze musst du leider löschen. Die Feuerschutz-vorschriften, weißt du.«

Ich blies die Flamme vorsichtig aus. Nur ein hartnäckiger Rauchkringel blieb zurück. Als die Kirchentür hinter uns zufiel, fragte ich mich, an welche Art von Gott Katrina glaubte. Vergab er auch die schwersten Sünden, sogar Mord?

Da mir kein Gesprächsstoff einfiel, fragte ich nach dem Grabstein der Sjöbergs, den ich gesehen hatte.

»Ja, das sind entfernte Verwandte, aber unser eigentliches Familiengrab ist dort hinten. Möchtest du es sehen?«

»Warum nicht? Wird Juha auch hier beerdigt?«

»Nein, er wird eingeäschert. Aber für mich und für Mikke sind hier Plätze reserviert.« Sie führte mich zu der Steinmauer am schattigen Rand des Friedhofs. Der größte Grabstein der Sjöbergs maß anderthalb auf zwei Meter, daneben standen zwei kleinere, von denen einer die Namen des Gründers der Merivaara AG, Mikael Johan, und seines Sohnes Martti trug. Auf dem großen Grabstein prangten ein Segelschiff und ein Anker, hier ruhten ein Kapitän und ein Lotse, Johan und Daniel Sjöberg.

»Daniel war mein Großvater, Johan der Großvater von Martti.

Erland und Ida waren meine Eltern, neben ihnen werde ich eines Tages ruhen. Auf dem Stein ist noch Platz«, sagte Katrina ruhig.

Herbstrosen blühten vor dem großen Stein, bald würde die Kälte auch ihre Blätter schwarz färben.

»Hier liegen viele Generationen von starrköpfigen Männern, die sich nie an die Gesetze anderer gehalten haben. Wir Sjöbergs haben wohl zu lange auf dieser Insel gelebt, in unserem eigenen Reich. Johan, der Kapitän, hat in der Zeit der russischen Unterdrückung um die Jahrhundertwende Waffen nach Finnland geschmuggelt, während Daniel, der Lotse, bei Schnapsschmugg-lern beide Augen zudrückte. Wo habt ihr denn euer Grab?«

Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wo ich einmal beerdigt werden würde. Die Kallios hatten kein Familiengrab, das der Sarkelas lag in Wiburg, das nicht mehr zu Finnland gehörte.

»Danach pflegt man junge Leute wohl nicht zu fragen«, lä-

chelte Katrina. »Ich finde es tröstlich zu wissen, wo meine Knochen liegen werden, vor allem, da ich mir nicht sicher bin, wohin meine Seele gerät.« Sie bückte sich, um ein paar Ahornblätter aufzuheben. »Mein Haus liegt anderthalb Kilometer von hier. Passt mein Fahrrad in deinen Wagen?«

Wir verstauten Katrinas Mountainbike im Kofferraum des Mietwagens. Die Straße machte einen Schlenker von der Küste weg, nach zweihundert Metern ging eine schmale, steinige Nebenstraße in nordöstlicher Richtung ab. Sie endete vor einem zweistöckigen, rot gestrichenen Holzhaus, nur hundert Meter vom Ufer entfernt, doch durch eine Felswand und Bäume vor dem Seewind geschützt.

»Mattsboda, das Haus meiner Mutter. Sie war auch eine Sjöberg. In unserer Familie hat es zu viel Inzucht gegeben.«

Als Katrina ihr Rad aus dem Kofferraum hob, fiel mir auf, dass sie sich genauso eckig bewegte wie Mikke.

Wir betraten die Wohnstube, die von einem Webstuhl, einem Backofen und einem Tisch beherrscht wurde, an dem zwanzig Menschen Platz gefunden hätten. Die Wände schmückten Netze und anderes Fischfanggerät sowie ein fast mannshoher Anker.

Eine Standuhr tickte gravitätisch. Obwohl das Zimmer groß war, schien die ein Meter sechzig kleine, schlanke Katrina es auszufüllen.

»Nun stell deine Fragen«, sagte sie, als wir die Mäntel abgelegt hatten und ich die Schuhe gegen die dicken Wollsocken eingetauscht hatte, die Katrina mir brachte. »Es muss ja sehr wichtig sein, wenn du extra herkommst.«

»Ist es dir recht, dass ich unser Gespräch aufnehme?«

Da sie nicht protestierte, kramte ich einen kleinen Recorder und zwei Kassetten aus der Tasche und sprach Datum und Uhrzeit aufs Band, obwohl es mir unwirklich vorkam, in diesem jahrhundertealten, friedlichen Raum eine Vernehmung durchzuführen.

»Ich habe mehrere Fragen. Gehen wir als Erstes ein Jahr zurück. Harri Immonen hat kurz vor seinem Tod hier angerufen, weil er Mikke erreichen wollte. Was hat er gesagt?«

Katrina fuhr sich durch die eisgrauen Haare. Im Herbstlicht waren auch ihre Augen grau wie das Meer am Morgen.

»Das ist schon ein ganzes Jahr her, ich erinnere mich nicht mehr genau. Jedenfalls sollte Mikke sich so schnell wie möglich mit ihm in Verbindung setzen.«

»Wie hat er sich angehört?«

»Ganz anders als der ruhige, sympathische junge Mann, dem ich ein paar Mal begegnet war. Verstört. Er hat extra betont, es sei wichtig. Und ich Rindvieh habe seinen Anruf völlig vergessen!«

Sie seufzte, die Falten um ihre Augen spannten sich. »Ich fühle mich schuldig, weil ich vergessen habe, Mikke von dem Anruf zu erzählen. Deshalb habe ich ihn auch nicht sofort über Harris Tod informiert, ich hatte Angst vor seiner Reaktion.

Manchmal bin eben auch ich feige. Mikke ist der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet. Wenn Harri Selbstmord begangen hat, und wenn ich seinen Tod hätte verhindern können, indem ich seine Nachricht an Mikke weiterleitete …

Der Gedanke ist fast unerträglich.«

»Ich glaube nicht, dass Harri sich das Leben genommen hat«, sagte ich tröstend und verschwieg vorläufig, dass die Weiterlei-tung der Nachricht ihm dennoch möglicherweise das Leben gerettet hätte. »Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht, worum es ging? Bitte versuch dich zu erinnern, es ist wichtig.«

Vom Herd stieg mir der Geruch von Fischsuppe in die Nase.

Katrina stand auf und nahm den Topf von der Platte. Sie rührte ein paar Mal um, bevor sie antwortete:

»Es ging um Juha. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber Harri wollte mit Mikke über Juha sprechen.«

»Du hast Juha gekannt, seit er zehn Jahre alt war. Was für ein Mensch war er?«

Sie schmeckte die Brühe ab und verbrannte sich dabei die Zunge. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprechen konnte.

»Genusssüchtig und eigensinnig wie sein Vater. Martti war faul, deshalb ging es mit seinem Unternehmen bergab. In der Hinsicht war Juha aus anderem Holz geschnitzt. Er liebte das Geld. Mit zwölf hat er mir erklärt, wie er das Erbe seiner Mutter anlegen wollte, wenn er volljährig wurde. Von Geschäften verstehe ich ja auch einiges, und ich muss sagen, seine Pläne waren ausgesprochen intelligent. Er war noch ein Kind, doch er erkannte ganz genau, warum das Erbteil von Treuhändern und nicht von seinem Vater verwaltet wurde. Juha hatte große Ähnlichkeit mit Martti, aber ihm fehlte dessen unglaubliche physische Anziehungskraft. Ihretwegen habe ich mich damals in Martti verliebt.«

Sie setzte sich wieder an den Tisch, das hereinfallende Tageslicht webte ein ruheloses Netz von Falten über ihr Gesicht. Ich schob den Recorder näher an sie heran. Eigentlich hätte ich nach den Ereignissen auf Rödskär fragen müssen, statt mir die Familiengeschichte erzählen zu lassen, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich, in diesen alten Geschichten Antworten auf Fragen zu finden, die ich noch gar nicht zu formulieren wusste.

»Von Marttis beiden Söhnen ist Mikke derjenige, der seine …

seinen Sex-Appeal geerbt hat, so würde deine Generation es wohl nennen. Sie sind nicht eigentlich gut aussehend, aber sie haben etwas an sich, dem ich jedenfalls nicht widerstehen konnte. Ich kann es nicht richtig erklären. Aber Sex allein reicht auf längere Sicht nicht, wenn in der anderen Waagschale die Rolle der biederen Hausfrau und der vollständige Verzicht auf eigene Träume liegen. Ich bin nie fähig gewesen, Kompromisse zu schließen, und ich fürchte, ich habe auch Mikke zu einem Menschen erzogen, der allzu stur seine eigene Route segelt. Das muss ich jetzt büßen: Ich sehe ihn nur selten, und jedes Wieder-sehen kann das letzte sein.«

Sie schwieg einen Moment, dann drückte sie den Rücken durch und sagte: »Die Lachssuppe ist fertig, und ich habe Hunger. Verstoßen wir gegen das Protokoll, wenn wir beim Reden essen?«

Ich musste lachen. Katrina erklärte stolz, sie habe die Suppe aus einem heute früh ganz in der Nähe gefangenen Lachs gekocht. Sie war heiß und sämig, das åländische Schwarzbrot, das es dazu gab, schmeckte ungewohnt süß, aber delikat. Wie von selbst kam das Gespräch auf das Brotbacken, denn ich konnte mir die Frage nach dem Rezept nicht verkneifen. Ich schluckte, als ich hörte, dass die Herstellung von svartbröd drei Tage in Anspruch nahm, aber vielleicht war Antti geduldig genug, es zu versuchen.

»Als ich Martti heiratete, habe ich wohl geglaubt, in ein Leben einzutreten, das ohne mein Zutun geregelt war, mit einem Mann, der bereits ein Kind hat und dessen zweites Kind in mir wächst.

Im Sommer habe ich mich in Riikka wiedererkannt: Auch sie hat nach einem älteren Mann gesucht und nach einem ausgetre-tenen Pfad, auf dem sie sich nicht mehr voranzukämpfen braucht. Zuerst hat Juha sie geführt, dann Tapio Holma. Ich würde ihr gern einen großmütterlichen Rat geben, obwohl das eigentlich nicht zu meinen Gepflogenheiten gehört.«

»Was würdest du ihr raten?«

»Vor Juhas Tod hätte ich ihr geraten, sich von ihrem Vater zu lösen, auszuziehen, aber allein. Eine Frau sollte zuerst lernen, mit sich selbst in einem Raum zu leben, bevor sie Männer und Kinder in ihr Leben verwickelt. Allerdings bin ich eine alte Einsiedlerin, wahrscheinlich würde mich niemand länger als eine Woche ertragen, und ich halte es auch mit keinem länger aus, selbst mit Mikke nicht mehr. Magst du einen Kaffee als Nachtisch?«

Erst als wir die große Tasse leer getrunken hatten und bei der zweiten waren, stellte ich die nächste Frage.

»Du hast bei der ersten Vernehmung ausgesagt, in der Nacht, in der Juha starb, habe ein Boot auf Rödskär angelegt. Kannst du mir darüber etwas Genaueres sagen? Wann war das, aus welcher Richtung kam es?«

»Schwer zu sagen, ich habe so unruhig geschlafen«, wich sie aus.

»Aber du bist dir deiner Sache sicher? Von den anderen hat nämlich keiner ein Boot gehört.«

»Nicht?« Ihr Gesicht wirkte erschöpft. »Dann muss ich es geträumt haben. Vielleicht habe ich mir unbewusst gewünscht, ich hätte ein Boot gehört und ein Außenstehender hätte Juha getötet.«

»Einer Aussage nach warst du während der Nacht draußen und hast mit Mikke gesprochen. Auch davon hast du nichts er-wähnt.«

»Nein? Ich habe doch gesagt, dass ich unruhig geschlafen habe.«

Ich zog eine Kopie des Vernehmungsprotokolls hervor.

»Stimmt, aber dass du draußen warst, hast du nicht gesagt, Mikke übrigens auch nicht.«

»Diese Vernehmung war doch unmittelbar nach Juhas Tod. Da war ich müde und erschüttert und habe mich vielleicht nicht an alles erinnert. Ja, ich war kurz draußen und bin dort auf Mikke gestoßen, der gerade von der ›Leanda‹ kam, ich glaube, er hatte die Vertäuung überprüft. Wir haben darüber gesprochen, ob wir schon frühmorgens in See stechen sollten, haben dann aber beschlossen, erst abzufahren, wenn Anne aufgestanden ist.

Mikke wollte sich außerdem von Jiri und Seija verabschieden.«

Sie hatte Zeit genug gehabt, sich auf jede denkbare Frage eine Antwort zurechtzulegen, ich würde sie kaum dazu bringen, etwas zu sagen, was sie verschweigen wollte. Also brachte ich das Gespräch erneut auf Juha.

»Was würdest du sagen, wenn ich behaupte, dass Juha Harri Immonen getötet hat?«

Ihre Augen verengten sich, hinter dem Grau schimmerte ein eigensinniges Blau auf.

»Ich würde dich fragen, wie du zu dieser Annahme kommst, aber überrascht wäre ich nicht.«

»Harri hatte herausgefunden, dass Juha schadhafte Behälter mit giftigen Lacken in den Gewässern von Rödskär versteckt hatte. Wenn das publik geworden wäre, hätte Juha einen Prozess wegen Umweltvergehen zu erwarten gehabt, und die Firma Merivaara AG wäre am Ende gewesen. Allem Anschein nach hat Juha gifthaltige Lacke der sowjetischen Marine als finnischen Ökolack zumindest nach Litauen exportiert.«

Katrina schaute nach draußen. Die Sonne begann ihren Abstieg vom Zenit, das Licht fiel bereits ein wenig schräg.

»Wenn du deinen Kaffee ausgetrunken hast, machen wir einen Strandspaziergang. Sonst schlafe ich ein, ich werde nach dem Essen immer müde.«

Ich zögerte. Den Recorder mitzuschleppen hatte ich keine Lust, also hatte das, was Katrina auf dem Spaziergang sagte, keine Beweiskraft. Trotzdem beschloss ich mitzugehen. Ich zog den Mantel an und band mir den Schal um die Ohren. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn die im Osten aufragenden Felsen schützten das Ufer von Mattsboda vor dem Wind. Wie ein Greis, der still den Tod erwartet, lag das Meer da, als mache es sich bereit, in seinen eisigen Sarg zu sinken.

»Die Familie Sjöberg-Merivaara hat seit Menschengedenken vom Meer gelebt«, sagte Katrina und trat ein wenig näher an den Rand der Klippe. »Das Meer ist für uns, was für euch Binnenländer der Wald ist. Man pflegt es, damit es den Lebens-unterhalt erbringt, nicht, weil es wertvoll an sich wäre. Das Meer ist Nahrungsquelle und Feind zugleich, und wenn du nicht vorsichtig bist, verschlingt es dich. An Juhas ökologisches Denken habe ich nie so ganz geglaubt. Anne und die Kinder nehmen die Sache ernst, zu ernst sogar, aber für Juha war Naturschutz eine Marketingstrategie. Als es Mode war, mit schnellen Motorbooten durch Eiderentenschwärme zu rasen, hat er den Yuppies das entsprechende Zubehör dafür verkauft.«

Sie hob ein faustgroßes Stück Granit auf und warf es ins Meer.

Das Wasser war so klar, dass man den Stein auf dem flachen Sandboden ausmachen konnte, nachdem sich die Oberfläche geglättet hatte.

»Trotzdem kann ich mir selbst von Juha nur schwer vorstellen, dass er Harri kaltblütig ermordet hätte. Weißt du schon, wie es passiert ist?«

Ich schüttelte den Kopf. Die Einzigen, die damals am Tatort gewesen waren, lebten nicht mehr. Wahrscheinlich hatte Juha seine Reise nach Tallinn vorgetäuscht und war im Schutz dieses Alibis nach Rödskär gefahren, um herauszufinden, wie viel Harri wusste. Der gutmütige Harri, der buchstäblich keiner Mücke etwas zu Leide tun konnte – darüber hatten wir uns auf einer Zeltwanderung einmal heftig gestritten –, hatte wahrscheinlich gar nicht begriffen, dass er sich in Lebensgefahr befand. Vielleicht war er nur abgerutscht, als er vor Juha davonlief, und der hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und Harri umkommen lassen, statt Hilfe zu holen.

Das alles erzählte ich Katrina, die stumm über das Meer blickte. Ich hockte mich hin, zog die Handschuhe aus und steckte die Hand ins Wasser. Es war kälter als am letzten Wochenende in Inkoo, höchstens fünf Grad. Im Vergleich dazu fühlte sich der Granitfels seltsam warm an.

»Welche Ironie des Schicksals, dass Jiri so einseitig ist wie sein Vater, nur in entgegengesetzter Richtung.« Katrina sprach langsam, nachdenklich. »Anne hat mich angerufen und mir von dem Feuer erzählt, sie hofft, das Erlebnis habe ihm einen solchen Schrecken eingejagt, dass er nicht mehr überall hin-rennt, wo er im Namen des Tierschutzes randalieren und Schaden anrichten kann. Allerdings glaube ich, dass er es ehrlich meint. Keiner würde aus bloßem Trotz so asketisch leben wie er. In gewisser Weise verstehe ich diese jungen Leute von der Revolution der Tiere. Die Welt ist verdreht und zu groß, kein Wunder, dass mancher versucht, sie nach seinen Vorstellungen zurechtzustutzen.«

Ich gab keine Antwort, legte nur die Hand auf den Felsen.

Zwanzig Meter weiter befand sich ein Bootssteg, und in der Bucht schwammen zwei Bojen, als warteten sie auf Fischerboo-te. Koste es, was es wolle, ich musste gleich morgen Taucher nach Rödskär schicken, und Interpol sollte aus Peders und Ramanauskas herausholen, was sie über die Fässer mit Tributylzinnlack wussten. Jiri zufolge waren die Litauer im vergangenen Sommer auf Rödskär gewesen. Vielleicht hatten sie Juha Merivaara geholfen, die giftige Farbe im Meer zu versenken.

»Auf diesem Felsen haben die Frauen der Familie meiner Mutter auf ihre Männer gewartet. Die meisten kehrten zurück, aber nicht alle. Das Boot meines Onkels Daniel ist im Winter 1950 verschollen, nur einer der Männer wurde im nächsten Sommer angeschwemmt. Der Winter war so hart, dass auch hier das Meer zufror, und die Strömung unter dem Eis hat die Leichen der anderen davongetragen.«

Katrina war lautlos hinter mich getreten, sie stand nur zentime-terweit entfernt. Ich spürte das Zittern ihrer Muskeln und verspürte den unbändigen Wunsch wegzulaufen. Sie kannte das Meer und die glatten Uferfelsen noch besser als Juha. Das Mattsboda-Ufer war von den Nachbarhäusern aus nicht zu sehen, man hörte nichts als das Summen des Windes. Ich drehte mich so abrupt um, dass Katrina erschrak und ausrutschte. Nur mein rascher Griff bewahrte sie davor, kopfüber ins Meer zu stürzen. Plötzlich erkannte ich, dass sie viel mehr Angst vor mir hatte als ich vor ihr.

»Hast du dir den Fuß verstaucht? Sollten wir besser ins Haus gehen?«, stammelte ich.

»Mir fehlt nichts. Was hattest du denn auf einmal?« Sie versuchte zu lächeln, doch es wurde nur eine klägliche Grimasse daraus. Den Blick suchend auf den Boden geheftet, stieg sie höher auf den Felsen. Schließlich hob sie einen fast kopfgroßen Stein auf und schleuderte ihn ins Meer. Ein dumpfes Platschen erklang, dann breiteten sich auf der glatten Wasserfläche große Kreise aus.

»Der Stein rollt nicht auf dem Wasser«, sagte sie und sah mich an. In ihren Augen standen Tränen. Da wusste ich es.

Achtzehn

Von Mattsboda aus ordnete ich telefonisch die Festnahme an.

Ich erklärte Katrina, es sei sinnlos, Mikke nach meiner Abfahrt zu warnen, er würde auf jeden Fall gefasst werden. Sie behauptete, das habe sie auch nicht vorgehabt, so traurig sie sei. Sie hatte ihren Sohn nicht verraten wollen. Wie hätte sie ahnen können, dass ich den Vers aus der Volksdichtungssammlung

»Kanteletar« kannte, in dem ein Brudermörder seiner Mutter verspricht, erst zurückzukehren, »wenn der Rabe weiß geworden, wenn der Stein rollt auf dem Wasser«. Antti hatte mit seinem Chor einmal ein Gedicht von Saarikoski über dieses Motiv gesungen:

Geh an das Ufer

Nimm Feder und Stein

Der Stein schwimmt

Es ist der Tag der Heimkehr deines Sohnes.

Doch es lag nicht nur an dem Zitat. Wer sonst hätte der Täter sein können? Alles hatte die ganze Zeit auf Mikke hingedeutet.

Ich hatte es nur nicht sehen wollen.

Auf der Fahrt von Svinö nach Mariehamn erhielt ich die Nachricht, Mikke Sjöberg sei festgenommen worden. Er hatte keinen Widerstand geleistet.

»Meine Maschine landet um Viertel vor sieben, lass mich bitte am Flughafen abholen. Wir beginnen heute Abend noch mit der Vernehmung«, wies ich Puupponen telefonisch an.

Allmählich fügte sich alles zusammen. Die russische Polizei hatte die Information geliefert, Tributylzinn sei von der Marine der ehemaligen Sowjetunion als Grundierung verwendet worden. Dem Experten, der Harris Laptop untersucht hatte, war es gelungen, auf der Festplatte Teile einer Datei ausfindig zu machen, die einen Bericht über die Auswirkungen von Tributylzinn auf die Meeresfauna – Fische, Muscheln und Weichtiere –

enthielt. Das Institut für Veterinärmedizin und Lebensmittelhygiene berichtete, Mikke Sjöberg habe sich im Frühherbst nach den Muscheln und Eiderenten erkundigt, die Harri Immonen dort abgeliefert hatte.

Warum Juha Merivaara die Giftlacktonnen ausgerechnet auf Rödskär versteckt hatte, war mir nicht klar. War die Insel ein Zwischenlager gewesen, wo die Litauer die Farbe bis zur Neuabfüllung deponiert hatten? Waren schadhafte Fässer skrupellos ins Meer geworfen worden? Juha war ein unglaubliches Risiko eingegangen, indem er giftige Lacke als umweltfreundliche Produkte exportierte. Hatte er geglaubt, in Litauen würden die Farben nicht kontrolliert? Vielleicht konnte mir Mikke darüber Aufschluss geben.

Im Taxfree am Flughafen kaufte ich eine Flasche Laphroaig und für Iida ein Plüschflugzeug. Diesmal wurde mir auf dem Flug nicht übel. Die Strahlen der sinkenden Sonne trafen fast waagerecht auf das Meer und malten goldene Brücken von einer Klippe zur anderen. Allmählich gewann die Dämmerung den Kampf um die Herrschaft über das Meer, bei der Zwischenlandung in Turku war es bereits dunkel. Jetzt schmeckte mir auch der Kaffee, ich trank drei Tassen, denn ich musste mit einer langen Nacht rechnen. Womöglich stritt Mikke alles ab, bisher hatten wir ja nur Indizien.

Mira Saastamoinen von der Schutzpolizei erwartete mich am Flughafen. Ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen und bat sie, das Blaulicht einzuschalten, obwohl keine besondere Eile bestand – abgesehen davon, dass ich den Fall möglichst bald an den Staatsanwalt weiterleiten wollte.

»Hast du schon gehört, dass die Revolution der Tiere heute vor dem Firmengelände von Orion demonstriert hat? Sie fordern die Freilassung aller Versuchstiere«, erzählte Mira, als wir von der Schnellstraße auf die Vihdintie abbogen.

»Nein, davon wusste ich nichts. Wie lief es denn?«

»Die Situation wäre beinahe außer Kontrolle geraten, wir mussten Tränengas einsetzen. An die dreißig Festnahmen, ein Teil der Demonstranten musste in Handschellen gelegt werden.

Akkila hat sich mit einer Demonstrantin herumgebalgt, am Ende mussten beide zum Arzt.«

»Dieser Idiot!«

»Die Chefs sind der Meinung, dass gegen gefährliche Anarchisten härter durchgegriffen werden muss«, sagte Mira kühl, ohne ihre eigene Meinung preiszugeben.

Auch ich gehörte ja zu den »Chefs«, aber sie wusste vermutlich, dass ich mit den Herren nicht immer einer Meinung war.

Ich wollte mich nicht für ein Lager und damit gleichzeitig gegen die andere Seite entscheiden. Ich war einzig und allein auf der Seite des frei wehenden Windes, auch wenn er mir gerade jetzt allzu scharf ins Gesicht blies.

»Warst du bei der Festnahme von Mikke Sjöberg in Suomenoja dabei?«

Mira verneinte, sie war während ihrer ganzen Schicht bei der Demonstration im Einsatz gewesen. Im Präsidium war es still, ich brachte den Mantel in mein Büro und legte die Papiere zum Fall Merivaara zusammen. Puustjärvi schaute herein und sagte, er werde als Zeuge an der Vernehmung teilnehmen. Ich ließ Mikke Sjöberg aus der Arrestzelle in den Vernehmungsraum zwei bringen. Im Waschraum legte ich Puder auf und schminkte mich hart und aggressiv. Ich versprach mir eine halbe Flasche Laphroaig, wenn ich diesen Abend überstand.

»Ist der Fall aufgeklärt?«, fragte Puustjärvi auf dem Weg zum Vernehmungsraum.

»Vielleicht. Mal sehen, was wir aus Sjöberg herausholen.«

Mikke wartete im Vernehmungsraum und erhob sich bei unserem Eintreten wie ein Schuljunge. Es schien, als trüge er eine blasse, starre Maske, die auch die Augen verdeckte. Er gab mir die Hand, ohne meinen Blick zu erwidern. Statt auf das Sofa setzte er sich mir gegenüber an den Tisch. Puustjärvi ließ sich erfreut auf dem Sofa nieder.

»Möchtest du etwas trinken? Kaffee, Tee, Limonade?«, fragte ich, bevor ich mich setzte. Mikke winkte ab. Er trug denselben grauen Pullover wie auf unserem Segeltörn, schien aber trotzdem zu frieren.

»Bei der Festnahme hat man dich sicher darauf hingewiesen, dass du das Recht auf juristischen Beistand hast. Möchtest du jemanden kontaktieren? Wir können den Beginn der Vernehmung aufschieben, bis dein Anwalt eintrifft.«

»Danke, aber ich möchte keinen.«

»Du bist zur Vernehmung vorgeführt worden unter dem Verdacht, in der Nacht vom vierten zum fünften Oktober dieses Jahres deinen Stiefbruder Juha Merivaara getötet zu haben. Bei einer früheren Vernehmung hast du deine Schuld bestritten und behauptet, du hättest geschlafen, bis du die Leiche deines Bruders gefunden hast. Möchtest du deine Aussage ändern?«

Mikkes Backenmuskeln zuckten, er sagte nichts, nickte jedoch. Ich drängte ihn nicht, obwohl es einige Minuten dauerte, bis er die richtigen Worte fand.

»Ich wusste, dass ihr eines Tages kommt. Als wir auf Rödskär waren und du mich gezwungen hast vorzuführen, wie ich auf Juhas Leiche gefallen bin, wäre ich in der Nacht darauf beinahe geflohen. Wahrscheinlich hätte ich gleich nach der Tat verschwinden sollen oder sofort zugeben, dass ich Juha umgebracht habe.«

»Auf lange Sicht wärst du nicht entkommen.«

»Doch. Ich hatte nicht die Absicht, mich irgendwo in Südame-rika zu verstecken, sondern die ›Leanda‹ in einen Sturm zu steuern und mit ihr unterzugehen. Ich ertrage es nicht, damit leben zu müssen, dass ich meinen Bruder getötet habe.«

Mikke stützte den Kopf auf die Hände, seine Fingerknöchel waren weiß. Über den schmalen Tisch hinweg hätte ich ihn mühelos berühren können.

»Natürlich hätte ich ein Geständnis abgelegt, wenn ihr jemand anderen verhaftet hättet. Aber ich habe gehofft, ihr könntet nicht beweisen, dass Juhas Tod kein Unfall war.«

»Wie ist es passiert? Sag es mir, vielleicht ist das eine Erleichterung.«

Er hob den Kopf, sein Blick streifte an mir vorbei auf die leere, weiße Wand.

»Du weißt, dass Juha Harri getötet hat.«

»Ja, zu dem Schluss bin ich gekommen. Wie hast du es herausgefunden?«

Mikke hatte im Sommer die Dateien über Tributylzinn auf Harris Computer gefunden und Verdacht geschöpft. Er hatte die Ereignisse rekonstruiert, die Harris Tod vorausgegangen waren.

Seija hatte ihm von der toten Eiderente erzählt, Katrina von Harris Anruf. Über den dementen Mikael Enckell war er mühelos an die Papiere der Merivaara AG herangekommen, denn der Onkel hatte längst vergessen, dass sein Neffe kein Teilhaber mehr war.

Der Anteil der Mare Nostrum an der ganzen Geschichte war fast ein Witz. Juha war die Firma nicht so leicht losgeworden, wie er gehofft hatte, da sein scharfsichtiger Finanzdirektor auf die nicht ausgezahlten Dividenden aufmerksam geworden war.

Die Mare Nostrum hatte Rohstoffe für Ökolacke geliefert und nebenbei die als Giftmüll klassifizierten Tributylzinnlacke der sowjetischen Marine eingeschmuggelt. Weshalb Juha auf die Idee verfallen war, die schadhaften Behälter auf seiner eigenen Insel zu verstecken, wusste auch Mikke nicht.

»In der Nacht nach Annes Geburtstag waren wir betrunken.

Ich hatte versucht, Juha nach Harri und nach den Tributylzinn-farben zu fragen, aber er gab nichts zu, und ich hatte nicht genug Beweise, um zur Polizei zu gehen. Eigentlich hatte ich geplant, meine Abreise ins Ausland nur vorzutäuschen. Ich wollte meine Mutter nach Åland bringen, dann aber nach Espoo zurücksegeln und ein paar Taucher anheuern, um den Meeresboden vor Rödskär abzusuchen. Es quälte mich, nicht zu wissen, wo die Fässer lagen und wie viel Gift sie enthielten.«

Nachdem sich die Geburtstagsgesellschaft aufgelöst hatte, war Mikke zu seinem Boot gegangen. Danach hatte er eine Weile mit seiner Mutter gesprochen. Als er Juha das Haus verlassen sah, war er ihm gefolgt.

»Du willst morgen abfahren, kleiner Bruder. Du bist also zur Vernunft gekommen und hast beschlossen, Harri und die giftige Farbe zu vergessen?«, hatte Juha überheblich grinsend gefragt.

»Harris Todestag muss begossen werden. Ich geh gleich mal zum Pinkeln auf die Klippe.«

Da hatte Mikke die Beherrschung verloren. Er hatte versucht, Juha zu schlagen, aber der hatte ihn beiseite gestoßen und war ans Ufer marschiert. Als er angeberisch vom Felsen ins Meer pinkelte, hatte Mikke ausgerufen, er werde nicht abreisen, sondern dafür sorgen, dass die Fässer gefunden wurden.

»Hör auf, mir zu drohen, Brüderchen, sonst ergeht es dir wie Harri.« Juha hatte ihn hasserfüllt angesehen, mit rotem Gesicht und hervortretenden Augen.

»Was ist Harri passiert?«

»Du sollst es ruhig wissen, beweisen kannst du es sowieso nicht! Ich hab den kleinen Schnüffler erledigt. Zuerst hab ich versucht, ihm gut zuzureden, aber der Bengel war selbst für das fünffache Gehalt nicht bereit, die Sache zu vergessen, also blieb mir keine andere Wahl. Er hat sich nicht mal gewehrt. Über die Farbtonnen brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Was machen die schon aus bei all der Scheiße, die die finnische Landwirtschaft und die baltische Industrie ständig in die Ostsee kippen? Ich hätte den Immonen gar nicht umzubringen brauchen, die Polizei hätte ihn ausgelacht, wenn er von den Tonnen gefaselt und ihnen seine toten Muscheln hingelegt hätte.«

Mikke ahmte die Stimme seines Bruders so gekonnt nach, dass ich Juhas massige, selbstsichere Gestalt beinahe vor mir zu sehen meinte.

»Da hab ich mich auf Juha gestürzt. Das Irre an der Sache ist, dass ich ihn genauso getötet habe wie er Harri, aus Wut, aus einem plötzlichen Affekt. Juha war zwanzig Kilo schwerer als ich, aber weniger fit und stärker betrunken. Und er hätte mich garantiert umgebracht, wenn ich ihm nicht zuvorgekommen wäre. Ich hatte eine alte gusseiserne Kugellaterne in der Hand.

Damit hab ich zugeschlagen, er ist hingefallen und den Felsen hinuntergerollt.«

Eine Weile hatte Mikke nur dagestanden und vor sich hin gestarrt, dann war er weggerannt und hatte die zerbrochene Laterne mitgenommen. Am anderen Ende der Insel hatte er sie mit Steinen gefüllt und im Meer versenkt. Er hatte keine Sekunde geschlafen, sondern die ganze Nacht auf Juhas schwere Schritte gewartet.

»Aber er kam nicht zurück. Erst im Morgengrauen habe ich mich wieder ans Ufer gewagt, um nachzusehen, was ich angerichtet hatte. Juha lag tot im Wasser. Ich wusste nichts anderes zu tun, als ihn an Land zu ziehen und zu behaupten, ich hätte ihn gerade erst gefunden.«

»Hat deine Mutter erraten, was passiert war?«

»Ich glaube ja, aber sie hat nichts gesagt.«

Auf meine Frage, woher sie wisse, dass Mikke seinen Halbbruder getötet hatte, hatte Katrina mir keine Antwort gegeben.

Das war das Klügste, was sie tun konnte, denn im schlimmsten Fall hätte man ihr Beihilfe zur Last legen können. Sie hatte mich gefragt, welche Strafe Mikke zu erwarten habe. Ich hatte es ihr nicht sagen können, das hing davon ab, ob es sich um Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge handelte.

Puustjärvi seufzte schwer.

»Können wir einen Moment unterbrechen? Ich hab so furchtbares Sodbrennen. Ich hol mir nur schnell eine Tablette.«

»Okay. Bring uns Tee mit, es wird noch eine Weile dauern.«

Als die Tür hinter Puustjärvi zufiel, sah Mikke mich zum ersten Mal an. Ich musste mir Mühe geben, seinem Blick nicht auszuweichen.

»Lass mich gehen. Ich halte es nicht aus, im Gefängnis zu sitzen, das Meer zu verlieren. Ich würde tun, was ich gesagt habe: die ›Leanda‹ in einen Sturm lenken und mit ihr untergehen. Den Gefallen kannst du mir doch tun.«

»Natürlich nicht«, sagte ich fest. »Wenn ich das täte, könnte ich nicht länger Polizistin sein.«

Wenn Ström sich nicht das Leben genommen hätte, wäre ich womöglich schwach geworden. Nun aber wusste ich, wie sinnlos ein Selbstmord war. Und Mikke würde nicht allzu viele Jahre absitzen müssen.

»Du wirst das Meer nicht endgültig verlieren. Nach dem, was du bisher ausgesagt hast, kommst du mit einer Anklage wegen Totschlag und mit einer kurzen Haftstrafe davon.«

»Ich habe längst das Urteil über mich gesprochen. Meine Schuld kann ich nur mit dem Tod sühnen.«

»Du irrst dich.«

»Wie soll ich es Anne und den Kindern erklären?«

»Das ist meine Aufgabe, es hat Zeit bis morgen.«

»Nein, das muss ich schon selbst tun«, sagte Mikke und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich stand auf und wollte gerade die Arme um ihn legen, als Puustjärvi zurückkam.

Mikkes Kooperationswilligkeit erleichterte den Rest der Vernehmung. Wir waren bereits gegen halb neun fertig.

»Und was jetzt? Zurück in die Zelle?«, fragte er, als ich die abschließenden Worte aufs Band sprach.

»Ja. Ich spreche morgen mit dem Staatsanwalt, er wird am Donnerstag beschließen, ob du in Untersuchungshaft genommen wirst.«

Es war wohl das Beste, den Staatsanwalt darüber zu informieren, dass Mikke mit Flucht und Selbstmord gedroht hatte. Ich wusste nicht, ob mich das zur Verräterin oder zum Schutzengel machte.

»Hör mal … ich musste die ›Leanda‹ ziemlich überstürzt verlassen. Darf ich mir ein paar Sachen vom Boot holen?«

Die Bitte konnte ich ihm nicht abschlagen. Puustjärvi begleitete Mikke in den Zellentrakt, um Jacke und Bootsschlüssel zu holen, während ich den Wagen vorfuhr. Ich wollte unbedingt selbst fahren, um nicht neben Mikke auf der Rückbank sitzen zu müssen.

Puustjärvi beugte sich vor und drehte am Knopf des Autoradios, bis er eine bekannte Melodie entdeckte: »Das Schwarze Meer und der Mann« von Popeda. »Ich tat, was ich tat, und sie zahlten gut, einen Heimathafen habe ich nicht mehr. In meinem Innern ist das allertiefste Grab, dunkel und schwarz, brennend und nass.«

»Scheiße, stell das ab!«, fauchte ich und drehte selbst am Knopf, als Puustjärvi nicht sofort reagierte.

»Alle haben mir gesagt, du magst Popeda«, verteidigte er sich.

»Aber diesen Song nicht.«

Als wir den Hafen erreichten, wurde mir klar, dass ich es nicht über mich brachte, mit Mikke auf die »Leanda« zu gehen.

Mochte Puustjärvi ihn begleiten. Ich blieb im Auto sitzen und schaute nicht zum Bootssteg hin, daher sah ich nicht, was geschah. Erst als ich ein lautes Platschen hörte, wurde ich aufmerksam. Puustjärvi lag im Wasser und ruderte mit den Armen. Ich sprintete zum Steg, doch Mikke hatte das mit Maschinendraht bespannte Tor bereits hinter sich versperrt. Der Zaun war zwei Meter hoch und kleinmaschig bespannt, es war mühsam, in breiten Stiefeln mit hohen Absätzen hinüberzuklet-tern. Ich sah, wie Mikke das Vorderseil kappte, hörte Puustjärvi prustend an Land klettern, zog mich am Zaun hoch und überlegte eine Weile, ob ich es wagen sollte, auf der anderen Seite hinunterzuspringen.

»Mikke, mach keinen Quatsch! Wir kriegen dich!«, versuchte ich den aufheulenden Motor zu übertönen. Ich tastete nach meiner Tasche. Die Dienstwaffe hatte ich nicht eingesteckt, sie hätte mir in dieser Situation auch nichts genützt, aber das Handy hatte ich dabei. Ich alarmierte Küstenwache und Wasserpolizei und bat darum, dass eines der Boote mich in Suomenoja abholte.

»Lohnt es sich denn überhaupt, die gesamte Alarmbereitschaft hinter einem Selbstmordkandidaten herzuschicken?«, brummte der Diensthabende.

»Verdammt nochmal, du tust genau, was ich dir sage!«, brüllte ich hoch oben auf dem Zaun, zufrieden, dass ich die Befugnis hatte, die Maschinerie in Gang zu setzen. Mikke musste lebend gefasst werden. »Sag der Küstenwache, sie sollen auch Hubschrauber ausschicken!«

Puustjärvi hatte es mittlerweile geschafft, sich aus dem Wasser zu ziehen. Als ich ungelenk vom Zaun kletterte, schälte er sich gerade aus den nassen Kleidern und schnaubte:

»Ich hab nicht damit gerechnet, dass er gefährlich wird. Er hat so getan, als ob er den Torschlüssel sucht, und dann hat er mich plötzlich ins Wasser gestoßen.«

»Mach dir nichts draus, den kriegen wir«, tröstete ich ihn, während ich eine Decke und den Reserve-Overall aus dem Kofferraum holte. »Nach seinem Tempo zu urteilen, hatte er das Manöver gründlich geplant.«

Puustjärvi fuhr nach Hause, um sich aufzuwärmen, ich stand zitternd am dunklen Ufer und rief ergebnislos auf der »Leanda«

an. Vom Wasser her war ein leises Knirschen zu hören, der Frost baute die erste Eiskruste auf. Ebenso eisig funkelten die Sterne über dem schwarzen Meer. Nach einer Viertelstunde traf das Polizeiboot ein, ich sprang an Bord und legte eine Schwimmweste an. Wir ließen die Lichter des Festlands hinter uns und fuhren aufs Meer hinaus, das so teuflisch dunkel war, wie es an einem Abend Ende Oktober nur sein kann. Auch die schmale Mondsichel spendete kaum Licht.

Schiffe der Küstenwache aus Santahamina und Porkkala waren bereits auf der Suche nach Mikke, außerdem ein Ret-tungshubschrauber und drei Polizeiboote. Der Motor der

»Leanda« war nicht besonders leistungsfähig, selbst im Schutz der Dunkelheit konnte Mikke nicht entkommen. Ich sprach mit der Küstenwache, wir gingen die Kennzeichen der »Leanda«

durch und überlegten, welchen Kurs Mikke einschlagen würde.

»Ich glaube, er wird aufs offene Meer hinausfahren. Er kennt zwar die Schären zwischen Espoo und Porkkala wie seine Westentasche, aber ein Segelboot lässt sich nicht so leicht zwischen den Inseln hindurchmanövrieren wie ein Ruder- oder Motorboot.«

»Sjöberg wurde unter dem Verdacht eines Kapitalverbrechens festgenommen, sagtest du. Stellt er eine Gefahr für Außenstehende dar?«

»Wohl kaum. Am gefährlichsten ist er für sich selbst, deshalb haben wir es ja so eilig«, sagte ich mit gepresster Stimme.

»Aha. Was für einen Kocher hat er an Bord?«

»Einen Gaskocher«, stöhnte ich. Im selben Moment hörte ich das Geräusch eines Hubschraubers über uns. Suchscheinwerfer kreisten über dem Wasser, fanden aber nur Leere. Ein Boot der Küstenwache ging längsseits und meldete, östlich der Insel Stora Lövö sei ein Boot gesichtet worden, das der Beschreibung der

»Leanda« entsprach. Mikke hatte Kurs nach Süden genommen.

Wir drehten nach Osten ab. Das Rotorengeräusch wurde stärker, nun waren bereits zwei Hubschrauber unterwegs. Ihre Scheinwerfer erfassten unser Boot, dann flogen sie weiter nach Osten. Am Horizont schimmerte das Leuchtfeuer von Rödskär auf. In einigen Kilometern Entfernung verharrte der Hubschrauber, stand in der Luft, und kurz darauf erhielten wir die Nachricht, die »Leanda« sei gefunden worden. Wir steigerten das Tempo, von Norden her kam ein zweites Polizeiboot, und nach zehn Minuten war die »Leanda« eingekreist. Im Licht der Scheinwerfer machte ich eine Gestalt an Deck aus, konnte aber nicht erkennen, was sie in der Hand hielt.

»Vom Nachbarboot wird gefragt, ob der Mann bewaffnet ist«, sagte der Funker.

»Meines Wissens nicht. Wollen sie die ›Leanda‹ entern? Sag ihnen, sie sollen behutsam vorgehen.«

Die Boote näherten sich der »Leanda«, der Ring zog sich langsam zusammen. Die Hubschrauber waren abberufen worden. Auf dem Nachbarboot, der »Espoo III«, wurde ein Megaphon eingeschaltet.

»Sjöberg, wir kommen Sie holen. Nehmen Sie die Hände hoch, wir gehen längsseits.«

Mikke kam dem Befehl nicht nach, er hob nur die eine Hand, die einen offenen Benzinkanister hielt. Er goss den Inhalt bedächtig auf das Deck, dann rief er über das Tuckern der Motoren hinweg:

»Wenn ihr näher kommt, jage ich das Boot in die Luft. Die Gasflasche in der Kombüse ist aufgedreht.«

»Gib mir ein Fernglas«, sagte ich zu dem Funker. Vor Kälte zitterte ich dermaßen, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Schärfe einzustellen. Mikke stand an Deck, die Mütze tief in die Stirn gezogen, mit roten Ohren, einen Zehnliterkanister in der Hand. Ich sah den breiten Benzinstreifen auf dem dunkel glänzenden Holz, sah Mikkes verzerrtes Gesicht und seine Augen, die mir bodenlos erschienen. Ich sah das Feuerzeug in seiner freien Hand und sein erschrecktes Aufzucken, als sich die

»Espoo III« in Bewegung setzte. Ich wollte schon »Nein!«

schreien, als mir klar wurde, dass sie nicht die »Leanda«, sondern unser Boot ansteuerte.

»Ist Kriminalhauptkommissarin Kallio an Bord?«, fragte Hauptmeister Raitio von der Wasserschutzpolizei, ein bärtiger Mann, der die Operation leitete. »Komm rüber, damit wir uns beraten können«, schlug er vor und streckte mir die Hand entgegen. Ich sprang so ungeschickt auf das Deck der »Espoo III«, als wäre ich zum ersten Mal auf See. Ich war völlig durchgefroren und konnte die Hände kaum noch bewegen. In der Kajüte war es warm.

»Glaubst du, er meint es ernst?«, fragte Raitio und bot mir einen Stuhl an, doch ich winkte ab. Ich wollte die »Leanda«, die man durch das Kajütfenster sah, im Auge behalten.

»Ja. Bei der Vernehmung hat er gesagt, er wolle sich das Leben nehmen. Lass mich mal mit ihm reden.«

Raitio gab mir das Megaphon, ich ging damit an Deck. Zu meiner Verwunderung entdeckte ich Koivu auf der »Espoo II«, die sich neben uns gelegt hatte. Wir winkten uns zu.

»Mikke!« Meine Stimme hallte über die lichtgefleckte Seide des Wassers, sie klang fremd. »Maria hier! Komm runter von der ›Leanda‹!«

Ich sah, wie er langsam den Kopf schüttelte.

»Du hast ein Telefon dabei, nicht wahr?«

Diesmal nickte er.

»Hol es aus der Kajüte, dann können wir reden.«

Mikke stand einen Moment lang reglos da, dann stellte er den Benzinkanister ab und glitt in die Kajüte. Ich nahm mein Handy, und als Mikke wieder an Deck erschien, tippte ich die Nummer der »Leanda« ein und ging an den Bug. Vorsichtig setzte ich mich auf das eiskalte Deck. Nach dem vierten Klingeln meldete Mikke sich.

»Ich hab dich doch gebeten, mich gehen zu lassen.«

»Das kann ich nicht. Hör mir zu! Wahrscheinlich wird die Anklage auf Tötung in Notwehr lauten. Darauf steht nur eine kurze Haftstrafe, die du als Ersttäter nicht einmal voll abzusitzen brauchst. Außerdem hast du Geld genug für einen guten Anwalt.

Du wirst nicht für den Rest deines Lebens ins Gefängnis kommen.«

»Aber ich trage für den Rest meines Lebens daran, dass ich meinen Bruder getötet habe.«

»Es war Notwehr, es hätte ebenso gut umgekehrt ausgehen können.«

Mikke schwieg, ich sah, dass er zur Sitzkiste hinunterging und sich neben das Heckruder setzte. Dann fragte er mit rauer Stimme:

»Hast du schon mal jemanden getötet, im Dienst, meine ich?«

»Nein, aber einmal hat nicht viel gefehlt. Ich hatte auf die Schusshand gezielt.«

»Was ist passiert?«

»Er ist auf einem Auge erblindet.«

»War es Notwehr?«

»Er oder ich. Wenn es sein müsste, würde ich es wieder tun.«

»Und wenn der Mann gestorben wäre? Könntest du einfach so weiterleben, ohne Schuldgefühl?«

»Das wohl nicht. Aber weiterleben könnte ich. Und du kannst es auch. Du musst dir verzeihen. Das Meer wird auf dich warten.«

In diesem Tonfall redete ich auch auf Iida ein, wenn sie nachts von einem schlimmen Traum geweckt wurde. Vielleicht wirkten die Worte nur, wenn ich Mikke in den Armen wiegte, wie ich es mit Iida tat. Sollte ich zu ihm auf die »Leanda« gehen? Ich bat ihn, nicht aufzulegen, drückte auf die Pausentaste meines Handys und ging in die Kajüte, in der nun auch Koivu saß.

»Sollen wir jemanden auf Sjöbergs Boot schicken?«, fragte ich Raitio.

»Zu gefährlich.« – »Du gehst da nicht hin!«, riefen Koivu und Raitio gleichzeitig, und als Koivu meinen Arm umklammerte, wusste ich, dass ich nicht auf die »Leanda« gegangen wäre, selbst wenn man es mir befohlen hätte. Die Zeiten, in denen ich mein Leben unbedacht aufs Spiel gesetzt hatte, waren vorbei.

Und das lag nicht nur an meiner Liebe zu Iida und Antti. Ich mochte nicht sterben, ich wollte leben.

»Ich bleibe per Telefon mit ihm in Kontakt. Ein Sturmangriff ist sinnlos. Du versuchst Katrina Sjöberg zu erreichen«, wandte ich mich an Koivu. »Vielleicht kann sie ihren Sohn zur Vernunft bringen. Ich probiere mal, ob ich ihn überreden kann, die ›Espoo III‹ näher herankommen zu lassen.«

Als ich wieder an Deck kam, hockte Mikke immer noch auf der Sitzkiste. Ich schaltete die Leitung frei und sagte, wir würden ein wenig näher kommen. Wortlos stellte er sich auf das Vorderdeck und knipste sein Feuerzeug an.

»Lasst mich doch gehen!«, rief er verzweifelt.

»Das tun wir nicht. Wirf das Feuerzeug ins Wasser!«, be-schwor ich ihn, während sich die »Espoo III« Zentimeter um Zentimeter an die »Leanda« heranschob. Mein Atem dampfte, doch ich spürte die Kälte nicht mehr.

»Ich kann Frau Sjöberg nicht erreichen«, flüsterte Koivu mir zu. Mir wurde bewusst, dass ich ganz allein zwischen Mikke und dem Tod stand und völlig hilflos war. Eine kleine Flamme, nur einen Zentimeter lang, konnte meine Bemühungen innerhalb von Sekunden zunichte machen.

Die »Espoo III« war nun fünf Meter näher an die »Leanda«

herangeglitten. Im harten Licht der Scheinwerfer sah ich die Falten in Mikkes Gesicht und konnte ihm direkt in die Augen schauen.

»Wir können dir ein Schlauchboot rüberwerfen. Schmeiß das Feuerzeug ins Wasser. Die Leanda kommt wieder in Ordnung, du wirst sie noch viele Male segeln.«

Meine Stimme war nur noch ein Flüstern, Mikke hörte sie durch das Telefon, hielt seine Augen jedoch fest auf meine geheftet.

»Du willst büßen. Gut, dann nimm die Strafe an, die die Gesellschaft über dich verhängt. Juha hätte dich töten können, aber du hast überlebt. Wirf dein Leben nicht weg!«

Mikkes Blick durchbohrte mich, dann warf er das Telefon ins Wasser. Er nahm den Benzinkanister in die freie Hand und hielt ihn schräg. Dann sah ich nur noch eine gewaltige Flamme.

Ich schrie, als die Flamme ins Meer geschleudert wurde und Mikke ihr nachsprang. Unwillkürlich machte ich eine Bewegung zur Reling hin, sprang aber nicht ins Wasser. Der Taucher, der sich bereitgehalten hatte, warf die Decken ab und wollte gerade über Bord gehen, als Mikkes rotes Gesicht auftauchte.

»Mikke!«, schrie ich. Da begann er auf unser Boot zuzu-schwimmen. Mit klammen Fingern ließ ich die Vorderleiter herunter und stieg so weit ab, dass ich dem fast erstarrten Mann an Bord helfen konnte. Ich drückte ihn fest an mich, er zitterte vor Kälte und schluchzte, sein Körper bebte immer stärker, es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass sein Weinen in Lachen umgeschlagen war.

Die Scheinwerfer wurden abgeschaltet, die Welt um uns herum wurde schwarz, und die Kälte kroch leise über uns.

Jemand legte uns eine Decke um. Ich hielt Mikke in den Armen, bis sein hysterisches Gelächter verebbte, dann ließ ich ihn los und schickte ihn in die Kajüte, damit er sich die nassen Kleider ausziehen konnte.

Ein Polizeimeister von der »Espoo II« holte etwas zum Anziehen von der »Leanda«. Ich überredete Raitio, die Segelyacht nach Suomenoja schleppen zu lassen. Das Polizeiboot brachte Koivu, Mikke und mich in den nächsten Hafen, wo ein Streifenwagen auf uns wartete. Wir setzten uns nach hinten, Mikke schwieg, wirkte jedoch gefasst. Als ich ihn fragte, ob er einen Arzt oder einen Psychologen brauche, schüttelte er den Kopf, meinte aber kurz darauf zaghaft, er würde gern mit seiner Mutter telefonieren.

»Das lässt sich einrichten«, versprach ich. In der Tiefgarage des Präsidiums schlug ich ihm vor, von meinem Büro aus anzurufen. Koivu warf mir einen verwunderten Blick zu und fragte, ob er dabei gebraucht werde. Als ich abwinkte, erklärte er, er würde auf jeden Fall noch bleiben und den Bericht über den Fall El Haj Assad abschließen.

Ich führte Mikke in mein Büro, wählte Katrinas Nummer und reichte ihm den Hörer. Überraschend ruhig erzählte er, was geschehen war, und Katrina versprach, mit dem nächsten Flugzeug zu kommen.

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, stand ich unschlüssig da. Ich fühlte mich elend bei dem Gedanken, Mikke in die Zelle zu schicken, doch es musste sein. Wieder fragte ich, ob er mit jemandem reden wolle.

»Dazu habe ich keine Kraft«, sagte er leise. »Aber halt mich eine Weile fest. Dann gehe ich.«

Ich trat zu ihm und umarmte ihn, unter dem Benzingestank nahm ich den vertrauten Tabakgeruch wahr. Seine Bartstoppeln kitzelten meine Wangen, sein Rücken war stark und fest. Nach einigen Minuten machte er sich los, sah mir in die Augen und sagte:

»Noch verkehrter hätte es nicht laufen können. Dass ausgerechnet du Polizistin sein musst …«

Ich lächelte nur, es war klüger, nichts zu sagen. Mikke erwiderte mein Lächeln und erklärte, nun sei er bereit. Ich rief im Zellentrakt an und bat, ihn abzuholen.

»Kommst du mich besuchen?«, fragte er, als wir an der Tür meines Büros warteten.

»Wir sehen uns wieder, wahrscheinlich schon morgen. Wenn du willst, kannst du mitkommen, wenn wir Anne und die Kinder benachrichtigen.«

Als der Wärter kam, umarmte ich Mikke noch einmal. Dann ging ich in mein Büro zurück. Ich holte den Laphroaig aus der Tasche, goss eine Kaffeetasse voll und trank sie in einem Zug aus. Im Spiegel der Puderdose betrachtete ich mein Gesicht und stellte verwundert fest, dass es unverändert war. Aber ich war ja auch nicht völlig in Stücke gegangen, nur zwei kleine Teile waren zerbrochen. Der Teil, der Pertti Ström trotz allem gern gehabt hatte. Und mein Herz, aus dem ich ein gefährlich gewordenes Stückchen herausgerissen hatte. Bevor ich die Ermittlungen abschließen konnte, würde ich Mikke noch oft wieder sehen. Irgendwie musste ich damit fertig werden.

Ich trank noch einen großen Schluck Whisky. Dann klopfte ich bei Koivu an und öffnete die Tür zu seinem Büro.

»Koivu!« Meine Stimme klang schon leicht verwaschen.

»Koivu, sei so lieb, bring mich nach Hause.«