Nepal, Dezember
An einem Tag Anfang Dezember standen drei Gestalten an einem Fenster im Palast von Kathmandu. Oder halt: Es war kein Tag. Es war eine Nacht.
Noch immer Nacht.
»Wir müssen doch etwas tun!«, sagte eine der drei Gestalten, »irgendetwas!«
Sie sahen gemeinsam aus einem der Fenster im Flur.
Zwei schimmernde Drachen standen jetzt zwischen den Tempeln, am anderen Ende des Platzes. Ihre Augen brannten Löcher in die Dunkelheit. Die Stadt in ihrem Rücken hatte keine Farben mehr.
»Sie haben den Garten entdeckt«, flüsterte Jumar. »Sie haben sich erinnert.«
»Wir werden etwas tun«, sagte Christopher. »Komm. Es liegen zwei Stockwerke voll Treppen zwischen diesem Fenster und dem Tor zum Garten. Und auf jener Treppe wird uns etwas einfallen.«
Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde.
Aber er spürte, dass er jetzt vorausgehen musste. Seine Füße flogen die teppichbedeckten Treppenstufen hinunter, und hinter sich fühlte er Jumar und Arne, die ihm folgten.
Als er die Tür des Palastes öffnete, waren noch zwei weitere Drachen auf den Platz hinausgekrochen – großen, lauernden Eidechsen gleich, die Flügel auf dem Rücken gefaltet. Sie schienen zu überlegen.
Und dann öffnete einer von ihnen sein Maul und tat, was von Drachen erwartet wird: Er stieß eine Fontäne aus Feuer in die Luft. Eine ärgerliche, farbensprühende Fontäne.
Zwei bronzene Körper, die vor ihm am Boden lagen, schmolzen in Sekunden zu winzigen Häufchen zusammen.
»Das Tor des Gartens ist aus Metall«, sagte Jumar tonlos.
Christopher sah den zweiten Drachen Feuer speien, und er bemerkte etwas Seltsames:
Seine Angst war verschwunden.
Die kalte, klamme, würgende Angst, die ihn im Griff gehabt hatte, seit sie in der Stadt waren.
Oder nein: Die Angst, die er schon viel, viel länger in sich trug, jene Angst, die manchmal nachließ, manchmal beinahe fort war und unerwartet wieder auftauchte: vor einer Felswand, über die nur ein Weg durch die Luft führte. Vor einer Brücke, die man nicht sehen konnte. Vor den Menschen, zu denen er hatte sprechen müssen, hier, noch vor Kurzem.
Die unterschwellige Angst, die ihn ein Leben lang verfolgt hatte, überall, wohin er ging: in der Schule, in den Straßen, im Bus, in der Bahn, in Flugzeugen – die Angst, etwas falsch zu machen, die Angst, jemanden zu verlieren und alleine zurückzubleiben.
Sie war weg.
Er suchte in sich, in jeder Ecke seines Selbst, doch sie war nicht mehr aufzufinden.
Vielleicht hatte er an einem einzigen Tag all seine Vorräte an Angst verbraucht? Vielleicht war einfach nichts mehr übrig?
Er hatte noch immer keine Idee, was sie tun sollten, doch er ging voran, an der Mauer des Palastes mit ihren bronzenen Wächtern entlang, bis dorthin, wo die Mauer des Gartens begann. Grüne Palmwedel schimmerten im Mondlicht unter der gläsernen Kuppel. Der Duft von Jasmin und Rosen machte die Luft süß und schwer. Eine Nachtigall sang hinter der Mauer, er hörte sie deutlich – Erinnerungsfetzen: Arne auf einer Nachtwanderung: »Das ist ein Sprosser, keine Nachtigall.« Er grinste unwillkürlich. Aber jetzt war keine Zeit mehr für Erinnerungen.
Das Tor war aus Metall, wie Jumar gesagt hatte, reich verziert, voller Figuren und Beschläge.
Christopher stellte sich davor und sah den Drachen entgegen.
»Was hast du vor?«, fragte Jumar.
»Ich habe absolut keine Ahnung«, gestand Christopher.
Und in diesem Moment entfalteten die ersten Drachen ihre Schmetterlings-Schwingen, um sich zu erheben und über den Platz auf sie zuzufliegen.
»Der Garten ist das einzig Schöne, was von der Stadt geblieben ist«, wisperte Jumar verzweifelt. »Die einzige Hoffnung.«
Da regte sich etwas in den Schatten der Mauer, und eine alte, gebückte Gestalt erhob sich.
Ein Bettler. Jene Mauerschatten mussten ihn vor den Schatten der Drachen bewahrt haben, als sie bei ihrer Ankunft einen ersten Kreis über dem Platz gezogen hatten.
Womöglich hatte er bis jetzt geschlafen, im Schutz seiner eigenen Schwerhörigkeit, und gar nichts von alldem mitbekommen, was in der Stadt geschehen war?
Er war in Fetzen und Schmutz gekleidet, seine Augen blinzelten halb blind, und jetzt streckte er eine magere, krallige Hand nach ihnen aus –
»Braucht ihr einen Rat?«, erkundigte er sich mit seiner dürren, vertrockneten Stimme. »Er ist gar nicht teuer ...«
Christopher spürte, dass Jumar etwas sagen wollte.
Er sah die Drachen in der Luft über den Tempeln eine Schleife ziehen. Sie alle, alle hatten sich nun dort versammelt, um die Tore des Gartens gemeinsam mit ihrem Feueratem zu schmelzen und zu zerstören, was noch vom Stolz der Stadt übrig war.
»Nein, wie solltest du –«, begann Jumar.
Doch etwas in Christopher rastete in diesem Moment ein, eine unsichtbare Schaltung, ein winziges Rädchen – er, dem stets seine Erinnerungen in die Quere kamen, erinnerte sich ein letztes Mal:
»Braucht ihr einen Rat?«, fragte der Mönch die junge Königin in ihrer Sänfte. »Er ist gar nicht teuer ...«
Damals, mit der hochmütigen Abweisung durch die Königin, hatte alles begonnen.
Er stieß Jumar an, und Jumar verstummte. Christopher sah ihn eindringlich an. Er sagte nichts, sah ihn nur an. Und Jumar begriff – auf eine unerklärliche Art begriff er, was Christopher ihm mitteilen wollte und wozu ihm keine Zeit blieb.
»Ja«, sagte Jumar zu dem Alten in seinen Fetzen. »Wir brauchen einen Rat. Mehr denn je.«
Der Alte nickte bedächtig. Die Drachen stiegen noch einmal in die Höhe, um sich gesammelt vom Himmel über dem Platz zu stürzen.
»Öffnet die Tore«, sagte der Alte.
»Wie bitte?« Jumar starrte ihn ungläubig an.
»Öffnet die Tore zum Garten«, wiederholte der Bettler. »Es ist nicht länger der Garten des Königs. Der Garten gehört allen.«
Und Christopher hörte Niyas Worte in seinem Kopf zwischen den anderen Erinnerungen:
Es wird keine Reichen mehr geben und keine Armen. Die Tore des Palastes werden offen stehen. Und der König wird weinen.
Seine Hände fanden den Riegel des einen Torfügeis beinahe von selbst. Arne half ihm, ihn aus seiner Verankerung zu befreien, in der ihn die Zeit hatte rosten lassen, vierzehn Jahre lang hatte niemand den stetig wachsenden Garten vom Durbar Square aus betreten. Wer ihn betreten durfte, war von innen gekommen, vom Palast. Christopher sah aus dem Augenwinkel, wie Jumar sich an der anderen Seite des Tores zu schaffen machte. Fliegende Finger lösten sie alle Riegel, alle Schranken, und gaben den Flügeln des großen Tores einen Stoß.
Sie schwangen nach außen auf wie die Deckel eines Buches.
Dahinter lag im Mondschein unter der gläsernen Kuppel der Garten – grün und geheimnisvoll.
Der alte Bettler nickte und trat zur Seite.
Jumar, Arne und Christopher sprangen ebenfalls zurück, zurück vom Tor – Christopher fühlte die federnde Erde des Gartens unter seinen Sohlen, er roch den Duft der Blüten –
Und dann fegten die glimmenden, schillernden Körper der Drachen durch das breite Tor, ein Sturm aus Flügeln und Hälsen, Köpfen, geschmeidigen Körpern, peitschenden Schwänzen und scharfen Krallen – Christopher spürte den Windhauch, den sie mit sich brachten, und er hörte die Blätter der Bäume darin rascheln.
Dies war das Ende.
Das Ende der Farben im Garten. Das Ende des Duftes. Das Ende der Blumen.
Das Ende von allem.
Er schloss die Augen.
Aber dann spürte er eine Hand auf seinem Arm, und Jumar wisperte: »Sieh nur. Christopher, sieh nur!«
Da öffnete Christopher die Augen wieder, und er sah. Doch es dauerte, bis er glaubte, was er sah: Es gab keine Drachen im Garten. Keinen einzigen. Zwischen den Bäumen und Sträuchern, den Stauden und Rosenbüschen flatterten Millionen von Schmetterlingen.
Sie ließen sich auf den Blüten nieder, um ihren Nektar zu trinken, aber sie konnten den Farben des Gartens nichts anhaben, und ihre Schatten waren winzig und harmlos.
Der alte Bettler lehnte an einem der Bäume und beobachtete die Schmetterlinge.
Und da erkannte Christopher ihn. Er hatte es natürlich die ganze Zeit über geahnt. Der Alte trug jetzt keine Fetzen mehr, er war in das orangefarbene Gewand eines Mönchs gekleidet. Oder vielleicht war er das die ganze Zeit schon gewesen? Und wie war er von den Bergen herabgekommen?
Aber logische Fragen erschienen unwichtig vor all dem, was geschehen war.
Der Mönch nickte noch einmal.
Er hatte verziehen.
Und dann verschwand er, einfach so.
Das erste, zaghafte Licht des Morgens, das sich mit scheuen Fingern rötlich über den Horizont herauftastete, fand keinen Bettler mehr im Palastgarten und auch keinen Mönch im orangefarbenen Gewand.
Womöglich hatte es nie einen gegeben. Womöglich war alles Einbildung gewesen.
Aber da waren die Flügel all jener Schmetterlinge, auf denen das erste Licht spielerisch seine Scheu verlor ... nun, manches muss unerklärt bleiben.
Ein neuer Tag dämmerte herauf.
Die Nacht war vorüber.
Und der König, oben an seinem Fenster, der dies alles doch gar nicht sehen konnte:
Er muss es wohl gespürt haben.
Denn der König weinte.
Er verabschiedete sich gegen 6.54 Uhr vom Leben, in den Armen seines Sohnes.
Sterben tat er erst fünf Tage später, in einem weißen Krankenhausbett, zwischen einer Menge Schläuche und Geräte, aber das war unwichtig. Um 6.54 Uhr war er zum letzten Mal bei Bewusstsein.
Jumar sagte ihm nichts davon, dass er das Land niemals regieren würde – mit welcher Macht auch immer.
Die Stadt schlief lange am nächsten Tag, erschöpft und ausgelaugt unter ihren farblosen Dächern. Nur der Garten wachte über die Menschen, summend und flatternd, duftend und grün.
Und mitten im Garten, in ihrem Pavillon, auf welchen Kissen, schlief die Königin. Sie schlief noch immer.
Sie frühstückten zu dritt am späten Nachmittag, keine Konservendosen. Sie sagten nicht viel. Keinem von ihnen war danach, viel zu sagen. Außerdem lief der Fernseher.
Kathmandu machte Schlagzeilen in den folgenden Tagen und eroberte die Nachrichten. Doch in den Nachrichten ist immer alles anders. Wer weiß schon, was wirklich geschehen ist?
Über die Bilder in den Zeitungen wunderte sich selbstverständlich niemand, denn Bilder in Zeitungen haben niemals Farben. Aber viele Leute brachten in jenen Tagen ihre Fernsehgeräte zur Reparatur, weil sie ständig nur schwarz-weiße Bilder zeigten, wenn die Hauptstadt Nepals auf dem Bildschirm erschien. Die Mechaniker wussten sich keinen Rat. Die Fernseher waren alle in Ordnung.
Und spätestens als die Nachrichtenwellen aus Nepal verebbten, vergaßen die Menschen die merkwürdigen Macken ihrer Bildschirme.
Der große T wurde nicht wieder gesehen. Vielleicht gibt es ihn noch, ihn und seine Anhänger, irgendwo in den Bergen. Doch das Volk, sagt man, regiert sich jetzt selbst. Es hat ein Parlament gewählt und ist ab jetzt für sein eigenes Glück und Unglück verantwortlich. Man kann sich natürlich nicht sicher sein, ob das stimmt und ob es gut geht. Ein Thronfolger ist nie irgendwo aufgetaucht. Es gibt Gerüchte.
Aber Gerüchte gibt es stets.
Ist nicht dieses Buch ein einziges, langes Gerücht?
Tatsache ist, dass die Ausfuhr von Bronzestatuen aus Nepal in den Monaten nach dem Regierungswechsel für kurze Zeit rapide anstieg. Die meisten von ihnen waren ungefähr handgroß, aber sehr realistisch und voller Details, als wären sie auf eine seltsame Weise von ihrer natürlichen Größe auf ihre jetzige Form herabgeschrumpft.
Noch viel später berichteten manchmal Wanderer von Wegen, die einfach plötzlich nicht mehr da waren, Wanderer, die beteuern, sich sonst niemals verlaufen zu können. Sie werden erzählen, dass sie an jenen Tagen die berühmten blauen Schafe des Himalaja gesehen hätten, allerdings mit einem bronzefarbenen Stich in ihrem bläulichen Fell...
Die Kuppel des Gartens wurde abgerissen, und die Kieswege wurden allen zugänglich gemacht. Die Leute wanderten staunend zwischen den duftenden Blüten umher und holten sich Ideen, wie sie ihre Häuser und Tempel neu anstreichen könnten. Auch der Pavillon in der Mitte des Gartens ist längst ein öffentlicher Platz. Die schlafende Königin musste zu diesem Zweck weichen und wurde – behutsam, aber endgültig – in ein Zimmer im dritten Stock des Palastes umgebettet.
Dort lag sie zum ersten Mal unbequem – eine winzige Falte im Bettlaken drückte irgendwo in der Gegend ihres vierten Lendenwirbels, und davon wachte sie auf.
Seitdem ist die Königin ein tolerierter Gast in ihrem eigenen Palast. Man munkelt, sie würde erwägen, demnächst dort Fremdenführungen für Touristen zu veranstalten, weil sie sich langweilt. Doch wo immer man sie sieht – sie wirkt stets etwas abwesend, als hätte sie einen großen Teil ihres eigenen Lebens verpasst und den Anschluss nicht mehr gefunden: ein verlorener Geist ihrer Zeit.
Nicht alles kann gut ausgehen.
Zwei Tage nach jener schattenvollen Nacht saß Jumar mit Christopher in einem der kleinen Teeläden der Stadt. Arne hatte sich auf die Suche nach einem Internetcafé gemacht, dessen Leitungen eventuell schon wieder funktionierten.
Ein Notaggregat röhrte vor dem Eingang des Ladens, denn der Strom war ausgefallen, wie er das so oft tut in Kathmandu, und der Ventilator über ihren Köpfen ratterte, gefüttert vom Strom des Aggregats. Zwei Fliegen waren auf der karierten Plastiktischdecke unterwegs durch eine Pfütze. Jumar trank Limonade und Christopher Tee.
Sie sprachen über Europa und darüber, was man sich dort ansehen sollte.
Der Geruch von Maggi-Instant-Nudeln schwebte aus einer Pfanne über einem offenen Feuer herüber.
Jumar spielte mit dem dünnen grünen Strohhalm und betrachtete ein Hochglanzplakat an der Wand, auf dem aus unerfindlichen Gründen die Hochhäuser Frankfurts dargestellt waren.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – doch als er sich wieder umdrehte, war Christopher verschwunden.
Der Stuhl ihm gegenüber war leer. Der Tee in der Blechtasse wurde kalt; ungetrunken.
Er sah zu der schiefen Tür hinüber, auf der in großen Lettern BATH-RUM gepinselt stand. Doch die Tür war offen. Christopher war nirgends zu sehen.
Jumar stützte den Kopf in die Hände und war in Gedanken über Europa versunken. Irgendjemand musste die Teetasse weggenommen haben, denn nach einer Weile merkte er, dass sie nicht mehr da stand.
Und als er den Tee und die Limonade bezahlen wollte, schüttelte der kleine Junge, der mit einem dreckigen Lappen die Tische abwischte, verwundert den Kopf.
»Ihr hattet nur Limonade«, erklärte er.
»Mein Freund«, beharrte Jumar, »der mit mir hier saß. Ich will seinen Tee bezahlen.«
Der Junge warf ihm einen merkwürdigen Blick zu.
»Ihr seid alleine gekommen«, sagte er.
Jumar blieb noch lange sitzen und wartete. Doch Christopher kehrte nicht zurück.
Und schließlich stand Jumar auf und tauchte mit einem kaum hörbaren Seufzen ins Gewühl der Straße ein.