Jumar, sehend

Ja, und dann sahen sie es. Es war ganz erstaunlich.

Christopher hätte hinter der Wegbiegung so ziemlich alles erwartet – aber nicht das, was sie dort fanden.

Die senkrechte Felswand hörte abrupt auf, und sie stiegen einen verschneiten Hang hinauf, und dort, auf einer ebenen Fläche über ihnen, war eine Gruppe von kleinen Jungen in tiefroten Gewändern vertieft in ein Fußballspiel.

Christopher blinzelte, aber sie spielten wirklich Fußball. Am Rand des Spielfeldes blieben sie stehen, und er sah auf Niyas Gesicht die gleiche Verwunderung, die auch er fühlte.

Vier hölzerne Pfosten markierten die Tore zu beiden Seiten, und der Fußball war kein Fußball, sondern eine eng gewickeltes, buntes Stoffknäuel. Aber es konnte keinen Zweifel daran geben, was diese Jungen taten. Die weiten, dunkelroten Roben kamen ihnen beim Rennen immer wieder in die Quere, und manchmal fiel einer der Spieler der Länge nach in den Schnee. Dann lachte er über das ganze junge Gesicht, als wäre dies das Komischste, was ihm je passiert war. Die Köpfe der Jungen glänzten kahl geschoren, und an den Füßen trugen sie Sandalen.

Christopher schätzte den kleinsten der Spieler auf vier oder fünf Jahre; die beiden ältesten mochten etwas älter sein als er, und dazwischen waren alle Altersgruppen vertreten.

»Mönche«, flüsterte Niya.

Da erst sah Christopher das Kloster, das noch ein Stück weiter oben am Hang lag, direkt unter der Spitze des Fischschwanzes ohne Fisch. Es glich einem Kloster, dessen Foto er in dem Bildband gesehen hatte, aber vermutlich sahen alle Klöster ähnlich aus. Hinter einer strahlend weißen Außenmauer erhob sich seine Kuppel, die Stupa, ebenso weiß in den blauen Berghimmel, und Reihen bunter Gebetsfahnen liefen von der Spitze aus nach unten wie bei einem Zelt. Buddhas gemalte Augen begrüßten die Wanderer von dort oben mit einem sanfte Lächeln, und es war Christopher, als zwinkerten sie – ganz kurz nur, doch es war vermutlich das helle Licht hier oben, das ihm Dinge vorgaukelte.

Die jungen Mönche waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie die Fremden lange nicht bemerkten.

Und die Fremden standen lange – standen und schauten und sogen den Frieden jener merkwürdigen Szene tief in sich ein.

Christopher streckte die Hand aus und holte die leuchtend blaue Feder aus Niyas Kapuze.

Doch es war keine Feder.

»Ein toter Schmetterling«, stellte er verwundert fest. »Er muss irgendwo in einer Falte der Drachenhaut verborgen gewesen sein, und deine Kugel hat ihn gelöst.«

Niya betrachtete die reglosen Flügel auf Christophers Hand nachdenklich.

In diesem Moment tönte ein Schrei vom Spielfeld der Mönche her, aber es war nicht der triumphierende Schrei nach einem geschossenen Tor. Es war ein Aufschrei der Überraschung: Einer der Jungen hatte sie bemerkt, und nun standen sie alle wie angewachsen und starrten zu ihnen herüber.

»Jumar«, wisperte Niya. »Dein Gesicht!«

»Was?«, fragte Jumar.

»Du hast keines«, antwortete sie leise. »Zumindest kein sichtbares. Sie werden sich zu Tode erschrecken. Tu etwas.«

Jumar schlug den Kragen der Jacke über dem Kragen des Pullovers ein wenig höher, zog den Schal davor und auch die Mütze tiefer. Keine Sekunde zu spät: Denn jetzt löste sich die Starre der Fußballspieler, und kurz darauf waren sie umgeben von tiefroten Roben und neugierigen Augen, und Dutzende von Händen streckten sich aus, um den tarngrünen Stoff ihrer Kleidung zu berühren. Vermutlich hatten sie noch nie solche Kleider gesehen. Sie kicherten und flüsterten hinter vorgehaltenen Händen miteinander, und Christopher schenkte ihnen das schönste Lächeln, das er zustande bekam.

»Wer seid ihr?«, wollte der größte der Jungen wissen. Er überragte Christopher um einen guten halben Kopf. »Woher kommt ihr?«

»Wir kommen von einem Ort, wo seit Langem niemand mehr in der Sonne Fußball spielt«, antwortete Niya, »und wir sind lange, lange gewandert, um einen Ort zu erreichen, in dem etwas so Wunderbares noch möglich ist.«

Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht des Jungen.

»Dann seid ihr willkommen«, sagte er.

»Ihr seid sicher müde!«, rief ein ganz kleiner Junge. »Und ihr habt bestimmt Hunger! Wollen wir sie nicht zu unserem Meister führen? Ich, ich kann sie führen!«

»Und ich! Und ich! Und ich!«, riefen alle durcheinander und drängten sich nach vorne.

Der größte Junge brachte sie mit einer Bewegung seiner Hand zum Schweigen.

»Ich bin der Älteste, und es ist meine Aufgabe, den Fremden unser Kloster zu zeigen«, erklärte er würdevoll. »Ihr könnt hierbleiben und das Spiel beenden. Bis zum Abendgebet ist noch eine halbe Stunde Zeit.«

Er nickte ihnen zu, und sie folgten ihm den Hang hinauf. Doch als Christopher sich einmal umdrehte, standen die Jungen noch immer unbeweglich auf dem Spielfeld und sahen ihnen nach, und es war klar, dass keiner von ihnen Lust hatte, bis zum Abendgebet etwas anderes zu tun, als über die seltsamen Fremden zu reden, die auf dem Berg aufgetaucht waren.

Hinter den Mauern des Klosters wuchsen Blumen. Blumen, hier im Schnee. Blumen in blau angestrichenen Metallkanistern. An manchen Stellen konnte man noch den Aufdruck sehen – einst hatten die Kanister Pflanzenöl enthalten.

Aber wenn es keinen Weg auf den Fishtail gab, dachte Christopher, wenn es nur jene metallenen Haken gab, wie konnten sie Kanister voller Öl heraufbringen? Wovon lebten sie?

Wie waren die Kinder heraufgekommen?

»Wartet hier«, sagte der Junge. »Ich werde sehen, ob der Meister Zeit für euch hat.«

In diesem Moment verruschte Jumars Schal, der bis jetzt das Gesicht verborgen hatte, das nicht da war. Der junge Mönch starrte ihn an, und Christopher betete im Stillen und in einer ihm unbekannten Religion, der Junge möge seinen Augen nicht trauen und das Ganze für eine optische Täuschung halten. Aber in der Erziehung junger buddhistischer Mönche haben optische Täuschungen keinen Platz.

»Dachte ich mir doch, dass etwas nicht stimmt«, wisperte der junge Mönch. Eine Weile sagte keiner etwas. Es gab nichts zu sagen. Unerklärliche Dinge kann man nicht erklären.

»Der Meister sagt, ich kann es noch weit bringen«, murmelte der Junge. »Und dass ich Dinge sehen werde, die andere nicht sehen. Aber er sprach nie davon, dass ich Dinge nicht sehen würde, die andere sehen ...«

Auch die anderen sehen sie nicht, dachte Christopher. Deshalb sind wir hier. Weil die Menschen im Allgemeinen zu wenig sehen.

Aber das sagte er nicht laut. Laut sagte er: »Erzähl keinem davon.«

Der Junge nickte. Dann ließ er sie stehen und überquerte den Hof, um in der Seitentür eines der Gebäude zu verschwinden, die sich hinter der Mauer aneinanderdrängten wie eine kleine Herde gepflegter weißer Schafe. Sein Gang war ein wenig unsicher geworden. Natürlich würde er erzählen, später, viel später. Und zu den tausend Gerüchten des Himalaja würde ein tausendunderstes hinzukommen. Aber im Himalaja sind die Gerüchte ein Teil des Lebens.

Nicht weit von dem Platz, an dem Christopher, Jumar und Niya standen, gab es an der Mauer ein Waschbecken, und darüber hing in einem einfachen Holzrahmen an der Wand ein gleißender Flecken Sonnenlicht. Aber nein: Es war ein Spiegel.

Christopher trat näher und sah hinein.

Und er erschrak. Der ihm aus dem Spiegel entgegensah, war ihm unbekannt. Er hatte tief eingesunkene Augen, und in einem von ihnen waren die Äderchen geplatzt, sodass die äußere Kante rot leuchtete statt weiß. Die braunen Haare hingen wirr um das Gesicht im Spiegel herum, und eine Schicht von Staub und Dreck bedeckte seine Haut, die Wangen wirkten mager und kantig, und das Kinn bedeckte ein leichter, gerade wahrnehmbarer Flaum.

Hinter ihm im Spiegel tauchte noch ein Gesicht auf – ein Gesicht, das er kannte. Aber nun erst merkte er, dass es dem seinen ähnlich sah: Niya. Sie waren gleich dreckig, gleich zerzaust, steckten in den gleichen grünen Kleidern.

»Ich sehe aus wie du«, sagte Christopher und lächelte.

Und da, mit einem Mal, sah er jemand anderen im Spiegel: Arne. Es war wahr. Er hatte Arnes Lächeln. Und das Gesicht, das dieses Lächeln lächelte, war nicht länger das Gesicht eines Kindes. Er hatte begonnen, erwachsen zu werden.

»Ich wünschte, ich könnte mich ebenfalls in einem Spiegel betrachten«, seufzte Jumar hinter ihnen. »Ich wünschte, ich könnte sagen: Ich sehe aus wie du. Oder wenigstens: Ich sehe aus wie ich. Aber ich weiß überhaupt nicht, wie ich aussehe! Die Leute, mit denen wir auf unserer Reise gesprochen haben, sehen alle dich vor sich, Christopher, wenn sie vom Kronprinzen Nepals hören.« Er schwieg eine Weile. »Und vielleicht ist es besser so«, sagte er kleinlaut. »Vielleicht sehe ich fürchterlich aus. Es fühlt sich nicht so an, aber vielleicht habe ich eine krumme Nase und schiefe Zähne und –«

»Ach was«, sagte Christopher und lachte. »Die Kronprinzen in den Märchen sind ausschließlich schöne, junge Männer mit geraden Nasen, und ihre Zähne sind durchweg tadellos.«

In diesem Moment kehrte der Junge zurück. Er warf einen schnellen Blick zu Jumar, der den Schal wieder vors Gesicht gezogen hatte, und sah genauso rasch wieder weg.

»Der Meister wird euch empfangen«, verkündete er mit großer Geste. Er schien seine Aufgabe zu genießen, auch wenn er noch immer Angst vor dem Unsichtbaren, Unerklärlichen, Unheimlichen hatte, was mit dieser Aufgabe in sein Leben getreten war. »Vor dem Abendgebet bleiben nicht viele Minuten, doch er wird euch empfangen. Das ist eine große Ehre. Folgt mir.«

Sie überquerten den Hof und betraten einen kahlen, quadratischen Raum, dessen einziges Mobiliar aus einigen Reisstrohmatten auf dem Boden bestand.

Für einen Augenblick dachte Christopher an den kahlen Raum des großen T zurück, doch bis auf die Abwesenheit der Einrichtung hatten die beiden Räume nichts gemeinsam.

Der kahle Raum des großen T hatte nüchtern und abweisend' gewirkt, als störte jeder, der ihn betrat.

Dieser Raum sprach eine andere Sprache: Er war kahl, damit der Besucher den nötigen Platz hatte, um sein Herz auszubreiten.

Mitten darin saß mit gekreuzten Beinen auf einer der Strohmatten ein alter Mönch. Es war schwer zu sagen, wie alt er war:

Er trug eine große, eckige Hornbrille, sein weißer Bart floss vom Kinn in sanften Wellen herab bis auf den Boden, und sein Kopf war kahl geschoren wie die Köpfe der Jungen draußen im Schnee.

Der, der sie gebracht hatte, entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung, und hinter ihm klappte die Tür ins Schloss.

Christopher und Niya verbeugten sich ebenfalls.

Die Stille im Raum umgab sie wie klares Wasser. Es war keine schlechte Stille: eine Stille wie ein Haustier, freundlich und wartend.

»Setzt euch«, sagte der alte Mönch und strich die orangefarbenen Tücher über seinen Knien glatt. »Hier, mir gegenüber.«

Sie gehorchten, und erst als Christopher saß, merkte er, wie erschöpft er war. Die Erschöpfung schwappte über ihn hinweg wie eine riesige Welle, und er musste mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sich einfach auf den Boden fallen zu lassen und reglos dort liegen zu bleiben. Eine angenehme Wärme erfüllte den Raum, obwohl nirgends ein Feuer darin glomm.

Es war, als ginge die Wärme von dem alten Mönch in seinem orangefarbenen Gewand aus.

Er sagte lange nichts.

Er musterte Christopher, dann musterte er Niya, und dann musterte er das Gesicht unter der Mütze, das niemand sah.

»Nimm den Schal ab«, sagte er sanft. Jumar gehorchte, und der Mönch lächelte. »So ist es besser. Wie soll ich sonst den Ausdruck erkennen, der in deinen Augen liegt? Niemand, der ehrlich ist, verbirgt den Ausdruck seiner Augen vor einem alten Mann.«

»Aber –«, stammelte Jumar.

Der Mönch schnitt die Frage in der Luft ab wie ein widerstandsloses Seidenband.

»Deine Augen suchen«, sagte er. »Und sie werden finden. Stör dich nicht daran, dass ich sie sehe. Ich sehe sie nicht mit dem Blick, sondern mit dem Kopf. Ich habe euch auch kommen sehen.«

»Ihr ... ihr habt uns kommen sehen?«

»Ich sehe vieles«, erwiderte der Mönch mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ihr habt die Geister des Windes gehört und eure Angst tief in euch verborgen. Ihr seid durch den Schnee gegangen und durch die Luft, auf dem Weg, der kein Weg ist. Ihr seid einem Drachen begegnet, aber eure Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Ist es nicht so?«

»Ja«, sagte Niya, »so ist es.«

»Ihr habt alles riskiert«, fuhr der Mönch fort und rückte seine Hornbrille zurecht. »Jede Minute hätte die letzte sein können für euch.«

»Es gab keine andere Möglichkeit«, murmelte Christopher.

»Nein«, antwortete der Mönch. »Vielleicht nicht. Ihr seid die Ersten, die seit langer, langer Zeit hier heraufkommen. Das Kloster ist in Vergessenheit geraten. Nur der Mann, der das Flugzeug steuert, kennt den Weg durch die Lüfte.«

Ein Flugzeug also, dachte Christopher. So transportieren sie ihre Vorräte.

Wieder hüllte die Stille sie ein. Und schließlich sagte der alte Mann: »Du, dessen Augen suchen. Sage mir, was ist es, das sie hier finden wollen.«

Und dann dauerte es eine ganze Weile, bis Jumar sprach. Er, der immer Worte hatte, schien plötzlich nicht die richtigen zu finden. Beinahe befürchtete Christopher schon, er wäre gar nicht mehr im Raum und vor ihm säße nur eine zurückgelassene, leere Ansammlung an Kleidern.

»Ich ... ich bin ...«, begann Jumar und riss sich endlich zusammen, »... ich bin gekommen, um Euch zu fragen, was damals wirklich geschehen ist. Damals, als Ihr nach Kathmandu hinunterkamt und mit meiner Mutter spracht.«

Da seufzte der alte Mönch tief und schwer – ein Seufzen, tiefer als der tiefste Abgrund und schwerer als der schwerste Fels. Er nahm seine Brille ab und begann, sie mit einer Ecke seines orangefarbenen Saums zu putzen, und schließlich fragte er; »Warum willst du das wissen?«

»Ich habe beschlossen, sichtbar zu werden«, antwortete Jumar ernst. »Damit die Dinge sich ändern. Mein Vater sitzt in seinem Garten und hat die Menschen außerhalb der Gartenmauern vergessen. Aber ich habe sie nicht vergessen. Ich habe sie gerade erst kennengelernt. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich endlich mit ihnen sprechen kann wie einer von ihnen.«

»Eine weise Entscheidung«, erwiderte der Mönch. »Fast zu weise für einen, der so jung ist wie du.« Er lächelte. »Ich will ganz ehrlich sein. Ich bewundere euren Mut. Ihr seid diesen Weg heraufgekommen, ohne zu wissen, dass es ein Ziel gibt, zu dem er führt. Ihr habt nicht gezögert, trotz des Schnees, trotz der Drachen. Der Weg zu diesem Kloster ist nicht ohne Grund so schwer. Der Pfad führt nicht ohne Grund durch die Luft. Nur wer genug Mut und genug Vertrauen hat, kann das Kloster erreichen. Es ist mehr als vierzehn Jahre her, dass jemand uns gefunden hat. Selbst die Jungen, die hier heraufkommen, um zu lernen, bringt der Mann mit dem Flugzeug zu mir. Ihr aber seid den Weg durch das Nichts gekommen. Und deshalb werde ich euch die Wahrheit erzählen, deretwegen ihr gekommen seid.«

Ein Gong ertönte gedämpft vom Hof her, und der alte Mönch setzte seine Brille wieder auf.

»Zeit für das Abendgebet«, erklärte er. »Zeit für das Gebet und den Reis. Kommt, und esst mit uns. Danach werden wir uns über die Vergangenheit unterhalten.«

Er erhob sich und ging voraus, und Christopher stellte fest, dass er sich für sein Alter erstaunlich flink bewegte. Am liebsten wäre Christopher für immer, immer und ewig, auf der Reisstrohmatte in jenem behaglichen, warmen Raum sitzen geblieben und hätte sich nie wieder gerührt, doch er ahnte, dass das nicht möglich war. So folgte er zusammen mit den anderen den raschelnden Falten des Mönchsgewandes, und gleich darauf betraten sie gemeinsam den Gebetsraum des Klosters.

Auch hier waren die Wände bedeckt mit bunten Malereien, hölzerne Säulen prangten mit farbenprächtigem Anstrich, und gemusterte Teppiche bedeckten den Holzboden.

Hier, mitten im Schnee, musste das Kloster das einzige bisschen Farbe sein, das die Drachen finden konnten – und was für eine Explosion der Farben es war! Es winkte mit seinen vierfarbigen Gebetsflaggen auf der Kuppel der Stupa, mit seinen Blumentöpfen, mit den tiefroten Roben der jungen Mönche ... Wie kam es nur, dachte Christopher, dass die Drachen es verschonten?

Sie setzten sich zwischen die Mönche auf den Boden, und das Abendgebet und das Abendessen waren in Wirklichkeit eines: Christopher beobachtete fasziniert, wie die Jungen in ihrem unverständlichen Singsang mit der einen Hand eine Schriftrolle hielten, deren Worte sie ablasen, und zwischendurch mit der anderen den Reis auf den niedrigen Pulten vor sich zu Bällen rollten. Das Murmeln erfüllte den Raum wie das Summen eines Bienenstocks, und es hatte etwas Beruhigendes, beinahe Einschläferndes.

Christopher überlegte, was wohl geschehen würde, wenn er den alten Mönch fragte, ob er hierbleiben könnte. Er würde sich eine rote Robe anziehen, eine gelbe Kordel um den Bauch binden und das zerzauste Haar abscheren. Er würde lernen, die Texte auf den Schriftrollen zu lesen – und dann säße er hier, murmelnd, essend, und draußen im Schnee würde er mit den anderen Fußball spielen, Tag für Tag, und die Sonne schiene über die Berge, und nichts Schlimmes könnte ihm je mehr passieren. Verlockend.

Aber nein. Nein, nichts von alldem würde ihm helfen, Arne zu befreien.

So aß er den Reis der Mönche und trank ihr kaltes, klares Wasser und hörte ihren Gebeten zu und blieb ein Fremder.

Der Schnee spiegelte bereits das Licht der Sterne wider, als der alte Mönch sie endlich wieder über den Hof führte, zurück in den Raum mit den Reisstrohmatten. Dort entzündete er eine Petroleumlampe, die er in die Mitte des Raumes stellte.

»Es wird Zeit«, sagte er, »Zeit für die Wahrheit, deretwegen ihr gekommen seid. Aber die Wahrheit erzählt sich schlecht. Alles, was erzählt wird, wird zu einer Erzählung, und es ist nicht länger wahr. Ich möchte, dass ihr es selbst seht.«

»Es selbst... seht?«, echote Jumar verständnislos.

»Ja«, sagte der Mönch. »Setzt euch, kreuzt die Beine, und schließt die Augen.«

Sie gehorchten, und Christopher dachte daran, wie sie einmal im Sportunterricht meditiert hatten. Der Sportlehrer hatte fürchterliche, eintönige und zugleich nervtötende Musik aufgelegt, und Christopher war nach fünf Minuten eingeschlafen. Hier war es anders.

Es gab keine Musik. Nur jene besondere Stille, die er schon zuvor in dem Raum bemerkt hatte.

»Haltet die Augen nach außen geschlossen«, sagte der Mönch leise, »und öffnet sie nach innen. Dann werdet ihr sehen.«

Christopher hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Er saß da, die Augen fest geschlossen, und spürte die Müdigkeit in sich, schwer und bleiern. Und gerade als er dachte, er würde wieder einschlafen, fühlte er, wie sie ihn verließ. Sie flog davon – wie ein Vogel, der seine Schwingen ausbreitet und sich in die Luft erhebt –, flog davon und ließ Christopher alleine zurück, alleine und hellwach.

Und dann formte sich ein Bild vor ihm. Er träumte nicht; er wusste genau, dass er nicht träumte, aber da war ein Bild, bunt und chaotisch –wie in einem Kaleidoskop wirbelten Farben und glitzernde Scherben umher, legten sich schließlich –

eine Stadt.

Ihre Häuser hatten hohe, hölzerne Balkone, von wo aus sich Leinen mit flatternder Wäsche über die engen Gassen spannten, die Dächer waren mit rötlichen Schindeln gedeckt, und dazwischen glänzte regenfeuchtes Wellblech in der Sonne. Christopher sah Kinder in schlammigen Pfützen spielen und Hunde vor Haustüren liegen, sah bunte Stoffe ausgebreitet vor Geschäften hängen, Glocken, Gebetsfahnen, Kleider, Metallwaren, Plastikschüsseln, Versatzstücke von Rohren, Götterbilder, Seidenkissen, Räucherstäbchen, Holzfiguren, Tablettenkartons, Maggi-Instant-Nudel-Packungen, Wollhandschuhe, Regenschirme, Gebetstrommeln, bestickte Teppiche – und Fahrradrikschas, die sich durch die unebenen Straßen quälten, hupende Autos, Räder, Fußgänger, Straßenverkäufer, Alte, Junge, Lahme, Bettler –

Kathmandu.

Alles in der Stadt schien zum gleichen Ort unterwegs zu sein, einem Ort in der Mitte der Stadt, wo es sich staute, wo das Chaos der Straßen sich verdichtete, wo nichts mehr weiterging, die Masse stockte, lange Hälse machte – es war, als stünde er mitten in der Menge und schwebte gleichzeitig eine Handbreit über ihren Köpfen, körperlos. Er hörte den Lärm, hörte die Rufe, die durch die Luft flirrten: »Wo sind sie? Schon nahe? Schon um die Ecke? Schon in dieser Straße? Da! Da kommen sie! Da!«

Und dann sah er sie; die Prozession.

Voran marschierten die Soldaten, Reihe um Reihe, herausgeputzt und stramm wie aus Zinn. Eine Kapelle spielte, und die Kinder in der Menge tanzten zwischen den Beinen der Erwachsenen zu ihrer Musik. Danach kamen Männer und Frauen des Palastes, flankiert von mehr Soldaten, die Saris der Frauen glänzten golden und rot, und die Männer gingen ernst in ihren Anzügen einher wie Abgeordnete einer Delegation zur ausschließlichen Erhaltung der Würde an sich, und dann, in der Mitte des Zuges, kamen die Sänften.

Es waren ihrer drei: zwei große und eine kleine, deren Traghölzer auf den Schultern prächtig gekleideter Träger ruhten, deren Gesichter eine Feierlichkeit jenseits von Worten ausstrahlten.

Die Vorhänge der Sänften waren zur Seite gezogen, sodass die darin befindliche wertvolle Fracht der Menge winken konnte: In der ersten Sänfte saß ein Mann, in der zweiten eine Frau, kaum sichtbar unter all dem Schmuck, den sie trug. Die dritte Sänfte schien leer zu sein, niemand winkte aus ihren Fenstern. Aber nein – Christopher erinnerte sich, und dann erhaschte er einen Blick hinein: Darin stand eine Truhe, reich verziert mit Goldbeschlägen, verschlossen.

Die Macht des Königs.

Die Menschen warfen rot gefärbten Reis und Blumen, jubelten und streckten ihre Hände nach den drei Sänften aus, ohne sie berühren zu können.

Dann brach einer durch die Reihe der Soldaten, ein Mann in einem orangefarbenen Gewand, um den Bauch nur eine einfache Schnur geschlungen, den Kopf kahl rasiert: Christopher erkannte ihn zuerst nur an seiner Kleidung, denn nun war er jünger: der Mönch.

Und er begriff, endlich begriff er: Das Kathmandu, das er vor sich sah, war ein Kathmandu vor vierzehn Jahren. Aber der Mönch, der durch die Hände der Soldaten schlüpfte, war derselbe, der mit ihnen gesprochen hatte. Als Christopher einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhaschte, gab es keinen Zweifel mehr. Er hatte die gleiche Art, die Stirn zu runzeln, den gleichen ernsten Blick. Sein langer Bart begann eben, sich weiß zu verfärben: ein Mann an der Schwelle zum Alter.

Er erreichte die Sänfte der Königin, ehe jemand ihn daran hindern konnte, und lief neben ihr her, sein Kopf auf der Höhe des Fensters. Die Soldaten schienen unschlüssig, was sie tun sollten. Er war ein Mönch, ein Weiser. Sie ließen ihn gewähren.

Wie in einem Film rückte die Szene näher, und Christopher sah jetzt das Gesicht der Königin und das des Mönchs ganz nah vor sich. Wie schön sie war, unter all den Ornamenten, die sie trug! Ihre Züge waren so fein, als hätte jemand sie in stundenlanger Arbeit aus Porzellan geformt, und ihre nachgezogenen Augenbrauen schwangen sich in einer dunklen Linie aufwärts, was ihr einen leicht erstaunten Ausdruck verlieh. Sie musste mehr als zehn Jahre jünger sein als der König.

»Von heute an also wirst du die Königin dieses Landes sein«, sagte der Mönch. »Erinnerst du dich an mich?«

»Ich erinnere mich«, erwiderte die Königin leise, und außer dem Mönch und Christopher hörte niemand ihre Worte. »Aber was damals war, ist nicht mehr wahr. Es ist zu lange her.«

»Nichts wird unwahr durch die Zeit«, erwiderte der Mönch. »Es ist gefährlich zu vergessen. Du warst ein kleines Mädchen, im Dorf am Fuße des Berges, und du spieltest im Dreck, als ich dich das erste Mal sah. Vergiss den Dreck nie, in dem du spieltest, und auch den Hunger nicht.

Vergiss nicht, wie ihr uns Mönche angebettelt habt, wenn wir in euer Dorf hinunterkamen. Ich sehe deine schmutzigen, ausgestreckten Hände noch vor mir –«

»Schweig«, befahl die Königin.

Aber der Mönch ließ sich nicht befehlen. »Wir haben immer gegeben«, fuhr er fort, »auch, wenn wir selbst nicht viel hatten. Bis ich eines Tages in deinen Augen las, das mehr aus dir werden würde ... ich habe dich in die Stadt geschickt, erinnere dich daran.«

»Ich bin die Königin«, flüsterte die Königin mit kaum noch zurückgehaltenem Ärger. »Ich bin glücklich und schön. Ich habe alles, was ich brauche. Ich werde dem König einen Kronprinzen schenken.«

»Und niemand weiß von jenem Dorf, dem Dreck, dem Hunger, nicht wahr? Es gibt die Vergangenheit nicht länger, nicht wahr? Du hast dir eine neue Vergangenheit geschmiedet, aus dem Metall der Träume, und dein König hat dir dabei geholfen.«

»Was wollt Ihr?«, zischte die Königin.

»Ich will, dass du nicht vergisst«, flüsterte der Mönch, und dann sagte er laut: »Ich will Euch einen Rat geben, meine Königin. Er wird Euch nicht viel kosten.«

»Ich brauche den Rat eines alten Mönches nicht«, antwortete sie laut und deutlich, für alle hörbar. »Keine Rupie gebe ich dir dafür!«

Sie nickte mit ihrem schönen Kopf den Soldaten zu, und zwei von ihnen packten den Mönch an den Schultern, um ihn aus dem Zug zu entfernen. »Verschwinde«, zischte die Königin, »nimm die Vergangenheit mit zurück in deine Berge, und komm nie, nie wieder.«

Es gab einen kleinen Tumult in der Menge, als der Mönch in seinem weithin leuchtenden, orangefarbenen Gewand zwischen den Menschen landete. Er stürzte, und die Menschen wichen auseinander. Dutzende von Hände halfen ihm auf, doch es war, als wüssten die Menschen nicht recht, wohin sie sehen sollten. Was war geschehen zwischen diesem Mönch und der Königin?

Sie fragten ihn, doch er antwortete nicht. Er hob den Saum seines Gewandes, der in den Dreck gefallen war, und verschwand durch die Gassen aus der Stadt. Christopher sah ihn als orangefarbenen Fleck in den Schatten zwischen den Häusern untertauchen. Und er spürte seine Enttäuschung und seine Wut.

Aus den Herzen jener Menschen, dachte er, die dem Mönch aufgeholfen hatten, waren die Märchen entsprungen: Jene Märchen, die alle ein Körnchen Wahrheit in sich trugen.

Das Bild wechselte abrupt, und Christopher fand sich in einem Garten wieder.

Grüne Schatten lagen auf den Kieswegen, und hinter den Bäumen sah er die Mauern eines prächtigen Gebäudes aufragen: der Palast. Über dem Garten lag ein blauer Himmel. Hatte Jumar nicht von einer riesigen Glaskuppel erzählt, die den Garten abschirmte? Aber nein: Dies war vierzehn Jahre früher. Es gab noch keine Glaskuppel.

In einem hölzernen Liegestuhl im Garten saß eine schöne Frau, die Augenbrauen mit schwarzer Kohle nachgezogen, was ihr einen erstaunten Ausdruck verlieh. Jetzt trug sie einen schlichten, roten Sari und nur einen schmalen Goldreif am Arm: die junge Königin. Unter dem Stoff ihres Saris jedoch wölbte sich ihr Bauch, in dem das Leben eines Kronprinzen darauf wartete, das Tageslicht zu sehen. Die Königin summte vor sich hin, las in einer Zeitschrift und schien sich allein zu glauben – aber sie war es nicht: Verborgen in den zerklüfteten Schatten eines alten Banyanbaumes sah Christopher die Gestalt eines Mannes stehen, beobachtend, wartend. Es war der Mönch.

In dem Moment, in dem Christopher ihn entdeckte, hob er die rechte Hand, sein ausgestreckter Zeigefinger wies auf die Königin, und da geschah etwas Seltsames: Die Luft über dem Platz, an dem die Königin saß, begann zu brodeln, es war, als sammelte sich dort etwas, als flögen Tausende von winzigen verschiedenfarbigen Fetzen herbei und vereinten sich zu einem Ganzen', verdichteten sich zu einer Gestalt – da war ein Rauschen in der Luft wie von Tausenden von Flügeln, ein Flirren und Flimmern, ein Flattern und Schwirren. Woher kannte Christopher dieses Geräusch nur?

Die Königin hatte jetzt den Blick nach oben gewandt; er sah, wie sich ihre Augen voller Entsetzen weiteten. Die Zeitschrift entglitt ihrer Hand und segelte lautlos zu Boden. Die Königin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Laut verließ ihre Lippen. Einen Moment später hatte die bunte Wolke sie eingehüllt. Christopher blinzelte, doch noch immer konnte er keinen Umriss erkennen.

Dann erhob sich das Flattern und Flirren, das Schwirren und Flügelschlagen, stieg in die Luft empor – und nun, nun begann es, Gestalt anzunehmen. Es wuchs nach den Seiten, dehnte sich, streckte und reckte sich, wurde größer und größer, entfaltete schließlich zwei riesige, schimmernde Flügel, streckte einen langen, grazilen Hals –

Ein Drache.

Der erste Farbdrache.

Die Königin umfasste mit einer Hand die Wölbung ihres Bauches, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Angst und Unglauben. Kurz darauf zog der Drache über dem Garten die erste Schleife seines Lebens und flog in Richtung der nördlichen Berge davon. Christopher blickte zu dem Banyanbaum hinüber. Die Schatten um seinen Stamm lagen dunkel, geheimnisvoll und verlassen. Der Mönch war nirgends mehr zu sehen.

Christopher schlug die Augen auf.

Das Licht der Petroleumlampe flackerte und schickte ihre Schatten in einem unsteten Tanz über die weißen Wände. Er spürte Jumars Hand auf seinem Knie und tastete nach den unsichtbaren Fingern, um sie festzuhalten.

»Das Herz des ersten Drachen«, sagte der Mönch, und Christopher hörte, dass seine Stimme in den vierzehn Jahren alt und müde geworden war, »jenes Herz besteht aus deinen Farben. Und dafür hat es nicht ausgereicht, nur die Farben fortzunehmen. Jedes einzelne, winzige bisschen Sichtbarkeit deines Körpers ist in das Herz des Drachen geflossen. Nur so konnte er geboren werden. Zuerst war er scheu. Zuerst wusste er nicht, wie mächtig er war. So ist er in die Berge geflogen. Aber nach und nach hat er gemerkt, dass niemand ihm etwas anhaben kann. Er hat sich geteilt und weiter vermehrt, und die Drachen haben sich über die Jahre weiter und weiter hinuntergewagt.

»Aber ... dann ist es also gar nicht meine Schuld«, wisperte Ju-mar. »Ich dachte die ganze Zeit über, es wäre meine Schuld, aber das ist nicht wahr.«

Der Mönch lächelte. »Wie sollte es deine Schuld sein? Das Leben ist nicht gerecht. Wer Unrecht erbt, trägt niemals Schuld. Auch Niya trägt keine Schuld daran, dass Kartan ihre Eltern getötet hat. Auch Christopher trägt keine Schuld daran, dass sein Bruder in der geschmolzenen Stadt gefangen sitzt.«

»Ihr ... Ihr wisst...?«, fragte Niya.

»Ich weiß vieles.«

»Es ist nicht unsere Schuld«, sagte Christopher langsam, »aber es ist an uns, die Dinge zu ändern. Ist es das, was Ihr uns erklären wolltet?«

»Ich will euch gar nichts erklären. Ich erlaube mir kein Urteil, und ich gebe euch keinen Rat. Ihr seid gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, und ich habe euch die Wahrheit gezeigt. Das ist alles.«

»Ihr habt die Drachen ins Leben gerufen«, sagte Jumar. »Könnt Ihr sie nicht zurückrufen? Könnt Ihr nicht alles wieder so werden lassen, wie es war?«

Da lächelte der Mönch abermals. Und er schwieg.

Und sie wussten, was sein Schweigen bedeutete:

Nein.

Er hatte nicht verziehen. Vielleicht würde er niemals verzeihen.

Jumars Stimme war klein und leise, als er fragte: »Ist es wahr, was man sagt, über die verwandelten Menschen, auf die der Schatten der Drachen gefallen ist? Können sie zurückverwandelt werden, wenn ein Drache sie streift?«

»Auch ich habe gehört, was man sagt«, antwortete der Mönch bedächtig. »Und man hört so einiges in diesem Land, nicht wahr? Man hört, was die Drachen verwandeln, können sie auch zurückverwandeln. Man hört, es wären die Schuppen auf ihren Flügeln, die dazu vonnöten sind. Ach, man hört eine Menge. Aber niemand hat je gehört, dass einer einen Drachen gefangen hätte.«

Schweigen senkte sich auf den Raum wie der Schatten eines Wesens, das größer und mächtiger war als alle Drachen.

»Ich – ich muss den ersten, ältesten von ihnen finden«, flüsterte Jumar und drückte Christophers Hand so fest, dass es wehtat. »Ich brauche sein Herz, um sichtbar zu werden. Wenn ich nur wüsste, wo ich beginnen soll zu suchen!«

»Diese ist die einzige Frage, die ich dir beantworten kann, mein Junge«, sagte der Mönch. »Sie hausen in der Spitze des Berges. Noch habt ihr die Spitze nicht erreicht, noch müsst ihr ein Stückchen wandern. Dort, hoch oben, auf dem Gletscher, haben sie ihre Höhlen im glänzenden Eis. Den Klöstern können sie nichts anhaben, und wir beobachten ihren Flug an klaren Tagen. Ich vermag dir nicht zu sagen, wie du den Drachen besiegen kannst. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt möglich ist. Aber dort oben, in der Spitze des Berges, im Eis, dort wird er auf dich warten.«

»Es ist spät«, sagte Niya. »Können wir irgendwo im Kloster übernachten? Wenn wir schon einem Drachen zum Opfer fallen, möchte ich das ausgeschlafen tun.«

Der Mönch nickte. »Hier ist es warm und windgeschützt. Bleibt hier.«

Damit erhob er sich, nahm die Lampe mit und ließ sie im Dunkeln zurück.

Christopher stand auf und trat in den Hof hinaus ... und dort lag sie in der Nacht, schmal und weiß: eine dünne Mondsichel, kaum mehr als ein Strich.

»Morgen Nacht«, sagte Christopher, als er sich auf dem Boden neben Niya und Jumar zusammenrollte. »Morgen Nacht muss Neumond sein. Begreift ihr? Neumond! Es wird keinen Mond geben, der uns verrät! Keinen Mond, der Schatten wirft! Morgen Nacht müssen wir den Gipfel erreichen.«

»Ihr kommt also mit mir?«, fragte Jumar.

Christopher schnaubte. »Was für eine Frage!«

Und so kam der Tag, an dem der nepalesische Thronfolger aufbrach, um dem größten und ältesten Drachen entgegenzutreten.

Die gemurmelten Gebete von zwei Dutzend Mönchen unterschiedlichen Alters begleiteten ihn, und auch die Mönche selbst begleiteten die Wanderer – bis dorthin, wo der Berg wieder steiler wurde und unter dem Schnee das Eis hervorblitzte. Dort blieben sie zurück, und als Jumar sich eine Weile später umdrehte, standen sie noch immer auf dem weißen Blatt des Schnees wie mit einem roten Stift in die Landschaft gezeichnet, und die kleinsten unter ihnen winkten ihnen lange nach.

Der Weg war glatt und gefährlich. Manchmal mussten sie sich auf allen vieren voranbewegen, um nicht auszurutschen. Sie zogen sich gegenseitig hinauf, stützten sich, keuchten und fluchten – ja, selbst das Fluchen hatte der Kronprinz des Landes auf seiner Reise inzwischen gelernt. Die Anstrengung ließ sie die Kälte vergessen, und das war gut so, denn die Kälte hier oben war die kälteste Kälte, die es gab. Nichts konnte in ihr leben, kein Tier, keine Pflanze: nichts außer den Drachen.

Christopher war dankbar für jede Faser der Kleidung, die er trug. Aber lange konnten auch sie nicht hierbleiben. Irgendwann würde die Kälte ihren Weg durch die Mützen und Jacken finden, würde in die Stiefel kriechen und sich dort einnisten, wie sie es schon einmal getan hatte, damals, unten, im Schneetreiben –nur war dies eine noch viel größere, tödlichere Kälte.

Sie sahen die Höhlen gegen Abend, schwarze, kreisrunde Löcher im Eis, wie die Nester von Schwalben.

»Sie sehen aus wie ihre Augen«, flüsterte Jumar. »Genauso tief und leer und dunkel.«

Keiner der Drachen war zu sehen, und sie warteten unterhalb der Höhlen, bis die Sonne unterging.

»Was für ein Glück auch«, sagte Niya, »dass sie uns auf dem Weg hier herauf nicht vorsorglich in Bronze verwandelt haben.«

Aber Jumar konnte hören, dass sich hinter der Schroffheit ihrer Stimme die Angst verbarg, eine Angst, nackt und blank wie das Eis, über das sie gegangen waren.

»Was wirst du tun?«, fragte sie ihn. »Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen, um einen Drachen zu finden, dem du das Herz herausreißen musst, um sichtbar zu werden. Aber du hast uns noch immer nicht gesagt, wie du das anstellen willst. Und wir können nicht einmal sichergehen, dass es funktioniert.«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Jumar ehrlich. »Ich werde es mir überlegen, wenn ich ihn sehe.«

Christopher seufzte. »Er erledigt alles im Leben auf diese Weise«, sagte er.

»Und – funktioniert es?«, fragte sie zweifelnd.

Jumar spürte, wie Christopher nachdachte. »Schwer zu sagen. Immerhin haben wir das Kloster gefunden und die Wahrheit erfahren ...«

»Duckt euch!«, zischte Niya.

Jumar sah auf. Und da war er – der Drache. Es war derselbe, der ihn in der Steilwand beinahe zu Bronze verwandelt hatte; er erkannte ihn wieder: die türkisfarbenen Schwingen, den violetten Körper, seine Krallen, seinen Schatten auf dem Schnee. Aber noch während er sich von unten in weiten Schleifen heraufschraubte, verblasste der Schatten. Die ganze Welt verblasste. Nacht hüllte sie ein. Selbst das Licht der Sterne verbarg sich hinter einer Wolkendecke, und alles, was sie noch sahen, war der Drache: der vage Schimmer, der von seinem Körper ausging, glimmend wie eine beängstigende Ahnung – und mitten in diesen Schimmer von Ungewissheit und Bedrohlichkeit die brennenden Augen – jetzt, in der Dunkelheit, glühten sie wie Kohlenfeuer am Himmel.

Jumar rückte das Gewehr auf seiner Schulter zurecht, das er trug, seitdem sie die geschmolzene Stadt verlassen hatten. »Jumar, du kannst ihn nicht erschießen. Ich habe es versucht. Die Kugel ist direkt durch ihn hindurchgedrungen, und alles, was vom Himmel fiel, ist das hier.«

Er beäugte den reglosen blauen Schmetterling auf ihrer flachen Hand.

Dann sah er wieder nach oben, wo die Augen des Drachen davon kündeten, dass er vor seiner Höhle gelandet war, und gleich darauf verschwanden.

»Ich werde jetzt zu ihm hinaufgehen«, sagte Jumar und schluckte. »Ich weiß nicht, was geschehen wird. Vielleicht zerfetzt er mich mit seinen Klauen. Vielleicht verwandelt er mich in irgendetwas. Kommt nicht weiter mit als bis zum Eingang der Höhle.«

Sie nickten stumm, und Jumar hörte ihren Atem hinter sich in der Nacht. Dieses letzte Stück Weg war das schlimmste ihrer ganzen Reise. Er setzte Fuß vor Fuß, als trüge er bleierne Schuhe, und sein Atem ging stoßweise.

Ich bin der Kronprinz, sagte er im Stillen zu sich, der Thronfolger Nepals. Der Sohn des Königs. Ich werde es schaffen. Was auch immer getan werden muss, ich werde es tun. Ich werde der Junge sein, der den größten aller Drachen getötet hat. Und wenn nicht, dann werde ich der sein, der es versucht hat.

Der Eingang der Höhle war in der Schwärze der Nacht kaum auszumachen. Aber jetzt sah Jumar das schwache, schimmernde Leuchten, das aus ihrem Schlund drang. Die Farben des Drachen verbreiteten ein eigenes, gedämpftes Licht. Ein Licht, nicht stark genug, um Schatten zu werfen, zum Glück. Jumar atmete tief durch.

»Viel Glück«, wisperte Christopher, als sie die Höhle erreicht hatten. Da trat Jumar zu ihm, um ihn zu umarmen. Es kam ihm lächerlich vor, aber außer ihnen sah es ja niemand.

Er umarmte auch Niya, ganz kurz nur, doch in dieser einen Sekunde drückte er sie so fest an sich, wie er konnte. Er spürte ihre Wärme und das Leben, das von ihr ausging, und er spürte, dass auch sie ihn gerne noch ein wenig länger festgehalten hätte, dass sie ihn nicht gehen lassen wollte – spürte ihre Hoffnung und ihre Angst gleichermaßen.

Sie sagte nichts, und er ließ sie los, und dann drehte er sich um und betrat die Höhle des Drachen.

Dunkelheit.

Licht.

Farben.

Grün. Blau. Türkis. Violett. Golden.

Eis unter Jumars Füßen. Hart. Glatt. Kalt.

Dann dieses Rascheln. Wie von winzigen Flügeln. Tausend und Abertausenden.

Er sog all dies in sich ein, denn vielleicht war es das Letzte, was er sah, was er spürte, was er hörte.

Der glimmende Körper vor ihm drehte sich um, reckte seinen Hals und betrachtete ihn von dort oben aus mit seinen glühenden Augen.

Und der Drache sah ihn an. Er sah ihn an.

Er blickte nicht einfach nur in seine Richtung. Jene Augen, die es nicht gab, die nichts waren als bodenlose, glühende Löcher, sahen das Unsichtbare.

Jumar wollte das Gewehr heben, doch er wusste, dass es sinnlos war, und er legte es auf den Boden zu seinen Füßen.

Und dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte.

Der Drache sprach zu ihm. Seine Stimme war leise und sanft wie die Farben der Blumen, die er in seinem Körper vereint hatte.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte der Drache. »Seit Anbeginn meiner Existenz.«

Jumar erschrak. »Du hast gewusst, dass ich kommen würde?«

»Nein«, sagte der Drache. »Aber ich habe dennoch gewartet.« Der Drache erhob sich und knisterte wieder mit seinen Flügeln. Er machte einen Schritt auf Jumar zu, und Jumar wollte zurückweichen. Doch er blieb stehen. Eine fremde Macht hatte seine Füße fest im Boden verankert. Es war wie in einem dieser Albträume, in denen man fortlaufen will und nicht von der Stelle kommt.

Und dann wacht man auf.

Aber Jumar träumte nicht. Und er würde nicht aufwachen.

Er war hier, und über ihm pendelte auf dem langen, grazilen Hals der Kopf des größten, ältesten und mächtigsten aller Farb-drachen.

Er öffnete das Maul, und eine bunte Flamme zerbarst zischend in der dunklen Luft der Höhle. Sie warf den Schatten des Drachen an die hintere Wand der Höhle. Wenn der Drache sich ein wenig drehte, nur ein wenig – dann würde ein Stück dieses riesigen Schattens auf Jumar fallen.

Der Drache drehte sich ein wenig.

Jumars Füße weigerten sich noch immer zu gehorchen.

Doch der Schatten erreichte ihn nicht, und es kam keine weitere Flamme aus dem Maul des Drachen.

»Du bist mein Herz, und mein Herz ist du«, sagte der Drache. »Wir gehören zueinander. Und doch kann es nur einen von uns geben.«

Jumar schluckte. Der Drache schob seinen Kopf noch näher heran.

»Was hast du vor, kleiner Mensch?«, fragte er.

»Ich – ich – ich weiß es nicht«, stammelte Jumar.

»Du bist gekommen, um deine Farben zu holen, nicht wahr?«, fragte der Drache. »Du bist gekommen, um mich zu töten.«

Ein verzweifeltes Nein! lag auf Jumars Zunge. Doch er schwieg.

»Doch du weißt nicht, wie«, fuhr der Drache fort. »Ist es nicht so?

Er schwieg lange und sah Jumar an.

»Ich habe gefürchtet, dass du kommen würdest, um mein Herz zurückzufordern«, sagte er schließlich. »Und ich habe es gehofft.«

Und auf einmal erinnerte die Glut in den nächtlichen Drachenaugen Jumar an die Glut in Niyas Augen. Auch sie waren voller Schwermut.

»Ohne dein Herz kannst du nicht leben«, sagte Jumar.

Der Drache machte eine Bewegung mit seinem schlanken Hals, als schüttelte er den Kopf.

»Es gibt nur einen«, sagte er, »wie ich es gesagt habe: mich oder dich.«

Jumar trat einen Schritt auf den Drachen zu und streckte die Hand nach seinem glitzernden Schuppenpanzer aus. »Selbst wenn ich wüsste, wie«, sagte er langsam, »ich kann nichts töten, was so schön ist.«

Es war, als hätte ihn eine seltsame Trance ergriffen. Seine Angst war noch so stark wie zuvor, doch er spürte sie auf eine andere Weise. Es war, als läge diese Höhle jenseits der Zeit, jenseits der Wirklichkeit, in einem Traum, den der Drache und er gemeinsam träumten. Er würde sterben, mit einem Mal war er sich dessen sicher, aber es schien nicht mehr wichtig zu sein. Womöglich war er gekommen, um zu sterben.

Seine Hand suchte den glatten Panzer des Drachen, doch sie fand keine Oberfläche. Er spürte eine Berührung, sacht und leicht, und hörte wieder das Flattern der vielen winzigen Flügel.

»Ich bin nicht, was du denkst«, sagte der Drache. »Ich bin überhaupt nicht. Ich bin weder gut noch böse. Ich bestehe. Ich bestehe aus vielen einzelnen Wesen. Nur die Macht des Mönchs hält mich zusammen. Und das Herz, das deine Farben enthält, erlaubt mir zu sprechen. Die anderen Drachen, die später aus mir entstanden sind, haben keine Herzen. Sie können nicht sprechen, und sie können deine Worte nicht verstehen.«

»Du ... bestehst...?«, fragte Jumar. »Aus vielen einzelnen Wesen?«

Und dann sah er sie.

Die Schmetterlinge.

Es mussten Millionen sein, Milliarden – dicht an dicht schwebten sie in der Luft, flatternd, gaukelnd, sich verdichtend zum Körper des Drachen. Deshalb war bei Niyas Streifschuss nichts vom Himmel gesegelt als ein einziger, toter Schmetterling. Der Drache selbst besaß keinen Körper. Sein Körper war eine Wolke aus bunten, schillernden Flügeln, schöner als alle Schmetterlinge, die es auf der Welt gab – unwirklich schön: strahlend in all den Farben, die der Drache in seinem Leben gefressen hatte.

Es gab keine Möglichkeit, dieses Geschöpf zu besiegen. Jumars Hand zerteilte seinen Leib, ohne ihm eine Wunde zuzufügen.

Er sah auf, sah in die tiefen, glühenden Löcher, die da anstelle von Augen über ihm schwebten.

Und er zwang sich, über die Trance hinauszudenken, in der er sich zu verfangen drohte. Er zwang sich, daran zu denken, was außerhalb dieser Höhle war. Beinahe war es verblasst.

Er schloss einen Moment lang die Augen. Der Schnee kam als Erstes wieder. Die roten Gewänder der jungen Mönche. Spuren von zwei Paar Füßen, die den Gletscher überquert hatten ...

»Christopher«, flüsterte Jumar und bekam die Erinnerung an ein Gesicht zu fassen. »Niya.«

Sie warteten auf ihn, dort draußen, in der eisigen Kälte.

Beinahe hätte er sie vergessen.

Er dachte an den Weg durch die Luft, den Christopher nicht hatte gehen wollen und den er doch gegangen war, weil er, Jumar, ihn darum gebeten hatte. Was hatte er gesagt?

»Du warst schon immer gut mit Worten, weißt du das? Falls du jemals König wirst, werden die Leute dahinschmelzen, wenn du zu ihnen sprichst...«

Und da, plötzlich, wusste er es. Er wusste, was er zu tun hatte. Es war seine einzige Chance. Worte waren alles, was er hatte, alles, was er beherrschte.

Er öffnete die Augen und sah den Drachen an.

»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, sagte er.

»Eine Geschichte?«, fragte der Drache, faltete die Schwingen mit einem Tausend-Rascheln und ließ sich auf dem Höhlenboden nieder wie eine Katze. »Mir hat noch nie jemand eine Geschichte erzählt. Ist es eine schöne Geschichte?«

»Schön und schrecklich«, antwortete Jumar. »Gut und schlecht, wundervoll und grausam. Wirst du mir zuhören?«

»Ich habe vierzehn Jahre lang gewartet«, erwiderte der Drache. »Vielleicht habe ich auf eine Geschichte gewartet.«

Und so setzte sich der Thronfolger Nepals mit gekreuzten Beinen zwischen die Krallen des Drachen und begann zu erzählen. Zu Anfang wählte er seine Worte mit Bedacht, wog jedes einzelne von ihnen auf seiner Zunge und entließ es nur vorsichtig in die wartende Nachtluft. Doch dann gewann er Vertrauen zu sich selbst, und die Worte glitten aus seinem Mund gleich geschmeidigen Wesen voller Eigenleben, stürzten daraus hervor wie glitzernde, goldene Wasserfälle, breiteten ihre Flügel aus wie schillernde Singvögel, entrollten sich aus seinem Gaumen wie Schlangen, wuchsen aus ihm heraus wie nie gesehene, seltsame Pflanzen.

Sie hüllten den Drachen ein, und er drehte den Hals hierhin und dorthin, als sähe er ihnen nach.

Von der schlafenden Königin erzählten die Worte des Kronprinzen, sie flatterten mit den Flügeln der Tauben auf dem Durbar Square, sie verfingen sich in einer Falle im tiefen Dschungel und stiegen auf steilen Treppen in die Berge hinauf – sie zitterten mit der Angst der Menschen in den Dörfern, sie rissen mit dem Hunger an den Eingeweiden und fielen mit dem Wasser des unterirdischen Flusses in die Tiefe. Die Worte bissen mit scharfen Zähnen Löcher in die Luft, glühend von Hass und geformt wie Hauptmann Kartan, sie ließen eine Brücke im Nichts verschwinden und sprachen von der Liebe zu einem Mädchen mit schwarzem Haar.

Von einem Freund, der von weit her kam, sprachen sie, knallten wie Schüsse in der Nacht und knisterten wie Flammen um einen Stall, sprangen als Funken über zur Begeisterung für eine Sache, die nicht war, was sie schien, ritten in eine geschmolzene Stadt hinein voller Schnee und voller Wunden, blickten mit den Augen von Gefangenen in einem Kellerloch in die Welt und flohen in Packkörben. Die Worte ragten mit dem Fishtail-Berg in der blauen Höhe auf und wisperten mit den Geistern der eisigen Winde, drückten mit der Faust der Höhe das Leben aus der Luft und kletterten auf ihren klingenden Silben an eisernen Haken einen senkrechte Wand entlang ... bis sie die roten Flecken von Gewändern im Schnee fanden, bis sie die bunten Gebetsflaggen auf der einsamen Kuppel einer Stupa entdeckten, bis sie sich in die Wahrheit über die Vergangenheit verwandelten.

Und dann schwiegen sie.

Jumar lauschte ihrem Nachhall in der Höhle. Es war kein Nachhall von Buchstaben und Lauten – es war ein Nachhall von Bildern und Szenen, von Gerüchen und Geräuschen, von jeder Sekunde, die er auf seiner Reise erlebt hatte.

Eine kaum wahrnehmbare Bewegung lief durch den riesigen Körper des Drachen, ein leises Zittern, als rückten alle Schmetterlinge ein wenig näher zusammen.

»Wenn das so ist –«, sagte der Drache.

Jumar wartete still darauf, dass er weitersprach. Er wartete lange, reglos.

Und schließlich fuhr der Drache fort: »Wenn das so ist, dann wirst du deine Farben brauchen, um alles zu einem guten Ende zu bringen.«

Er beugte den Kopf auf seinem langen Hals abermals ganz nahe zu Jumar hinab.

»Ich schenke es dir«, flüsterte er. »Ich schenke dir mein Herz.«

»Das willst du tun?«, flüsterte Jumar ungläubig.

Vierzehn Jahre lang hatte dieser Drache dem Land seine Farben gestohlen und Menschen zu Bronze verwandelt. Und nun –?

»Ich habe dir gesagt: Ich bin nicht böse«, sagte der Drache. »Aber auch nicht gut. Weil ich nicht bin. Nimm es dir. Nimm dir das Herz. Ich möchte sehen, wie du das Land befreist.«

»Aber dann – dann bist du gut.«

»Wer weiß«, sagte der Drache. »Dinge ändern sich. Dinge entstehen. Vergiss nur nicht, was ich dir erklärt habe. Die anderen Drachen haben keine Herzen. Sie kannst du nicht überzeugen. Sie werden weiter tun, was sie immer getan haben.«

»Aber dann wirst du nicht mehr da sein.«

»Mein Herz wird da sein.« Seine Worte waren jetzt so leise, dass Jumar sie kaum mehr verstand. Er hörte die Furcht in ihnen. Die Furcht vor dem Nichts. Vor dem Nirgendwo. Vor dem Nichtmehr.

»Mein Herz wird da sein, in dir«, wisperte der Drache. »Und mit meinem Herzen werde ich sehen, wie deine Geschichte sich hoffentlich zum Guten wendet.«

»Wie – wie kann ich – was muss ich tun?«, fragte Jumar.

»Steh auf, sagte der Drache, »und geh durch mich hindurch. Dort, mitten in mir, wirst du mein Herz finden.«

Jumar erhob sich vom eisigen Boden der Höhle. Er spürte die Kälte nicht.

Der Drache blieb ganz still sitzen und wartete.

»Ich danke dir«, flüsterte Jumar. Und dann ging er mitten in die Wolke aus Schmetterlingen hinein. Sie umgaben ihn mit ihren schillernden Körpern, er sah nichts mehr als ihre Farben, hörte nichts mehr als ihr Flattern, fühlte nichts mehr als die sanften, flüchtigen Berührungen der Millionen von zarten, zerbrechlichen Flügeln. Und mitten unter ihnen fand er etwas Ungreifbares, Glimmendes, Unerklärliches, und es vereinte sich mit ihm. Vielleicht waren auch das nichts als Schmetterlinge, deren Körper verschwanden, als sie den seinen berührten. Vielleicht war es etwas ganz anderes. Ein merkwürdiges Gefühl durchströmte Jumar, ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen ließ, was er bis jetzt gefühlt hatte oder was er später jemals fühlen würde.

Er schloss die Augen und suchte in sich, um Worte dafür zu finden, Worte wie die, die ihn gerettet hatten, doch es gab keine Worte dafür.

Und als er die Augen wieder öffnete, löste die Wolke aus Schmetterlingen sich auf. Sie stoben auseinander, flogen auf den Eingang der Höhle zu und flatterten ins erste Licht des neuen Tages. Jumar musste die ganze Nacht erzählt haben.

Erst jetzt merkte er, wie trocken und rau seine Kehle sich anfühlte.

Er trat hinter den letzten Schmetterlingen an den Eingang der Höhle und sah zu, wie sie den Berg hinunterflatterten, verstreut, einzeln: winzige, bunte Flecken über der glitzernden Fläche aus Schnee und Eis.

Dort kauerten zwei Gestalten in grünen Tarnjacken und sahen zu Jumar hinauf, und eine zeigte auf ihn. Sie winkten.

Jumar winkte zurück.

Und dann betrachtete er seine Hände.