Ich wache auf, bevor sich der Wecker meldet. Das Haus ist kühl und still. Ich ziehe die Hände unter der Decke hervor. Sie sehen ganz normal aus – kein Licht, kein heller Schein. Ich rolle aus dem Bett und gehe ins Wohnzimmer.
Henri sitzt schon am Küchentisch, liest die Lokalzeitung und trinkt Kaffee. »Guten Morgen. Wie fühlst du dich?«
»Wie neu geboren.« Ich fülle mir eine Schale mit Müsli und setze mich ihm gegenüber. »Was hast du heute vor?«
»Besorgungen. Unser Geld wird knapp. Eigentlich will ich auf der Bank für eine Überweisung sorgen.« Lorien ist (oder war, je nachdem, wie man es betrachtet) ein Planet mit vielen natürlichen Ressourcen, unter ihnen kostbare Edelsteine und Metalle. Als wir den Planeten verlassen mussten, bekam jeder Cêpan einen Sack voller Diamanten, Smaragde und Rubine, die er auf der Erde verkaufen konnte. Henri legte dann das Geld auf ein Konto in Übersee. Ich habe keine Ahnung, wie viel es ist, und ich frage nie danach. Aber ich weiß, dass es für mindestens zehn Leben auf der Erde reicht, wenn nicht mehr. Einmal im Jahr hebt Henri etwas ab.
»Aber ich weiß nicht recht«, fährt er fort. »Ich will nicht zu weit durch die Gegend kurven, für den Fall, dass heute noch irgendwas passieren sollte.«
Um aus den Ereignissen am Tag zuvor keine große Sache zu machen, winke ich lässig ab. »Mir wird nichts geschehen. Geh und besorge die Kohle.« Ich sehe aus dem Fenster. Das Morgengrauen wirft einen blassen Schleier über alles. Der Truck ist mit Tau bedeckt. Es ist einige Zeit her, dass wir einen Winter erlebt haben. Ich besitze noch nicht einmal eine Jacke, und aus meinen meisten Pullovern bin ich herausgewachsen.
»Draußen sieht es kalt aus«, sage ich. »Vielleicht können wir bald ein paar neue Klamotten kaufen.«
Er nickt. »Genau das ist mir gestern Abend aufgefallen, deshalb muss ich zur Bank.«
»Dann los«, meine ich. »Heute passiert nichts.«
Ich esse mein Müsli auf, stelle die schmutzige Schale in die Spüle und springe dann unter die Dusche. Zehn Minuten später habe ich Jeans und ein schwarzes Thermohemd an, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt. Ich blicke in den Spiegel, dann auf meine Hände. Ich bin ruhig. Gut so. So muss ich bleiben.
Auf dem Weg zur Schule reicht Henri mir ein Paar Handschuhe. »Behalte sie unter allen Umständen an. Man kann nie wissen.«
Ich stecke sie in meine Hosentasche. »Ich werde sie kaum brauchen. Ich bin in ziemlich guter Verfassung.«
Vor der Schule sind Busse aufgereiht. Henri hält neben dem Gebäude. »Ich mag es nicht, wenn du kein Handy hast. Alles Mögliche könnte schieflaufen.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde es bald zurückhaben.«
Er seufzt und schüttelt den Kopf. »Mach keine Dummheiten. Genau hier werde ich nachher auf dich warten.«
»Alles klar.« Ich steige aus und er braust davon.
Auf den Gängen ist viel Betrieb; Schüler stehen vor ihren Spinden, reden und lachen. Ein paar sehen mich an und flüstern einander etwas zu, vielleicht sprechen sie über die Auseinandersetzung mit Mark, vielleicht über mich in der Dunkelkammer. Wahrscheinlich beides. Es ist eine kleine Schule, und da gibt es wenig, was nicht jeder sofort erfährt.
Am Haupteingang wende ich mich nach rechts und finde meinen Spind. Er ist leer. Ich habe noch fünfzehn Minuten, bevor der Unterricht beginnt, die erste Stunde habe ich einen Grundkurs in Kompositionslehre. Ich überprüfe zuerst, wo sich der entsprechende Klassenraum befindet, dann gehe ich ins Büro. Die Sekretärin begrüßt mich mit einem Lächeln.
»Hallo«, sage ich. »Mein Handy ist weg. Ich habe es gestern verloren und dachte, vielleicht hat es jemand abgegeben.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, leider nicht.«
»Danke.«
Zurück auf dem Gang, kann ich Mark nirgends entdecken. Immer noch werde ich angestarrt, immer noch gibt es Geflüster, aber das macht mir nichts aus. Plötzlich sehe ich Mark in etwa fünfzehn Metern Entfernung vor mir. Sofort schießt Adrenalin durch meinen Körper. Ich schaue auf meine Hände. Sie sehen ganz normal aus. Trotzdem fürchte ich, dass sie rot werden könnten, und genau diese Furcht könnte gerade das auslösen.
Mark lehnt mit verschränkten Armen an einem Spind; er ist der Mittelpunkt einer Gruppe von fünf Jungs und zwei Mädchen, die alle lachen und quatschen. Sarah sitzt ungefähr fünf Meter von ihnen entfernt auf einem Fenstersims. Blonder Pferdeschwanz, Rock, grauer Pullover – sie sieht wieder umwerfend aus! Als ich näher komme, blickt sie von ihrem Buch auf, das sie gerade liest. Vor der Gruppe bleibe ich stehen, sehe Mark seelenruhig an und warte.
Nach kurzer Zeit bemerkt er mich. »Was willst du?«
»Das weißt du ganz genau.«
Wir sehen uns unverwandt in die Augen. Die Schülerschar um uns herum wächst, schwillt an auf zehn, dann auf zwanzig Leute. Sarah springt vom Sims und stellt sich an den Rand der Menge.
Mark trägt seine Collegejacke, sein schwarzes Haar ist sorgfältig so gestylt, als käme er gerade aus dem Bett. Er stößt sich vom Spind ab und kommt auf mich zu. Er bleibt so dicht vor mir stehen, dass wir uns fast berühren, und der würzige Duft seines Parfüms steigt mir in die Nase. Er misst vielleicht eins dreiundachtzig, sechs Zentimeter mehr als ich. Wir haben den gleichen Körperbau. Und er hat keine Ahnung, dass in mir etwas ganz anderes steckt als in ihm. Ich bin schneller als er und unendlich stärker. Der Gedanke daran lässt mich zuversichtlich lächeln.
»Glaubst du, dass du es heute ein bisschen länger in der Schule aushältst? Oder läufst du wieder davon wie eine kleine Pissnelke?«
Aus der Gruppe kommt Gekicher.
»Mal sehen, oder?«
»Ja, das werden wir wohl sehen«, entgegnet er und kommt noch näher.
»Ich will mein Handy zurück.«
»Ich habe dein Handy nicht.«
Ich schüttle den Kopf. »Zwei Leute haben gesehen, dass du es genommen hast«, lüge ich.
Sein Stirnrunzeln zeigt mir, dass ich richtig geraten habe.
»Na, und wenn schon? Was willst du machen?«
Jetzt stehen etwa dreißig Leute um uns herum. Zweifellos wird die ganze Schule innerhalb von zehn Minuten nach dem Läuten wissen, was geschehen ist.
»Betrachte dies als Warnung«, sage ich. »Ich lasse dir Zeit bis zum Ende des Tages.« Ich drehe mich um und marschiere davon.
»Sonst was?«, ruft er hinter mir her. Soll er doch selbst über der Antwort brüten! Meine Fäuste sind geballt, und mir wird klar, dass ich Adrenalin mit Nervensträngen verwechselt habe. Warum war ich so nervös? Weil unklar war, wie die Sache ausgeht? Weil ich zum ersten Mal auf Erden jemanden herausgefordert habe? Weil meine Hände leuchten könnten? Vielleicht alles zusammen.
Ich gehe auf die Toilette, schließe mich in einer Kabine ein und betrachte meine Hände: ein leichter Schimmer in der rechten! Ich schließe die Augen, seufze und konzentriere mich auf eine kontrollierte Atmung. Eine Minute später ist der Schimmer immer noch da. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Erbe so empfindsam sein kann, so leicht reagiert. Ich bleibe in der Kabine, spüre kleine Schweißtropfen auf der Stirn, beide Hände sind warm, die linke aber zum Glück noch im Sinne einer normalen Körpertemperatur. Jungs kommen rein und gehen wieder, ich hocke in der Kabine und warte. Das leichte Leuchten bleibt. Schließlich läutet es und die Toilette leert sich.
Ich schüttle verärgert den Kopf, ich muss das Unvermeidliche akzeptieren: Mein Handy ist weg, und Henri ist auf dem Weg in die Stadt. Ich bin allein mit meiner Dummheit und kann keinem die Schuld geben außer mir selbst. Ich hole die Handschuhe aus der Hosentasche und ziehe sie an. Lederne Gartenhandschuhe! In Clownschuhen und gelben Pumphosen könnte ich nicht lächerlicher aussehen. So viel zu Unauffälligkeit und Anpassen! Ich muss aufhören, mich mit Mark herumzustreiten. Er hat gewonnen. Soll er doch mein Handy behalten, Henri und ich werden heute Abend ein anderes besorgen. Ich verlasse die Toiletten und begebe mich durch den leeren Gang in mein Klassenzimmer.
Alle starren erst mich, dann die Handschuhe an. Sinnlos, sie verstecken zu wollen. Ich sehe aus wie ein Idiot. Ich bin ein Alien, ich habe außerordentliche Kräfte, die noch zunehmen werden und kann Dinge tun, von denen Menschen nicht mal zu träumen wagen – aber ich sehe immer noch aus wie ein Idiot.
***
Ich sitze mitten im Klassenzimmer. Niemand spricht mit mir und ich bin zu aufgeregt, um zu hören, was der Lehrer sagt. Als es läutet, sammele ich meine Sachen zusammen, packe sie in meine Tasche und ziehe die Riemen über meine Schulter. Ich trage immer noch die Handschuhe. Beim Hinausgehen ziehe ich den rechten ein wenig zurück und werfe einen vorsichtigen Blick auf die Handfläche. Sie schimmert noch.
Ich gehe kontrolliert durch den Gang, atme langsam, versuche mich zu sammeln – es funktioniert nicht. Im nächsten Klassenzimmer sitzt Mark am gleichen Platz wie gestern, Sarah neben ihm. Er grinst mich spöttisch an, und weil er so sehr damit beschäftigt ist, cool zu sein, bemerkt er zum Glück meine Handschuhe nicht.
»Wie geht’s, Sprinter? Wie ich höre, suchen die fürs Querfeldeinrennen noch neue Leute.«
»Lass den Schwachsinn!«,
weist Sarah ihn zurecht. Ich blicke sie im Vorbeigehen an; ihre
blauen Augen schüchtern mich ein, mein Gesicht wird warm. Mein
Platz vom Vortag ist besetzt, also gehe ich ganz nach hinten. Der
Junge von gestern, der mich vor Mark gewarnt hat, setzt sich neben
mich. Er trägt wieder ein schwarzes T-Shirt mit dem -Logo in der
Mitte, Militärhosen und Tennisschuhe. Seine sandfarbenen Haare sind
zerzaust, die haselnussbraunen Augen werden durch die Brillengläser
vergrößert. Er zieht einen Notizblock voller Diagramme von
Sternkonstellationen und Planeten heraus, dann mustert er mich und
starrt unverhohlen auf meine Hände.
»Wie geht’s?«, frage ich.
Er zuckt die Achseln. »Warum hast du Handschuhe an?«
Ich will antworten, aber Mrs. Burton beginnt mit dem Unterricht.
Fast die gesamte Stunde zeichnet mein Sitznachbar das, was anscheinend seiner Vorstellung von Marsmenschen entspricht: kleine Körper, große Köpfe, Hände und Augen. Die gleichen stereotypen Darstellungen wie im Kino. Jede seiner Zeichnungen signiert er mit Sam Goode. Als er merkt, dass ich ihn beobachte, schaue ich weg.
Während Mrs. Burton über Saturns einundsechzig Monde spricht, betrachte ich Marks Hinterkopf. Beim Schreiben beugt er sich über seinen Tisch, dann setzt er sich auf und gibt Sarah einen Zettel. Sie schnippt ihn zurück, ohne ihn zu lesen. Das freut mich. Mrs. Burton macht das Licht aus und zeigt uns ein Video. Beim Anblick der rotierenden Planeten auf der Leinwand muss ich an Lorien denken. Lorien ist einer der achtzehn Planeten im Universum, auf denen Leben existiert. Die Erde ist ein anderer. Mogador, leider, wieder ein anderer.
Lorien. Ich schließe die Augen und erlaube mir die Erinnerung. Ein alter Planet, hundert Mal älter als die Erde. Die Probleme, die sich jetzt auf der Erde wiederfinden – Verschmutzung, Überbevölkerung, globale Erwärmung, Lebensmittelknappheit –, hatte Lorien auch. An einem bestimmten Punkt, vor fünfundzwanzigtausend Jahren, begann der Planet zu sterben. Das war lange bevor man durchs Universum reisen konnte, und die Einwohner von Lorien mussten etwas unternehmen, wenn sie überleben wollten. Schließlich engagierten sie sich für die Selbsterhaltung ihres Planeten, indem sie ihre Lebensweise änderten und auf alles Schädliche wie Waffen, giftige Chemikalien und Schadstoffe verzichteten. Allmählich kehrten sich die Dinge um. Unterstützt durch die Evolution, entwickelten in Tausenden von Jahren bestimmte Einwohner – die Garde – Kräfte zum Schutz und zur Unterstützung des Planeten. Es war, als belohnte Lorien meine Vorfahren für ihren Weitblick und ihren Respekt.
Mrs. Burton schaltet das Licht wieder an. Ich öffne die Augen und schaue auf die Uhr. Die Stunde ist fast vorbei. Ich habe mich wieder beruhigt, meine Hände sogar fast vergessen. Ich hole tief Luft und hebe den Rand des rechten Handschuhs. Kein Licht mehr! Grinsend ziehe ich beide Handschuhe aus. Alles ist wieder ganz normal. Ich habe heute noch sechs Stunden Unterricht, für die ich mich zusammenreißen muss.
***
Die erste Hälfte vergeht ohne Zwischenfall. Ich bin total gelassen und habe auch keine unschönen Begegnungen mit Mark. In der Mittagspause belade ich mein Tablett mit dem Nötigsten und finde einen leeren Tisch hinten im Raum.
Als ich gerade die Hälfte meines Pizzastücks gegessen habe, setzt sich Sam Goode aus der Astronomieklasse mir gegenüber. »Kämpfst du heute wirklich nach der Schule mit Mark?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Das sagen aber alle.«
»Sie irren sich.«
Er zieht die Augenbrauen hoch und isst weiter. Nach einem kurzen Schweigen fragt er: »Was ist mit deinen Handschuhen?«
»Ich habe sie ausgezogen. Meine Hände sind nicht mehr kalt.«
Er will gerade antworten, aber ein großer Hackfleischball, der bestimmt für mich gedacht war, trifft ihn am Hinterkopf. Seine Haare und Schultern sind mit Fleischbröckchen und Tomatensoße bedeckt. Einiges ist auch auf mich gespritzt. Während ich es abputze, fliegt eine zweite dicke Bulette durch die Luft und erwischt mich mitten auf der Wange. Ein kollektives Raunen geht durch die Cafeteria.
Während ich aufstehe und mich mit einer Serviette abputze, steigt die Wut in mir hoch. In diesem Moment sind mir meine Hände total egal. Sollen sie doch so hell wie die Sonne scheinen und Henri und ich heute Nachmittag unsere Sachen packen, wenn es sein muss! Aber das kann ich mir auf keinen Fall gefallen lassen. Heute Morgen war es vorbei … jetzt nicht mehr.
»Nicht«, sagt Sam. »Wenn du dich wehrst, lassen sie dich nie in Ruhe!«
Ich marschiere los. Es wird mucksmäuschenstill in der Cafeteria. Hundert Augenpaare sind auf mich gerichtet. Mein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse. Sieben Jungs sitzen am Tisch von Mark James. Alle sieben stehen auf, als ich näher komme.
»Hast du ein Problem?«, fragt einer mit der Statur eines Verteidigers beim Football. Rötliche Haare wachsen in Flecken auf seinen Wangen und dem Kinn, als versuche er, sich einen Bart wachsen zu lassen. Sein Gesicht sieht dadurch dreckig aus. Wie die anderen trägt er eine Collegejacke. Jetzt verschränkt er die Arme und stellt sich mir in den Weg.
»Das geht dich nichts an«, sage ich.
»Du musst an mir vorbei, wenn du zu ihm willst.«
»Gehst du freiwillig oder muss ich dich aus dem Weg räumen?«
»Ich glaube nicht, dass du das schaffst.«
Ich ramme ihm mein Knie in den Unterleib, sodass ihm die Luft wegbleibt. Während er sich krümmt, geht ein Aufstöhnen durch den gesamten Raum.
»Ich habe dich gewarnt.« Ich steige über ihn und gehe direkt auf Mark zu. Einen kurzen Moment, bevor ich bei ihm bin, werde ich von hinten gepackt. Blitzschnell drehe ich mich um, die Hände geballt, zum Schlag bereit – und erkenne in letzter Sekunde den Aufsichtslehrer.
»Das reicht, Jungs.«
»Sehen Sie nur, was er mit Kevin gemacht hat, Mr. Johnson«, ruft Mark. Kevin liegt immer noch zusammengekrümmt auf dem Boden. Sein Gesicht ist knallrot. »Schicken Sie ihn zum Direktor.«
»Halt den Mund, James! Ihr geht alle drei. Glaub bloß nicht, dass ich nicht gesehen habe, wie ihr die Fleischbällchen durch die Gegend geschmissen habt.« Und zu Kevin: »Steh auf!«
Neben mir taucht Sam auf. Mit seinem notdürftigen Versuch, sich Fleisch und Soße von Haar und Schultern zu wischen, hat er zwar die großen Brocken besiegt, die Soße aber nur noch mehr verschmiert. Ich weiß nicht recht, warum er da ist. Ich blicke auf meine Hände, bereit, beim ersten Lichtschimmer zu fliehen, doch zu meiner Überraschung sehen sie ganz normal aus. Vielleicht, weil die Situation mich dazu gezwungen hat, schnell zu reagieren, ohne vorher nervös zu werden? Keine Ahnung.
Kevin steht auf und funkelt mich an; er zittert und japst immer noch. Er greift nach der Schulter des Jungen neben sich und stützt sich darauf. »Das wirst du noch bereuen!«
»Das bezweifle ich.« Ich bin immer noch mit Essen bekleckert und denke nicht mal daran, es wegzuwischen.
Wir vier machen uns auf den Weg ins Büro des Direktors. Mr. Harris isst gerade hinter seinem Schreibtisch sein Mittagessen aus der Mikrowelle, die Serviette hat er sich in den Hemdkragen gesteckt.
»Tut mir leid, dass wir Sie stören müssen, aber es gab gerade einen kleinen Zwischenfall beim Mittagessen. Diese Jungen erklären es sicher gern«, sagt der Aufsichtslehrer.
Der Direktor seufzt, zieht sich die Serviette vom Hemd und wirft sie in den Papierkorb. Dann schiebt er sein Tablett zur Seite. »Danke, Mr. Johnson.«
Mr. Johnson geht, und wir vier setzen uns.
»Wer fängt an?«, fragt Mr. Harris gereizt.
Ich schweige. Die Muskeln im Direktorenkiefer sind angespannt. Ich schaue auf meine Hände. Immer noch alles normal. Trotzdem lege ich sie flach auf meine Jeans, für alle Fälle.
Nach zehn Sekunden Stille fängt Mark an. »Jemand hat ihn hier mit einem Hackfleischball beworfen. Er glaubt, dass ich es war, deshalb hat er Kevin in die Eier getreten.«
»Drück dich anständig aus!«, bellt Mr. Harris, dann wendet er sich an Kevin: »Alles in Ordnung?«
Kevin, immer noch rot im Gesicht, nickt.
»Also, wer hat den Hackfleischball geworfen?«, fragt Mr. Harris mich.
Ich antworte nicht; innerlich koche ich immer noch, die ganze Situation irritiert mich. Dann hole ich tief Luft und versuche, mit beherrschter Stimme zu sprechen. »Ich weiß es nicht.« Mein Zorn hat eine neue Ebene erreicht. Ich möchte mich nicht mithilfe von Mr. Harris mit Mark auseinandersetzen, sondern die Sache lieber außerhalb des Direktorenbüros bereinigen. Sam blickt mich überrascht an.
Mr. Harris hebt frustriert die Hände. »Warum um alles in der Welt seid ihr denn dann hier?!«
»Gute Frage«, antwortet Mark. »Wir haben einfach nur unser Mittagessen gegessen.«
Jetzt meldet sich Sam: »Mark hat geworfen. Ich habe es gesehen, Mr. Johnson auch.«
Ich schaue ihn an. Er kann es gar nicht beobachtet haben, denn beim ersten Mal hat er dem Werfer den Rücken zugekehrt und beim zweiten Mal war er damit beschäftigt, sich zu säubern. Ich bin beeindruckt, dass er mir durch seine Aussage beisteht, obwohl er weiß, dass es ihm Ärger mit Mark und seinen Freunden einbringen wird.
Mark funkelt Sam wütend an,
dann sagt er: »Also, Mr. Harris, ich habe morgen das Interview mit
der , und das
Spiel ist am Freitag. Ich habe
keine Zeit, mich über solchen Mist zu ärgern. Ich werde hier wegen
etwas an den Pranger gestellt, was ich nicht getan habe. Es ist
schwer, sich bei solcher Scheiße auch noch zu konzentrieren.«
»Sprich anständig!«, schimpft Mr. Harris.
»Ist doch wahr.«
»Ich glaube dir.« Der Direktor seufzt schwer. Dann sieht er Kevin an, der sich immer noch mit dem Atmen schwertut. »Musst du zur Krankenschwester?«
»Nein, geht schon«, murmelt Kevin.
Mr. Harris nickt. »Ihr zwei
vergesst diesen Vorfall, und Mark, sieh zu, dass du wieder klar im
Kopf wirst. Wir haben uns schon länger um dieses Interview bemüht.
Sie könnten uns sogar einen Platz auf der ersten Seite einräumen.
Stellt euch das nur vor – die Titelseite der !« Er lächelt.
»Danke«, sagt Mark. »Ich freue mich darauf.«
»Gut. Ihr beide könnt jetzt gehen.«
Als die zwei verschwunden sind, blickt Mr. Harris Sam scharf an. Sam hält seinem Blick stand.
»So, Sam, und jetzt will ich die Wahrheit hören. Hast du gesehen, dass Mark den Fleischball geworfen hat?«
Sam kneift die Augen zusammen, aber er schaut nicht weg. »Ja.«
Der Direktor schüttelt den Kopf. »Ich glaube dir nicht, Sam. Und deshalb werden wir Folgendes tun.« Er sieht mich an. »Ein Fleischball wurde also geworfen …«
»Zwei«, unterbricht ihn Sam.
»Was?« Mr. Harris funkelt Sam wieder an.
»Zwei Fleischbälle wurden geworfen, nicht einer.«
Mr. Harris schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch. »Es ist doch völlig egal, wie viele das waren! John, du hast Kevin angegriffen. Auge um Auge. Damit lassen wir es bewenden. Verstehst du mich?« An der Röte seines Gesichts lässt sich ablesen, dass es sinnlos ist zu widersprechen.
»Jep«, sage ich.
»Ich will euch zwei hier nicht noch einmal sehen! Ihr dürft gehen.«
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen.
»Warum hast du ihm nichts von deinem Handy gesagt?«, fragt Sam.
»Weil es ihm egal ist. Er wollte nur in Ruhe weiter Mittag essen. Und, Sam, sei vorsichtig!«, warne ich ihn. »Jetzt hat Mark dich auf dem Schirm!«
***
Nach der Mittagspause habe ich Hauswirtschaftslehre – nicht weil ich mich besonders fürs Kochen interessiere, sondern weil die Alternative der Schulchor gewesen wäre. Und ich habe zwar viele Stärken und Fähigkeiten, die auf der Erde als außerordentlich gelten, aber das Singen gehört nicht dazu. Also gehe ich in den Hauswirtschaftsraum und suche mir einen Platz. Es ist ein ziemlich kleiner Raum, und kurz bevor es läutet, kommt Sarah herein und setzt sich neben mich.
»Hi«, sagt sie.
»Hi.«
Blut steigt mir in den Kopf, meine Schultern versteifen sich. Ich nehme einen Bleistift und drehe ihn in meiner rechten Hand, während die linke die Ecken von meinem Notizblock zurückbiegt. Mein Herz rast. Bitte, keine schimmernden Hände! Ich linse auf die Handfläche, dann seufze ich erleichtert auf. Bleib locker, ermahne ich mich. Sie ist nur ein Mädchen.
Sarah sieht mich an. Alles in mir scheint sich aufzulösen. Sie könnte das schönste Mädchen sein, das ich je gesehen habe!
»Es tut mir leid, dass Mark sich dir gegenüber so idiotisch verhält«, sagt sie.
Ich zucke die Achseln. »Da kannst du ja nichts dazu.«
»Ihr werdet euch doch nicht wirklich schlagen, oder?«
»Ich will das nicht.«
Sie nickt. »Er kann ein richtiger Penner sein, wenn er meint zeigen zu müssen, wer hier der Boss ist.«
»Das ist ein Zeichen von Unsicherheit«, sage ich.
»Er ist nicht unsicher, sondern ein Penner.«
Natürlich ist er das. Aber ich will mich mit Sarah nicht streiten. Außerdem klingt sie so bestimmt, dass ich fast an mir selbst zweifle.
Sie sieht auf die Tomatensoßeflecken auf meinem Hemd, dann streckt sie die Hand aus und zieht mir einen hart gewordenen Brocken aus den Haaren.
»Danke.«
Sie seufzt. »Es tut mir leid, dass das passiert ist.« Dann blickt sie mir in die Augen. »Mark und ich sind nicht zusammen, weißt du.«
»Nein?«
Sie schüttelt den Kopf. Faszinierend, dass sie es für nötig hält, mir das klarzumachen!
Nachdem sie ungefähr zehn Minuten lang erklärt hat, wie man Pfannkuchen macht – wovon ich nichts wirklich wahrnehme –, teilt die Lehrerin, Mrs. Benshoff, Sarah und mich zusammen ein. Wir gehen in die Küche, die etwa dreimal so groß wie das eigentliche Klassenzimmer ist. Hier gibt es zehn verschiedene Kücheneinheiten, komplett mit Kühlschrank, Spüle und Herd. Sarah geht zielstrebig in eine hinein, nimmt eine Schürze aus einer Schublade und hängt sie um. »Würdest du mir die bitte zuknoten?«
Beim ersten Versuch ziehe ich zu fest und muss die Schleife noch mal neu machen. Unter den Fingern spüre ich die Umrisse ihres Pos. Als ihre Schürze gebunden ist, hänge ich mir auch eine um und fange an, sie selbst zuzubinden.
»Lass mich dir helfen, du Dummkopf!« Resolut nimmt sie mir die Bänder aus der Hand und knotet die Schürze zu.
»Danke.«
Ich versuche, das erste Ei aufzuschlagen, schlage aber natürlich viel zu kräftig, sodass nichts davon es in die Schüssel schafft. Sarah lacht, legt mit ein neues Ei in die Hand, nimmt meine Hand in ihre und zeigt mir, wie die Eischale am Rand der Schüssel aufzuschlagen ist. Sie lässt ihre Hand eine Sekunde länger als nötig auf meiner, sieht mich an und lächelt. »So.«
Sie mischt den Teig, dabei fallen ihr die Haare ins Gesicht. Zu gern würde ich ihr diese Strähnen hinters Ohr schieben, trau mich aber natürlich nicht. Mrs. Benshoff kommt, um nachzusehen, ob wir vorankommen. So weit, so gut – dank Sarah, denn ich habe nicht den blassesten Schimmer, was ich da mache.
»Wie gefällt dir Ohio bis jetzt?«, fragt Sarah.
»Gut. Ich hätte allerdings einen besseren ersten Schultag brauchen können.«
Sie lächelt. »Was ist denn überhaupt geschehen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass ich ein Alien bin?«
»Hör auf?!«, antwortet sie scherzhaft. »Und was ist wirklich passiert?«
Ich lache. »Ich habe echt schlimmes Asthma. Aus irgendeinem Grund hatte ich gestern einen Anfall.« Schade, dass ich lügen muss. Ich will nicht, dass sie mir eine Schwäche zuschreibt, die noch dazu erfunden ist.
»Na, ich bin auf jeden Fall froh, dass es dir besser geht.«
Wir machen vier Pfannkuchen, die Sarah auf einen Teller stapelt, dann gießt sie eine absurde Menge Ahornsirup darüber und reicht mir eine Gabel. Ich schaue mich um. Die meisten Schüler essen von zwei Tellern. Ich greife hinüber und nehme mir ein Stück.
»Nicht schlecht«, mampfe ich mit vollem Mund.
Wir essen abwechselnd, bis der Teller leer ist. Ich bin kein bisschen hungrig, aber ich helfe ihr, alles aufzuessen. Als wir fertig sind, habe ich Bauchweh. Sarah spült das Geschirr und ich trockne ab. Als es klingelt, verlassen wir gemeinsam den Raum.
»Weißt du, für einen Sophomore bist du gar nicht so übel.« Sie versetzt mir einen Rippenstoß. »Mir ist egal, was die anderen sagen.«
»Danke, du bist auch nicht übel für … was immer du bist.«
»Ich bin ein Junior.« Also ein Schuljahr über mir.
Schweigend gehen wir weiter.
»Du wirst dich doch nicht wirklich nach der Schule mit Mark schlagen, oder?«
»Ich brauche mein Handy wieder. Außerdem – sieh mich an!« Ich zeige auf mein Hemd.
Sie zuckt die Achseln. An meinem Spind bleibe ich stehen, sie schaut auf die Nummer. »Jedenfalls solltest du das nicht tun.«
»Ist ja auch nicht so, dass ich es unbedingt will.«
Sie verdreht die Augen. »Jungs und ihre Kämpfe! Na ja, also, wir sehen uns morgen.«
»Hab noch einen schönen Restnachmittag«, sage ich.
***
Nach der neunten Stunde, Amerikanische Geschichte, mache ich mich langsam auf den Weg zu meinem Spind. Ich überlege kurz, ob ich die Schule still und leise verlassen soll, ohne nach Mark Ausschau zu halten. Aber dann wird mir klar, dass ich für immer als Feigling abgestempelt sein werde.
Ich verstaue die Bücher, die ich nicht brauche, dann stehe ich einfach da und spüre, wie meine Nervosität zunimmt. Die Hände sind noch normal. Soll ich vorsorglich die Handschuhe anziehen? Nein. Ich hole tief Luft und schließe den Spind.
»Hallo!« Überrascht schrecke ich aus meinen Gedanken auf: Es ist Sarah. Sie blickt kurz hinter sich, dann wieder zu mir. »Ich habe etwas für dich.«
»Bitte nicht noch einen Pfannkuchen … Ich platze gleich.«
Sie lacht nervös. »Keinen Pfannkuchen. Aber wenn ich es dir gebe, musst du mir versprechen, dass du keine Schlägerei anfängst.«
»Okay.«
Sie schaut sich wieder um, dann zieht sie schnell mein Handy aus ihrer Tasche und reicht es mir.
»Woher hast du das?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Weiß Mark das?«
»Nö. Willst du jetzt immer noch den coolen Typen spielen?«
»Kaum.«
»Gut.«
»Danke.« Ich kann nicht glauben, dass sie offenbar alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um mir zu helfen – sie kennt mich doch kaum. Aber ich will mich nicht beklagen.
»Bitte«, antwortet sie, dreht sich um und stürmt durch den Gang davon. Ich blicke ihr die gesamte Strecke hinterher und kann nicht aufhören zu grinsen. Beim Hinausgehen treffe ich in der Eingangshalle auf Mark James, der sage und schreibe acht seiner Freunde im Schlepptau hat.
»Na, na, na«, sagt er. »Du hast wirklich den ganzen Schultag hinter dich gebracht, was?«
»In der Tat. Und sieh doch nur, was ich gefunden habe!« Triumphierend halte ich mein Handy hoch. Ihm fällt der Unterkiefer herunter. Ich marschiere an ihm vorbei durch die Eingangshalle und aus dem Gebäude hinaus.