Kapitel 4
TAG FÜNF
Shenja Schachnowitsch weckte Alferow und Dobrynin lange vor dem Frühstück.
»Also, Rapport«, rief er. »Ich gebe es gleich zu, bei mir – totaler Reinfall. Jeder von euch kann sich also um fünfzig Riesen reicher schätzen. Was gibt’s bei dir, Pawel?«
Zufrieden berichtete Dobrynin von seinen gestrigen Abenteuern. In Gesellschaft der von ihm gelosten Dame hatte er weit mehr als nur sechs Stunden verbracht. Kurz vor dem Mittagessen kennengelernt, bis kurz vor Morgengrauen geblieben, zum Glück hatte sie ein Einzelzimmer gehabt. Schachnowitsch ließ sich von ihm sämtliche Gespräche in allen Einzelheiten wiedergeben, was Pawel unverhohlen wütend machte.
»Gratuliere. Pawel bekommt seine ehrlich erarbeiteten zweihundert. Kolja?«
Alferow zuckte unschlüssig mit den Achseln.
»Sie ist irgendwie eine. . . die gar nicht. Keine Ahnung. Wollte sich nicht mal unterhalten. Gab mir den Rat, mein Dach reparieren zu lassen.«
»Wie bitte?« fragte Dobrynin ungläubig nach.
»Zum Psychiater soll ich gehen, meint sie. Da habt ihr euch was Blödes einfallen lassen, Jungs. Wir geben doch die reinsten Idioten ab mit unserer Anmache.«
»Erstens nicht wir, sondern du«, warf Pawel ein. »Ich persönlich fühle mich wunderbar, und mich hält keiner für einen Idioten. Und zweitens bist du sauer, weil du nichts abgezockt hast. Wollen wir wetten, daß ich deine blasse Schrulle in sechs Sekunden herumkriege?«
»Ich erinnere daran, daß sich der Einsatz bei Wiederholung auf zweihundert erhöht«, fügte Shenja hinzu. »Also was ist, Pawel, machst du dich an Zimmer fünfhundertdreizehn ran?«
»Wer nicht wagt, der nicht Champagner trinkt!« Dobrynin grinste breit.
* * *
Irgend etwas stimmte nicht mit dieser Kamenskaja, sagte sich Schachnowitsch, während er durch die verschiedenen Gebäudetrakte des Sanatoriums ›Doline‹ wieselte, um Reparaturaufträge wegen defekter Stromleitungen zu erledigen, darüber hinaus aber auch alle anderen Elektrogeräte reparierte, von Telefonapparaten bis hin zu Fernsehern. Erstens hatte er läuten hören, daß sie fürs Innenministerium arbeite, obgleich man ihr, wie Shenja natürlich genau wußte, nicht mal ein Einzelzimmer hatte geben wollen. Jelena, die Grimmige (wie die Verwaltungschefin von ihren jungen Angestellten hinter vorgehaltener Hand genannt wurde) hatte sich wie üblich ein Schmiergeld ergaunert, also war aus dem Innenministerium kein Anruf für die Kamenskaja gekommen. Woher aber dann diese Gerüchte? Shenja wußte, daß Leute, die wollen, daß man möglichst wenig über sie wußte und sie nicht mit Fragen behelligte, manchmal ein Geheimnis um sich machten, als seien sie von der Polizei oder vom Geheimdienst. Jedenfalls war das früher oft der Fall gewesen. Hatte die Kamenskaja etwa selbst gegenüber irgendwem angedeutet, sie sei vom ›Dienst‹, damit man sie nicht behelligte? Sie wollte in Ruhe gelassen werden, das stand außer Zweifel. Aber warum nur? Anastasija Kamenskaja von Zimmer 513 war der erste Mensch seit vier Monaten, dessen Verhalten Shenja Schachnowitsch sich nicht erklären konnte. Und das ließ ihn vermuten, daß er zu guter Letzt doch das Ende des Fadens zu fassen bekommen hatte, der ihn zur Lösung jener Aufgabe führen könnte, wegen der er auf Order seines Chefs bereits vier Monate hier das ›Mädchen für alles‹ spielte.
* * *
»Wir haben ein kleines Problem. Einer unserer Kunden verlangt kategorisch ein Mädchen, das nicht aus unserem Kontingent stammt. Ihm gefällt eine von denen, die hier im Sanatorium zur Kur sind. Er läßt sich durch nichts davon abbringen. Und es wäre unsinnig zu glauben, man könnte es doch noch irgendwie schaffen, ihr wißt ja selbst, was für Kunden wir haben. Von denen ist kein einziger psychisch normal, wie denn auch.«
»Was sollen wir machen?«
»Ihr müßt sofort einen ähnlichen Typ auftreiben. Die könnten wir ihm dann vielleicht unterschieben. Er hat sie ja nur von sehr weit weg gesehen, konnte das Gesicht nicht genauer erkennen. Hätte eh nichts Besonderes zu erkennen gegeben, ihre Visage ist selten langweilig. Keine Ahnung, was er an der findet. Größe einsfünfundsiebzig bis einsachtundsiebzig, Gewicht um die Sechsundsechzig, Oberweite – vierundneunzig, Taille –zwischen zweiundsechzig und fünfundsechzig, Hüfte – achtundachtzig bis neunzig. Haarfarbe hellbraun, ins Aschfarbene gehend, Länge der Haare – knapp über Rückenmitte, Schulterblätter müssen verdeckt sein. Das sind die ungefähren Angaben. Augen – hell. Merkmale – keine besonderen. Ich werde sie euch zeigen, wir werden ein Foto machen müssen, um später die Schminke anpassen zu können. Wir müssen sehr schnell handeln, bevor der Kunde Verdacht schöpft.«
»Und sie selbst läßt sich zu nichts überreden?«
»Ausgeschlossen.«
»Wieso?«
»Bestellung Kategorie ›B‹. Du weißt selbst, wie vorsichtig wir das Kontingent für diese Kategorie auswählen. Niemand darf sie hinterher vermissen.«
»Logisch. Mit den anderen Bestellungen geht alles klar? Oder gibt’s da auch Probleme?«
»Na ja . . . Einer der Kunden hat Zusatzwünsche geäußert, die ziemlich schwer zu erfüllen sind, aber mir ist schon etwas eingefallen. Zwei, drei Tage brauche ich noch, dann können wir das aufnehmen. Bei Kunde drei gibt es keine Probleme, wie immer. Bei ihm sind es zwei Bestellungen, eine in Kategorie ›B‹, und eine in Kategorie ›C‹. Seine Aufnahmen können wir gleich heute machen.«
»Die Drehbücher?«
»Fertig, alle vier.«
»Kulissen, Kostüme?«
»Fertig.«
»Ton?«
»Die Begleitmusik ist fertig, der Rest nach den Aufnahmen.«
»Bestens. Vorschläge zum Arbeitsablauf?«
»Wir fangen morgen an, machen hintereinander die zwei Bestellungen von Assanow. Währenddessen lösen wir das Problem mit Marzew, das müssen wir schaffen. Die Bestellung des Usbeken als letztes. Dieser Frauentyp ist ziemlich gewöhnlich, es kann doch nicht sein, daß wir in vier Tagen nichts Passendes auftreiben. In unserer Datenbank haben wir Dutzende von Frauen . . .«
»Aber denkt an die Kategorie.«
»Wird gemacht.«
»Wir arbeiten unter erschwerten Bedingungen, gleich mit zwei Kunden Probleme. Wenn wir alles rechtzeitig hinkriegen, sollte Semjon eine Prämie bekommen. Wer ist dafür? Einstimmig angenommen. Ihr könnt gehen, nur Kotik bleibt.«
Der etwas dickliche, immer lächelnde Masseur mit dem Spitznamen Kotik – Katerchen –, wechselte vom Stuhl, auf dem er während der Besprechung gesessen hatte, auf das weichere Sofa, zog die Beine an und rollte sich ein. Angeblich konnte er so besser nachdenken, darum nahm er in entscheidenden Momenten immer die Stellung einer schlafenden Katze ein. Daher auch sein Spitzname.
»Was hast du über die Kamenskaja herausbekommen?«
»Gar nichts. Vor allem will sie auch selber von niemandem etwas wissen. Absolviert ihr Kurprogramm, übersetzt ihre Krimis. Ist an keinerlei Bekanntschaften interessiert. Die erinnert mich an einen dressierten Foxterrier.«
»Das mußt du mir erklären.«
»Freundlich, entgegenkommend, aber tote Augen. Und ein stahlharter Biß.«
»Was die Augen angeht, da hast du recht. Aber wieso glaubst du, sie hätte einen stahlharten Biß? Wie äußert sich das?«
»Gar nicht. Ich spüre es einfach.«
»Kotik, ich schätze dein Gespür sehr und zahle dir dafür einen Haufen Geld. Doch heute bete ich zu Gott, daß du Unrecht hast. Und denk daran, niemand – weder Damir noch Semjon – dürfen wissen, was wir beide über die Kamenskaja wissen. Sonst geraten sie nämlich in Panik und stellen weiß der Teufel was an. Damir ist eine Künstlernatur, ziemlich sensibel, wie alle Künstler tickt auch er ein bißchen anders, und das kann zu unangemessenen Reaktionen führen. Über Semjon brauchen wir gar nicht zu reden. Er ist ein glänzendes Organisationstalent, da gibt es nichts, aber vergiß nicht, daß er schon seit zehn Jahren als Schwerverbrecher gesucht wird und deshalb mit falschen Papieren herumläuft. Das heißt – zehn Jahre unter Dauerstreß, Tag für Tag. Er mag sich daran gewöhnt haben und es nicht mehr merken, doch so was staut sich an, und sobald die Situation brenzlig wird, kann er durchknallen, und dann begeht Semjon irgendeine Dummheit. Könntest du noch für ihn die Hand ins Feuer legen, falls er erfährt, daß nebenan eine vom Innenministerium sitzt?«
»Sie haben recht, das kann ich nicht.«
»Und ich genausowenig. Trotzdem, Kotik, frag dein Gefühl: Was macht diese Kamenskaja hier? Führt sie was gegen uns im Schilde?«
»Es scheint so, ja.«
»Na ja, was soll’s. Wir sind sowieso eine Nummer zu groß für die. Wie will die uns je . . .«
* * *
Es war fast zehn Uhr morgens, und Nastja Kamenskaja flezte immer noch im Bett herum. Der gestrige Tag hatte vielleicht so laufen müssen, dachte sie, trotzdem wäre es besser gewesen, sie hätte ihn anders verbracht. Von dem Nachtspaziergang mit Ismailow war ein unangenehmer Nachgeschmack zurückgeblieben, und Nastja versuchte zu ergründen wieso. Der Sachverhalt war klar: Er war nicht erst gestern angekommen, er war nicht auf kürzestem Wege mit Blumen und Geschenken direkt vom Flugzeug zu seiner alten Musiklehrerin geeilt. Er war schon viel früher angekommen, jedenfalls war er vorgestern schon hier, hatte im abgeschlossenen Gymnastikraum mit Katja rumgemacht und ihr das originelle Armband an seiner Uhr gezeigt. »Als sei es aus Kasliner Guß«, hatte Katja gesagt. Und gestern hatte Nastja dieses Armband gesehen, als er beim Spaziergang unter der Laterne auf seine Uhr gesehen hatte. Das mochte eine unbedeutende Kleinigkeit sein, doch aus dieser Kleinigkeit ergaben sich neue Fragen, und die wurden immer unangenehmer.
Falls Damir Ismailow sich zu seiner Lehrerin wie zu einem einsamen, unglücklichen Menschen verhielt, dann konnte er verständlicherweise keinesfalls zugeben, daß er nach seiner Ankunft im Sanatorium als erstes seine Freundin besucht hatte. Die Alte war erst am nächsten Tag dran gewesen, und auch dann erst am Abend. Bei diesem Drehbuch waren die Rollen folgendermaßen verteilt: Damir ein billiger Weiberheld, die Alte vertrauensselig und betrogen. Was Nastja nach diesem Drehbuch zu tun hatte, war ganz einfach: Regina Arkadjewna bemitleiden, Damir zum Teufel jagen.
Andererseits jedoch hatte der braunäugige Damir auf dem Spaziergang so begeistert erzählt, was für ein Genie Regina Arkadjewna sei, daß er ihr alle seine Arbeiten zeige, sie um Rat frage, weil ihm ihre Meinung viel bedeute. Das konnte kaum gelogen gewesen sein. Nastja erinnerte sich noch genau an die zufällig auf dem Balkon mitgehörten Worte der Alten und den ungewöhnlich scharfen Ton. Das war nicht der Ton einer Lehrerin. Das war eher der Ton eines Prüfers, eines Vorgesetzten. Doch falls die Beziehung zwischen Damir und Regina Arkadjewna geschäftlicher Natur sein sollte, bar aller Sentimentalitäten, wieso sollte er sie dann betrügen? War es in diesem Falle nicht egal, ob er einen Tag früher oder später im Sanatorium angekommen war, ob er als allererstes mit seinen Blumen und Geschenken zu ihr geeilt oder aber vorher noch durch ein paar Betten gehüpft war?
Gedankenversunken in ihre warme Decke gehüllt, achtete Nastja nicht auf das unangenehme kalte Gefühl, das sich einige Male in ihrem Bauch gemeldet hatte – ein sicheres Anzeichen dafür, daß ihr etwas Wichtiges aufgefallen war, über das sich nachzudenken lohnte. Es hatte sich nicht nur gemeldet, während sie an den gestrigen Abend dachte. Noch etwas anderes an dem gestrigen Tag hätte sie beunruhigen müssen. Etwas, das lange vor Damirs Auftauchen passiert war. Nein, meinte sie entschieden zu sich selbst, ich bin nicht bei der Arbeit, ich bin im Urlaub. Ich stecke einfach zu tief in diesem Krimi drin und sehe deshalb schon überall Ratten. Es gibt keinerlei Anlaß zur Beunruhigung. Soll Damir der Alten doch etwas vormachen, was geht mich das an? Soll er doch das gesamte Personal in der ›Doline‹ durchvögeln – geht mich auch nichts an. Ja, er hat mir gefallen, ganze drei Stunden lang. Drei Stunden lang war ich beinah verliebt – für mich ist das neuer Hallenrekord. Sieh an, hast du dich eben auch mal getäuscht. Das Leben geht trotzdem weiter.
Aber ihre Laune war versaut. Nastja beschloß, heute nicht nur die Kuren, sondern auch das Schwimmen ausfallen zu lassen, und statt dessen in die STADT zu gehen. Die STADT gefiel ihr. Sie war nett und gemütlich, steril sauber und irgendwie unrussisch: der Putz an den Fassaden nicht abgeschlagen, der Straßenbelag nicht ausgefahren, keine Georgier, Armenier, Aserbeidschaner hinter jeder Vitrine in den Geschäftspassagen. Das hieß, Geschäftspassagen gab es, aber dort feilschten russische Jungs so um die sechzehn, siebzehn. Verdienen sich ein Taschengeld, dachte Nastja wohlwollend, was soll daran schlimm sein. Dabei lernen sie gleich Kopfrechnen und danke und bitte sagen.
Sie ging zu Fuß bis zum Fernmeldeamt und rief ihren Stiefvater an, um ihn zu bitten, Geld zu schicken, geliehen, versteht sich. Leonid Petrowitsch stellte keine weiteren Fragen, er wußte, wie korrekt und pedantisch Nastja in Geldfragen war. Er versprach, die erbetene Summe sofort telegrafisch anzuweisen.
Nastja kaufte noch einmal eine Handvoll Telefonmünzen, um Ljoscha anzurufen.
* * *
Die wollen ihn bescheißen, diese Hunde, die haben vor, ihm Geld abzuknöpfen und ihm dafür eine Falsche unterzujubeln! So läuft das nicht! Denen kommt er noch auf die Schliche, er, Sarip, läßt sich schließlich nicht für blöd verkaufen. Er hat ihnen gesagt, welche Frau er will, was soll das also? Warum geht man nicht einfach zu ihr hin und bietet ihr an, Geld zu verdienen, viel Geld? Denn geizig ist Sarip nicht, er würde es ihr vergolden, Hauptsache, sie wäre einverstanden. Man braucht ihr ja nicht zu sagen, was er am Ende mit ihr vorhat. Über alles andere läßt sich doch reden, es ist nur eine Frage des Preises.
Die sagen: Geht nicht. Warum nicht? Was unterscheidet sie von den anderen Frauen? Alle Frauen sagen ja für Geld, na ja, fast alle. Für sehr viel Geld aber absolut alle. Die haben doch gar nicht versucht, mit ihr zu reden, sondern gleich ›Geht nicht‹ gesagt. Die lügen doch alle! Haben sie wohl für einen anderen Kunden reserviert oder gleich für sich selbst. Vielleicht ist sie ja die Freundin von einem? Dann wäre klar, warum sie ›Geht nicht‹ sagen. Aber er, Sarip, läßt sich nicht an der Nase herumführen. Er würde das alles selber klären müssen.
Sarip schlich sich aus seinem Häuschen und ging vorsichtig zum Hauptgebäude hinüber. Da, ein Fenster zum Speisesaal. Gut, daß er im Erdgeschoß lag. Sarip wartete geduldig, bis auch der letzte Kurgast gefrühstückt hatte, doch seine schöne Blondine bekam er nicht zu Gesicht. Was war los mit ihr? Krank? Hatte es womöglich gar nicht gestimmt, als sie sagten, sie sei ein Kurgast, und er Idiot hatte es geglaubt und wartete nun, daß sie mit allen anderen zum Frühstück kam? Vielleicht wohnte sie auch gar nicht hier. Wie konnte er sie bloß ausfindig machen?
Niedergeschlagen wanderte Sarip durch die Parkallee des Sanatoriums, als er plötzlich in der Ferne eine hellblaue Jacke und lange blonde Haare sah. Sofort wurde sein Mund ganz trocken. Da war sie! Ohne daran zu denken, daß es ihm eigentlich strikt verboten war, das Sanatorium zu verlassen, ging er Nastja hinterher.
* * *
Semjon, der Mann mit dem Pferdegesicht, der dunklen Vergangenheit und den falschen Papieren, erarbeitete sich fleißig die am Morgen versprochene Prämie. Höchstpersönlich sah er die gesamte Datenbank durch, fand mindestens ein Dutzend Mädchen, die eine mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit der Kamenskaja aufwiesen, beauftragte seine Männer, sorgfältig alle biographischen Angaben zu überprüfen, um festzustellen, bei welchen eine Verwendung in Kategorie ›B‹ in Frage kam. Um in diese Kategorie zu fallen, durfte die Person keine Verwandten und auch sonst niemanden haben, der, beunruhigt durch die lange Abwesenheit, irgendwelche Nachforschungen anstellen könnte. Ebensowenig durfte eine polizeiliche Vorladung existieren oder ein Eintrag im Polizeiregister. Darüber hinaus gab es noch eine ganze Reihe weiterer Anforderungen und Einschränkungen für jene, mit denen ein Video der Kategorie ›B‹ gedreht wurde.
Nachdem er die Aufträge verteilt hatte, fuhr Semjon zum Flughafen, wo er einen Mann abholen sollte, der zu einem Auswahlgespräch angereist kam. Semjon war verdammt aufgeregt, bei Frauen wußte er, wie man den springenden Punkt erklärte, wußte, welcher Lüge sie leicht auf den Leim gingen, und wo man besser die Wahrheit sagte. Es war das erste Mal, daß er solch ein Gespräch mit einem Mann führen mußte, und er fürchtete, es könnte ihm irgendein Fehler unterlaufen. Am besten, er bat Kotik um Hilfe. Wie gut, daß er ein Autotelefon besaß. Und das Flugzeug kam erst in knapp einer Stunde.
Kotik, der eiligst ein Taxi genommen hatte, kam gerade noch rechtzeitig in dem Moment, als der Gast in der Empfangshalle erschien. Er hieß Wlad, war jung, so um die dreiundzwanzig, und winzig, hatte nikotingelbe Zähne und schaute mürrisch drein. Nach Auskunft der Spezialisten war Wlad ein ziemlich guter Schauspieler, der sein Handwerk beherrschte. Seit er fünfzehn war, hing er an der Nadel und brauchte dauernd Geld. Für Semjon war das eine gute Chance, und er wollte alles tun, um sie zu nutzen.
* * *
»Sie rücken irgendwie nicht heraus mit der Sprache.« Wlad schüttelte den Kopf und schenkte sich noch ein Mineralwasser ein. Alle drei saßen in einem kleinen Cafe neben dem Flughafengebäude. Semjon trank Kaffee, Kotik schlürfte ein Dosenbier, und Wlad, der gleich erst mal zwei Wodka gekippt und ein Brathähnchen verdrückt hatte, ging jetzt zu Mineralwasser über.
»Ich kapiere nicht, wieso Sie für Ihren Film nicht auch einen gewöhnlichen achtjährigen Jungen nehmen können. Die stellen sich ganz prima an vor der Kamera, Sie hätten keine Probleme, zumal Sie ja, wie ich verstanden habe, einen Kurzfilm drehen. Fragen Sie einen beliebigen Schuljungen – der wird glücklich sein und sich kostenlos filmen lassen. Und Sie wollen mir dafür einen gehörigen Batzen Geld zahlen. Ich will gar nicht leugnen, daß ich Geld brauche, aber ich hätte gern genau gewußt, wofür ich es bekomme.«
»Ich kann es erklären«, meinte Kotik sanft und blickte Wlad liebevoll an. »Ich brauche keinen gewöhnlichen Schuljungen, ich brauche einen Schauspieler, einen wirklich großen Schauspieler, der imstande ist, ein gewisses feeling zu vermitteln. Das zum ersten. Und zweitens brauche ich einen Schauspieler mit musikalischem Talent. Sehen Sie, das Studio experimentiert auf dem Gebiet des Kinofilms, insbesondere versuchen wir, die Wirkung der schauspielerischen Leistung durch eine speziell ausgesuchte musikalische Begleitung zu verstärken. Eben nicht so, wie es sonst immer gemacht wird: die Szene abdrehen, dann die Musik dazu schreiben und vertonen. Bei uns wird die Musik zuerst gemacht, sie wird während der Drehaufnahmen eingespielt und soll den Schauspieler emotional inspirieren, sein Spiel gewinnt an Ausdruck, und im Idealfall bringt er die Szene in Einklang mit der musikalischen Begleitung. Überlegen Sie selbst, ein Kind könnte so etwas doch nicht schaffen! Über Sie habe ich mir sagen lassen, Sie hätten ein feines Gespür für Musik, und daß Sie früher sogar mal selbst komponiert haben.«
Klasse! Semjon jubelte innerlich. Wie ihm das bloß alles einfällt? Ich könnte das nicht. Ich hätte ihn wahrscheinlich versucht zu überreden, hätte ihn mit dem Geld gelockt, das mindestens für ein ganzes Jahr reicht, falls er seine Dosis Stoff nicht erhöht. Vielleicht hätte ich ihm auch angst gemacht, obwohl ich so was gar nicht mag. Jedenfalls hätte ich ihn nicht laufenlassen. Meinetwegen unter Drogen, aber in den Pavillon hätte ich ihn geschleift. Kotik hingegen arbeitet sauber –ein wahrer Genuß!
Sie brachten Wlad in jene Wohnung, in der noch gestern abend das Mädchen, das beim Wettbewerb durchgefallen war, ihren Koffer gepackt hatte und mit der Zusicherung nach Hause geschickt worden war, ihre Daten würden jedem respektablen Kunden vorgelegt, und das Glück würde ihr sehr bald lachen, bestimmt schon nächsten Monat.
»Machen Sie es sich bequem.« Mit einladender Geste öffnete Kotik die Tür. »Ruhen Sie sich aus. Gegen Abend wird Ihnen das Drehbuch gebracht, lesen Sie es, lassen Sie es auf sich wirken. Morgen ist ein Treffen mit dem Regisseur und der Schauspielerin angesetzt. Übermorgen Aufnahme. Und noch am selben Tag fliegen Sie wieder ab. Ist Ihnen diese Planung recht?«
»Durchaus. Und wann kommt das Geld? Sonst verhungere ich hier noch.«
»Kost und Logis gehen aufs Haus. Sehen Sie mal in die Küche, im Kühlschrank finden Sie reichlich zu essen. Und noch etwas: Für die drei Tage, die Sie hier sind, kümmern wir uns um Ihren Stoff. Sie bekommen alles, und auch noch umsonst. Das gehört zum Vertrag. Aber auch wir haben unsere Verpflichtungen gegenüber der hiesigen Drogenmafia. Details haben Sie nicht zu interessieren, jedenfalls soll Sie draußen keiner sehen. Verstanden?«
»Nicht ganz, aber ich nehme es zur Kenntnis. Ich bin ein Mann mit Disziplin.«
»Das ist auch gut so. Falls es klingelt, machen Sie nicht auf. Der, der kommt, hat einen eigenen Schlüssel. Abgemacht? Dann bis heute abend.«
Als sie wieder unten am Wagen waren, rief Kotik als erstes im Sanatorium an.
»Wie läuft’s? Alles ruhig? . . . Wohin?! . . . Und wo habt ihr eure Augen gehabt? Zum Teufel mit euch, ihr Volltrottel!«
Zu Semjon gewandt, sagte er bereits etwas ruhiger:
»Sarip ist abgehauen in die Stadt, schleicht der Kamenskaja nach, sieht aus, als ob er versucht, sie kennenzulernen. Der Richtung nach, die sie genommen hat, ist sie zum Fernmeldeamt, telefonieren. Wir probieren es, vielleicht können wir ihn abfangen. Los, beweg dich.«
Semjon wendete schweigend den Wagen und trat aufs Gas.
»Woher kommt dieser Knallkopf eigentlich?« fragte Kotik nach kurzer Schweigepause. »Der kann uns alles versauen. Wer hat ihn aufgetrieben?«
»Wie immer. Er ist schon seit fünf Jahren in unserer Kartei, seit er zum ersten Mal geschnappt wurde wegen sexueller Belästigung von Frauen im Stadtpark. Sechzehn Tage hat er damals bekommen, Giraffe hat ihn ins Register eingetragen und ihn heimlich überwacht. Als er sah, daß der Knabe reif war, hat er ihn an Pornos herangeführt, zuerst soft, dann hard core. Also das Übliche. Ließ Doktor kommen, hat sie miteinander bekannt gemacht, Doktor hat gleich gemeint – Schizophrenie, schlug ihm vor, mit uns Kontakt aufzunehmen. Und sofort stand Giraffe wieder auf der Matte. Wer konnte denn ahnen, daß er völlig daneben ist. Gib ihm die Tusse aus 513 –und es läuft. Ansonsten: Ade, du schöne Welt.«
»Doktor gehört eins verpaßt. Der schaut nicht richtig hin. Laß gut sein, Semjon, ist ja nicht deine Schuld. Wir biegen das schon wieder hin. Gibt’s noch ein Bierchen?«
»Unterm Rücksitz ist der Karton.«
Kotik drehte sich schwerfällig nach hinten, streckte den Arm aus und angelte sich eine Dose deutsches Bier. Gierig begann er zu trinken.
»Setzt bei mir verdammt an, das Bier, ich gehe auf wie ein Hefekloß«, jammerte er und streichelte seinen stattlichen Bauch. »Hab’ einfach nicht die Willenskraft, weiß, daß ich nicht dürfte, und kann nicht nein sagen. Fahr mal langsamer, ich glaube, das ist sie.«
In der Tat, es war Nastja. Sie hatte Block und Bleistift aus ihrer Tasche genommen, um sich die Öffnungszeiten von Fernmeldeamt, Post und Telegrafenamt, die im selben Gebäude untergebracht waren, genau zu notieren. Sie sah nicht, wie ein hagerer, gebückt gehender Mann mit eingefallenen bleichen Wangen und gefährlichem Funkeln in den Augen von einer nahen Sitzbank aufstand und langsam auf sie zukam.
Kotiks Reaktionsschnelligkeit war zu beneiden. Mit dem kurzen Satz zu Semjon: »Schaff ihn weg!« stürzte er los, schnitt Sarip den Weg ab und stellte sich so hinter Nastja, daß er ihr mit seinem massiven Körper den Blick verdeckte, falls sie sich umdrehen sollte. Doch sie drehte sich nicht um. Nachdem sie die Öffnungszeiten sorgfältig notiert hatte, steckte sie Block und Bleistift wieder weg und schlenderte gemächlich die Hauptstraße entlang. Aus den Augenwinkeln sah Kotik, wie Semjon auf Sarip zusprang, ihn beim Ellbogen packte und ihn unter vorwurfsvollem Kopfschütteln zum Wagen führte. Die Tür schlug zu, der Motor sprang an, und der Masseur war allein.
* * *
Marzew weinte. Er war angewidert von seiner Krankheit, von der schlimmen Geschichte, in die er immer tiefer und tiefer hineingerutscht war. Er zahlte bereits für den dritten Film, nur um durchzuhalten, nur um dieser Frau das Leben zu bewahren, um seine Familie nicht zu zerstören. Schließlich waren sie doch völlig unschuldig! Zwei Mädchen hatten bereits anstelle seiner Mutter sterben müssen. Morgen wären es drei. Und wie vielen hatte er das Leben gerettet?! Wenn es Damir nicht gäbe mit seinen Filmen, hätte jeder Anfall zum Mord an einem unschuldigen Opfer geführt. Was konnte er denn dafür, daß er krank war? Gegen die Natur kam keiner an. Man konnte sich schützen vor Krankheiten an Herz, Magen, Leber, wenn man entsprechend lebte. Man konnte vermeiden, Alkoholiker zu werden oder drogenabhängig. Doch wie vermied man es, schizophren zu werden? Wer konnte das beantworten? Wie sich vor einer Persönlichkeitsspaltung schützen? Mein Gott, war er wirklich bis an sein Lebensende zu diesem Teufelskreis verdammt? Eine Frau vor laufender Kamera töten, dann, um die Anfälle jedesmal in den Griff zu bekommen, es sich mehrere Male anschauen und dabei alles noch einmal durchleben, dann, wenn die Wirkung des Films nachließ, erneut töten . . . Er hatte bereits sämtliche Wertgegenstände verkauft, die seine Mutter noch von ihrem Großvater und Urgroßvater geerbt hatte. Was für ein Glück, daß sie adlig gewesen waren. Da gab es wenigstens noch was zum Verhökern. Besser gesagt, hatte es gegeben. Eine einzige Sache war noch übrig. Mit ihr würde er diesen letzten Film bezahlen. Und was dann?
Jurij Fjodorowitsch betrachtete diese letzte Ikone und verfluchte sich. Wie oft hatte er als Kind und noch als Jugendlicher in diese unvergleichlichen, traurigen, alles verzeihenden Augen geblickt, und welch herrliche, klare Trauer hatte ihn dabei überkommen, was für eine Ruhe hatte ihn erfüllt! Er hatte sich buchstäblich aufgelöst in diesem Blick, war darin geschwommen wie in einem Ozean der Liebe und des Mitleids und erneuert und voller Kraft wieder daraus hervorgegangen.
Schon oft hatte man sie ihm abkaufen wollen, unglaubliche Summen versprochen, doch immer hatte er sich kategorisch geweigert. Er hatte immer gedacht, besser sterben als sich von diesem Wunder trennen.
Heute würde er die wundertätige Ikone verkaufen. Als Bezahlung für einen Mord.
* * *
Als Nastja nach ihrem ausgiebigen Spaziergang in der STADT wieder hinauf in ihr Zimmer ging, stellte sich ihr plötzlich ein großer dunkelhaariger Typ mit freundlichem Gesicht und bezauberndem Lächeln in den Weg.
»Guten Tag, mein Name ist Pawel. Mir ist aufgefallen, daß Sie gar nicht beim Frühstück waren. Haben Sie verschlafen?«
»Nein«, erwiderte Nastja ruhig. Wenn sie nicht wollte, dann war mit ihr kein Gespräch anzufangen, egal wie man es anstellte.
»Was dann? Diät?«
»Nein.«
»Ich kapier’ es einfach nicht!« Theatralisch griff sich Pawel an den Kopf. »Ah, ich hab’s. Sie haben woanders übernachtet. Stimmt’s? Aber sagen Sie jetzt bloß nicht ja, sonst brechen Sie mir das Herz. Meinen ganzen Mut habe ich zusammengekratzt, um Sie anzusprechen, und kaum traue ich mich – Fehlanzeige! Sagen Sie nichts, sagen Sie nichts, ich will nichts hören von anderen Verehrern, die mehr Erfolg haben. Ich lade Sie hiermit zum Mittagessen ein. Werden Sie kommen?«
»Nein.« Sie gab sich nicht einmal mehr die Mühe zu lächeln. »Ich komme nicht.«
»Wieso denn nicht? Sind Sie beschäftigt? Dann eben zum Abendessen.«
»Ich will nicht. Seien Sie so gut, lassen Sie mich bitte in Ruhe.«
»Ich lasse Sie ja schon. Aber ein Kompromiß: Sie erklären mir, warum Sie nicht zum Essen mitgehen wollen, und ich lasse Sie dafür in Ruhe. Abgemacht? Kommen Sie, wir setzen uns in die Sessel dort und reden.«
Nastja gab nach und ließ sich in einem der Sessel nieder, zuvor hatte sie eine Balkontür geöffnet und zündete sich nun eine Zigarette an. Der Typ nahm neben ihr Platz, sein Knie stieß leicht an ihren Schenkel.
»Also, ich höre. Wieso wollen Sie nicht mit mir Essen gehen?«
»Ich will nicht, und damit basta. Und wieso glauben Sie, ich müsse wollen? Hätte ich ja gesagt, hätten Sie auch nicht gefragt, warum. Hab’ ich recht? Sie unterstellen, daß irgend etwas zu wollen – normal sei, und etwas nicht zu wollen –etwas sei, das einer Erklärung bedarf. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?«
»Nein . . . Ich verstehe sowieso noch nicht ganz.«
»Was ist daran so unverständlich?« Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, streckte die Hand aus und schnippte die Asche hinaus auf den Balkon. »Ich habe mein eigenes Kurprogramm, meinen Tagesablauf, meine eigenen Pläne für den Tag. Und da kommt ein Wildfremder auf mich zu und schlägt mir vor, diese Pläne zu ändern. Wozu? Wegen eines kostenlosen Mittagessens? Ich habe genug Geld, um mich selber zu ernähren. Wegen interessanter Gesellschaft? Das bezweifle ich. Sie sehen nicht aus wie ein interessanter Gesprächspartner. Um die Zeit totzuschlagen? Mir ist aber überhaupt nicht langweilig, ich brauche keine Abwechslung. Also frage ich Sie, ist meine Ablehnung wirklich so unsinnig, daß sie einer Erklärung bedarf? Meiner Meinung nach hätte es Sie erstaunen müssen, wenn ich zugesagt hätte, nicht andersherum. Ist Ihre Frage damit beantwortet? Dann halten Sie jetzt Ihr Versprechen.«
»Welches Versprechen?« fragte Dobrynin etwas verwirrt.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Ihr Bekannter hat mir ja immerhin noch Geld dafür geboten, wenn ich mit ihm rede. Und auf was sind Sie aus? Auf mein unwiderstehliches Äußeres?«
Nastja stand auf. Ihr Gedächtnis hatte diesmal nicht getrogen: Pawel war im Speisesaal am selben Tisch gesessen wie dieser kleinwüchsige Gnom von gestern, der sie auf dem Spaziergang belästigt hatte.
»Er hat Ihnen Geld angeboten?« Pawel schien es fast die Sprache zu verschlagen, dann lachte er laut los. »Jetzt begreife ich, warum Sie ihm gesagt haben, er solle in die Klapsmühle. Ach je, Kolja! Dieser Einfaltspinsel!«
Nastja war jetzt etwas milder gestimmt. Die Situation begann sich zu klären und schien ihr fast zum Lachen.
»Hören Sie, mir scheint, Sie beide haben auf mich eine Wette abgeschlossen. Erraten?«
»Erraten.« Pawel kamen die Tränen vor Lachen. »Eine ziemlich ungewöhnliche Frau, die keinerlei Bekanntschaften machen will. Das reizt natürlich! Sie dürfen bitte nicht böse sein, ja? Wir hatten nichts Schlimmes im Sinn. Sechs Stunden lang harmlose Unterhaltung, nichts weiter. Übrigens, wir haben jeder zweihunderttausend auf Sie gesetzt. Wenn ich gewinne, bekomme ich auf einen Schlag vierhundert.«
»Sie spielen also zu dritt?«
»Ja.«
»Und wer ist der Dritte? Hat es womöglich Sinn abzuwarten? Womöglich ist er der schöne Prinz?«
»Er hat es bereits versucht bei Ihnen.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Sie haben ihn zurückgewiesen, stolz und unnahbar.«
»Welcher ist es? Helfen Sie mir auf die Sprünge.«
»Shenja, so ein sympathischer Blonder. Er arbeitet hier im Sanatorium als Elektriker.«
»Ah ja, jetzt weiß ich wieder.« Nastja schwieg eine Weile, zündete sich eine neue Zigarette an. »Treiben Sie dieses seltsame Spielchen schon länger?«
»Seit zwei Tagen. Wir haben erst gestern angefangen.«
Aber der Blonde in der Bar, das war vorgestern. Irgendwas paßt da nicht zusammen. Mein Gott, worüber ich mir bloß den Kopf zerbreche! Dabei müßte ich arbeiten. Übersetzen. Mich erholen. Mich kurieren. Statt dessen versuche ich weiterzumachen wie in Moskau. Sollen diese kleinen Buben doch herumalbern, was geht mich das an? Selbst wenn dieser Elektriker Shenja sie irgendwie hereingelegt hat, ist schließlich nicht mein Problem . . .
»Gut, junger Mann, frisch gewagt. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht zu Reichtum verholfen habe. Versuchen Sie auf eine Jüngere zu setzen. Bei mir hat es nicht mehr viel Sinn.«
Nastja hatte noch keine zwei Schritte gemacht, schon stolperte sie über Damir. Er war ganz bleich im Gesicht, sah besorgt aus.
»Nastja, hab’ ich dich endlich gefunden. Wo warst du? Komm schnell.«
Nastja folgte ihm. Sie begriff überhaupt nichts.
»Wo warst du nur? Den halben Tag suche ich dich schon.«
»Ich war spazieren in der STADT. Aber warum hast du mich gesucht?«
»Regina ging es nicht gut, ich wollte dich bitten, bei ihr zu bleiben. Ich bin sofort losgerannt, aber du warst verschwunden. Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht. Ich habe mich gestern schweinisch benommen, dich nicht mal bis zum Zimmer begleitet, und als ich dich heute morgen nicht antraf –kannst dir ja vorstellen, was mir da alles durch den Kopf ging.«
»Klar, ich wurde entführt von maskierten Banditen und in die Sklaverei verkauft. Damir, mach mich jetzt nicht verrückt. Wohin gehen wir?«
»Zu mir aufs Zimmer.«
»Und Regina Arkadjewna? Sie fühlt sich doch schlecht, hast du selbst gesagt. . .«
»Eine Krankenschwester ist bei ihr. Aber ich muß mit dir reden.«
Spinn ich oder was? Alle wollen mit mir reden. Was ist hier eigentlich los?
Damir hatte eine Zweizimmer-Suite ›Deluxe‹ im ersten Stock, ganz hinten. Neben Fernseher, Kühlschrank und Bar bemerkte Nastja noch ein Telefon auf dem Schreibtisch. ›Deluxe‹ ist eben ›Deluxe‹, dachte sie neidisch.
»Also, laß uns reden.« Vorsichtig ließ sie sich mit ihrem schmerzenden Rücken in einen tiefen Sessel sinken. »Was wolltest du mir sagen?«
Damir öffnete den Barschrank, nahm eine Flasche Martini dry heraus, hohe Gläser und Eiswürfel aus dem Kühlfach.
»Habe ich es mir richtig gemerkt? Du magst doch diesen Drink?«
»Stimmt genau. Ich bin gerührt. Aber könnten wir nicht zur Sache kommen?«
»Gleich.« Er streckte ihr ein Glas hin. »Dräng mich jetzt nicht. Was ich sagen möchte, fällt mir nämlich nicht leicht. Kurz. . . Als ich dich heute morgen nicht fand, bekam ich einen fürchterlichen Schreck, es könnte dir etwas passiert sein. Und dann bekam ich noch einmal einen Schreck, doch aus einem anderen Grund. Kannst du dir denken, weshalb?«
»Nein.«
Im Grunde konnte Nastja sich ungefähr vorstellen, was jetzt kommen würde, doch sie zog es vor, die Unwissende zu spielen.
»Ich bekam einen Schreck, weil ich begriff, daß ich mich mehr in dich verliebt habe, als ich dachte. Ich habe völlig den Kopf verloren. In ein paar Tagen fahre ich ab, vielleicht sehen wir uns niemals wieder. Aber du könntest diese wenigen Tage zu Glückstagen für mich machen. Und ich wiederum werde mir alle Mühe geben, damit dir diese Tage ebenfalls Freude bereiten.«
»Und wie hast du vor, mir Freude zu bereiten?« fragte Nastja neugierig. »Indem du mich mit Martini abfüllst? Oder hast du noch etwas in petto?«
»Ich mache alles, was du willst. Wenn du möchtest, führe ich dich zum Essen aus oder wir fahren ins Grüne, zum Picknicken . . . Etwas Konkretes vorzuschlagen fällt mir schwer, schließlich kenne ich deinen Geschmack überhaupt nicht. Was du auch sagst – ich werde es tun.«
»Würdest du mit mir auch in die Oper gehen?«
»In die Oper?«
»Ja. In ›Aida‹ oder den ›Troubadour‹.«
»Ich erkundige mich, was die nächsten Tage im Stadttheater gespielt wird . . .«
»Gib dir keine Mühe, ich habe mich bereits erkundigt. Von dem, was mich interessieren würde, läuft nichts. Was soll’s, aber kannst du vielleicht Preference?«
»Leider nein. Möchtest du Karten spielen?«
»Eigentlich nicht, aber es wäre eine kleine Ablenkung für abends. Du weißt selbst, daß ich weder ins Restaurant noch ins Grüne fahren werde. Erstens habe ich keine passenden Klamotten, ich bin ins Sanatorium zur Kur gefahren und nicht, um schick Essen zu gehen. Zweitens habe ich wenig Zeit, ich muß die Übersetzung machen. Drittens mache ich mir nichts aus Natur, ein Picknick ist keine Freude für mich. Also, was kannst du mir sonst noch vorschlagen?«
»Anastasija, machst du dich über mich lustig, oder bild’ ich mir das nur ein?«
Damir kniete sich neben Nastjas Sessel, nahm ihr vorsichtig das Glas aus der Hand und stellte es zur Seite. Von der Berührung seiner Hände begann in Nastja erneut das Eis zu schmelzen, doch diesmal beobachtete sie sich gleichsam von der Seite. Die analytische Maschine hatte sich eingeschaltet, auch wenn sich Nastja hartnäckig dagegen wehrte.
Damir küßte sie lange und heftig, und Nastja erwiderte den Kuß ebenso gekonnt und intensiv. Er zögert zu lange, dachte sie und spürte innerlich genau den Schlag des Metronoms, das die Situation kontrollierte. Ein Mann, der von Lust gepackt ist, müßte eigentlich längst weitergehen. Wenn er seine Hände jetzt auch noch auf meinem Rücken läßt und den Keuschen spielt, dann ist alles pure Heuchelei. Oder er hat Angst, mich abzuschrecken. Das hieße, es ist ernst. Offensichtlich braucht er mich wegen irgend etwas. Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn er dann immer noch nichts unternimmt, dann hat er einfach nichts begriffen und hält mich für eine alte Jungfer, die man erst lange bearbeiten muß. Was will so ein umwerfender. . . vier. . . Mann wie Damir . . . fünf . . . mit einer häßlichen alten Jungfer . . . sechs . . . wenn er so viel Geld hat. . . sieben . . . und so viele Freundinnen . . . acht. . . und mit der Potenz alles stimmt. . . neun . . . und er außerdem so herrlich küssen kann . . . zehn.
Sanft machte sich Nastja aus Damirs Umarmung los und griff nach ihrem Glas.
»Danke, Liebster, deine Küsse sind wirklich berauschend. Aber vielleicht sagst du mir jetzt, wozu du das alles arrangiert hast?«
»Wie kann ich dich bloß überzeugen?!« rief Damir traurig, was auf Nastja ziemlich ehrlich wirkte. »Lassen wir das erst einmal. Ich möchte dir meine Arbeit zeigen. Regina hat sie noch nicht gesehen. Willst du?«
Er schloß den Videorecorder an den Fernseher an und legte eine Kassette ein.
* * *
»Es gibt unvorhergesehene Komplikationen. Sarip ist verschwunden. Semjon, wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Ich habe ihn aus der Stadt hergebracht und im Häuschen abgeliefert. Hab’ ihm erklärt, daß er nicht raus darf, nirgendwohin, sonst könnte er alles kaputtmachen. Mir kam’s so vor, als hätte er das begriffen.«
»Wann war das?«
»Ungefähr gegen ein Uhr mittags. Vielleicht Viertel nach eins.«
»Ist danach noch jemand bei ihm gewesen?«
»Der Chemiker hat ihm das Essen gebracht, das war um drei. Um halb vier kam Kotik, aber da war Sarip schon weg.«
»Wir treffen folgende Entscheidung: Die Planung wird gestrafft. Mit Assanow fangen wir gleich heute an. Sagt ihm Bescheid. Sind die Mädels bereit?«
»Sie warten.«
»Wo ist Damir?«
»Auf seinem Zimmer.«
»Warum ist er nicht hier?«
»Die Kamenskaja ist bei ihm.«
»So ist das also . . . Die Kamenskaja irgendwohin schaffen, wo wir sie im Blick haben. Sie nicht aus den Augen lassen, bis wir diesen Psychopathen Sarip gefunden haben. Damir Bescheid geben, daß die Arbeit für Assanow heute gemacht werden muß. Was ist mit Marzew?«
»Der Schauspieler ist bereit.«
»Hervorragend. Gleich morgen früh die Bestellung von Marzew, und dann nichts wie weg.«
»Und Sarip? Was wird aus seiner Bestellung?«
»Sarips Bestellung fällt aus.«
* * *
Damir legte den Hörer auf und warf Nastja einen verzweifelten Blick zu.
»Verzeih, ich muß weg. Ich bin zum Arbeiten in die STADT gekommen, das darf ich nicht ganz vergessen. Du bist mir nicht böse?«
»Ich freue mich, daß ich endlich selbst zum Arbeiten komme. Ich habe seit heute früh noch keine Zeile übersetzt. Also alles in bester Ordnung.«
»Darf ich bei dir anklopfen, wenn ich wieder da bin? Ich hoffe, es wird nicht zu spät.«
»Du darfst.«
Nastja gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange.
»Komm, ich begleite dich. Dann kann ich gleich bei Regina reinschauen, wie es ihr geht.«
* * *
Regina Arkadjewna war bei bester Gesundheit, abgesehen von ihrem entzündeten Fuß, mit dem sie nicht einmal auftreten konnte.
»Weiß der Teufel«, brummte sie zornig, »eine kerngesunde alte Frau, das Herz einer jungen, und dann so was – völlig unbeweglich. Keinen Tee machen können, nicht mal bis ins Bad kommen. Daran ist der Herbst schuld. Wechselhaftes Wetter, der Luftdruck rauf und runter, mal warm, mal Frost – und mein lieber Fuß reagiert auf alles.«
»Ich bin nebenan und arbeite, Regina Arkadjewna. Ich gehe nicht weg, falls also etwas sein sollte, klopfen Sie an die Wand, dann komme ich«, bot Nastja ihr an.
»Danke, Nastjenka, Sie sind sehr gut zu mir.«
* * *
Im Pavillon liefen die Vorbereitungen für die Aufnahmen. Assanow befahl, zuerst Kategorie ›B‹ aufzunehmen, das helfe, ihn in Stimmung zu bringen. Er saß in der Ecke auf einem Sofa und versuchte, Vera zum Reden zu bringen, seine Lieblingspartnerin beim Filmen. Er hatte mit ihr bereits einen Film gemacht und war sehr zufrieden gewesen. Das Mädchen saß allerdings ziemlich mißgelaunt da und knackte schweigend Nüsse, die sie aus ihrer Jackentasche hervorholte. Dem Alten schenkte sie keine Aufmerksamkeit.
»Du bist kein Spielzeug«, bemerkte Assanow unzufrieden, »du bist eine Schauspielerin. Sei so gut und bring dich in Stimmung für die Aufnahme, sonst wird es nichts. Wir können nicht jede Einstellung endlos wiederholen, das weißt du doch.«
Plötzlich sprang Vera auf, rannte aus dem Pavillon im zweiten Stock und die Treppe hinunter. Ein Typ mit Brille, der beim Aufbauen geholfen hatte, stürzte ihr nach. Zwischen zweiter und erster Etage hatte er sie eingeholt, faßte sie ohne ein Wort um die Schulter und führte sie in ein leeres Zimmer, das früher offensichtlich einmal ein Kinderzimmer gewesen war.
Das Mädchen wurde von lautlosem Schluchzen geschüttelt.
»Aber, aber, Kleines, warum denn so verzweifelt? Das ist doch nicht das erste Mal. Noch ein bißchen durchhalten, es dauert doch nicht lange, wenn du dir ordentlich Mühe gibst — eine Klappe noch und Schluß. Alles in allem dreißig Minuten. Hm?«
»Ich will nicht mehr«, beharrte Vera unter Schluchzen. »Er ist widerlich, er ist alt. Nach dem letzten Mal habe ich noch zwei Monate nachts davon geträumt, wie er mich mit seinen runzligen Händen betatscht. Mit den anderen war es ja einigermaßen erträglich. Aber mit diesem . . . Ich kann ihn nicht mehr sehen.«
»Vera«, sagte der Typ mit der Brille mit flehender Stimme, »und was soll aus uns werden? Wir lieben uns doch, oder nicht? Wir wollen zusammen sein. Aber laut Gesetz müssen wir noch vier Jahre warten. Ganze vier Jahre! Bis die rum sind, werden wir ja verrückt. Wir haben uns das alles gemeinsam ausgedacht, um Geld zusammenzubekommen und ins Ausland zu fahren, wo wir miteinander leben können, und wo keiner danach fragt, wie alt du bist. Hast du das vergessen? Wir haben schon soviel beisammen, nur noch ein ganz kleines bißchen durchhalten. Komm, Kleines«, er begann sie zärtlich zu küssen, »meine Süße, bring dich in Stimmung, reiß dich zusammen. Wenn du willst, frag ich Damir, ob er unsere Musik macht, du weißt schon? Die wir zusammen gehört haben, am Sonntag, bei mir zu Hause, das war doch so schön. Du wirst die Musik hören und an mich denken. Und ich werde daneben stehen. Du machst die Augen auf – und siehst mich. Als ob ich es bin, der zu dir zärtlich ist. Hm? Komm, mein Schatz, komm, bist doch mein kluges Mädchen, tu es für uns.«
»Wieso kann man dem nicht sagen, es geht nicht!« rief Vera in ihrer Verzweiflung. »Warum muß seine Bestellung unbedingt gemacht werden! Es gibt doch auch noch andere Mädchen.«
»Er will keine anderen, er will dich.«
»Und wenn ich nicht will? Mit anderen meinetwegen, aber der . . .«
»Sag mal, weißt du etwa nicht mehr, wer dein Großvater ist?« Die Stimme des Typs wurde streng. »Wenn der Kunde verärgert ist, kannst du alles vergessen. Er verpfeift uns, und dein Großvater wird mich schlicht und einfach umbringen. Willst du das etwa?«
»Also gut, gehen wir.« Vera seufzte so bitterlich, daß es dem zynischen Chemiker im Herzen weh tat.
* * *
Sarip wanderte einsam durch den Wohntrakt des Sanatoriums in der Hoffnung, seine blondhaarige Schönheit anzutreffen. Er wußte nicht genau, was er tun würde, wenn er sie fand. Vielleicht direkt auf sie zugehen und sofort eine Liebeserklärung abgeben. Da würde sie nicht widerstehen können, keine Frau kann widerstehen, wenn sich einer offen zu seinen Gefühlen bekennt. Oder vielleicht stellt er sich ihr als Kinoregisseur vor und bietet ihr an, in einem Film mitzumachen. Alle Frauen wollen zum Film, jede träumt davon, daß sie eines schönen Tages auf der Straße von einem berühmten Regisseur angesprochen wird und eine Rolle angeboten bekommt. Das weiß er genau, das kann man ja in allen Romanen lesen. Vielleicht macht er es aber auch ganz anders. Er lockt sie irgendwohin an ein stilles Fleckchen, bietet ihr viel Geld, wie einer Edelnutte, fickt sie und macht das, wovon er schon so lange träumt. Ja, er würde sie erwürgen, ihr lange und leidenschaftlich die Kehle zudrücken und dann mit seinem ganzen Körper ihre letzten Zuckungen spüren . . . Ach, das wird geil! Nur, wo soll er sie suchen? Fragen, welche Zimmernummer sie hat? Er weiß ja nicht einmal ihren Namen. Und es soll sich auch besser niemand an ihn erinnern können, wenn man sie erdrosselt auffindet.
Seine Mama hatte zu ihm als Kind immer gesagt, er sei ein Dummkopf und die Frauen würden ihn später nicht lieben. Das stimmt doch gar nicht! Und wie sie ihn lieben! Weil er so stark ist und so schön, das haben alle Frauen gesagt, die sich ihm hingegeben haben. Stimmt schon, die sind alle um einiges älter gewesen, dick, dunkelhäutig, nicht besonders schön, einige auch betrunken. Aber sie haben ihn geliebt! Doch wovon er träumt, das ist eine junge, zarte, elegante, hellhäutige. Und er hat sie gefunden. Soll er jetzt etwa auf sie verzichten? Nein, nein und nochmals nein. Wie ein Schatten wird er durch diese Flure schleichen, bis er sie gefunden hat.
Bald ist Abendessen. Dann wird er von draußen durchs Fenster den Speisesaal beobachten. Zum Abendessen kommt sie ganz gewiß, und dort wird er sie sich dann endlich schnappen.
* * *
Nastja hörte, wie nebenan die Tür von Regina Arkadjewna ins Schloß fiel, und gleich darauf klopfte es bei ihr an der Tür. Es war Konstantin, zu dem Nastja immer zur Massage ging.
»Ich bitte um Verzeihung, Sie sind Nastja?« Er lächelte breit. »Ich heiße Konstantin. Sie erinnern sich, Ihr Masseur.«
»Aber ja doch, natürlich. Kommen Sie herein.«
»Nur auf einen Sprung. Ich war eben bei Ihrer Nachbarin, habe mir das Bein angesehen. Sieht schon viel besser aus, morgen wird sie wieder gehen können. Nun, sie bat mich, in den Speisesaal zu gehen, um der Bedienung auszurichten, man möge ihr das Abendessen aufs Zimmer bringen. Gleichzeitig sollte ich in Erfahrung bringen, ob Sie ihr nicht Gesellschaft leisten möchten.«
»Danke, nein, ich gehe in den Speisesaal«, erwiderte Nastja kühl. Also geht es doch los, dachte sie. Versucht es die Alte also andersherum, mich einzufangen. Zuerst ganz taktvoll, doch sobald sich ein Vorwand bietet, sich wie eine Klette an mich dranhängen.
»Entschuldigung, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber Regina Arkadjewna kann wirklich nicht einmal aufstehen. Sie ist sehr eingeschränkt in ihren Bewegungen und kommt vielleicht einfach nicht zurecht beim Essen.«
Nastja schoß das Blut in die Wangen. Wie herzlos bist du doch, sagte sie zu sich selbst.
»Natürlich, ich werde mit ihr zu Abend essen. Lassen Sie bitte mein Abendessen auch heraufbringen.«
* * *
Während des Abendessens war die Alte recht schweigsam und nervte Nastja nicht mit irgendwelchen Gesprächsthemen, wofür diese ihr dankbar war.
»Bedrückt Sie irgend etwas, Regina Arkadjewna?« Nastja mußte sich zu dieser Frage durchringen.
»Ja. Die Abhängigkeit vom Geld.« Die Alte mußte urplötzlich lachen. »Verstehen Sie mich richtig. Ich bin alt. Und außerdem noch Invalide. Sollte ich etwa nicht das Recht haben, mein Leben in Würde zu Ende zu bringen? Ein Leben lang habe ich gehinkt und mich dafür geschämt. Ein Leben lang habe ich mich, neben allem anderen, für mein Gesicht geschämt. Hat Damir Ihnen davon erzählt?«
Nastja nickte.
»Hätte ich in jungen Jahren Geld gehabt, wäre alles anders gekommen, aber darum geht es jetzt nicht. Was vorbei ist, ist vorbei. Jetzt hingegen, da ich endlich genug Geld habe, da mich, ohne zu übertreiben, die ganze STADT kennt, kann ich trotz allem keine passende Gefährtin finden, die mir das Gefühl gäbe, nicht hilflos zu sein, und mich nicht zu einer Last für meine Umwelt werden ließe. Ich habe jetzt sehr viel Geld, Nastjenka, schließlich bin ich ein hartgesottenes Weib«, sie lachte wieder, herzhaft und ansteckend. »Seit einige meiner Schüler internationales Ansehen genießen, rennen mir die Eltern die Türe ein, damit ich auch aus ihren Kinderlein Maestros mache. Und für Privatstunden nehme ich viel. Nicht weil ich geldgierig wäre, Nastjenka, sondern weil ich niemandem zur Last fallen möchte. Nur hier, im Sanatorium, wo ich kein Telefon habe und fernab von allem bin, mußte ich Sie belästigen. Wäre ich jetzt zu Hause, bräuchte ich nur zu pfeifen! Schon kämen sie gerannt, ob jung, ob alt, kochen, waschen, bedienen, aufs Klo führen, weil sie wissen: Ich zahle gut. Ich ertrage es nicht, wenn man mir aus Mitleid einen Gefallen tut! Doch manchmal denke ich: Was wäre, wenn ich diese Privatstunden nicht hätte? Was würde dann aus mir? Leider, meine Teure, muß ich feststellen, daß unser Leben nicht so eingerichtet ist, daß wir ein dauerhaftes Gefühl von Würde bekommen. Rede ich nicht viel zu verworren?«
»Nein, gar nicht. Ich jedenfalls habe alles verstanden. Wenn es Sie so sehr beunruhigt, daß ich Ihnen kostenlos behilflich bin und es Ihre Würde verletzt . . . Habe ich Ihren Monolog soweit richtig verstanden?«
»Sie sind sehr klug, Nastja, das muß man Ihnen lassen. Also, was weiter?«
»Schenken Sie mir Ihre Weintrauben. Die sind so schön, ich muß immer wieder hinsehen. Und bestimmt schmecken sie auch gut.«
* * *
»Für das Abendessen habe ich sie bei der kranken Zimmernachbarin untergebracht. Da kann sie mal ein bißchen Edelmut zeigen und sich um die kümmern. Hauptsache, sie geht nicht in den Speisesaal. Aber wie soll ich sie für den Rest des Abends auf dem Zimmer halten?«
»Wenn doch bloß Damir schon zurück wäre. Hast du im Pavillon angerufen?«
»Hab’ ich. Die haben mit der zweiten Bestellung angefangen, Kategorie ›B‹. Ich müßte eigentlich auch längst hin, aber dieser Sarip. . .«
»Kontrolliere das Gebäude noch mal von außen. Vielleicht versucht er, sie von außen durch die Fenster im Speisesaal zu entdecken. Dem ist alles zuzutrauen.«
»Wird gemacht.«
* * *
Wlad hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Flink sprang er in der Küche von dem hohen Hocker und schaute in den Flur. Neben Semjon stand ein hübsches Mädchen mit kastanienbraunem, gewelltem Haar. Sie trug ein etwas altmodisches, strenges Kleid, hatte aber lässig eine hellgraue Glacelederjacke übergeworfen.
»Darf ich bekanntmachen. Swetlana, das ist Wlad, dein Filmpartner. Wir haben den Aufnahmeplan etwas gestrafft, damit ihr schneller fertig seid. Die Aufnahmen sind morgen früh, also bereitet euch heute noch anständig vor.«
Semjon öffnete einen Aktenkoffer und entnahm ihm einen Kassettenrecorder und einige maschinenbeschriebene Blätter Papier.
»Hier, das Drehbuch. Ist ganz simpel, ihr werdet schon sehen. Das Wichtigste ist die musikalische Gestaltung. Wlad, dir haben sie bereits erklärt, worauf es ankommt. Die Musik dauert exakt dreißig Minuten, die Handlung muß diesem Zeitrahmen angepaßt sein. Achtet auf die Großaufnahmen. Normalerweise wird diese Vorbereitung bei uns gemeinsam mit dem Regisseur gemacht, aber da du ja ein Profischauspieler bist, Wlad, dürftet ihr, glaube ich, allein zurechtkommen.«
»Tun wir«, brummte Wlad und kletterte wieder auf seinen Hocker.
»Bist du wirklich ein echter Profischauspieler?« fragte Swetlana neugierig, als Semjon die Tür hinter sich zugezogen hatte.
»Wie, sehe ich etwa nicht so aus? Du glaubst wohl, die Kleinen taugen nur für den Zirkus?« antwortete er erbost. »Willst du auch einen Tee?«
»Gern.« Swetlana wollte sich möglichst anpassen. »Warum bist du gleich so böse? Darf man nicht mal mehr fragen? Ich hab’ so Kleine wie dich einfach noch nie gesehen.«
»Jetzt hast du einen gesehen. Machen wir uns an die Arbeit. Her mit dem Recorder, wollen wir uns mal anhören, was die da zusammenkomponiert haben.«
Je länger die Kassette lief, um so seltsamer wurde es Wlad zumute. Er hatte das Drehbuch noch nicht gelesen und versuchte, sich anhand der musikalischen Begleitung vorzustellen, wie die Handlung verlief. Hinter dem trügerisch schönen, zarten Hauptthema war eine wachsende Spannung zu erahnen, die eine allesverschlingende Liebe in tödlichen Haß umschlagen ließ und nach einem tragischen Ende verlangte, einer verheerenden Zerstörung.
Swetlana hörte nicht besonders aufmerksam zu, sie betrachtete die Geschirrschränke an den Wänden, schlürfte ihren Tee, knabberte Kekse. Als die Musik abbrach, drückte Wlad auf Rewind.
»Noch nicht genug gehört?« fragte das Mädchen spöttisch.
»Hast du das Drehbuch schon gelesen?« fragte Wlad ausweichend.
»Nee«, meinte sie sorglos gelangweilt. »Wozu? Die haben mir doch schon gesagt, daß es um den Ödipuskomplex geht. Mama schimpft immer mit ihrem Sohn, und aus Rache träumt er davon, sie zu vergewaltigen. Bah, was für ein elender Mist.« Sie schüttelte sich angewidert. »Aber mit dir könnte es sogar interessant werden. Ich habe es noch nie mit einem Liliputaner gemacht.«
»Halt die Schnauze, blöde Kuh«, fuhr ihr Wlad grob über den Mund. »Spar dir den Humor für deine Bettgesellen. Hier wird gearbeitet.«
Swetlana blickte ihren Partner erstaunt an, dann ging sie zu ihm hin, nahm ihn in den Arm und drückte in mütterlicher Geste seinen Kopf an ihre Brust.
»Hey, Junge!« meinte sie zärtlich. »Laß uns Freunde sein, hm? Eben erst kennengelernt und schon motzen. Wir sollen Vater-Mutter-Kind spielen, also tun wir es auch. Haben sie dir eigentlich gesagt, wozu sie so einen bescheuerten Film drehen?«
»Angeblich ein Lehrfilm für ein psychiatrisches Institut.«
Wlad schloß die Augen und vergrub seinen Kopf zwischen ihren weichen Brüsten, er atmete den warmen Geruch von Körper und Parfum ein.
Mir haben sie aber ganz was anderes gesagt, dachte Swetlana. Es soll ein gewöhnlicher Porno für Liebhaber von Exotischem werden. Und sie haben mich extra vorgewarnt, ich solle ihm vorher nichts sagen. Sieht aus, als ob sie recht hätten. Dieser Wlad ist so was von böse, voller Komplexe, daß er vor Schreck vielleicht nichts mehr auf die Reihe bringt. Der ist doch drogensüchtig. Morgen vor der Aufnahme setzt er sich einen Schuß – und alles läuft wie geschmiert. Der wird nicht einmal mehr wissen, daß er Liliputaner ist.
Zuerst überflog Wlad das Drehbuch, dann las er es noch einmal genauer. Dieser Dicke, der mit Semjon am Flugplatz gewesen war, hatte nicht gelogen: Eine solch herzzerreißende Mischung aus Liebe und Haß konnte kein Kind spielen. Das Drehbuch stammte nicht von einem Schriftsteller, sondern von einem Regisseur, exakt angegeben waren die Totalen, die Halbtotalen, die Zooms, die Kamerafahrten. Jetzt mußte man versuchen, Musik und Handlung zusammenzubringen.
Er schaltete den Recorder wieder ein und ging nun gleichzeitig den Text durch, machte sich mit Bleistift Anmerkungen. Swetlana sah ihn bewundernd an und versuchte, nicht zu stören. Sie lauschte der Musik – es war schön, sogar erregend. Zu so einer Musik würde es wahrscheinlich sogar Spaß machen . . . Sie hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hob Wlad den Blick und sah sie irgendwie schief lächelnd an.
»Laß uns proben. Wir sitzen am Tisch, du gießt Tee ein und fragst mich über die Schule aus.«
»Und was soll ich fragen?«
»Schau den Text an, da steht alles. Achte auf die Anmerkungen, am Rand ist die Zeit in Minuten angegeben. Hier, ich leg’ meine Uhr auf den Tisch, paß auf, daß die Zeiten stimmen.«
»Was soll denn das, so kompliziert!« Unwillig schüttelte Swetlana ihr schönes Köpfchen.
»Tu, was man dir sagt.« Wlads Tonfall wurde wieder böse, und sie schluckte. »Die Handlung läuft unter Musikbegleitung, kapiert? Also vorwärts.«
Sie probten ein paar Mal und landeten bei vierundzwanzig Minuten.
»Immer noch ein Stück Musik übrig«, bemerkte Wlad. »Ist die für den Abspann, oder was?«
»Wahrscheinlich.« Swetlana zuckte mit den Achseln. Sie wußte ja, was in den restlichen sechs Minuten passieren sollte, und machte sich keine großen Sorgen.
»Wer die Musik geschrieben hat, weißt du nicht? Die ist wahnsinnig gut, kannst du mir glauben. Ich kenn’ mich da aus.«
»Keine Ahnung. Was spielt das schon für eine Rolle? Von Musik kenn’ ich nur, was eben so läuft in den Kneipen. Stell sich das einer vor, Musik zu einem Kurzfilm!«
»Sag das nicht«, meinte Wlad nachdenklich. Er konnte in der Tat bei Musik nicht einfach unbeteiligt bleiben, er mußte zuhören, und unter Drogen war die Wahrnehmung noch intensiver. Das war keine simple Musik, und der, der sie geschrieben hatte, war kein einfacher Musiker, soviel konnte er beschwören. Allerdings beunruhigten Wlad die verbleibenden sechs Minuten, für die es irgendwie keine Handlung gab.
»Wann wollten sie dich abholen?« fragte er Swetlana.
»Um zwölf, haben sie gesagt. Und wenn sie bis Viertel nach nicht da sind, dann solle ich hier übernachten. Sie hätten irgendwelche Probleme wegen einer Reparatur oder wegen Benzin.«
»Und wie sollen wir das anstellen mit dem Übernachten?« fragte Wlad, und seine Augen funkelten mißtrauisch. »Es gibt nur ein Zimmer und nur ein Sofa.«
»Ach, mach dir mal nicht ins Hemd, ich freß dich schon nicht. Dann schlafe ich eben auf dem Boden, wenn du solche Angst hast.«
Gut, daß die mich vorgewarnt haben. Der fürchtet normale Frauen wie der Teufel das Weihwasser. Hat wahrscheinlich immer nur mit Liliputanerinnen gelebt, und da bin ich für ihn ein richtiger Gulliver. Ist ja ein Witz: Zum ersten Mal hat ein Mann Angst davor, mit mir eine Nacht zu verbringen. Wie schaffe ich das bloß morgen mit dem? Na ja, soll nicht mein Problem sein. Wird schon irgendwie laufen.
* * *
»Habt ihr Sarip?«
»Noch nicht. Da sind wir ja schön in was hineingeraten: Da rennt ein Verrückter durchs Sanatorium, ist hinter einer von der Kripo her, und wir können nicht mal zur Polizei gehen. Wenn die ihn schnappen, verpfeift er uns alle.«
»Was habt ihr für einen Vorschlag? Denk nach, Kotik, denk nach, die Uhr läuft. Wie sieht’s im Pavillon aus?«
»Die sind bald fertig. Semjon ist vor einer Stunde hingefahren. Wenn alles ohne Verzögerungen abgeht, sind er und Damir bald zurück. Wenn bloß die Kamenskaja solange auf dem Zimmer bleibt, dort kann Damir sie dann übernehmen. Der scheint was mit ihr zu haben.«
»Gefällt mir gar nicht. Vielleicht ist es genau andersherum, und sie hat was mit Damir? Auf die Idee bist du noch nicht gekommen?«
»Könnte zwar sein, sieht aber nicht danach aus. Nicht sie hat ihn sich ausgesucht, er ist ihr nachgelaufen.«
»Und wenn es doch nur so aussieht? Und der Schein trügt? Sie ist clever genug, um einen, auf den sie es abgesehen hat, hinter sich herlaufen zu lassen. Doch abgesehen davon, was machen wir mit Sarip?«
»Wir müssen abwarten. Wir haben mehrere freie Leute, ich könnte sie anfordern, damit sie beim Suchen helfen, aber nur Semjon, Damir und ich wissen, wie Sarip aussieht. Selbst Sie haben ihn noch nie gesehen.«
»Und wenn sie auf die Idee kommt, einen Nachtspaziergang durch den Park zu machen?«
»Das wäre sogar besser. Wenn Sarip ihr nachschleicht, haben wir ihn sofort. Wir sind doch immer in ihrer Nähe, allein lassen wir sie nicht weg. Hauptsache, sie merkt nichts.«
»Das ist am schwierigsten. Die hat ihre Augen überall, und ihre Ohren scheinen auch gut zu sein. Paß bloß auf, Kotik, du bist unsere einzige Hoffnung. Haben Semjon und Damir immer noch keine Ahnung, daß sie von der Kripo ist?«
»Sollten sie eigentlich nicht. Außer, natürlich, sie selbst hat es Damir verraten.«
»Gott behüte, Kotik. Gott behüte.«
* * *
Auch nachdem das Mädchen von Kopf bis Fuß gewaschen und in saubere Kleider gesteckt worden war, sah es immer noch nicht wie ein Unschuldsengel aus. Ihr Blick war verschlagen, und wenn sie den Mund aufmachte, zog es einem die Schuhe aus. Sie hatte ein reichliches Herumtreiberleben geführt, nachdem ihre dem Suff verfallenen Eltern sie vor einem Jahr ausgesetzt hatten. Während dieser Zeit hatte sie gelernt, sich selber zu ernähren, indem sie Zugreisende in den Männerklos am Bahnhof bediente, und zwar so geschickt, daß sie bisher noch kein einziges Mal von der Polizei aufgegriffen worden war. Sie blieb nie lange in ein und demselben Bahnhof, fuhr schwarz mit der Bahn von einer Stadt in die nächste.
In der STADT hatte sich ein guter Onkel gefunden, der ihr Essen versprach und Geld und ihr zusätzlich auch neue Kleider kaufen wollte, wenn sie seinem Freund zu Diensten sei, und zwar nicht in einem stinkenden Bahnhofsklo, sondern in einem schönen sauberen Zimmer. Aber war es nicht sowieso egal? Natürlich hatte sie gelogen, sie sei vierzehn, damit der Onkel nicht erschrak, daß sie noch ein Kind war, und alles rückgängig machte. In Wirklichkeit war sie nämlich vor kurzem erst zehn geworden. Sie sah, daß der Onkel ihr nicht glaubte. Aber egal. Hauptsache, er zahlte. Gestern hatte er sie in sein Auto gesetzt, sie zu irgendeinem öffentlichen Bad gefahren, ihr befohlen sich ordentlich zu waschen, und dann hatte er ihr noch erlaubt, in dem großen Becken zu schwimmen. Das war toll! Außerdem hatte er versprochen, ihr echte Lederhosen zu kaufen, einen roten Pulli, der bis zu den Knien ging, und eine schöne glänzende Haarspange. Und für die ›Ar-beit‹ sollte sie ein traumhaftes schwarzes knöchellanges Kleid anziehen, solche hatte sie schon mal in einem Film übers letzte Jahrhundert gesehen.
»Komm her«, rief ein gutaussehender großer Mann mit dunklen Augen und freundlichem Lächeln. »Wir beide spielen jetzt eine kleine Szene. Siehst du das Kruzifix an der Wand?«
Sie nickte und sah sich neugierig um. Im Zimmer stand ein Haufen Zeug herum, irgendwelche Lampen und Kabel, aber das kümmerte das Mädchen nicht. Wenn sie es auf dem Bahnhof konnte, zwischen Gepäck und Koffern und überquellenden Abfalleimern, warum dann nicht auch zwischen lauter Scheinwerfern und Kabeln?
»Hast du schon mal gesehen, wie man betet? Man faltet die Hände so, kniet sich hin, sieht zum Kruzifix auf, und sagt leise für sich irgendeinen Spruch auf. Hast du verstanden?«
»Ja.« Sie machte sofort alles, was ihr gesagt wurde.
»Kluges Mädchen. Du bist die geborene Schauspielerin«, lobte sie der Dunkeläugige. »Jetzt hör zu, wie es weitergeht. Ins Zimmer kommt ein älterer Mann, er ist dein Vater. Aber das weißt nur du, er nicht. Keiner hat es ihm gesagt. Er glaubt, du bist einfach ein hübsches Mädchen, er verliebt sich in dich und will dich heiraten. Du weißt doch, daß man nicht seine eigene Tochter heiraten darf?«
»Natürlich weiß ich das. Die Kinder werden sonst Mißgeburten.«
»Stimmt genau. Er wird dich darum bitten, aber du weigerst dich.«
»Aber vielleicht sollte ich ihm sagen, daß er mein Papa ist? Dann checkt er es gleich«, war der praktische Vorschlag des Mädchens.
»Nein, genau das ist es ja. Das soll so ein Spiel sein. Du weigerst dich, obwohl du ihn liebst, du willst es ihm doch schön machen. Auch wenn heiraten nicht geht, alles andere geht schon, oder nicht?«
»Na klar«, erklärte die Streunerin bestimmt, die sowieso eine ziemlich unklare Vorstellung davon hatte, was man durfte und was nicht. »Ich bemühe mich, es ihm zu konpem . . . konmen . . . zu kompensieren«, mit Mühe brachte sie das erst kürzlich aufgeschnappte Wort heraus, »damit er nicht traurig ist, daß wir nicht heiraten können.«
»Sehr gut!« Der Mann war sichtlich zufrieden. »So ein schlaues Mädchen wie dich findet man selten. Laß uns anfangen.«
Das Mädchen machte alles so, wie man es ihr gesagt hatte. Nachdem sie sich hingekniet und die Hände vor ihrer Brust gefaltet hatte, schloß sie die Augen und sang leise für sich das Liedchen vom ›Kätzchen und dem Spätzchen‹. Dann tauchte der Alte auf, der so tat, als sei er ihr Vater, und quatschte irgendwas von Liebe. Sie tat so, als ob sie sich eine Weile zierte, dann leckte sie sich lüstern die Lippen, ging zu dem Alten und begann, ihm die Hose aufzuknöpfen. Der Alte war überhaupt nicht widerlich, viel besser als die besoffenen groben Kerle auf dem Bahnhof, die immer aus dem Mund stanken, nach Alkohol und verfaulten Zähnen.
Sie machte es wie immer und begriff im ersten Moment gar nicht, wieso der Alte sie plötzlich an den Haaren packte und sie ins Gesicht schlug. Sie hatte ihm doch nicht weh getan? Vielleicht würde er deswegen jetzt nicht zahlen?
Mühsam wieder hochkommend und die hervorschießenden Tränen wegblinzelnd, preßte sich das Mädchen an den Alten, schlang die Arme um ihn.
»Du Hure!« schrie er. »Kleine Nutte! Fotze!«
Was danach kam, verstand sie nicht mehr. Der Alte brüllte sie an, knallte ihr die Faust ins Gesicht, schlug sie mit einer von irgendwoher aufgetauchten Peitsche. Das letzte, was die kleine Streunerin in ihrem liederlichen kurzen Leben sah, war ein hoch über sie erhobenes Messer und die riesigen schrecklichen Augen des Alten. . .
* * *
»Das Mädchen in den Keller, die Arbeit sauber zu Ende machen, mit Vertonung«, sagte Semjon zu dem Typen mit Brille, der den Spitznamen Chemiker trug. »Für morgen früh alles vorbereiten für die neuen Aufnahmen, um acht fangen wir an. Damir und ich müssen jetzt zurück. Für heute kommst du auch ohne mich klar.«
»Na klar«, brummte der Chemiker mißmutig. »Die Drecksarbeit bleibt immer an mir hängen.«
Semjon stellte sich dicht vor ihn hin und packte ihn fest an der Schulter.
»So was will ich nicht noch einmal hören, Freundchen. Bei uns bekommt jeder das seine: Damir – fürs Talent, ich – fürs Risiko, und du – für die Drecksarbeit. Es hat sich nun mal so ergeben, daß du am wenigsten bekommst. Uns blüht die Höchststrafe, aber du wirst wohl am Leben bleiben. Wir sind die Organisatoren, du machst nur den Dreck weg. Soweit geschnallt?«
»Schon gut«, heftig stieß der Chemiker Semjons Hände weg. »Du erzählst gern Märchen. Wenn dir und Damir die Höchststrafe blüht, was kriegt dann euer Makarow? Höher als Höchststrafe gibt es nicht.«
Semjon warf dem Typen einen bösen Blick zu und ging schweigend hinaus. Mit dem müßte er noch ein ernstes Wörtchen reden, aber ein andermal. Jetzt war keine Zeit.
* * *
Sie ließen den Wagen vor dem Häuschen stehen und kontrollierten noch einmal alles: leer, Sarip war weg. Langsam und vorsichtig, darauf bedacht, nicht unter die Laternen zu kommen, liefen Semjon und Damir Ismailow in Richtung Hauptgebäude. Plötzlich packte Damir Semjon am Arm.
»Da ist sie!«
Vor dem Eingang sahen sie noch kurz eine grellblaue Jacke, dann war sie um die Ecke verschwunden.
* * *
Nastja wollte vor dem Schlafengehen noch Luft schnappen und überlegen, wie sie sich weiter verhalten sollte. Zum Beispiel, wenn Damir wieder bei ihr vorbeischaute. Freilich war es mehr als verführerisch, seinen Überredungskünsten nachzugeben, alles zu vergessen und sich Hals über Kopf in eine kurze Liebesaffäre zu stürzen. Und was hätte sie davon? Amüsement? Darauf konnte sie verzichten. Das, was ihr Vergnügen bereitete, konnte Damir ihr nicht geben. Bett? Langweilig. Er war bestimmt ein guter Liebhaber, wahrscheinlich sogar ein sehr guter, na und? Noch ein guter Liebhaber mehr in ihrem Leben. Mehr aber auch nicht. Nastja dachte sich, daß wenn sie mit irgend etwas kein Glück gehabt hatte im Leben, dann jedenfalls bestimmt nicht mit Männern. Viele waren es nicht, doch enttäuscht war sie nach keinem gewesen. Und überhaupt, Ljoscha reichte ihr vollkommen. Was könnte Damir ihr sonst noch bieten? Komplimente? Ljoscha kam nie eines über die Lippen, das stimmte schon, doch Nastja brauchte das gar nicht, sie war viel zu rational, um schönen Worten zu glauben und Wert darauf zu legen.
Ihr wurde etwas unwohl zumute. Als beobachte sie jemand von hinten. Sie zog ein wenig die Schultern ein und kehrte zu ihren Gedanken zurück.
Andererseits könnte Damir einen interessanten Gesprächspartner abgeben. Schade, daß sie den Film, den er ihr zeigen wollte, nicht zu Ende gesehen hatten. Es war ein Film über einen blinden alten Mann, der sich mit der Außenwelt mit Hilfe von Tönen verständigt. Sein Enkel beschreibt ihm verschiedene Gegenstände, Bilder, Dinge in der Natur, und der Alte sagt: »Ich verstehe nicht. Spiel sie mir vor.« Der Enkel lernt zuerst Klavierspielen, dann Geige, seine musikalische Ausdrucksweise wird immer ausgeprägter, bildhafter, und schließlich sagt der Alte: »Ich sehe es.« Was dann noch folgte, hatte Nastja nicht mehr gesehen, aber daß der Film meisterhaft gemacht war, davon hatte sie sich überzeugen können. Nicht nur die Regie ließ Talent erkennen, auch die Musik war ungewöhnlich und interessant, und die schauspielerische Leistung hervorragend. Wenn sich die Beziehung zu Damir auf eine Diskussion über seine Arbeit beschränken ließe, wäre das einfach optimal, genau das, was Nastja brauchte: Analysen anstellen, alle Nuancen ausleuchten, Gesetzmäßigkeiten ableiten. Doch es war lächerlich zu hoffen, daß er bei so etwas mitmachte.
Irgend etwas störte sie beim Nachdenken. Irgendwelche fremden Geräusche . . . Sie blieb stehen, lauschte. Nein, alles still. Woher dann diese innere Unruhe?
Einige Schritte vor sich sah sie auf einer Parkbank eine reglose Gestalt sitzen. Als sie näherkam, erkannte sie ihren glücklosen Verehrer wieder, der ihr Geld angeboten hatte. Wie hieß er gleich noch, was hatte Pawel gesagt? Kolja?
»Guten Abend, Kolja«, sagte sie fröhlich. »Haben Sie jemand gefunden, dem Sie Ihre fünfzigtausend schenken können?«
»Nein, habe ich nicht«, gab er ebenso fröhlich zu, ohne im geringsten verlegen zu sein. »Setzen Sie sich doch, rauchen wir eine. Gestern habe ich wegen Ihnen einen Hunderter verspielt, heute habe ich ihn zurückgewonnen. Also im Prinzip nichts verloren.«
»Wie das?« wunderte sich Nastja, während sie sich zu ihm setzte und eine Zigarette nahm.
»Gestern abend war der Einsatz hunderttausend, und ich habe sie schändlich verspielt. Heute waren bereits zweihundert auf Sie gesetzt, Pawel ist abgeblitzt, und seine zweihunderttausend haben mein Partner und ich geteilt.«
»Nicht schlecht.« Nastja pfiff durch die Zähne. »Und wenn sich morgen noch ein Kamikaze findet, der es versuchen möchte, mich Widerspenstige zu zähmen?«
»Der nächste Einsatz ist vierhundert. Der Preis steigt proportional mit der Schwierigkeit der Aufgabe. Was meiner Ansicht nach nur gerecht ist.«
»Meiner Meinung nach auch. Wer hat sich denn dieses geniale System ausgedacht? Shenja? Oder Pawel?«
»Shenja. Moment mal, kennen Sie Shenja etwa?«
»Aber natürlich. Der hat schon versucht, mit mir anzubändeln, bevor er Sie beide in dieses Geschäft mit hineingezogen hat. Aber seien Sie nicht traurig, Kolja, bei ihm hat es auch nicht geklappt.«
»Ich dachte mir, selber macht er nichts, aber uns immer ausfragen, was wir alles über Sie wissen, sowohl Pawel wie auch mich. Buchstäblich jede Kleinigkeit: Wohin hat sie sich umgedreht, zu wem hat sie hingesehen, was hat sie gesagt. Dieser Fuchs, dieses Schlitzohr! Keinen Ton hat er davon gesagt.«
Die analytische Maschine begann zu arbeiten, ein greller Blitz schoß durch die Leitungen und brachte Achsen und Zahnräder zum Laufen. Wie angestochen sprang Nastja auf.
»Ich muß los, verzeihen Sie. Gute Nacht, Kolja.«
Schnell lief sie durch die Allee zurück. Sogleich kam ein körperloser Schatten hinter den Bäumen hervor und folgte ihr. Kolja Alferow merkte nichts davon. Er tastete die Bank nach seinem weggelegten Handschuh ab und fand dabei zufällig die Zigarettenschachtel, die Nastja zurückgelassen hatte. Er nahm sie und rannte los in die Richtung, in die Nastja verschwunden war, wollte schon den Mund aufmachen, um ihr nachzurufen, als er am Ende der Allee eine große männliche Gestalt erblickte. Der Mann rief laut:
»Nastja! Anastasija!« und winkte.
Kolja sah, wie die blaue Jacke auf die männliche Gestalt zuging, wie diese mit herrischer Geste den Arm um Nastja legte, sie an sich drückte und in Richtung Gebäude führte. Mechanisch schob er die fremden Zigaretten in die Tasche und hörte im selben Moment ein seltsames Geräusch – ein Röcheln oder unterdrücktes Husten. Er sprang darauf zu, schob das Gebüsch zur Seite und stand Angesicht zu Angesicht vor einem, den er am allerwenigsten hier erwartet hätte.
»Du?! Was machst du denn hier . . .«
* * *
Shenja Schachnowitsch machte sich zu Starkow auf, um Bericht zu erstatten. Endlich hatte er auch etwas zu berichten. Die vier Monate Wartezeit waren nicht umsonst gewesen. Es begann sich etwas abzuzeichnen.
Er war zufrieden, daß er mit der sommersprossigen Rotblonden die Richtige ermittelt hatte. In der ›Doline‹ gab es zehn Zweizimmer-Suiten ›Deluxe‹, sie alle unter Kontrolle zu haben, war allein schon physisch unmöglich, aber der geheimnisvolle Makarow, wenn er denn auftauchte, würde natürlich in einem Luxusappartement wohnen. Passenderweise wohnte die Rotblonde neben einer ›Deluxe‹ im ersten Stock, und ausgerechnet in diese ›Deluxe‹ kam die rätselhafte Kamenskaja, die alle auf Distanz hielt und zu niemandem Kontakt hatte. Das hieß, er war auf der richtigen Spur.
Außerdem waren gestern endlich Autos mit auswärtigen Nummernschildern aufgetaucht. Shenja hatte alle Nummern und die Automarken sorgfältig notiert. Allerdings waren fast alle Wagen bis auf einen nach kaum einer Stunde schon wieder abgefahren. Es lief überhaupt nicht so ab, wie Starkow es beschrieben hatte, als er ihm den Auftrag gab. War aber auch verständlich, schließlich hatte Starkow seine Informationen ebenfalls nur aus dritter Hand. Es wäre seltsam gewesen, wenn alles ohne Abweichungen vor sich gegangen wäre. Aber dafür wußte Shenja ja jetzt genau, wie es ablief. Nur müßte man noch wissen, was eigentlich ablief. Doch alles schön der Reihe nach.
Shenja sah auf die Uhr: bald Mitternacht. Starkow erwartete ihn um halb zwei, er hatte also noch Zeit. Shenja wohnte in einer Personalwohnung in einem dieser kleinen zweistöckigen Häuser auf dem Sanatoriumsgelände. Das war für alle praktisch: für Shenja, weil es seine ständige Anwesenheit in der ›Doline‹ rechtfertigte, und fürs Sanatorium, weil Tag und Nacht ein hervorragender Elektroinstallateur verfügbar war.
Schachnowitsch ordnete seine Notizen, sah sie noch einmal durch, sagte sie sich mit geschlossenen Augen mehrmals vor, bis er zufrieden war, dann zerriß er die Zettel und verbrannte sie im Küchenspülbecken. Er trank noch einen Kaffee und aß ein paar belegte Brote, kochen mochte er nicht. Dann warf er sich seine Jacke über und verließ die Wohnung.
* * *
Swetlana Kolomiez schlummerte friedlich auf dem Sofa. Der Wagen, der sie abholen sollte, war doch nicht gekommen. Wlad hatte ihr zuvorkommend den bequemeren Schlafplatz abgetreten, sich selbst auf den Boden gelegt, jedoch nicht einschlafen können. Leise war er wieder aufgestanden, ins Bad gegangen, hatte sich einen Schuß gesetzt und war dann in die Küche geschlichen, wo er zuerst die Tür zum Zimmer fest zugezogen und dann den Kassettenrecorder eingeschaltet hatte. Anfangs hatte er versucht, im Drehbuch mitzulesen und es mit der Musik abzugleichen, denn immer noch ließen ihm diese sechs Minuten, für die es keine Handlung gab, keine Ruhe. Er hatte hin und hergerechnet und einige Szenen in die Länge zu ziehen versucht, aber dadurch waren sie nur aus dem Vertonungsschema herausgefallen. Am Ende hatte er einfach die Augen geschlossen und zugehört.
Ungefähr zwei Stunden waren vergangen, als er den Recorder ausschaltete. Er fühlte sich jetzt innerlich klar und ruhig. Er wußte jetzt Bescheid.
Er ging hinüber ins Zimmer, setzte sich auf die Sofakante und begann Swetlana über den Kopf zu streicheln. Sofort war sie hellwach, als hätte sie gar nicht geschlafen.
»Was ist los? Kannst du nicht schlafen? Willst du zu mir?« Auffordernd streckte sie die Hand aus.
»Du darfst mich nicht anlügen, Sweta«, sagte Wlad ganz langsam. »Es ist sehr wichtig. Versprich, daß du die Wahrheit sagst.«
»Gut, ich versprecht. Was ist passiert?«
»Haben sie dir gesagt, was am Ende des Films passiert?«
Sie blieb stumm. Dieser Blödmann, warum beschäftigte ihn das so? Sie hatte ihr Wort gegeben, ihn nicht anzulügen. Aber auch den anderen hatte sie versprochen, nichts zu sagen. Mein Gott, sowas Albernes, wie im Kindergarten: Das erste Wort galt mehr.
»Ich frage dich, Sweta«, Wlads Stimme klang erschreckend monoton, »haben sie dir gesagt, was in den letzten sechs Minuten passiert?«
»Ja, sie haben es mir gesagt, ja«, platzte sie wütend heraus. »Ficken werden wir beide, einen Porno machen. Hättest du dir das nicht denken können? Ist ja nun wirklich kein Staatsgeheimnis.«
»Nein, Sweta, die haben dich angelogen. Sie werden dich töten.«
Er sagte das so einfach, daß Swetlana ihm aufs Wort glaubte.