Ich gehe ins Haus und lege mich in meinem Zimmer auf die nackte Matratze. Der Morgen hat mich sehr angestrengt und mir fallen sofort die Augen zu.
Als ich sie wieder öffne, steht die Sonne über den Baumwipfeln. Henri sitzt am Küchentisch vor seinem Laptop, wie immer hat er die News gescannt, Nachrichten oder Berichte gesucht, die uns sagen könnten, wo sich die anderen befinden.
»Hast du geschlafen?«, frage ich.
»Nicht viel. Seit wir Florida verlassen haben, konnte ich keine Nachrichten mehr sehen. Jetzt funktioniert das Internet. Das hat mich wieder geweckt.«
»Gibt es was Besonderes?«
Er zuckt die Achseln. »Ein Vierzehnjähriger ist in Afrika aus einem Fenster im vierten Stock gefallen und ohne einen Kratzer davongekommen. Und ein Fünfzehnjähriger in Bangladesh hat behauptet, er sei der Messias.«
Ich lache. »Der Fünfzehnjährige gehört bestimmt nicht zu uns. Der andere vielleicht?«
»Nein. Einen Sturz aus einer solchen Höhe zu überleben ist nichts Besonderes, und einer von uns wäre von vornherein nicht so leichtsinnig gewesen.« Er blinzelt mir zu.
Ich grinse und setze mich ihm gegenüber. Er schließt den PC und stützt die Arme auf den Tisch, seine Uhr zeigt elf Uhr sechsunddreißig. Jetzt sind wir gerade mal einen halben Tag in Ohio, und schon ist so viel geschehen. Ich halte die Hände hoch. Sie sind dunkler geworden, seit ich sie das letzte Mal angesehen habe.
»Weißt du, was du hast?«, fragt er.
»Licht in den Händen.«
Er schmunzelt. »Es wird Lumen genannt. Mit der Zeit wirst du es kontrollieren können.«
»Das will ich doch sehr hoffen! Meine Tarnung fliegt sofort auf, wenn das so weitergeht. Ich verstehe immer noch nicht, was das soll.«
»Zu Lumen gehört mehr als nur das Licht, das verspreche ich dir.«
»Was noch?«
Er geht in sein Zimmer und kommt mit einem Feuerzeug zurück.
»Erinnerst du dich noch an deine Großeltern?«
Unsere Großeltern ziehen uns auf. Von unseren Eltern bekommen wir wenig mit, bis wir eigene Kinder haben. Die Lebenserwartung der Loriener beträgt etwa zweihundert Jahre und wenn Eltern im Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig ihre Kinder bekommen, erziehen die Großeltern sie, während die Eltern weiter ihr Erbe vervollkommnen.
»Nicht so gut. Warum?«
»Weil dein Großvater die gleiche Gabe hatte.«
»Ich kann mich nicht entsinnen, dass seine Hände leuchteten.«
Henri zuckt die Achseln. »Vielleicht hatte er nie Grund, die Gabe zu nutzen.«
»Wunderbar, das klingt nach einem großartigen Geschenk – eines, das ich nie brauche.«
Er schüttelt den Kopf. »Gib mir deine Hand.«
Ich halte ihm die rechte Hand hin, er klickt das Feuerzeug an und bewegt die Flamme zu meiner Fingerspitze.
Ich reiße die Hand weg. »Was machst du denn da?!«
»Vertrau mir.«
Zögernd gebe ich ihm wieder die Hand. Er hält sie und macht erneut das Feuerzeug an. Er blickt mir in die Augen, dann lächelt er. Ich schaue hinunter und sehe, dass er die Flamme über die Spitze meines Mittelfingers hält. Ich spüre nichts. Instinktiv ziehe ich trotzdem die Hand weg und reibe den Finger. Er fühlt sich nicht anders an als zuvor.
»Hast du das gespürt?«, fragt Henri.
»Nein.«
»Wir probieren es noch einmal. Sag mir, wenn du etwas spürst.«
Er fängt wieder an einer Fingerspitze an, dann bewegt er die Flamme ganz langsam den Handrücken hinauf. Es kitzelt leicht, wenn die Flamme die Haut berührt, das ist alles. Erst als sie das Handgelenk erreicht, ahne ich das Brennen.
Ich ziehe den Arm weg. »Autsch!«
»Lumen«, sagt Henri. »Du wirst feuer- und hitzebeständig. Bei deinen Händen kommt das von selbst, aber deinen übrigen Körper müssen wir trainieren.«
»Feuer- und hitzebeständig!« Ich grinse. »Also kann ich nie wieder eine Verbrennung bekommen?«
»Nach einiger Zeit nicht.«
»Wahnsinn!«
»Also doch kein schlechtes Erbe, was?«
»Kein bisschen schlecht«, stimme ich zu. »Und was ist mit diesen Lichtern? Gehen die auch mal aus?«
»Bestimmt. Wahrscheinlich nach einer ordentlichen Mütze Schlaf, wenn du nicht mehr an sie denkst. Aber du musst eine Zeit lang darauf achten, dich nicht aufzuregen. Wenn du emotional aus dem Gleichgewicht kommst, wenn du besonders nervös, wütend oder traurig bist, flackern sie sofort auf.«
»Bist du gelernt hast, die Gabe zu kontrollieren.« Er schließt die Augen und reibt sich das Gesicht. »Also, ich versuche jetzt noch einmal zu schlafen. In ein paar Stunden reden wir über dein Training.«
Nachdem er gegangen ist, bleibe ich am Küchentisch sitzen, öffne und schließe meine Hände, atme tief ein und versuche, im Inneren ganz zur Ruhe zu kommen, damit die Lichter gedämpft werden – natürlich klappt es nicht.
Das Haus sieht noch ziemlich chaotisch aus bis auf die wenigen Dinge, die Henri erledigt hat, während ich in der Schule war. Ich weiß, dass er schon jetzt ans Weiterziehen denkt, aber noch besteht ein Fünkchen Hoffnung, ihn überreden zu können, dass wir hierbleiben. Vielleicht fällt ihm die Entscheidung leichter, wenn er beim Aufwachen das Haus sauber und aufgeräumt vorfindet.
Ich fange mit meinen Zimmer an, staube ab, putze die Fenster und kehre den Boden. Als alles sauber ist, werfe ich Laken, Kissenbezüge und Decken aufs Bett, dann hänge ich meine Kleider auf oder lege sie zusammen. Die Kommode ist alt und wacklig, aber ich fülle sie und stelle dann die paar Bücher darauf, die ich besitze. Und sieh an – so schnell ist das Zimmer sauber, alle meine Habseligkeiten sind eingeräumt, alles ist ordentlich.
Ich gehe in die Küche, räume das Geschirr ab und wische die Platten. Das lenkt mich ab, sodass ich nicht unentwegt über meine Hände nachgrübele.
Beim Saubermachen denke ich an Mark James. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich jemandem widersetzt. Schon oft habe ich das gewollt, aber nie getan, weil ich Henris Rat befolgen und nicht auffallen wollte. Ich habe immer versucht, den nächsten Umzug so lange wie möglich hinauszuzögern, brav zu sein. Aber heute war es anders. Es hat sich gut angefühlt, zurückzuschubsen, wenn man herumgestoßen wird.
Und dann ist da noch mein gestohlenes Handy. Sicher, wir können uns leicht ein neues besorgen, aber wo bleibt dann die Gerechtigkeit?