Spaziergang
Meine Mutter zog ihren weißen Tweedmantel
an und bewegte die Schultern hin und her, bis er richtig saß. In
ihren letzten Lebensjahren hatte sie ältere Damen, die ans Haus
gebunden waren, frisiert und ihr Make-up gemacht, hatte dafür
gesorgt, dass sie sich attraktiv fühlten. Heute hatte sie drei
solcher »Termine«, sagte sie. Immer noch benommen, folgte ich ihr
durch die Garage nach draußen.
»Wollen wir am See entlanggehen, Charley?«, sagte
sie. »Da ist es so schön um diese Tageszeit.«
Ich nickte stumm. Wie viel Zeit war vergangen, seit
ich im nassen Gras gelegen und auf das zertrümmerte Auto gestarrt
hatte? Wie lange würde es dauern, bis jemand mich aufspürte? Ich
schmeckte nach wie vor Blut und wurde immer wieder unvermittelt von
Schmerzwellen erfasst; im einen Moment war alles in Ordnung, im
nächsten tat mir alles weh. Doch nun spazierte ich an der Seite
meiner Mutter durch unsere alte Wohngegend, in der Hand ihre lila
Plastiktasche mit den Kosmetika.
»Mama«, murmelte ich schließlich. »Wie...?«
»Wie was, Schätzchen?«
Ich räusperte mich.
»Wie kannst du hier sein?«
»Nun, ich wohne hier«, gab sie zur Antwort.
Ich schüttelte den Kopf.
»Schon lange nicht mehr«, flüsterte ich.
Sie blickte zum Himmel auf.
»Weißt du, am Tag deiner Geburt war genau so ein
Wetter. Kühl, aber schön. Am Spätnachmittag setzten die Wehen ein,
weißt du noch?« (Als hätte ich nun antworten sollen: »Ja, ich
erinnere mich genau.«) »Dieser Arzt. Wie hieß er gleich? Rapposo?
Dr. Rapposo. Er sagte mir, ich müsste das Baby bis sechs Uhr abends
bekommen, weil seine Frau sein Lieblingsgericht zum Abendessen
kochte, und das wolle er nicht versäumen.«
Ich kannte diese Geschichte.
»Fischstäbchen«, murmelte ich.
»Fischstäbchen. Kannst du dir das vorstellen? So
ein simples Gericht. Ich hätte eher gedacht, es gäbe wenigstens
Steak, wenn er es schon so eilig hatte. Nun ja, einerlei. Er bekam
seine Fischstäbchen.«
Sie sah mich vergnügt an.
»Und ich bekam dich.«
Wir gingen ein paar Schritte. Meine Stirn
schmerzte, und ich rieb sie mit dem Handballen.
»Was ist los, Charley? Tut dir etwas weh?«
Die Frage war so schlicht, dass ich sie nicht
beantworten konnte. Ob mir etwas wehtat? Womit sollte ich anfangen?
Mit dem Unfall? Dem Sprung in die Tiefe? Der dreitägigen Sauftour?
Der Hochzeit? Meiner Ehe? Den letzten acht Jahren? Wann hatte mir
je nichts wehgetan?
»Es ist mir nicht so gut gegangen, Mam«, sagte ich
schließlich.
Sie spazierte weiter und blickte auf das Gras vor
sich.
»Weißt du, nachdem ich deinen Vater geheiratet
hatte, wünschte ich mir drei Jahre lang ein Kind. Wenn man damals
drei Jahre lang nicht schwanger wurde, galt das als sehr lange. Die
Leute dachten, etwas sei nicht in Ordnung mit mir. Ich selbst
glaubte das auch.«
Sie atmete hörbar aus. »Ein Leben ohne Kinder
mochte ich mir gar nicht vorstellen. Einmal habe ich sogar...
Warte. Wollen mal sehen.«
Sie ging zu einem großen Baum hinüber, der nicht
weit von unserem Haus entfernt war.
»Das habe ich einmal spätabends gemacht, als ich
nicht einschlafen konnte.« Sie strich über die Baumrinde, als suche
sie nach einem verborgenen Schatz. »Ah. Ist immer noch da.«
Ich beugte mich vor. BITTE war dort in die Rinde
geritzt, in kleinen krakligen Buchstaben. Man musste genau
hinschauen, um es zu erkennen, aber es stand da. BITTE.
»Nicht nur du und Roberta haben geschnitzt«, sagte
sie lächelnd.
»Und was sollte das bedeuten?«
»Es ist ein Gebet.«
»Für ein Kind?«
Sie nickte.
»Mich?«
Sie nickte wieder.
»Aber auf einem Baum?«
»Bäume blicken den ganzen lieben langen Tag zu Gott
auf.«
Ich verzog das Gesicht.
»Ich weiß.« Sie hob ergeben die Hände. »Du bist so
kitschig, Mama.«
Sie berührte wieder die Rinde und machte leise:
»Hmm«. Offenbar sann sie über alles nach, was sich seit
jenem Nachmittag, als ich auf die Welt kam, in ihrem Leben ereignet
hatte. Ich fragte mich, ob sich dieser Laut anders angehört hätte,
wenn sie die ganze Geschichte gekannt hätte.
»So«, sagte sie und wandte sich von dem Baum ab.
»Nun weißt du, wie sehr du herbeigesehnt wurdest, Charley. Kinder
vergessen das manchmal. Sie halten sich dann eher für eine Last als
für einen Wunsch, der in Erfüllung ging.«
Sie richtete sich auf und strich ihren Mantel
glatt. Mir war nach Weinen zumute. Ein Wunsch, der in Erfüllung
ging? Wie viel Zeit war vergangen, seit mir jemand so etwas gesagt
hatte? Ich hätte mich schämen und bereuen sollen, wie ich meinem
eigenen Leben den Rücken gekehrt hatte. Stattdessen sehnte ich mich
nach einem Drink, nach einer schummrigen Bar, dem befriedigenden
Gefühl, mit dem ich ein ausgetrunkenes Glas betrachtete, weil ich
wusste, dass der Alkohol in Kürze seine Wirkung tun würde.
Ich trat auf meine Mutter zu und legte ihr die Hand
auf die Schulter; eigentlich erwartete ich, ins Leere zu greifen,
wie man es in Geisterfilmen sieht. Aber meine Hand ruhte wahrhaftig
auf ihrer Schulter, und ich spürte die Knochen unter ihrer
Kleidung.
»Aber du bist doch tot«, platzte ich heraus.
Ein Windstoß wirbelte Blätter auf.
»Du misst manchen Dingen zu viel Bedeutung bei«,
entgegnete sie.
Posey Benetto konnte gut erzählen, das sagte
jeder. Aber im Gegensatz zu anderen Leuten, die gut erzählen
können, besaß sie auch die Fähigkeit, gut zuzuhören. Sie hörte
geduldig ihren Patienten im Krankenhaus zu. Sie hörte den Nachbarn
zu, wenn man an heißen Sommertagen im Liegestuhl lag. Sie liebte
Spaß und stupste jeden scherzhaft an, der sie zum Lachen brachte.
Sie war einnehmend und charmant. Und so sahen die Leute sie auch:
als die charmante Posey.
Doch das galt offenbar nur, solange die großen
Pranken meines Vaters ihre Schultern umfassten. Als sie geschieden
war, frei von seinem Zugriff, wollten die verheirateten Frauen
diesen Charme nicht in der Nähe ihrer Männer sehen.
Weshalb meine Mutter all ihre Freundinnen verlor.
Sie hätte ebenso gut die Pest haben können. Die Kartenspiele, zu
denen sie und mein Vater sich immer mit Nachbarn trafen? Gab es
nicht mehr. Einladungen zu Geburtstagsfeiern? Vorbei. Am vierten
Juli roch es überall nach Holzkohle, aber niemand lud uns zum
Grillabend ein. An Weihnachten sahen wir Autos bei den Nachbarn
vorfahren und Gäste aussteigen. Aber meine Mutter hielt sich mit
uns in der Küche auf und knetete Plätzchenteig.
»Gehst du nicht zu der Weihnachtsfeier?«, fragten
wir.
»Wir feiern hier bei uns«, gab sie zur
Antwort.
Sie versuchte uns den Eindruck zu vermitteln, als
sei es ihre Entscheidung. Nur wir drei, an sämtlichen Feiertagen.
Ich glaubte lange, dass Silvester ein Familienfest sei, bei dem man
Eis mit Schokosoße aß und mit Tröten vor dem Fernseher saß. Als ich
erfuhr, dass meine Kumpels an diesem Abend für gewöhnlich den
Schnapsschrank ihrer Eltern plünderten, weil die um acht Uhr fein
herausgeputzt zu irgendwelchen Partys aufbrachen, war ich
einigermaßen verblüfft.
»Willst du damit sagen, dass du dazu verdonnert
bist, Silvester mit deiner Mutter zu verbringen?«, fragten sie
ungläubig.
»Ja«, stöhnte ich.
Doch in Wirklichkeit war meine charmante Mutter
dazu verdonnert, dieses und viele andere Feste mit uns zu
verbringen.