1.
Die erste Frage war natürlich, was er auf der Autobahn getan hatte.
Drei Kilometer nördlich der Ausfahrt Rostock Südstadt, nach der Warnowtalbrücke, abends gegen neun Uhr.
Der Fahrer des Unfallwagens sagte, er sei einfach in der Dämmerung aufgetaucht, plötzlich, ohne Vorwarnung, aus dem Nichts. Er habe, sagte er, das Steuer gerade noch herumreißen können, nicht weit genug herum, und er habe eine Vollbremsung hingelegt, aber das ist nicht wahr, denn bei einer Vollbremsung hätte der Wagen sich überschlagen, bei der Geschwindigkeit; schließlich war es die Autobahn.
Der Fahrer des Unfallwagens hätte alles gesagt, um seine Haut zu retten, er hätte auch gesagt, die Gestalt, die sein Wagen erfasst hatte, sei vom Himmel gefallen. Er war zu schnell, sicherlich war er zu schnell. Auch auf der Autobahn gibt es Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Der Wagen, ein silberner BMW, geriet durch die Bremsung ins Rutschen, er erfasste den Körper von der Seite und schleuderte ihn gegen die linke Leitplanke, wo er ein zweites Mal mit ihm kollidierte, so dass er zwischen der zerquetschten Hintertür und der Leitplanke eingeklemmt wurde, zwischen einundzwanzig Uhr und einundzwanzig Uhr fünfzehn. Der Krankenwagen und die Polizei waren gegen einundzwanzig Uhr dreißig vor Ort. Sie mussten den Fahrer des Wagens aus dem Auto schneiden, aber bis auf Prellungen vom Airbag hatte er keine Verletzungen. Gegen dreiundzwanzig Uhr fanden sie in der Klinik das blaue Plastikportemonnaie mit dem Fahrausweis.
Die erste Frage war, was er auf der Autobahn getan hatte.
Aber das war nicht die erste Frage, die Claas stellte, als sie anriefen.
Seine erste Frage war: »Aber er lebt?« Sekunden später legte er das Telefon auf.
Er sagte nicht: »Setz dich« zu mir, oder: »Du musst jetzt stark sein«. Er drehte sich nicht einmal zu mir um. Er sah aus dem Fenster. Draußen lag der Garten, dunkel und duftend von Flieder und Frühlingserde.
Ich rieche die Erde noch immer, seltsam, all diese unwichtigen Details haben sich in mein Gedächtnis gegraben und sind nicht mehr daraus zu löschen.
Claas holte tief Luft. Und dann sagte er jene knappen, präzisen Worte, die ich nie vergessen werde, jene Worte, die sein Umriss wurden, sein Schatten, sein Mantel und sein Gesicht. Jene Worte, die ich, zusammen mit ihm, hassen lernte. Er sagte:
»David hatte einen Unfall. Auf der A 20. Er ist nicht bei Bewusstsein, aber er lebt. Sie haben ihn nach Rostock gebracht. Wir fahren sofort los.«
Fünf Sätze, konzentrierte Information, vernünftig, erwachsen. Ohne Emotion. Etwas in mir wollte zusammenbrechen, wollte schreien, wollte etwas Irrationales tun, aber Claas’ Worte verboten es mir.
Ich stieg ohne Mantel ins Auto, nur im T-Shirt, obwohl der Wind kalt war für Anfang Mai. Ich weiß noch, dass die Frösche vom Bach her quakten und dass ich die Fliederhecke roch. Und dass beim Ortsausfahrtsschild René stand, der immer allen Autos winkt, und dass er winkte. Und dass ich auf dem Weg durch die Felder die einsame Spaziergängerin sah, die wir nur die einsame Spaziergängerin nannten, weil keiner ihren Namen wusste. Ihr langes, glattschwarzes Haar wehte hinter ihr her, und sie schien mir an diesem Tag noch unwirklicher als sonst, weil alles, der ganze Frühling, plötzlich unwirklich geworden war.
Ich schaffte es nur mit Mühe, mich anzuschnallen, das Gurtsystem erschien mir mit einem Mal unsagbar kompliziert.
»Auf der A 20?«, fragte ich im Auto. »Warum auf der A 20? Wie ist er da hingekommen? Wer hat ihn, besser gesagt, da hingebracht? Und warum?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Claas. Mehr sagte er die ganze Fahrt über nicht.
Ich sah ihn an, von der Seite, seinen Schattenriss im dunklen Auto, den ich so gut kannte. In jener Nacht schien er mir fremd. Ich war ganz allein im Auto, allein mit meiner Angst. Allein mit dem Frühjahr und der Frage, was auf der A 20 und was zuvor geschehen war. Zwischen ein Uhr mittags, als David zuletzt von einem Freund gesehen worden war – und jenem Moment, in dem er in der Dämmerung plötzlich auf der Autobahn gestanden hatte, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt. Mitten auf der Fahrbahn, sagte der Fahrer später zu uns, während er versuchte, meine Hand zu schütteln.
Seine Hände waren sehr groß.
Sein Lächeln war dünn und faserig im grellen Licht des Klinikflurs.
»Hören Sie doch auf zu lächeln!«, wollte ich schreien.
Entschuldigen Sie, ich erzähle nicht ganz geradeaus. Es fällt mir schwer, diese Geschichte geradeaus zu erzählen, sie ist jetzt vorüber, aber andererseits wird sie nie vorüber sein, und ich muss mich erst daran gewöhnen, sie so zu erzählen wie eine Geschichte, die vorüber sein könnte.
Claas, das habe ich nicht erwähnt, ist mein Mann.
David ist mein Sohn.
Am zweiten Mai, dem Tag des Unfalls, war er neun Jahre und sieben Monate alt.
Er lag in einem weißen Bett, das mir unnatürlich hoch vorkam. Es war irgendeine Art von Spezialbett, umgeben von Spezialgeräten: Monitoren, Infusionsständern, Geräten mit kleinen Digitalanzeigen, auf denen kryptische Ziffern leuchteten. Ein regelmäßiges und beinahe hypnotisches Piepen teilte die Luft in akkurate Zeiteinheiten. Über einen Bildschirm lief die neongrüne Linie eines EKGs.
Mein erster Impuls war, auf das Bett zuzulaufen und ihn zu umarmen, ihn aus dem Wald der Geräte zu befreien, ihn an mich zu drücken, wie ich es getan hatte, wenn er hingefallen war, damals, vor sehr langer Zeit. David, David. Ich bin jetzt da. Alles ist gut.
Das Piepen der Geräte hielt mich zurück wie ein unsichtbarer Zaun.
»Sein Herz«, flüsterte ich. »Da, schau, sein Herz schlägt.«
Claas nickte. Ich dachte, er würde meine Hand nehmen, um sie zu drücken, und zog sie weg, weil mir nicht danach war, von jemandem die Hand gedrückt zu bekommen, am allerwenigsten von ihm, dem emotionslos Nüchternen, der in fünf Sätzen etwas sagen konnte, das zu schrecklich für ein ganzes Buch war. Aber Claas hatte gar nicht den Versuch gemacht, meine Hand zu nehmen. Er stand nur da und starrte das seltsam hohe Bett an.
Er kannte sich besser aus mit den Geräten und den Monitoren. Er ist Arzt.
Ich fragte mich, ob er in den Linien und Ziffern Dinge las. »Sag mir nicht«, flüsterte ich, »was sie bedeuten. Wenn es etwas Schlimmes ist, will ich es nicht wissen.«
Aber ich glaube, er hörte mich gar nicht. Er ging einen Schritt näher und beugte sich über das Bett. Vorsicht!, wollte ich jetzt rufen. Er braucht doch all diese Schläuche und Geräte, sie sind seine Verbündeten in einem Kampf gegen seine Verletzungen. Am liebsten hätte ich Bett und Geräte und David mit einer Glasglocke umgeben, damit ja niemand versehentlich einen Teil der Einheit zerstörte.
Aber Claas war nicht ich, er machte nicht einmal den Versuch, David zu berühren. Natürlich nicht, dachte ich, nicht Claas.
Ich trat auf Zehenspitzen an das Bett heran.
Das Kindergesicht dort lag als stilles, blasses Oval in einem Rahmen aus weißem Gips. Der ganze Kopf war verbunden wie auf einer Karikatur, doch es sah nicht lustig aus. Es sah, wenn überhaupt, aus wie ein abstraktes Kunstwerk.
Ich legte meine Hand auf die von David; seine Hand war weiß wie die Decke, weiß wie der Gips. In der Ellenbeuge weiter oben verschwand ein Infusionsschlauch.
»David«, flüsterte ich. »Hier ist Mama.« Ich kam mir dumm vor dabei, er hatte nicht mehr »Mama« zu mir gesagt, seit er in die Schule gekommen war. Von da an hatte er darauf bestanden, mich bei meinem Vornamen zu nennen, Lovis. »Wir haben dich gesucht«, flüsterte ich. »Überall. Wir haben alle möglichen Leute angerufen, und … keiner hatte dich nach der Schule gesehen … Wir haben dann mit der Polizei telefoniert … David … Was ist passiert? Was?«
Meine Stimme war unnatürlich tief und sehr heiser.
»Er kann Sie nicht hören«, sagte ein Pfleger hinter mir. Er war ganz in Ultramarinblau gekleidet, und Ultramarinblau schien mir in diesem Moment eine völlig unverständliche Farbe. Allein schon das Wort.
»Man weiß nie«, sagte ich, und der ultramarinblaue Pfleger wanderte weiter, zu irgendeinem anderen Bett in einem anderen Wald aus Schläuchen und Monitoren.
Ich sah zurück zu David.
Drei Strähnen seines rötlich blonden Haars fielen unter dem Verband hervor. Stilles, blasses Oval habe ich geschrieben. Das ist eine Lüge. Davids linke Wange war ein einziger dunkler Bluterguss, direkt unter dem Auge gekrönt von einer Schürfwunde, über der das Blut bereits getrocknet war. Ich fragte mich, weshalb sie sie nicht mit einem Pflaster abgedeckt hatten. Vielleicht war das unwichtig im Vergleich zu seinen anderen Verletzungen. Sein kleiner Körper befand sich unter einer dünnen weißen Decke, ich konnte nicht sehen, was für Verbände es sonst noch gab. Ich sah nur, dass sein schmaler Brustkorb sich hob und senkte. Und ich schluckte all meine Tränen hinunter, denn die Hauptsache war, dass dieser Brustkorb sich bewegte.
»Er hat Glück gehabt mit dem Auge«, sagte ich, um irgendetwas Positives zu sagen.
»Ja«, sagte der Arzt, der neben uns stand – ich hatte ihn bisher kaum bemerkt, »Glück. Mit dem Auge.«
»Wann wird er zu sich kommen?«, fragte ich, so leise, als würde ich es gar nicht wirklich fragen.
»Das können wir nicht sagen«, antwortete der Arzt. »Man wird sehen.«
»Ist das … ein … wie sagt man … künstliches Koma? Durch Medikamente?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wir sollten uns woanders darüber unterhalten. Kommen Sie mit ins Arztzimmer.«
Claas legte mir eine Hand auf die Schulter, jetzt also doch, und ich schüttelte sie ab.
»Geh du mit ihm«, sagte ich. »Ich bleibe hier. Ich bleibe bei David.«
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, rückte ich mir einen Stuhl heran und setzte mich so nah ans Bett, wie die Geräte und Schläuche es erlaubten. Und ich dachte: Jetzt kann ich ja weinen, wo sie gegangen sind. Doch ich weinte nicht.
Ich hielt nur Davids Hand, ganz behutsam, und sah sein blasses Gesicht an und die drei Strähnen seines rötlichen Haars. Goldhaar hatten wir immer gesagt, unser Prinz Goldhaar. Eine Schwester kam herein, tat irgendetwas mit den Geräten und ging wieder. Ich sah sie nur als Schemen. Ich wusste nicht, wie lange ich bei David saß und wie viele Leute hereinkamen und leise miteinander sprachen und wieder hinausgingen, ich blendete sie alle aus, ich war allein mit David.
Ich erinnerte mich genau daran, wie ich ihn zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Er hatte damals schon dieses goldene Haar gehabt, er war damit geboren worden. Seine Augen hinter den geschlossenen Lidern waren grün, grün wie die Wellen des grünen Meeres am Steg bei unserem Haus.
Auch seine Nase trug eine Schürfwunde. Glück, dachte ich wieder, er hat Glück gehabt. Es hätte schlimmer sein können, viel schlimmer, hundertfünfzig Stundenkilometer und ein Kindergesicht … Ich wollte nicht daran denken.
Ich dachte daran, wie wir uns gestritten hatten. Hatte sein Verschwinden etwas damit zu tun gehabt? Wir hatten oft gestritten in der letzten Zeit. Über scheinbar belanglose Dinge. Einmal war David so wütend geworden, dass er die alte Petroleumlampe vom Regal gehoben und zu Boden geschleudert hatte, wo sie in tausend Scherben zersprungen war. Und ich wusste nicht einmal, was ihn so wütend gemacht hatte.
Er war schon immer ein emotionaler kleiner Mensch gewesen, mein Goldhaarjunge mit den grünen Meeresaugen. Aber in der letzten Zeit war es schlimmer geworden. In der letzten Zeit war er … seltsam gewesen. Wirklich seltsam.
Das ist die Pubertät, hatten wir zueinander gesagt, Claas und ich, und gelacht. Kommt etwas früh. Bei einem Kind wie David ist eben nichts gewöhnlich …
Nein, gewöhnlich war er nicht. Er besuchte die vierte Klasse der Montessorischule, aber er hätte die sechste besuchen können. Wir hatten uns geweigert, ihn in eine höhere Klasse springen zu lassen. Wir hatten nicht gewollt, dass er ein Stück seiner Kinderzeit verlor. Wir hatten auch keine Berechnungen und Tests gewollt, die über seinen IQ spekulierten. Er konnte schneller kopfrechnen als ich. Er brachte sich selbst Latein und Japanisch bei. Er las wissenschaftliche Texte über Amöben, oder er schrieb welche, wenn es ihn packte.
Er war unser Kind. Das war alles, was zählte.
Und dennoch, dachte ich, habe ich ihn verloren. Neben dem weißen Klinikbett dachte ich diesen Gedanken zum ersten Mal. Es war ein schrecklicher Gedanke. Ich hatte mir nicht mehr genug Zeit genommen, David war mir entglitten, langsam, aber stetig.
Und weil ich nicht über diese Tatsache nachdenken wollte, dachte ich über das oberflächlich Wichtige nach, das eigentlich unwichtig war.
»Was ist passiert?«, flüsterte ich noch einmal. »Wie bist du auf die Autobahn gekommen, David? Hat jemand dich gezwungen, zu ihm ins Auto zu steigen? Bist du vor etwas weggelaufen? Oder wolltest du irgendwohin? Und wenn ja, wohin? Und weshalb?«
Er stand auf einmal da, hatte der Fahrer des BMW gesagt. Wie aus dem Erdboden gewachsen. Mitten, wirklich, mitten auf der Fahrbahn. Da war niemand, und dann war ER da, es war direkt unheimlich …
Wenn ich herausfinde, was geschehen ist, wacht er auf.
Dann findet er zurück zu mir, zu uns. Dann wird alles gut.
Fahren Sie nach Hause, hatte der Arzt gesagt.
Nach Hause.
Das Wort erschien mir leer und verbraucht wie die Luft im Auto. Zu Hause war ein Ort, an dem David gewesen war. Wieder sein würde, sagte ich mir. Bald. Aber in der Zwischenzeit, während David in einem Stadium zwischen Existenz und Nichtexistenz schwebte, gab es kein Zuhause. Das von uns bewohnte Bauwerk am Ende der kleinen Kopfsteinpflasterstraße zwischen den beiden großen Kastanien hatte keinerlei Bedeutung bis auf die, dass es ein Gefäß der Erinnerung war, die alten Backsteinmauern wie eng beschriebene Blätter mit Geschichten über Davids Kindheit.
Es regnete, als Claas von der Bundesstraße zum Dorf abbog. Das Licht hing tief aus den Wolken, fädenziehend und grau. Die einsame Spaziergängerin war noch immer oder schon wieder über die Felder unterwegs. Sie trug jetzt einen schwarzen Regenschirm.
Es war Nachmittag.
Wir hatten die ganze Nacht an Davids Bett gesessen, oder besser gesagt: Ich hatte dort gesessen. Claas war auf dem Flur auf und ab gegangen und manchmal leise hereingekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Natürlich war nichts in Ordnung.
Ich hatte weiter Davids Hand gehalten, trotz der Schläuche. Seine linke, denn der gesamte rechte Arm steckte in einem Gips, nur die Fingerspitzen waren zu sehen.
Gegen Morgen hatte ich doch mit dem Arzt gesprochen. Er hatte Kaffee gekocht.
Ich sah noch vor mir, wie er mir die Tasse hinschob und Milch hineingoss. Ich mag keine Milch im Kaffee.
»Danke«, sagte ich und trank den Kaffee mit Milch.
Der Arzt hieß Samstag, Thorsten Samstag, es stand auf dem Schild an seinem Kittel. Er hatte keine Zeit, nahm sich aber welche.
Er sprach lange in meinen Kaffee.
Es gäbe, sagte er, Chancen. Aber man könnte nichts Genaues sagen. Man könnte nicht sagen, wann David aufwachte. Oder ob. »Oder ob«, sagte er nicht, er schwieg es. Ich las die Worte im Kaffee gleich unter der Milch und trank sie rasch aus, ehe sie in mein Bewusstsein vordringen konnten.
Die Knochenbrüche, die David davongetragen hatte, waren unwichtig, nebensächlich, heilbar. Was den Ärzten Sorgen bereitete, war sein Kopf. Schädel-Hirn-Trauma, sagte Thorsten Samstag, ein Bruch auch im Schädel, haarfein, ein Riss, aber es wäre unklar, wie sehr das Gehirn darunter gelitten hätte. Sie würden heute noch einmal ein MRT machen.
Fahren Sie nach Hause. Es nützt jetzt keinem etwas, wenn Sie hierbleiben. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Sie können jederzeit hier anrufen. Ich dankte ihm und wusste nicht, wofür. Er machte nur seine Arbeit. Wie Claas, wenn er in der Klinik war. So also ist das, dachte ich, spricht Claas so mit seinen Patienten? Er arbeitete nicht auf der Intensivstation, sondern in der Inneren, in Stralsund, aber Patienten sind Patienten. Ist es so, wenn Claas sich Zeit nimmt für sie und deshalb keine Zeit hat für David oder für mich?
Ich sah ihn von der Seite an, als er die Haustür aufschloss, an jenem strähnig grauen Mainachmittag, im Regen. Claas Altenau, oder genauer gesagt Doktor Claas Peter Altenau, mein Mann. Namen mit Doktor vorne klingen immer wie aus einem Groschenroman. Claas war ungeeignet für Groschenromane. Er war sehr groß, aber nicht schön. Auch nicht hässlich, nur eben nicht schön. Sein linkes Ohr stand ein wenig zu weit ab, sein Gesicht war ein wenig zu schmal, seine Nase ein wenig zu krumm, und seine Zähne waren ein Zeugnis der Kieferorthopädie vergangener Jahrzehnte. Die Feuchtigkeit hatte sein schwarzes Haar an diesem Morgen zu Locken gedreht, obwohl er es seit einigen Jahren beinahe militärisch kurz schneiden ließ, um ebendiese Locken zu vermeiden, weil er sie unangemessen fand für sein Alter. Als wäre er ein alter Mann. Im Januar war er fünfzig geworden, still und leise, ohne Geburtstagsfeier. An einem Sonntag, den er in der Klinik verbracht hatte.
Ich hatte einen Kuchen gebacken, in der Hoffnung, er würde früher nach Hause kommen als sonst. Er war nicht früher nach Hause gekommen. Abends hatten wir den Kuchen beide vergessen.
Er fand den richtigen Schlüssel nicht, seine grauen Augen wanderten verloren über die Vielzahl an Schlüsseln an dem Bund in seiner großen Hand – Fahrradschlüssel, Schlüssel zum anderen Auto, Schlüssel zum Werkzeugschuppen, Schafstallschlüssel … und der kleine Ersatzschlüssel für Davids Fahrradschloss. David verlor häufig seinen Fahrradschlüssel. Er verlor überhaupt vieles. Er war zu intelligent, unser Sohn, und gleichzeitig stets in Gedanken, zerstreut wie der sprichwörtliche Professor.
Einmal hatte er sich im Bad eingeschlossen, um herauszufinden, ob der Schlüssel zur Badezimmertür passte. Und dann hatte er, weil irgendetwas ihn ablenkte, den Schlüssel zum Bad im Bad verloren und aus dem Fenster steigen müssen, im ersten Stock. Er hatte eine der beiden Kastanien benutzt, die dort wuchsen, um hinunterzuklettern. Den Badezimmerschlüssel haben wir nie wiedergefunden.
»Lovis?«, fragte Claas und fand endlich den richtigen Schlüssel. »Du guckst mich so an. Stimmt etwas nicht?«
»Ich dachte an David«, sagte ich. »Und an … Kastanien …«
Dann ging ich voraus in den Vorflur, in dem es nach nassem Hund und Erde roch. Die Tür, die den Vorflur vom eigentlichen Flur trennte, hatte Scheiben aus farbigem Glas, die das graue Licht in helle Flecken verwandelten. Das Haus war alt, einst war es das Pfarrhaus des Dorfes gewesen. Jetzt gab es seit langem keinen Pfarrer mehr. Tauben nisteten in der kleinen Feldsteinkirche, deren Friedhof ganz hinten an unseren Garten grenzte. Ich erinnerte mich daran, wie David einmal die Inschriften aller Grabsteine mit einem weichen Bleistift abgepaust hatte – eines seiner abstrusen Projekte. Die Kirche und der Friedhof hatten ihn immer schon fasziniert, vielleicht gerade, weil wir nicht religiös waren.
»Du solltest dich hinlegen«, sagte Claas und nahm mir die Jacke ab. Es war seine Jacke, er hatte sie mir im Auto zuvor umgelegt, weil ich meine eigene vergessen hatte.
Einen Moment lang wünschte ich, er würde die Jacke auf den Boden fallen lassen und mich in den Arm nehmen. Aber er tat es nicht, und ich hörte wieder auf, es mir zu wünschen.
»Und du?«, fragte ich.
Er sah auf die Uhr. Claas war einer der wenigen Menschen, die nicht ihr Handy zückten, wenn man sie nach der Uhrzeit fragte, sondern tatsächlich noch eine Armbanduhr besaßen.
»Ich muss in die Klinik«, sagte er. »Ich habe vorhin schon angerufen und ihnen gesagt, dass ich später komme. Sie warten mit der Visite.« Er fischte seine Tasche von einem der altmodischen Holzhaken an der Wand.
»Gibt es keine anderen Oberärzte, die deine Arbeit machen können?«, fragte ich müde.
Er hatte die Haustür schon wieder geöffnet, ein kalter Wind strich in den Vorflur. Einen Moment blieb Claas in der offenen Tür stehen.
»Soll ich hierbleiben?«
Und beinahe hätte ich ja gesagt. Bleib bei mir. Hilf mir, das Rätsel zu lösen, wie David auf die Autobahn kam. Hilf mir, in diesem Haus zu sein, das nur noch ein Erinnerungsgefäß ist. Hilf mir, endlich zu weinen.
»Nein«, sagte ich. »Geh ruhig.«
Er nickte, Besorgnis im Blick. Kurz darauf hörte ich draußen den Motor starten. »Es ändert ja nichts«, sagte ich laut zu keinem Claas mehr.
Dann ging ich durch die Buntglastür ins Haus, frierend, die bloßen Arme zitternd um mich geschlungen, und sah die alte Holztreppe hinauf. Das Haus war mit einem Mal riesig. Und ich war darin ganz allein.
Ein Gefäß der Erinnerung.
Davids Zimmer lag oben, unter dem Dach. Ich stieg die breite Holztreppe langsam hinauf, und als ich vor seiner Tür stand, hatte ich beinahe Angst, sie zu öffnen.
»Eintreten nur nach Aufforderung« stand auf einem Blatt an der Tür, maschinengeschrieben. Vor einem Jahr hatte David Claas’ alte Schreibmaschine im Schuppen gefunden, und wir hatten sie gemeinsam hinauf in sein Zimmer geschleppt.
»Wozu brauchst du diese Schreibmaschine?«, hatte ich gefragt, und er hatte mich ernst angesehen und geantwortet: »Für die Dokumentation eines Projekts. Es sollte autistisch aussehen.«
»Meinst du authentisch?«, hatte ich gefragt.
»Vielleicht«, hatte David gesagt.
Er hat sich immer bemüht, dem Klischee des zerstreuten Professors zu entsprechen und möglichst viele Fremdwörter zu benutzen. Leider war er meistens zu zerstreut, um sie sich richtig zu merken.
»Jetzt musst du gehen«, hatte er gesagt, nachdem wir die Maschine auf den Schreibtisch gehievt hatten. »Ich würde wirklich gerne mehr Zeit mit dir verbringen, Lovis, aber ich habe zu arbeiten.«
Ich lächelte, als ich daran dachte. Eintreten nur nach Aufforderung.
Ich trat ein, unaufgefordert, und hoffte, dass er mir vergeben würde.
Das zähe Regenlicht tropfte auch hier durchs Fenster und durchnässte den bunten Webteppich auf dem Dielenboden. Das Fenster befand sich in der geschwungenen Dachgaube, vor der Davids Schreibtisch stand. Darauf thronte, schwarz und unnahbar wie der Monolith aus dem Film 2001, die Schreibmaschine. Ich trat an den Schreibtisch heran. Ein Kinderschreibtisch. Die Maschine nahm beinahe den ganzen Platz darauf ein. Daneben lag ein Stapel Papier, weiß und unbenutzt.
Ich spannte eine neue Seite ein und tippte den Buchstaben D. Dann ein A. Es war nicht leicht, man musste wirklich auf die Tasten schlagen. V.I.D.
Einen der Computer im Haus zu benutzen wäre bedeutend einfacher gewesen.
Aber Davids Projekte zeichneten sich nicht durch Einfachheit aus.
Auf den Regalen standen die stummen Zeugen anderer Projekte: ein Album mit Briefmarken, die er selbst entworfen, ausgeschnitten und mit gefälschten Stempeln versehen hatte – alles Einzelstücke, hatte er gesagt, die haben einen Tauschwert, das glaubst du nicht. Er hatte sie allerdings nie getauscht. Daneben das mit Draht zusammengefügte Skelett eines Otters, den er überfahren auf der Straße gefunden und zwei Wochen lang in ungelöschten Kalk gelegt hatte, um das Fleisch von den Knochen zu befreien. Dreizehn Würfel mit farbigen Seitenflächen, die ich für ihn hatte durcheinanderdrehen müssen, damit er die Farben durch erneutes Drehen wieder ordnen konnte. Am Ende hatte er es auf eine Zusammenbaudauer von einer Minute dreißig gebracht. Doch das war drei Jahre her. Die Zeiten, in denen ich neben ihm gesessen und ihm bei seinen Projekten geholfen hatte, waren vorbei.
Irgendwo ganz unten im Regal stand ein kleines Bild, das uns zusammen zeigte, draußen im Garten, beim Bau eines Modellflugzeugs. Das Bild war kein Foto, sondern ein Ölbild, auch wenn es nach Vorlage eines Fotos entstanden war. Neben dem Modellflugzeug-Bild stand ein weiteres, auf dem David auf Claas’ Schultern saß. Ich fragte mich, ob er die Bilder in der letzten Zeit noch angesehen oder ob er vergessen hatte, dass sie da waren, weil sie immer schon da waren.
Die Bilder waren mein Projekt. Mein Lebensprojekt.
Unser Haus war voll von ihnen – die meisten waren eher abstrakter Natur. Deine kleinen grauen Kästchen, hatte David immer gesagt.
Lovis Berek stand unter den Bildern, und Lovis Berek stand auch auf den Katalogseiten der Galerien, in denen ich ausstellte. Vielleicht haben Sie von Lovis Berek gehört. Lovis Berek war einmal sehr erfolgreich. Vor dem zweiten Mai, an dem ihr Sohn auf der A 20 einen Unfall hatte, den sich niemand erklären konnte. Lovis Berek hat vielleicht, möglicherweise, vermutlich … zu viel Zeit mit ihren Bildern und ihren Ausstellungen und zu wenig Zeit mit David Berek verbracht.
Ich setzte mich auf Davids Bett und legte mir seine Decke um die Schultern, und es war, als könnte ich seine Wärme noch spüren. Das Zittern verließ mich, und ich saß eine Zeitlang ganz still auf der Bettkante. Wovon hatte David geträumt, in der Nacht vor dem Unfall? Hatte etwas ihm Sorgen bereitet, etwas ihn sich im Schlaf herumwälzen lassen? Etwas, das dazu geführt hatte, dass er am nächsten Tag nach der Schule nicht in den Bus gestiegen war, um nach Hause zu fahren?
Zuerst waren wir davon ausgegangen, er hätte nach der Schule einen seiner Freunde besucht und vergessen, Bescheid zu sagen. Wir? Ich war davon ausgegangen.
Claas war nicht zu Hause gewesen, natürlich, Claas war wie immer erst abends gekommen, um kurz nach zehn, Stunden nach seinem regulären Dienstschluss. Er hatte mich im Flur gefunden, das Telefon in der Hand.
»Nichts«, hatte ich gesagt, ich hörte meine Worte noch in dem zu leeren, David-losen Haus hallen, ich sah noch Claas’ verständnisloses Gesicht, das Grau in seinen Augen müde nach einem Kliniktag. »Ich habe die Polizei noch einmal angerufen. Ich habe sie schon dreimal angerufen, das erste Mal um fünf. David … David ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe nicht nur die Polizei angerufen. Ich … ich habe jeden angerufen, der mir eingefallen ist, die Schule, und Peter aus seiner Klasse, und Finn, und Davids Handy, natürlich, aber er geht nicht ran, und sogar den Fußballclub, ich dachte, vielleicht ist ein Spiel oder Training und ich habe es vergessen, aber er war nicht dort, sie haben eine Vermisstenmeldung im Radio gebracht, sie melden sich, wenn sie etwas wissen, sie melden sich …«
Dann war ich in die Küche gegangen und hatte mir ein Glas Wein eingegossen, randvoll, und es ausgetrunken. Claas war mir nachgekommen.
»Lovis«, hatte er gesagt, ganz leise, »du hast jeden angerufen … warum hast du mich nicht angerufen?«
Ich habe ihm die Frage nie beantwortet. Denn in diesem Moment, fünf Minuten nach meinem Gespräch mit der Polizei, klingelte das Telefon. Und das war die Klinik in Rostock, und Claas hob ab und lauschte und sagte jene nüchternen, vernünftigen Worte: David hatte einen Unfall. Auf der A 20.
Ich dachte wieder an das reglose, blasse Gesicht zwischen den Verbänden, die geschlossenen Augenlider, die drei Strähnen goldroten Haares.
Und auf einmal packte die Müdigkeit mich, mir war schwindelig vor Müdigkeit. Ich ließ mich zur Seite sinken, rollte mich auf Davids Bett zusammen und zog die Decke über mich. Dann schloss ich die Augen. Alles, was ich wollte, war, einen Moment lang nicht zu denken.
Beim Yoga denken die Leute an nichts. Wie machen sie das nur? Ich dachte der Reihe nach folgende Gedanken nicht:
Neunjährige Jungen werden entführt. Es kommt vor. Immer wieder.
Kinder steigen zu fremden Leuten ins Auto. Auch, wenn man ihnen tausendmal sagt, sie sollen es nicht tun. Kinder, die nicht zu fremden Leuten ins Auto steigen, steigen vielleicht zu nicht-fremden Leuten ins Auto, zu bekannten Leuten.
David war ein ungewöhnliches Kind. Ungewöhnliche Kinder steigen vielleicht wieder aus Autos aus, wenn sie eine Chance dazu sehen. Vielleicht an der Autobahn. Warum sollte jemand an der Autobahn anhalten, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Süd?
Neunjährige Jungen laufen von zu Hause weg. Neunjährige Jungen, deren Eltern auf die eine oder andere Art versagt haben …
Es war sehr anstrengend, all diese Gedanken nicht zu denken. Schließlich dachte ich nicht: Ich liege auf etwas Unbequemem. Etwas Hartem. Und dann gab ich auf, nicht zu denken.
Ich setzte mich auf und schlug die Decke zurück. Da war nichts.
Ich stand langsam vom Bett auf und griff unter das hellblaue Laken. Unter die Matratze. Und da war es, das Harte, Unbequeme, gut versteckt, und mir wurde auf einmal heiß vor Aufregung. Als wäre ich selbst ein Kind, ein Kind auf Schatzsuche. Ich fischte das Harte heraus und starrte es einen Moment lang verständnislos an: ein brauner Lederordner mit einem ihn umgebenden leicht angerosteten Reißverschluss. Ich kannte das Ding, ich hatte früher meine Schulzeugnisse darin abgeheftet. David musste die Mappe irgendwo gefunden haben, genau wie Claas’ alte Schreibmaschine. Unser Kind, dachte ich, lebt von den Relikten unserer Vergangenheit. Andere Kinder leben in Welten aus Computerspielen und Internetseiten, aber David war auf seltsame Weise rückwärts orientiert. Lag es daran, dass er ungern tat, was alle taten? Aber das stimmte nicht, er spielte Fußball, er hatte Freunde; er war nie das typische Ich-bin-zu-intelligent-Außenseiter-Kind gewesen.
Ich sah von der alten Ledermappe zu der klobigen schwarzen Schreibmaschine und zurück und schüttelte den Kopf. Ich war zu müde, um irgendetwas zu begreifen. Ich zog den Reißverschluss der alten Mappe auf … Tu es nicht, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat diese Mappe versteckt; er wollte nicht, dass jemand sie findet.
Ich weiß, antwortete ich der Stimme und öffnete den Reißverschluss ganz. Die Metallklammer darin hielt einen dicken Stapel sorgfältig abgehefteter Blätter. Auf dem ersten Blatt stand nur ein einziges Wort:
GEHEIM
Und da begriff ich plötzlich, weshalb David nie einen unserer Computer benutzt hatte, sondern lieber die alte Maschine. Warum er die moderne Technik einfach ignoriert hatte. Moderne Technik hinterlässt Spuren. Wir hätten die gespeicherten Dokumente finden können, Claas oder ich, auch nach dem Löschen, im Papierkorb auf dem Desktop. Eine alte Schreibmaschine speichert nichts; eine Ledermappe ist nur dem zugänglich, der ihr Versteck kennt. Die Stimme in meinem Kopf schrie: Nicht umblättern!
Ich blätterte um.
Hinter der Seite mit GEHEIM gab es eine zweite Seite, auf der beinahe nichts stand.
DAVID BEREK, las ich. WERKSTATT ZUR V.D.A.G.
SAMMLUNG DER PROJEKT-BERICHTE,
CHRONOMETRISCH GEORDNET.
»Chronometrisch geordnet«, flüsterte ich und hörte mich leise lachen. Dann merkte ich, dass es weniger wie ein Lachen klang als wie ein Schluchzen. In diesem Moment liebte ich David so sehr, dass es unendlich weh tat, und ich dachte wieder, dass ich ihn verloren hatte, und das tat noch viel mehr weh.
Ich schloss die Ledermappe und drückte sie einen Moment lang an meine Brust. »David«, flüsterte ich. »Verzeih mir, wenn ich das lese. Ich denke, ich muss es lesen. Um dich zu verstehen. Ich habe aufgehört, dich zu verstehen … ich weiß gar nicht, wann …«
Ich ging mit der Mappe hinunter in die Küche, setzte eine Kanne schwarzen Tee auf und sah durch die Verandatür in den Garten. Es regnete nicht mehr. Dicke Tropfen hingen am Fliederbusch wie kleine, sattgetrunkene Tiere mit durchsichtiger Haut. Das war etwas, das David gesagt hatte: dass die Tropfen aussahen wie kleine Tiere. Die Melancholie des ganzen nassen Gartens spiegelte sich in ihren gewölbten Oberflächen. Ich wischte mit einem alten Küchenhandtuch einen Stuhl trocken, ein Stück des Verandatisches … ein winziges Stück der Welt. Man kann, dachte ich, immer nur ein winziges Stück trocken wischen.
Schließlich setzte ich mich mit meiner Teetasse an den Tisch und schlug die Mappe ein zweites Mal auf. Doch ehe ich die erste Seite umblättern konnte, drückte sich etwas an mein Bein, und vor Schreck hätte ich beinahe die Tasse umgestoßen.
Unter dem Verandatisch saß ein mir unbekannter, zerzauster, schmutzig weißer Hund mit grauen Flecken. Ein nicht-schöner Hund. Er sah mich aus zwei irritierend verschiedenfarbigen Augen an, blau und braun. Bei Hunden kommt so was häufig vor, irgendwo habe ich das gelesen. Eins seiner Ohren war auf eine permanente Art geknickt und ein Stück eingerissen.
Ein Teil von mir wollte sich unter den Tisch knien und den Hund umarmen, weil ich David nicht umarmen konnte, weil David unumarmbar in einem seltsam hohen Intensivbett lag. Es wäre schön, dachte ich, etwas Lebendiges zu umarmen. Aber ich erinnerte mich daran, dass ich nicht der Typ Mensch war, der Hunde umarmte.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich.
Der Hund wedelte mit dem Schwanz, zögernd, langsam, als müsste er über die Antwort erst nachdenken. Ich ging noch einmal zurück in die Küche und holte eine Schüssel mit Wasser. Erst, als ich sie vor den Hund stellte, wurde mir klar, wie unsinnig das war. Es hatte den ganzen Vormittag lang geregnet, Wasser gab es im Garten genug. Doch der Hund trank, während er mir ab und zu einen Blick zuwarf. Als würde er aus Höflichkeit trinken.
»Du brauchst nicht zu denken, dass ich dir etwas zu fressen gebe«, sagte ich. »Es wäre dumm, einen fremden Hund anzufüttern. Geh zurück nach Hause. Geh.«
Der Hund sah mich wieder an, ging aber nicht. Stattdessen rollte er sich auf dem Boden zusammen und legte den Kopf auf die Pfoten. Ich goss Tee in meine Tasse und ließ meinen Blick durch den Garten wandern, auf der Suche nach verirrten Spaziergängern, die ihren Hund suchten. Es waren keine Spaziergänger da. Hinten am Schafszaun lehnte Lotta. Ich schickte ein atheistisches Stoßgebet zum Himmel, sie möge bloß nicht durch den Zaun schlüpfen und herkommen. Ich wollte nicht mit Lotta reden, nicht jetzt.
Lotta war sieben oder acht Jahre alt, sie wohnte ein paar Straßen weiter, in einem Haus, dessen grauer Putz abbröckelte und aus dessen Garten gewöhnlich zu laute Rap-Musik drang, wenn man versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie hatte fünf oder sechs ältere Geschwister, blaue Augen und hellblonde Locken ohne Haarschnitt.
Und sie war – ich glaube seit Anbeginn ihrer Existenz – verliebt in David.
Manchmal streunten die beiden zusammen draußen herum, aber sie hatte unser Haus noch nie betreten. Nicht, dass ich sie aktiv daran gehindert hatte. Ich hatte sie allerdings auch nie hereingebeten.
Lotta legte ihre Arme über die obere Holzlatte des Zauns, legte den Kopf darauf und sah mich an.
»David kommt heute nicht raus«, rief ich.
Lotta nickte und blieb, wo sie war.
»Er ist … krank!«, rief ich. »Geh nach Hause!«
Lotta nickte wieder, wich aber nicht. Ich seufzte. Ich würde mir einfach vorstellen, Lotta wäre nicht da, ich würde sie ausblenden, sie und den Hund und jeden Gedanken an irgendetwas anderes. Ich blätterte GEHEIM und WERKSTATT ZUR V.D.A.G. um und begann zu lesen.
Werkstattbericht – Eintrag 1–15. 10. 2011
Ich frage mich, wer dies liest.
Vielleicht irgendeine Komission, bei der ich das Projekt eingereicht habe, weil man das mit Projekten tut.
Mein Name ist David Berek. Ich bin neun Jahre alt und besuche die vierte Klasse der Montessorischule.
Dies ist der Bericht einer außerschulischen Werkstatt.
Falls Sie das nicht wissen: Werkstatt bedeutet nicht, dass es mit Nägeln und Schrauben zu tun hat. In der Schule machen wir dauernd Werkstätten: die Weltwerkstatt, die Wiesenwerkstatt, die Religionswerkstatt.
Wenn wir die Religionswerkstatt nicht angefangen hätten, hätte ich dieses Projekt vielleicht nie begonnen.
Auf der Welt gibt es eine Menge Religionen.
Falls Sie das nicht wissen: Es gibt zum Beispiel
Christentum
Judentum
Buddhismus
Hinduismus
Islam
Naturglauben (dafür weiß ich keinen richtig guten Namen)
Meine Eltern sind nicht religiös, obwohl wir im alten Pfarrhaus neben einer ausrangierten (christlichen) Kirche wohnen.
Unsere Lehrerin sagte, jeder von uns sollte sich einen berühmten Menschen in einer Religion aussuchen, über den er einen Vortrag hält. Die meisten wollten Jesus nehmen oder den Papst, und Peter hat gerufen: Den Weihnachtsmann!, was lustig war, weil alle lachten, aber er durfte dann nicht.
Ich habe nachgesehen, was es bei den anderen Religionen für berühmte Leute gibt. Im Buddhismus gibt es natürlich Buddha, aber der hieß gar nicht immer Buddha, und das fand ich so interessant, dass ich den Buddha nahm, der noch nicht so hieß.
Falls Sie das nicht wissen: Er hieß, als er geboren wurde, Siddharta und war ein Prinz.
Ich werde hier nicht alle Fakten über Buddha aufschreiben, die in meinem Vortrag standen, denn sie stehen ja in meinem Vortrag. Fakten, die ich trotzdem aufschreibe:
Siddharta machte aus irgendeinem Grund vier Ausfahrten aus dem Palast hinaus. Dabei sah er: 1. einen alten Mann 2. einen kranken Mann 3. einen toten Mann 4. einen weisen Mann.
Interessant ist, dass er nur Männer sah. Ich habe überlegt, ob es damals dort nur Männer gab, was aber nicht stimmt, weil Siddharta zu Hause im Palast eine Frau hatte, welche er verließ. In den Büchern steht, er wäre in die Hauslosigkeit gegangen, was ich aber für einen Übersetzungsfehler halte. Richtig heißt es auf deutsch nicht »hauslos«, sondern »obdachlos«. Prinz Siddharta wurde also ein weiser Obdachloser, und als solcher bekam er den Namen Buddha.
Ich saß lange auf der Veranda, weil es ein warmer Herbsttag war, und guckte alle diese Dinge auf Lovis Laptop im Internet nach.
Lotta stand hinten beim Schafszaun. Sie wusste, dass ich arbeiten musste. Und dann war ich fertig mit dem Arbeiten und winkte, und Lotta kam herüber.
»Lotta«, sagte ich. »Hast du je darüber nachgedacht, dass du alt und krank werden wirst und eines Tages stirbst?«
»Nee«, sagte Lotta. »Im Moment lebe ich ja noch. Wie kommst du auf so ’ne komische Frage?«
»Es hat mit meinem Vortrag zu tun«, erklärte ich ihr. »Sie ist über einen Prinzen, der darüber nachgedacht hat.«
»Hatte er eine goldene Krone auf?«, wollte Lotta wissen.
»Keine Ahnung«, sagte ich, »später wurde er ein obdachloser Weiser. Und er hat gesagt, dass alles Leben Leiden und dass der Mensch zu gierig ist. Nach allen möglichen Sachen. Man wird so lange immer wieder geboren, bis man die Gier überwunden hat. Dann kommt man ins Nirwana, verstehst du?«
»Nee«, sagte Lotta. »Kein Wort.«
»Das Nirwana«, erklärte ich, »ist die Erlösung von allem Irdischen. Da ist dann gar nichts mehr, man sitzt nur im Nichts.«
Lotta schnaubte ungehalten. »Vom Paradies hatten wir im Kindergarten ein Bilderbuch«, sagte sie. »Da gab es nicht nichts, da gab es alles. Schokolade und Blumen und Fahrräder. Auch für die Leute, die gar kein Geld haben. Das ist besser als so ein blödes Nirwana.«
»Ja«, sagte ich, »vielleicht.«
Lottas Familie gehört nämlich zu denen, die kein Geld haben, nicht für ein Fahrrad und nicht für Blumen und nicht mal für Schokolade, oder manchmal nur für Schokolade, glaube ich. Lotta hat schon vier Plomben. Die Plomben und den Zahnarzt müssen sie nicht selbst bezahlen, weil wir in einem Sozialstaat leben. Lotta hat noch fünf Geschwister, und die Zähne der Geschwister sind auch nicht besser, obwohl ihre älteste Schwester Livia jetzt, wo sie fast erwachsen ist, immer sehr viel Deo nimmt.
»Das Paradies mit den Engeln, das ist, glaube ich, von den Christen«, sagte ich und goss Saft in einen Becher für Lotta und einen für mich. Es war Apfelsaft aus unseren eigenen Äpfeln. Bei Lotta zu Hause gibt es nur Limonade in großen Plastikflaschen.
»Im Islam ist das Paradies auch richtig schön«, fuhr ich fort. »Da hatten wir den Vortrag schon drüber. Anna hat ein Bild vom Paradies gemalt, da würde es dir gefallen! Man sitzt auf weichen Teppichen und isst von goldenen Tellern … die Bedienungen sind lauter hübsche junge Frauen.«
Lotta bekam einen ganz träumerischen Blick. »Schön«, flüsterte sie. »Aber ich komm in gar keins von den Paradiesen, weil ich bin ja gar nichts mit Kirche. Schade, was. Gehst du mit zur Tarzanschaukel?«
Falls Sie das nicht wissen: Die Tarzanschaukel ist eine Schaukel mit wahnsinnig langen Seilen, auf der man über den Graben beim Waldrand schaukeln kann, an einem Ast. Man braucht richtig Mut, um sie zu benützen.
Ich wollte ja sagen, damit Lotta sich freute, aber dann sagte ich nein, weil ich plötzlich dringend nachdenken musste. Nachdenken kann ich am besten, wenn ich im Wald herumwandere. Alleine.
»Aber ich denke auch über dich nach, und deshalb bist du eigentlich dabei, wenn ich im Wald herumwandere«, sagte ich.
»Wieso? Ich bin doch hier«, sagte Lotta.
»Ja, das auch«, sagte ich. »Komm, bis zur Tarzanschaukel können wir ja zusammen gehen.«
In unserem Dorf gibt es eigentlich nur zwei Straßen. Eine davon ist der Sandweg, der zum Wald führt.
Ich glaube, meine Eltern sind in dieses Dorf gezogen, damit Lovis das richtige Licht zum Malen hat. Mein Vater muss jeden Tag sehr weit zur Klinik fahren. Falls Sie das nicht wissen: Mein Vater ist Arzt für Innere Medizin in Stralsund. Wenn er nicht in der Klinik ist, liegt er zu Hause im Bett und schläft, weil er erschöpft ist.
Früher ist er manchmal mit mir und Lovis in den Wald gegangen.
Leider habe ich keine Aufzeichnungen darüber gemacht. Ich glaube aber, wenn ich eine Befindlichkeitstabelle angefertigt hätte, so wie neulich bei dem Projekt in der Schule, hätten diese Tage alle Smileys bekommen.
Vor dem kleinen weißen Haus am Beginn des Sandwegs saß die Kittelschürzenfrau, deren Namen ich nicht wusste, auf einem blauen Küchenstuhl mitten zwischen den herbstlich roten Johannisbeerbüschen.
»Hallo«, sagte ich. »Warum sitzen Sie in den Büschen?«
Sie sah mich an. In ihrem Gesicht waren sehr viele kleine Fältchen, und ich dachte, dass es ein gutes Projekt wäre, Fältchen in Gesichtern zu zählen und ein Diagramm zu zeichnen über die Abhängigkeit von Alter und Anzahl der Gesichtsfältchen. Die Kittelschürzenfrau wäre an diesem Diagramm ganz an der Spitze der Kurve eingetragen worden. Sie war alt und zerknittert wie Alufolie. Ihre Wangen glitzerten auch wie Alufolie. Sie hatte geweint.
»Das ist mein Garten«, sagte sie durch den Maschendrahtzaun zu mir. Ihre Stimme war sehr leise. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen.
»Weinen Sie, weil das Ihr Garten ist?«, fragte Lotta.
»Ja«, sagte die Kittelschürzenfrau. Und dann, noch leiser: »Ich muss ihn weggeben. Er wird jemand anderem gehören, weil ich zu alt bin. Ich schaffe das nicht mehr, sagen sie …«
»Und dann steht das Haus ohne Garten da?«, fragte Lotta. »Das sieht aber sicher komisch aus.«
»Nein, es ist anders, meine Kleine«, sagte die Kittelschürzenfrau. Tatsächlich lächelte sie jetzt ein bisschen, wie Sonne, die versucht, durch Wolken zu scheinen. Dann fielen eine Menge Worte aus ihr heraus wie kleine, erdige Kartoffeln aus einem Sack. »Ich muss weg«, fiel aus ihr heraus. »Der Sohn hat schon einen Platz für mich beantragt, im Seniorenwohnheim Friedensstift. Er hat lange gesucht, bis er eins gefunden hat, das man sich leisten kann. Es ist schön da, hat er gesagt, drüben auf der Insel, man kann das Meer sehen, aus dem fünften Stock. Da kümmern sie sich um mich, muss sich doch jemand kümmern, mit dem offenen Bein und allem, und ich vergesse immer, welche Medikamente ich wann nehmen muss, und die Hände machen auch nicht mehr alles mit, schaut sie euch an …«
Sie streckte uns ihre Finger entgegen, und die Finger waren krumm und voller kleiner Knötchen.
»Ich möchte aber das Meer gar nicht sehen«, sagte sie.
»Und ein kleines Stück vom Meer könnten Sie auch sehen, wenn Sie hier auf Ihr Dach klettern würden«, sagte Lotta.
Die Kittelschürzenfrau sah ihr Dach an. Ich stellte mir vor, wie sie auf dem Dachfirst saß, um das Meer zu sehen. Und ich dachte, dass Lovis das malen könnte, wenn sie nicht so viel mit dieser anderen Ausstellung zu tun hätte, die sie gerade vorbereitet.
»Ich werde die Johannisbeerbüsche vermissen«, sagte die alte Frau. Sie wischte mit einem knotigen Finger durch ihr Auge und betrachtete die Träne an ihrer Fingerspitze. Sie glänzte wie ein ganz kleines, eigenes Meer.
»Wann müssen Sie denn weg?«, fragte ich.
Sie hob die Schultern. »Bald. Wenn der nächste Platz in diesem Heim frei wird. Immer, wenn einer stirbt, wird da ein Platz frei … Dann sucht der Sohn einen Käufer für den Garten. Und das Haus. Die Möbel bleiben auch hier, das Zimmer im Heim ist schon möbliert.«
»Wie gemein«, sagte ich, denn es erschien mir besonders gemein, dass das Zimmer möbliert war mit fremden Möbeln.
Die Kittelschürzenfrau schwieg jetzt, sie war versunken in die Betrachtung des dunklen Erdreichs eines Gemüsebeetes.
»Gehen wir jetzt weiter?«, fragte Lotta. »Wir wollten doch zur Tarzanschaukel.«
»Du wolltest zur Tarzanschaukel«, sagte ich.
Der Sandweg führt über einen Hügel, ehe er den Bauernhof und dann den Wald erreicht, und auf dem Hügel steht eine Bank, mitten im Wind. Auf der Bank saß Herr Wenter und hustete. Ich kenne Herrn Wenter nur vom Sehen, er wohnt ein paar Häuser weiter und ist Taxifahrer.
Jetzt hielt er sich ein Taschentuch vor den Mund und hustete noch einmal, und irgendwie kam er mir dünner und blasser vor als sonst.
»Sind Sie krank?«, fragte ich.
»Kann sein«, sagte Herr Wenter. »Erkältet. Ich wollte das Meer sehen.«
Das klang komisch, das klang, als wäre er richtig krank, als hätte er eigentlich gesagt: Ich wollte das Meer noch einmal sehen.
»Sie könnten auf das Dach der alten Frau mit dem Garten klettern«, sagte Lotta.
»Rauchen Sie?«, fragte ich, denn das ist die erste Frage, die man einem hustenden Patienten stellen muss.
»Nein«, sagte Herr Wenter und sah seine Hände an, die das Taschentuch hielten.
»Ich meine nicht jetzt gerade«, sagte ich. »Ich meine: general.«
»Generell?«
»Ja. Rauchen Sie generell?«
Herr Wenter schüttelte langsam den Kopf. »Hab ich vor zehn Jahren aufgehört.«
»Sie sollten zum Arzt gehen«, sagte ich.
»Nee, bloß nicht«, meinte Herr Wenter. »Wer nicht krank ist, den machen die krank. Generell will ich nur hier sitzen und …« Er hustete schon wieder. »Kann man nicht mal irgendwo seine Ruhe haben?« Er klang jetzt fast ärgerlich, und deshalb gingen wir lieber weiter, den Hügel hinunter.
Wenn ich es jetzt so betrachte, war das wahrscheinlich der Moment, in dem die Werkstatt begann.
Denn von unten, von dem Bauernhof her, kam uns die einsame Spaziergängerin entgegen, die Lovis so getauft hat. Sie hat langes, glattschwarzes Haar, das der Wind immer hinter ihr herweht. An diesem Tag wehte der Wind auch einen schwarzen Schal hinter ihr her. Überhaupt trug sie nur Schwarz.
»Lotta«, sagte ich aufgeregt, »merkst du was? Ich … ich habe dir doch von dem Prinzen erzählt. Siddharta. Der … der hat alle diese Männer gesehen. Einen Alten, einen Kranken und einen Toten.«
»Und?«, fragte Lotta, kaugummikauend.
»Es ist genau das Gleiche! Wir sind zuerst einem alten Menschen begegnet und dann einem kranken. Und da« – ich zeigte auf die einsame Spaziergängerin –, »da kommt der Tote! Ich meine – nicht persönlich. Aber die einsame Spaziergängerin geht zu einer Beerdigung! Deshalb trägt sie Schwarz! Es ist alles wie bei Siddharta!«
»Willst du damit sagen, du bist der Prinz?«, fragte Lotta und ließ eine Kaugummiblase zerplatzen.
»Ich muss nachdenken«, sagte ich. »Jetzt muss ich wirklich nachdenken.«
Damit ließ ich Lotta stehen und ging weiter, sehr schnell, den Weg entlang auf den Wald zu. Beim Wald kann man geradeaus in ihn hineingehen oder nach rechts an ihm entlang, dann kommt man zu Jarsens Anwesen. Jarsen ist reich, und seine Frau ist ihm vor zehn Jahren weggelaufen. Jetzt lief auch eine Frau dort, aber nicht weg, sondern hin, eine blonde. Ich hatte keine Zeit, sie mir näher anzusehen. Ich hatte genug andere Dinge, über die ich nachdenken musste. Ich ging in den Wald hinein.
Ich wusste, dass Lotta mir nachsah und dass sie gerne gerufen hätte: »Kann ich doch mitkommen, in den Wald, zum Nachdenken?«
Denn ich bin schon immer ihr Prinz, um das zu wissen, braucht man keinen ungewöhnlich hohen IQ. Lotta würde mit mir überallhin gehen. Aber manchmal muss ich alleine sein.
Falls Sie das nicht wissen: All diese Dinge zu erzählen ist notwendig, um die Werkstatt zu begreifen.
Aber ich denke, es ist besser, verschlüsselt weiterzuschreiben.
Später kann ich ja den Text für das Komitee wieder entschlüsseln.
Denn was ich tun werde, gefällt vielleicht manchen Leuten nicht.
Werkstattbericht – Eintrag 2
17. 10. 2011
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Ich blätterte weiter. Der Rest der Einträge war in sinnlosem Kauderwelsch gehalten. Natürlich war es nicht sinnlos. Es war nur nicht leserlich. Nicht für mich. Es erschien mir wie ein Symbol für Davids Leben. Ich hatte den Sinn hinter den Dingen, die er tat, nicht begriffen.
Ich würde die sinnlosen Sätze so lange lesen, bis ich das System dahinter entdeckte, und wenn er aufwachte, würde ich das Gleiche mit seinem Leben tun: Ich würde ihm so lange zusehen, ihm so lange zuhören, bis ich ihn verstand.
Ich hatte David verloren, und ich würde ihn wiedergewinnen. Vielleicht war dies die einzige Chance, die mir gegeben wurde.
Von wem, dachte ich, gegeben wurde? Von einem Gott? Ich glaubte an keinen Gott. Ich versuchte, mich zu erinnern, woran ich mit neun Jahren geglaubt hatte. Meine Eltern waren Christen, wir sind aus dem Westen, wo es sich gehörte, Christ zu sein, zumindest damals. Ich wusste noch, dass ich an den Sonntagen in die Kirche gehen musste. Aber woran ich glaubte oder wann ich aufgehört hatte, es zu tun, das wusste ich nicht mehr.
Ich dachte an Lotta und ihr verlorenes Paradies, in dem es Schokolade und Blumen und Fahrräder für alle gab. Als ich die Mappe zuschlug und aufsah, lehnte sie nicht mehr am Zaun.
Auch der Hund lag nicht mehr zu meinen Füßen. Die Schafe hatten mir die schwarzen, wolligen Rücken zugekehrt. Claas würde irgendwann nachts aus der Klinik zurückkommen.
»Geh ruhig«, hatte ich gesagt.
Nun war ich allein.
Ich dachte daran, wie ich damals, nach Davids Geburt, um jede Minute des Alleinseins gerungen hatte: jede Minute, die ich zwischen Kindergeschrei und Tischdecken, zwischen Wäschewaschen und Staubsaugen für mich und die Malerei hatte. Jede Minute, in der die Welt mich in Frieden ließ. Am Ende war ich wohl zu gut darin geworden, diese Minuten zu sammeln. Jetzt hatte ich zu viele Minuten und keine Welt mehr.