9.

»Ein MRSA«, wiederholte ich. »Ich habe das auch erst gelernt, es bedeutet, dass der Keim, den er hat, gegen so ziemlich alle Medikamente resistent ist. Also, dass die meisten Medikamente nicht mehr helfen. Nur noch ganz wenige. Deshalb muss man sich jetzt grün anziehen, wenn man zu ihm ins Zimmer möchte.«

»Hilft grün?«, fragte Lotta.

Wir saßen in meinem Atelier und aßen Kekse und tranken Saft. Ich war morgens zurückgekommen aus der Klinik, nach einem langen Gespräch mit Samstag, einem Gespräch über multiresistente Keime, von dem ich nur verstanden hatte, dass es prinzipiell möglich war, sie zu besiegen, man sie aber auf gar keinen Fall an andere Patienten weitertragen durfte, daher die grüne Einmalkleidung.

Lotta hatte vor der Haustür gesessen, als ich nach Hause gekommen war, und endlich, endlich war es mir gelungen, »ja« zu ihr zu sagen. Ja, komm herein. Beinahe hatte ich es laut gerufen. Komm herein und lass mich bloß nicht allein.

Nun saßen wir also im Atelier. Ich malte an Davids Triptychon weiter, weil es mir wichtig erschien, und Lotta sah zu. Die Kekse und der Saft standen zwischen uns.

»Habt ihr wirklich Jarsen erpresst?«, fragte ich schließlich. Ich hatte schon eine halbe Stunde damit verbracht, nicht zu fragen, weil ich Angst vor der Antwort hatte. »Habt ihr Fotos gemacht?«

»Nee«, sagte Lotta, und ich atmete auf.

»Ich jedenfalls nicht«, sagte Lotta. »Was David alles gemacht hat, weiß ich nicht. Ich war ja nurn Teil von seinem Projekt.«

»Was war denn mit deinem Knöchel? Nachdem du bei Jarsen aus dem Fenster gesprungen bist?«

»Oh, David hat mich getragen«, sagte Lotta und wurde ein bisschen rot und sah für Momente sehr glücklich aus. Ein wenig erinnerte sie mich an die alte Frau Hemke, die besitzergreifend ihre Hand auf die Postkarten von David gelegt hatte. Eine Menge Leute schienen Ansprüche auf meinen Sohn zu haben. So ziemlich alle Leute im Dorf außer mir.

»Der Knöchel ist jetzt wieder heil«, sagte Lotta. »Aber als David noch mal bei Jarsen war, war er noch kaputt, ich mein der Knöchel, da bin ich nicht mit.«

»Und Livia? Und Jarsen? Sind sie immer noch … treffen sie sich immer noch, um zu …«

»Livia will ja weg«, sagte Lotta. »Hamburg, glaub ich. Sie sagt, sie muss endlich anfangen, was aus ihrem Leben zu machen. Keine Ahnung, wie sie das meint.«

»Willst du auch mal weg?«, fragte ich und malte dem Monstergott auf meinem Triptychon Klauen und Zähne. »Später?«

»Quatsch«, sagte Lotta. »Ich bleib hier. Bei David. Das ist doch klar.«

Ich seufzte und malte die Gestalten auf den Seiten des Monstergottes blau.

»Aber du bist du«, sagte ich. »Du kannst nicht dein ganzes Leben lang nur David hinterherlaufen.«

Lovis, dachte ich, du redest mit einem achtjährigen Mädchen! Es ist nicht so, dass sie David nächste Woche heiraten wird.

Aber das hätte Lotta vermutlich getan, dachte ich weiter. Wenn es irgendwie gegangen wäre.

Ich drehte mich zu ihr um, sie sah an mir vorbei auf das Bild, ihre blauen Augen dunkel vor Konzentration. Sie war die erste Person, dachte ich, die mir je zugesehen hat, während ich malte. Die erste, die ich je gelassen hatte. Sie saß schon mit einem Bein auf der unsichtbaren Mauer.

»Lovis?«

»Ja?«

»Warum haben wir blaue Gesichter?«

»Wir?«

»Sind wir das nicht? Du und ich? Das Große und das Kleine da, auf dem Bild?«

Ich wollte sie fragen, wie sie darauf kam, da klingelte es, und Lotta sah aus dem Fenster und sagte: »Dein Mann steht vor der Tür. Warum klingelt er?«

»Vielleicht hat er seinen Schlüssel vergessen«, sagte ich. Verdammt. »Ich glaube, du musst für dieses Mal von der Mauer klettern und nach Hause gehen. Nimm die Kekspackung ruhig mit.«

»Mauer?«, fragte Lotta verwirrt.


Ich sah Claas nicht, nicht einmal, als er direkt vor mir stand. Ich sah nur die Ruhe und Gelassenheit in seinen Bewegungen, ich sah einen Umriss aus Worten: DavidhatteeinenUnfallAufderA20EinenUnfallWirfahrensofortlos.

»Der Hund wollte rein«, sagte Claas. »Davids Hund.«

»Er kann durch die Verandatür kommen. Die ist offen. Schlechte Ausrede.«

Claas seufzte – einenUnfallAufderA20 –, während der Hund an ihm und mir vorbei ins Haus trottete. »Lovis, bitte – können wir miteinander reden?« DavidstirbtDavidstirbtDavidhatteeinenUnfallDavidstirbt.

»Wo hast du geschlafen?«

»In der Klinik.« DavidstirbtWennwirihnnichtintubierenmachenwiresihmleichter.

»Sieh mal einer an, ich auch. Ich habe bei meinem Lebensinhalt geschlafen und du bei deinem, ich bei David und du an deinem Arbeitsplatz. Das sagt doch eigentlich schon alles.«

Ich hatte das nicht geplant. Ich hatte nicht geplant, so böse zu sein. Ich hatte freundlich sein wollen, freundlich und bestimmt, aber wie kann man zu einem Umriss aus Worten freundlich sein?

DavidstirbtDavidstirbtmachenesihmleichtereinenUnfallaufderA20Davidstirbt.

»Kannst du aufhören, auf mir herumzuhacken, und einen Moment lang vernünftig sein?«, fragte Claas. »Ich mache uns einen Kaffee. Wir könnten wenigstens eine Viertelstunde kommunizieren wie erwachsene Menschen.«

Ich öffnete die Tür ganz, um ihn hereinzulassen, und sagte: »Ja, Herr Lehrer«, damit er draußen blieb. DavidstirbtEinenUnfallIhmLeichterAufderA20. Er kam trotzdem herein, und ich wusste nicht, ob ich froh darüber war oder nicht.

Als ich in der Küche saß und ihm stumm zusah, wie er Kaffee machte, fühlte sich alles sehr seltsam an. Der Umriss aus Worten verwandelte sich wieder in Claas, und es war ein so gewohnter Anblick, wie er die Kaffeedose vom Regal nahm. Wie er den Wasserkocher anstellte, Tassen aus dem Regal nahm. War dies tatsächlich das Ende? Das Ende von Claas und mir als einer Einheit, und sei es nur einer funktionellen? Als er vor der Tür gestanden hatte, war ich mir sicher gewesen, und jetzt schien es wie ein völlig abstruser Gedanke, wie eine Entscheidung, die ich gar nicht treffen konnte. Als hätte ich entschieden, dass die Erde auf einmal nicht mehr rund wäre oder die Dinge von unten nach oben fielen statt umgekehrt.

Wir sitzen hier ein letztes Mal mit unseren Tassen, dachte ich, ich sage zum letzten Mal: Hier ist die Milch, ich sehe Claas zum letzten Mal in dieser Küche seinen Kaffee umrühren. Wem werden die Kaffeetassen gehören, diese lächerlich großen Keramiktassen, die wir damals auf dem Töpfermarkt gekauft haben? Mir oder ihm? Lass sie uns alle einzeln zerschmeißen, sie sind nichts wert ohne ein Wir und ein Uns. Und dann dachte ich wieder an David, und die Frage, ob eine Beziehung endete oder nicht, erschien mir sehr klein und unwichtig neben der Frage nach dem Tod eines Kindes.

»Sie haben den Keim gefunden«, sagte ich, »der verantwortlich ist für die Lungenentzündung. MRSA, so ein multiresistentes Ding … aber es ist nicht gegen alle resistent … sie haben die Antibiose umgestellt.«

»Ich weiß«, sagte Claas und sah in seine Tasse. »Ich habe telefoniert.«

»Die Lungenentzündung wird also vorübergehen. Es wird gar nicht nötig werden, ihn zu intubieren.«

»Lovis, dieser MRSA, den haben eine Menge Patienten, die lange liegen. Bei den meisten erfährt man es nicht, weil man nicht danach sucht. Wir wissen überhaupt nicht, ob der MRSA für die Pneumonie verantwortlich ist. Aber selbst wenn … Und wir wissen nicht, ob das Fieber von der Pneumonie kommt. Es kann etwas anderes sein. Eine Enzephalitis, eine Entzündung des Gehirns, er hat ein offenes Schädelhirntrauma …«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte ich und sah ihn an. Oberflächlich war ich wütend, aber unter dieser Oberfläche hatte ich Angst. Natürlich, unterhalb der Oberfläche hatte ich immer Angst gehabt, vor allen, schon als Kind. Deshalb hatte ich die Mauer aus grauen Kästchen um mich gebaut. Zum Schutz. »Du wirfst mit medizinischen Diagnosen oder Nicht-Diagnosen um dich wie mit Konfetti«, sagte ich. »Worauf? Willst? Du? Hinaus?«

»Hast du die Bilder gesehen?«

»Bilder?«

»Das CT von seinem Gehirn.«

»Nein, und selbst wenn, ich könnte nichts darauf erkennen, das weißt du. Und selbst wenn ich etwas darauf erkennen könnte und selbst wenn es schlimm wäre, würde ich nicht aufgeben. Wunder geschehen. Samstag hat das auch gesagt. Kein Mensch weiß genau, was in Davids Hirn vor sich geht. Man braucht übrigens nur einen sehr kleinen Teil der Hirnzellen, die man hat, ich habe mal einen Artikel darüber gelesen … es ist okay, wenn ein paar zerstört werden, die übrigen reichen. Teile des Hirns können lernen, die Aufgaben von anderen Teilen zu übernehmen …«

Meine Worte zerrannen in der Luft, die noch laue Frühlingsluft war und mir doch eher schien, als wäre es die Luft eines kalten Januartages. Oder einer Januarnacht, in der David Lotta auf dem Rücken durchs Dorf trug … Prinz Goldhaar aus dem alten Pfarrhaus.

Wir schwiegen lange.

Schließlich sah Claas auf, und seine Augen waren rot gerändert wie im Hochsommer, wenn der Heuschnupfen ihn quält. »Ich möchte, dass du eines weißt«, sagte er. »Ich liebe dich noch immer. Ich habe all diese Jahre nicht aufgehört, dich zu lieben.«

»Kitsch as Kitsch can«, sagte ich. »Aber das war nicht unser Thema. Wir waren bei David.«

»Es nützt nichts, über David zu sprechen«, sagte Claas. »Ich liebe auch David. Aber ich liebe dich unabhängig von David und unabhängig davon, ob du mich liebst. Versuch, es irgendwann zu verstehen. Diese ganze Sache ist schwer, sie ist unglaublich schwer, unmöglich schwer, un … unbeschreiblich. Aber sie wird vorübergehen, Lovis, und ich wünsche mir, dass wir dann zusammen hier in dieser Küche sitzen und noch immer miteinander reden. Oder schweigen. Von mir aus können wir ein ganzes Leben miteinander schweigen.«

»Ich will aber nicht schweigen«, sagte ich. »Ich will mit den Leuten reden. David hat auch mit den Leuten geredet, mit so vielen Leuten … Es gibt viel mehr Menschen mit eigenen Geschichten und eigenen Problemen hier im Dorf, als ich dachte … Ich fange jetzt an, sie zu sehen. Claas, er hat so unmögliche Dinge getan, um ihnen zu helfen … Natürlich ist das alles nach hinten losgegangen … Ich bin auf dem besten Weg, es herauszufinden. Er hat so viele Leute gegen sich aufgebracht … ich könnte schon eine ganze Liste machen …«

Claas sah aus dem Fenster. »Klar«, sagte ich bitter, »dich interessiert das alles nicht. Du sagst, du liebst mich oder David, aber wir haben dich nie interessiert, sonst wärst du irgendwann mal hier gewesen statt in der Klinik.«

»Es … interessiert mich«, sagte Claas, und seine Worte klangen seltsam abgehackt. »Ich war bei … bei der Polizei, Lovis, mehrfach, sie … sie suchen noch immer nach dem, der ihn im Auto mitgenommen hat … Er kann ja nicht den ganzen Weg zu Fuß zur Autobahn gelaufen sein in der Zeit … Ich will seinen Mörder finden, genau wie du.«

Er sah mich jetzt an, und ich begriff, warum er abgehackt gesprochen hatte. Er weinte. Die Tränen liefen aus seinen geröteten Augen wie kleine Tiere, krochen seine Wangen hinunter und ließen sich auf den Tisch fallen, wo sie zerbarsten. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Ich hatte mir immer gewünscht, dass er einmal die Fassung verlor, aber jetzt machte es mir noch mehr Angst.

»Hör auf damit«, sagte ich hart. »Denkst du, so einfach ist das? Einmal weinen und alles ist vorbei? Es ist nicht vorbei. Wir dürfen nicht weinen, wir müssen kämpfen. Ich werde kämpfen, um David.

Du … du sagst, du liebst David … aber du hast nie Zeit für ihn gehabt, gestohlene Minuten am Wochenende … Wenn du mehr Zeit gehabt hättest, wäre es vielleicht nie passiert, er hätte einen Vater gebraucht …«

Da wischte Claas sich die Tränen aus dem Gesicht, auf einmal ärgerlich, und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das ist wahr«, sagte er. »Absolut wahr. Aber du hast auch nie genug Zeit für ihn gehabt. Und das ist es, was eigentlich in dir nagt, Lovis. Es ist immer einfach, den anderen die Schuld zuzuschieben. Es reicht jetzt.«

»Ich habe wenigstens aus der Sache gelernt!«, rief ich und sprang auf. Der Stuhl fiel um, als ich aufsprang, und die Kaffeetasse fiel um, aber von mir aus hätte das ganze Haus umfallen können. In mir kochte eine unbändige Wut empor, womöglich lag es daran, dass ich im Grunde wusste, wie recht Claas hatte. »Ich werde mehr Zeit für ihn haben! Ich … ich habe schon so vieles geändert, seit der Unfall passiert ist, an meinem Leben geändert … Ich glaube, ich habe angefangen, David zu verstehen! Ich bin Teil seines Projekts geworden, seiner Werkstatt, ohne dass er bisher davon weiß …«

Claas saß noch immer am Tisch, ich sah auf ihn herab, auf seinen Kopf mit dem zu kurz geschnittenen schwarzen Haar, dem er keine Locken erlaubte, und ich sah, dass es an den Schläfen weiß wurde, ohne Zwischenstufe wie grau oder silbern, es wurde einfach weiß. Es war ein alter Mann, der da am Küchentisch saß und mich nicht ansah, nichts als ein alter Mann.

»Ich würde mir mehr Zeit nehmen, Lovis«, sagte er. »Wenn er zurückkäme. Gott weiß, wie sehr ich wünsche, ich könnte alles wiedergutmachen, indem ich mir mehr Zeit nehme.«

»Gerade Gott? Haha. Als würdest du an den glauben.« Ich kickte den umgekippten Stuhl mit dem Fuß weg, nur um gegen irgendetwas zu treten. »Du würdest dir also mehr Zeit nehmen, wenn. Wenn, wenn, wenn. Wie praktisch für dich, wenn er stirbt, dann brauchst du das nicht.« Ich spuckte Claas die Worte entgegen, und sie schmeckten ätzend und rot auf meiner Zunge.

Er sah auf seine Hände hinab, die zu Fäusten geballt auf dem Tisch lagen.

»Manchmal«, sagte er leise, »würde ich auch gerne zuschlagen. Aber das tut man wohl nicht als Mann.« Dann stand er auf. Er stellte seine Kaffeetasse in die Spüle und ging die Treppe hinauf. Ich blieb mitten in der Küche stehen, vor dem umgekippten Stuhl, ich hörte Claas oben irgendetwas herumschieben, und als er wieder herunterkam, trug er seinen alten Koffer. Ich hatte ihn mit diesem Koffer kennengelernt, es war ein klobiges Ding aus Pappe und Leder, wir hatten ihn auf unseren ersten gemeinsamen Reisen mitgeschleppt, was nicht praktisch gewesen war, und später hatte David eine Zeitlang darin gewohnt, er war drei oder vier gewesen und hatte uns erklärt, der Koffer wäre sein Haus.

Claas stand einen Moment lang am Fuß der Treppe und sah mich an. Er sagte nicht »Auf Wiedersehen«. Ich sagte nicht »Ade«. Er sagte nicht: »Dieses und jenes müssten wir noch regeln.« Ich sagte nicht: »Lass uns noch einmal von vorne beginnen.«

Er stellte den Koffer ab und kam zu mir, streckte die Hand aus und berührte meine Wange, für Sekunden nur. Und dann sagte er doch noch etwas. Er sagte: »Kümmre dich um die Schafe.« Das war alles. Danach drehte er sich um, nahm den Koffer und ging. Diesmal ging er auf andere Art als beim letzten Mal, nicht wie einer, der im Streit davonläuft, sondern wie einer, der geht, nachdem der letzte Satz eines Theaterstücks gesprochen worden ist, ehe der Vorhang zufällt.

Kümmre dich um die Schafe.

Ich trat erst vor die Vordertür, als ich mir sicher war, dass ich das Auto nicht mehr sehen würde. Die alte Kopfsteinpflasterstraße lag leer da, und etwas fiel von mir ab wie eine alte Haut. Die Haut der Lovis Berek, die mit Claas Altenau verheiratet gewesen war.

»Ich bin frei«, sagte ich leise. Es klang nicht überzeugt.

Aus dem Briefkasten lugte die weiße Ecke eines Briefs, und ich zog ihn hervor.

An Frau Lovis Berek im alten Pfarrhaus stand darauf, von: H. Rosekast. Keine Adresse. Die Schrift war ungelenk und krakelig, die Schrift eines alten Menschen, dessen Hand ihm nicht mehr so gehorcht, wie er es gern hätte. Ich riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf. Darin steckten zwei ausgeschnittene Zeilen aus einer Zeitung. Nein, nicht aus einer Zeitung. Aus einem Buch mit sehr dünnem Papier. Jemand hatte diese Zeilen mit einem orangen Marker angestrichen, ehe sie ausgeschnitten worden waren.

Niemand weiß, was der Tod ist, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter den Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüssten sie gewiss, dass er das größte Übel ist.

Ich starrte den Satz eine Weile an.

»Rosekast«, sagte ich dann laut. »Sie sind ein Feigling. Haben Sie keine eigenen Worte? Was soll ich mit einem ausgeschnittenen Zitat? Zitat von wem überhaupt? Und was wollen Sie mir sagen? Dass Sie so denken wie Claas? Dass David stirbt? Und dass es, schlimmer noch, in Ordnung geht, wenn er stirbt?«

»Ich bin hier, um die richtigen Fragen zu stellen«, hatte er zu David gesagt.

»Die Frage hier lautet«, flüsterte ich, »was kommt nach dem Tod?« Es war im weiteren Sinne die Frage, mit der alles begonnen hatte. Davids Frage. Gab es nichts oder ein Nichts, ein Nirwana – ein Paradies? Ein Paradies für alle Menschen oder ein privates für jeden? Zurzeit sah es so aus, als bestünde dieses Dorf – wie vermutlich jeder andere Ort – aus einer Menge ganz privater Höllen.

Und doch ist Davids Paradies hier, dachte ich, zwischen diesen Kastanienbäumen, in dieser alten Pflasterstraße, und im Wald und auf den Feldern. Ich würde helfen, die privaten Höllen in sein Paradies zu verwandeln. So gut ich eben konnte. David brauchte nicht zu sterben, um das Paradies zu finden. Nur nach Hause zu kommen.


An diesem Tag reparierte ich die Tarzanschaukel. Ich fand ein altes Tau in unserem Schuppen, wir hatten einmal eine eigene Schaukel besessen, bestehend aus einem Traktorreifen, der an einem sehr hohen Kastanienast hing, aber der Kastanienast, der einzig schaukelgeeignete, war bei einem Sturm gebrochen. Ich nahm das Tau mit zum Waldrand, ging daran entlang, fand den Graben.

Es war schwierig, an das abgeschnittene Ende des Seiles heranzukommen, ich musste es mit einem Stock vom Rand des Grabens her angeln, weil ich zu klein war, wenn ich in der Mitte des Grabens stand. Doch als es mir gelang, als ich altes Tau und altes Tau zusammenknotete, fühlte ich mich besser.

Vielleicht war es nötig gewesen, etwas, irgendetwas, zu reparieren. Mir selbst zu beweisen, dass ich irgendetwas reparieren konnte. Wenn ich die Tarzanschaukel reparieren kann, dachte ich, kann ich auch Frau Hemke nach Hause holen.

Der Hund, den ich mitgenommen hatte, sah mir zu, wie ich das neue-alte Tau absäbelte – etwas mühsam mit unserem Küchenmesser. Ich fand einen Ast, knotete ihn daran und kletterte mit der Schaukel in der Hand auf die große Baumwurzel, die oben neben der Brücke aus dem Erdreich ragte. Dann nahm ich den Schaukelast zwischen die Beine und sah nach unten. Es erforderte mehr Mut, von hier aus loszuschaukeln, als ich gedacht hatte.

Ich erinnerte mich daran, wie ich mit David vom Fünf-Meter-Brett gesprungen war, im letzten Sommer. Wir hatten uns beide zusammen gefürchtet und waren dann beide zusammen den entscheidenden Schritt nach vorne getreten, ins Nichts. Und der Bademeister hatte hinterher geschimpft, weil man das gar nicht zu zweit durfte. Das war vor Beginn der Paradieswerkstatt gewesen … Ob es in Davids Paradies Fünf-Meter-Bretter für Mütter und Söhne geben könnte?

Ich holte tief Luft und stieß mich von der Wurzel ab. Der Hund japste einmal kurz auf, als er mich fliegen sah. Es war ein irrsinniges Gefühl, die Schaukel schwang weit aus, ich öffnete die Augen wieder und merkte, dass ich ein breites Lächeln auf dem Gesicht trug. Hier also hatten David und Lotta geschaukelt, und nun konnten sie es wieder tun. Wenn David nach Hause kam, stand – hing – die Schaukel für ihn bereit. Irgendwie würde er es schon schaffen, darauf zu sitzen, auch ohne das linke Bein. Lotta und ich würden ihm helfen.

»Ich habe sie repariert«, flüsterte ich. »David, ich bin dabei, alles zu reparieren. Dein Paradies wird fertig sein, wenn du aus der Klinik kommst, du brauchst nur noch gesund zu werden. Ich habe eine Idee für René. Es gibt in der Stadt ein Café, das genau solche Leute einstellt wie René, mit angegliedertem Wohnprojekt, ich habe mal Bilder für die gemalt, ich habe Beziehungen … und für Celia fällt mir auch noch irgendetwas ein.«

Die Schaukel stand fast wieder still, als ich sah, dass jemand auf die kleine Brücke getreten war. Livia, Lottas Schwester. Sie hielt die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern und hatte eine neu gefärbte Haarsträhne über dem rechten Ohr, pink.

»Ich würde da nicht schaukeln«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin abergläubisch. Kommt vermutlich vom Dorfleben.«

»Viel Glück in Hamburg«, sagte ich und sprang von dem Schaukelast. »Wann gehst du?«

»Sobald ich das nötige Geld zusammen habe«, sagte Livia. »Vielleicht schon nächste Woche.«

Ich nickte. Die meisten Leute gingen nächste Woche. Und dann nächste, und dann nächste.

»Vielleicht kann ich dir was leihen«, sagte ich und kletterte mit dem Ast wieder zu der Baumwurzel hinauf, um noch einmal zu schaukeln.


Drei Stunden später saß ich wieder im Lager auf der Intensivstation, vor der alten Schreibmaschine. Der nächste Text war wieder durch eine Fingerverschiebung auf der Schreibmaschine entstanden, es wurde immer leichter, die Dinge herauszufinden, diesmal musste ich die Finger nach unten statt nach oben verschieben, aber es dauerte nicht lange, bis ich das begriffen hatte.

David lag in seinem Bett und schlief seinen entrückten, unerklärbaren Schlaf. Er fieberte noch immer, aber nur leicht. Und er schien besser Luft zu bekommen.

Samstag war zur Abwechslung tatsächlich nicht da, aber das machte nichts, er würde wiederkommen, er würde nie einen alten Koffer nehmen und gehen und niemals ruhig in eine Kaffeetasse sehen und dabei Dinge sagen, für die ich ihn hassen musste.


Werkstattbericht – Eintrag 9

25. 2. 2012
Heute muss ich erstens von einer sehr schönen und zweitens einer schlimmen Sache berichten.
Es ist wirklich ärgerlich, dass ich nicht häufiger dazu komme, Dinge zu dokumentarisieren als ungefähr einmal im Monat. Liste der Gründe, warum ich nicht häufiger dazu komme, Dinge zu dokumentarisieren:
 
  • Notwendigkeit, im Februar in Gärten zu arbeiten, falls Frau Hemke wiederkommt, ich habe dafür jetzt ein Gartenbuch gekauft.
  • Mehrere Besuche bei Herrn Wenter zur beilaufenden Erwähnung, wie schön es ist, zum Arzt zu gehen, weil er schon wieder dünner und blässer geworden ist.
  • Stichproben-Überwachung von René abends, damit die Jungs von der Bushaltestelle ihn in Ruhe lassen. Einmal haben sie Stöckchen geschmissen und gesagt, er soll sie holen, das habe ich aber auch fotographiert und aufgehängt und danach war erst mal wieder Ruhe. Lotta sagt: die Arschlöcher!, aber ich schreibe das hier nicht auf.
  • Beratung mit Lottas Brüdern wegen der verkauften Uhr von Jarsen, von der sie uns nicht so viel Geld geben wollten, wie sie wert gewesen war.
  • Drei weitere Versuche, Jarsen zu besuchen, die wir abbrechen mussten, weil er und Livia uns beinahe gesehen hätten.
  • Überlegung, was ich Lotta zum Geburtstag schenke, weil sie mir seit dem letzten Eintrag jede Woche zweimal sagt, dass sie bald Geburtstag hat.
  • Notwendigkeit, leider vormittags zur Schule zu gehen, obwohl kein Mensch weiß, was ich da lernen soll.
  • Fußballverein, wo ich mit Finn und Peter bin, aber ich kann da sowieso nicht auf den Ball aufpassen, weil ich so viel nachdenken muss über die Paradieswerkstatt, weshalb sie mich als Torwart abschaffen wollen, weshalb ich zu Hause zwei Wutanfälle bekommen habe, weshalb ich etwas Geschirr zerschmissen habe (es war altes und hässliches Geschirr), weshalb ich mich mit Lovis wieder vertragen musste, was Zeit in Anspruch nahm, weshalb ich noch weniger Zeit hatte, diesen Bericht zu schreiben.

Die schöne Sache, die passiert ist, war diese:
Der Schauspieler war da.
Ich wünschte, Lovis hätte sie gemalt, Celia und ihren Schauspieler, so schön waren sie.
Sie trafen sich in der Mitte der Straße, ich hatte das so geplant, es war wie Regie für einen kleinen Film, und ich habe lange, lange mit Celia dafür geübt. Sie trafen sich in der Mitte der Straße, und die Straße war aus Silber, weil die Sonne auf den gefrorenen Boden schien, und alles glitzerte wie in einem Hollywoodfilm.
Der Schauspieler war aus dem Bus gestiegen und die Straße in die eine Richtung entlanggegangen, ich hatte ihm das genau beschrieben, aber Lotta und ich gingen auch vor ihm her, mit etwas Abstand, damit es so aussah, als folgte er uns nur ganz zufällig. Celia hatten wir spazieren geschickt, obwohl sie nicht mehr gerne spazieren geht, seitdem überall Zeigefinger aus dem Erdboden wachsen, die auf sie zeigen. Sie kam aus der anderen Richtung, und sie trafen sich genau dort auf der Straße, wo die Mitte des Dorfes ist und wo drei Straßen zusammenlaufen. Es gibt keinen Laden oder sonst was bei uns, wo sich die Leute treffen, aber in der Dreistraßen-Dorfmitte steht an einer Seite eine Bank, auf der auch an diesem Tag ein paar Alte saßen, und die Jungs von der Bushaltestelle hatten bei der Bushaltestelle an einem Moped herumgeschraubt und kamen dem Schauspieler sowieso schon nach, und ich konnte genau sehen, wie sich ein ganzes Dutzend Vorhänge in den verschiedenen Häusern bewegten, weil neugierige Leute aus den Fenstern gucken wollten. Es kommen nicht oft fremde junge Männer mit dem Bus in dieses Dorf.
An einer anderen Seite der Dreistraßen-Dorfmitte hat die einsame Spaziergängerin ihren Garten, in dem jetzt im Februar nichts wächst, im Sommer aber die allerschönsten Blumen vom ganzen Ort. Als Celia von der einen und der Schauspieler von der anderen Seite kam, war sie nicht auf einem einsamen Spaziergang, sondern kniete in ihrem langen schwarzen Mantel vor einem Beet und ordnete die Tannenzweige der Abdeckung neu.
Und so sah sie auch, was alle sahen: Wie nämlich der Schauspieler Celia winkte (ich hatte ihm vorher sehr oft erklärt, wie sie aussah) und Celia zurückwinkte und sie dann beide auf die Straße liefen, jeder von einer Bürgersteigseite, und sich in der Mitte umarmten. Celia war ein bisschen zu steif dabei, aber das sahen wohl nur Lotta und ich, und der Schauspieler machte seine Sache richtig gut, als würde er im Theater auf der Bühne jemanden umarmen, oder sogar in der Oper. Zum Glück sang er nicht.
Celia trug einen Mantel von Lovis, den Lovis sowieso nie anhat, der Celia aber sehr gut stand und den sie seitdem behalten hat, weil es Lovis gar nicht aufgefallen ist, dass er fehlt. Er ist rot mit kleinen Glitzerpalletten an den Ärmeln und weißen Knöpfen und ziemlich eng, so dass man Celias Bauch sogar ein bisschen sah.
Sie trug auch eine Blume im Haar, das war Lottas Idee gewesen, eine rote Rose, die ich aus einem Blumenstrauß genommen hatte, den Claas Lovis mitgebracht hatte.
Der Schauspieler trug vor allem eine Winterjacke und einen Schal, weil er wahrscheinlich fror. Hier draußen auf den Dörfern ist mehr Wind als in der Stadt, in jeder Hinsicht.
»Da bist du ja«, sagte der Schauspieler. »Wie schön, dich zu sehen! Ich war ja so lange weg! Die Arbeit …«
An dieser Stelle hätte Celia sagen müssen: »Ich weiß, Liebling, ich weiß. Aber ich habe deine Briefe bekommen.«
Celia verpasste aber ihren Einsatz und sah nur zu dem fremden Mann auf, der sie in den Armen hielt. Ich musste Lotta auf den Fuß treten, weil sie »ich weiß, Liebling«, flüsterte, um Celia zu helfen. Wir standen ein wenig abseits, so, als kämen wir nur so vorbei.
»Hast du meine Briefe bekommen?«, fragte der Schauspieler.
Celia nickte, stumm.
»Bald brauchen wir uns ja nicht mehr zu schreiben«, fuhr er fort – er hatte den Text wirklich sehr gut gelernt, den ich ihm bei unserem zweiten Treffen gegeben hatte. »Noch ein paar Monate, dann ist die Wohnung bezugsfertig. Dann kommst du zu mir, und alles ist viel praktischer, auch für das Kind.«
Celia verpasste wieder ihren Einsatz, ihr Text hätte gelautet: »Ach ja (seufzen), für unser Kind«, aber sie seufzte nur und sagte »ja, für das Kind«, was allerdings keinem auffiel, glaube ich, da ja niemand den richtigen Text kannte.
Dann küsste der Schauspieler Celia, und das war das Schwierigste, weil ich ihm nicht hatte sagen können, wie er das machen soll, denn da kenne ich mich nicht aus. Es sah aber sehr richtig aus, und nachdem Celia sich etwas erschreckt hatte, hielt sie auch ganz still. Ich glaube, am Ende küsste sie sogar zurück. Ich hatte ihr gesagt, sie müsste sich ihre Lippen rosa schminken, damit man den Kuss besser sah.
Mitten im Kuss kam Jarsen mit seinem schwarzen Jeep die Straße entlanggefahren, und er musste außen um die beiden herumfahren, in einem Bogen, weil sie einfach stehen blieben und sich weiterküssten. Das stand nicht in meiner Regie, aber es war perfekt, und für eine Sekunde tat es mir leid, dass ich Jarsen sein Geld abluxen wollte. Dann aber wieder nicht, weil er es ja gar nicht alles braucht.
»Lass uns ein Stück zusammen durchs Dorf gehen«, sagte der Schauspieler zu Celia, »damit ich mir angucken kann, wie du so wohnst, sonst haben wir uns ja immer bei mir in der Stadt getroffen …«
Ich hoffte sehr, dass keinem auffiel, dass das nicht sein konnte, weil Celia nie in die Stadt gefahren war. Lotta und ich folgten Celia und ihrem Schauspieler durchs Dorf, und eine ganze Menge Leute – angefangen mit den Jungs von der Bushaltestelle – folgten ihnen auch und taten so, als täten sie es nicht.
Celia und der Schauspieler gingen bis zum Waldrand, sie unterhielten sich leise dabei, so dass wir nichts verstanden, sie gingen sogar bis zur Tarzanschaukel, und dann gingen sie wieder zurück und ins Haus der Marie. Ich hatte die Marie nicht eingeweiht, ich wollte mal sehen, was sie dachte. Als sie die Tür öffnete, hatte sie ein ganz rotgeheultes Gesicht, aber sie sah nicht traurig aus, sondern glücklich. Da dachte ich, dass es ganz gut war, wenn sie auch dachte, der Schauspieler wäre echt.
Er ging zwei Stunden später wieder. Keine Ahnung, worüber die drei sich unterhalten haben, man sah sie die ganze Zeit durchs Küchenfenster, wie sie Tee tranken und redeten und manchmal lachten.
»Hab ich dir gesagt, dass ich nächste Woche Geburtstag habe?«, fragte Lotta, während wir warteten.
Als der Schauspieler auf den Bus wartete, lief ich zu ihm und sagte: »Sie haben vorhin das hier verloren« und gab ihm ein Stofftaschentuch, das geplant war, damit ich noch kurz mit ihm reden konnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Denke schon«, sagte der Schauspieler ganz leise. »Daniel …«
»David.«
»David«, sagte er, »ich glaube, Celia wird sehr glücklich mit ihrem Kind. Egal, von wem es ist. Aber wie löst sich das Ganze auf? Wie erklärst du den Leuten, dass sie dann doch nicht zu mir in die Stadt zieht?«
»Das ist einfach«, flüsterte ich, damit der Busfahrer es nicht hörte, denn der Bus war gerade gekommen und öffnete jetzt seine Vordertür. »Sie werden einen tragischen Unfalltod sterben. Der Postbote wird in ein paar Wochen eine Karte mit schwarzen Rändern ausliefern.«
»Ach du Scheiße«, sagte der Schauspieler und stieg ein.
Als ich nach Hause ging, traf ich die einsame Spaziergängerin, die ihren Garten verlassen hatte, um wieder einsam spazieren zu gehen. Ihre Augen waren so gerötet wie die der Marie.
»Haben Sie geweint?«, fragte ich, obwohl ich sonst nie mit der einsamen Spaziergängerin rede, weil sie immer so weit weg wirkt.
»Nein«, sagte sie und lächelte und strich ihr langes schwarzes Haar zurück. »Ich weine noch.«
»Warum denn?«, fragte Lotta.
»Vielleicht bin ich neidisch. Auf Celia. Es muss wunderbar sein, jemanden in der Mitte der Straße zu umarmen.«
»Hm«, sagte ich. »Sind sie denn eigentlich ver …« Ich wollte verheiratet sagen, aber die einsame Spaziergängerin sagte: »Verliebt. Doch. Seit Jahren. Deshalb gehe ich spazieren. Ich suche.«
»Wie? Wen? Einen bestimmten Mann?«, fragte ich. Aber da war die einsame Spaziergängerin schon an uns vorbeigegangen und in den nächsten Feldweg eingebogen, und bald war sie nur noch der gewöhnliche schwarze Strich zwischen den Äckern.

Dann hatte Lotta endlich Geburtstag, und sie wollte ganz groß bei sich zu Hause feiern, sie plante das seit Wochen, sie erzählte mir jeden Tag, wie viele Verwandte und Bekannte sie einladen und wie viele Luftballons es geben würde und wie viele Torten sie mit ihrer Mutter zusammen backen musste und dass sie dringend noch Pappbecher brauchte.
An ihrem Geburtstag ging ich zu ihrem Haus und brachte zwei Stangen Pappbecher mit, die bekommt man ja in Stangen wie Zigaretten. Im Haus lief laute Musik, der Boden dröhnte bis draußen, und Marcel und irgendein anderer Typ waren draußen damit beschäftigt, einen Motor auseinanderzubauen. Lottas Vater nickte mir zu, er fütterte gerade die Kaninchen, die sie ab und zu schlachten und essen. Lottas Mutter rief drinnen im Haus etwas, und Livia rief zurück. Eigentlich schrien sie aber eher. Ich sah nirgendwo Luftballons und auch keine Gäste.
Dann kam Lotta aus dem Haus gerannt und sagte »komm mit«, also rannte ich mit ihr zusammen weiter, mit den Pappbechern und meinem Geschenk in der Hand, das ich in sehr viel buntes Papier verpackt hatte, weil Lotta sehr viel buntes Papier gerne hat.
Sie blieb erst zwei Straßen weiter stehen.
»Sie sind alle nicht gekommen«, sagte sie. »Kein Einziger von den Verwandten. Und jetzt streiten Mama und Livia wieder und haben meinen Geburtstag schon fast vergessen, obwohl Mama eigentlich noch einen Kuchen backen wollte, aber Marcel, der sollte das Mehl mitbringen vom Einkaufen, der hat das natürlich auch vergessen.«
Sie trat nach etwas, das nicht da war, oder nach jemandem, der in diesem Fall ebenfalls nicht da war, denn ich war es nicht.
»Dein Geschenk von mir, das ist ein Film«, sagte ich. »Und weißt du, was wir jetzt machen? Ich gehe nach Hause und hole den Hund aus dem Schuppen, weil der rausmuss, und ich leihe mir den Laptop von Claas aus und dann gehen wir zu Rosekast und feiern deinen Geburtstag da.«
»Meinst du, Rosekast hat viel übrig für Geburtstage?«, fragte Lotta. »Sonst sagst du immer, wir sollen leise sein, weil er nachdenkt.«
»Heute hat er bestimmt nichts dagegen, wenn wir mal laut sind«, sagte ich.
Rosekast hatte wirklich nichts dagegen. Er wunderte sich über den Laptop, aber als er aufgehört hatte, sich zu wundern, sagte er, wir könnten gerne im Haus den Film ansehen, er selbst bliebe aber lieber draußen.
Drinnen war wieder eine fürchterliche Unordnung, diesmal hatte jemand Gras vom letzten Sommer ins Wohnzimmer getragen und zwischen den Sofakissen ein Nest daraus gebaut, aber wer immer es gewesen war, bei unserem Kommen war er vermutlich weggelaufen, denn das Nest war leer.
Ich stellte den Laptop auf den kleinen Wohnzimmertisch und goss in der Küche, durch die eine Ameisenstraße zog, heißen Kaba aus meiner Thermoskanne in Tassen. Rosekast trank seinen Kaba draußen. Er trug die Kaninchenfellmütze und sah sehr zufrieden aus. Ich glaube, Rosekasts Leben ist viel gemütlicher geworden, seitdem er uns kennt.
Und dann saßen wir auf dem Sofa und sahen den Film.
Es war Narnia Teil eins, weil ich Lotta vom Kleiderschrank erzählt und sie das Buch nicht gelesen hatte. Lotta kann nicht so gut lesen. Filme ansehen kann sie sich aber hervorragend.
Draußen fing es an, zu schneien, während wir drinnen saßen, und wir fanden eine alte Decke von Rosekast, die zwar Mottenlöcher hatte, aber sonst noch in Ordnung war, mit der deckten wir uns zu. Ich hatte auch Kekse mitgebracht und einen leider sehr alten Luftballon, den ich bei uns im Keller gefunden hatte. Er war rot und ließ sich mit etwas Mühe noch aufblasen. Lotta hielt ihn während des ganzen Narnia-Films im Arm. Zwischen uns lag der Hund wie eine Wärmflasche.
»Das ist gar nicht der schlechteste Geburtstag«, sagte Lotta. »Auch wenn ich kein Fahrrad gekriegt habe.«
Ungefähr in dem Moment fasste ich einen Entschluss.
Nämlich den, dass Lottas Familie ab jetzt auch auf der Liste ist. Das hätte mir eigentlich früher einfallen können. Ihre Eltern haben ja beide keine Arbeit, ihre Brüder auch alle nicht, was bei denen aber kein Wunder ist. Was also umverteilt werden muss, ist Arbeit, ich muss irgendwo welche finden für Lottas Mutter und ihren Vater, damit sie mehr verdienen und sich zu Hause auch nicht so viel streiten können, mit Livia oder den Brüdern oder gegenseitig, und die Brüder sollten auch mal was arbeiten, finde ich, einfach, damit sie was tun.
Wenn ich auch durch einen Wandschrank gehen und einen Löwen wie Aslan in Narnia finden könnte, das wäre wirklich gut. Falls Sie das nicht wissen: Aslan ist so etwas wie das gute Prinzip, vielleicht so wie Gott, wenn es denn einen gäbe. Er hilft allen und ist immer freundlich, sogar zu seinen Feinden. So wie Rosekast mal gesagt hat, dass man sein soll – man darf nicht mit Unrecht etwas Rechtmäßiges erreichen, und Unrecht zu erleiden ist besser, als Unrecht zu tun. Ich bin nicht Aslan oder Gott oder Rosekast, und natürlich ist es Unrecht, wenn wir Jarsen zum Beispiel wirklich erpressen würden, es ist sogar kriminell. Aber sehr effektiv.
Ich wäre lieber anders, ich wäre lieber effektiv, ohne etwas Unrichtiges zu tun.
Zwischendurch war der Film richtig brutal, und Lotta krallte sich erst an der Decke fest und dann an dem Hund, der das nicht mochte, und dann an meinem Arm, als der Löwe Aslan ins Lager seiner Feinde geht, freiwillig, und sie ihm erst die Mähne abschneiden und ihn dann umbringen.
»Es ist nicht schlimm«, sagte ich zu Lotta, weil ich ja das Buch kannte. »Er wird wieder lebendig, mach dir keine Sorgen. Er weiß das, es ist so wie ein Trick. Wer sich freiwillig opfert, wird wieder lebendig, das steht in so einem alten Gesetz in Narnia. Er wird wieder lebendig und verjagt alle Bösen.« Und Lotta war sehr erleichtert, als das stimmte.
Wir haben dann bei Rosekast übernachtet. Ich hatte noch mehr Picknick mit, das wir zusammen mit Rosekast aßen, und ich rief zu Hause an und sagte, ich würde bei Lotta übernachten. Lovis fand das eine mäßig gute Idee, weil sie Lottas Familie nicht wirklich kennt – und es wäre ehrlich gesagt sogar eine völlig blöde Idee, dort übernachten zu wollen. Sagt Lotta. Aber weil Lovis abends eine Vernissage hatte und weil am nächsten Tag Samstag war, also keine Schule, erlaubte sie es doch.
Lotta schlief auf dem Sofa und ich auf dem Fußboden, und Rosekast, nehme ich an, in seinem Bett oben im Haus, aber als wir einschliefen, war er noch wach und las in einem seiner philosophischen Bücher. Ich las auch noch ein bisschen, mit meiner Taschenlampe. Ich verstehe von Rosekasts Büchern immer nur einen kleinen Teil, aber gerade das ist schön, denn es macht sie geheimnisvoll, wie Bücher, die in einer Rätselschrift geschrieben sind.
Und dann ist das Schlimme passiert.
In der Nacht. Während wir schliefen. Ich werde es nur kurz erzählen, weil es keinen Spaß macht und weil es erst heute Morgen war.
Als wir durch den Wald nach Hause gingen, schneite es nicht mehr, und der ganze Februar war ein bisschen wärmer geworden, vielleicht vom Geburtstagfeiern, sagte Lotta. Und weil alles eigentlich schön war, wollten wir noch zur Tarzanschaukel.
Aber an der Tarzanschaukel war kein Schaukelast mehr, er war abgeschnitten worden.
Und an dem Seil hing ein Körper, mitten über dem Graben.
Es war die Marie.
Sie war ganz still. Das Seil ging einmal um ihren Hals, der Knoten war hinten im Nacken, und ihr Gesicht guckte nach unten zu uns. Es sah gruselig aus, irgendwie bläulich.
Lotta hat gekotzt, ich nicht.
»Und wir wussten nicht mal, dass sie unglücklich war«, sagte ich leise zu Lotta. »Wir hatten sie nicht mal auf der Liste.«
Der Erste, den wir fanden, um die Marie abzuschneiden, war Jarsen, der ging mit seiner grünen Waldjacke im Morgen spazieren. Es war die Jacke, aus der wir das Portemonnaie gefischt und das Geld herausgefischt hatten. Er sagte nichts darüber, woraus ich schließe, dass er nicht weiß, wer es war, oder es sogar gar nicht bemerkt hat, weil er so viel von dem Geld besitzt.
Er hatte ein Taschenmesser dabei, zum Glück.
Die Marie fiel auf den Boden, sehr schwer, immer noch dick. Sie trug nicht ihre knappen Minisachen für die Männer, sondern den Trainingsanzug, den sie auch anhatte, als ich da war und sie Tee für uns gemacht hat.
Zu Hause war niemand, weil Claas in der Klinik Dienst hatte und Lovis in ihrem Atelier war und graue Kästchen malte. Ich habe wieder einen Wutanfall bekommen und einen Stapel Teller zerschmissen. Das Schlimmste ist, dass sie nicht auf der Liste war.
Nein. Das Schlimmste ist, dass ich glaube, ich weiß, warum sie das gemacht hat. Wegen Celia und ihrem Schauspieler, der dann doch unecht war. Er hat es ihr bestimmt gesagt, beim Tee in der Küche. Es wäre so schön gewesen, wenn er echt gewesen wäre, sicher hat die Marie das auch gedacht, oder? Alles Schöne ist immer unecht, jedenfalls, wenn man jemand ist wie Celia oder ihre Mutter, irgendwie muss die Marie das begriffen haben, und dass es nie anders wird.
Ich wünschte, ich hätte ihr die Paradieswerkstatt und das mit der Murmel ausführlicher erklärt. Dann hätte sie gewusst, dass es nicht so bleibt, dass auch für Celia und sie und alle anderen das schöne echt wird, sobald mein Paradies fertig ist.
Aber die verdammte Murmel ist viel schwerer, als ich am Anfang dachte. Und es ist eher so, als ob sie dauernd zurückrollt, zurück, so wie bei Sisyfus. Falls Sie nicht wissen, wer Sisyfus ist: Gucken Sie im Lexikon nach.
Ich bin zu KO, um das auch noch zu erklären.

Ich schlug die Mappe zu wie stets und ging zu David, und da lag er in seinem Bett, und ich dachte, das ist es, du bist einfach nur KO, das ist alles. All diese Leute, all diese privaten Höllen, die du in private Himmel verwandeln wolltest! Es war auf einmal, als bestünde der Verband, der noch immer seine Haare verbarg, aus einem Ring von privaten Höllen, einem Ring von ungelösten Problemen, der sein Hirn zusammenpresste, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht hinzugreifen und das weiße Material zu lösen.

»Dein Körper«, flüsterte ich, »braucht Schlaf. Ruhe. Deshalb wachst du nicht auf. Es war zu viel. Auch noch die Marie … verdammt, die Marie. Sie ist weggegangen, hat Celia gesagt. In den Wald. Das erklärt, weshalb sie nicht wiedergekommen ist.«

Ich erinnerte mich an die zerschmissenen Teller und daran, wie David den Laptop ausgeliehen hatte, ohne zu fragen. Ich war diejenige gewesen, die deshalb mit ihm geschimpft hatte, weil ich geglaubt hatte, David erziehen zu müssen. Wie dumm von mir. Claas hatte nur abgewinkt. Und David hatte also nie bei Lotta übernachtet. Stattdessen hatte er in einer abbruchreifen Hütte im Wald geschlafen, bei einem alten Mann, der ausgeschnittene Zitate in Umschlägen verschickte, statt sich selbst zu äußern.

»Aber was … was hätte ich denn wie genau anders machen sollen?«, flüsterte ich. »Hätte ich nie zu einer einzigen Vernissage gehen dürfen? Nie malen, wenn er zu Hause war? Sitzt die perfekte Mutter immerzu auf Abruf im Wohnzimmer, beobachtet ihren Sohn und … stickt?«

»Ich glaube nicht«, sagte jemand hinter mir, der selbstverständlich Thorsten Samstag war. »Ich glaube, es gibt keine perfekten Eltern. Und wenn es welche gibt, fallen sie ihren Kindern sicher fürchterlich auf die Nerven.«

Er lächelte. Aber nur mit dem blauen Auge. Das braune war ernst.

»Die Bilder«, sagte ich. »Claas hat etwas über Bilder gesagt. Bilder, die ich hätte sehen sollen, etwas, das den Unfall betrifft.«

»Das Kopf-CT?«, fragte Thorsten. »Wir machen eine Verlaufskontrolle. Willst du die Bilder sehen?«

Ich dachte einen Moment nach. »Nein.«

»Es ist deine Entscheidung.« Er strich Davids Bettdecke glatt. »Hast du weitergelesen? Ich meine, wenn … wenn ich das fragen darf.«

Ich nickte. »Bist du gerade Arzt, oder bist du gerade einfach so hier?«

»Leider gerade Arzt«, sagte Thorsten. »Aber wenn du möchtest, kannst du mir heute Abend erzählen, was David dir erzählt hat. Irgendwo, wir könnten irgendwo einen Kaffee trinken. Meine Kinder … damals … sie haben kein Tagebuch geschrieben. Sie haben mir nie etwas erzählt, über sich, so wie David jetzt dir. Ich hatte keine Chance, sie zurückzuholen, indem ich die Welt ändere.«

Ich sah ihn an und versuchte, herauszufinden, ob er sich über mich lustig machte. Ich hatte ihm von meinem Plan erzählt, Frau Hemke wieder in ihr Haus ziehen zu lassen, und womöglich sogar mit dem Milchbauern zu sprechen, ich hatte ihm sehr viel erzählt, vielleicht zu viel.

»Glaubst du, das ist es, was ich tue?«, fragte ich. »Die Welt ändern?«

»Das ist es, was du versuchst. Der Versuch zählt.«

Ich sah in Torstens blaues Auge, dann in das braune. Sie waren beide ernst, er machte sich nicht lustig. Er sah nicht auf mich herab. Wieso war es mir immer so vorgekommen, als blickte Claas auf mich herab?

»Heute Abend«, sagte ich. »Ich weiß nicht. Ja. Zu Hause bin ich sowieso allein.«

»Davids … Vater?«

Ich schüttelte den Kopf. Thorsten sah mich einen Moment lang prüfend an, dann sah er weg, hielt sich mit den Augen an der grünen EKG-Linie fest und wiederholte: »Heute Abend. Wo denn?«

»Ich bin einfach wieder hier«, sagte ich. »Ich brauche jetzt eine Pause von der Klinik, ich fahre den Hund füttern … aber ich komme wieder, dann kannst du mir zeigen, wo es abends den besten Kaffee gibt.«

»Lach ruhig über mich«, sagte Thorsten. »Ich trinke wirklich abends Kaffee. Hält einen vom Schlafen ab. Schlafen ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Zu viele Träume.«

»Seit fünf Jahren.«

»Vielleicht.«

Womöglich, dachte ich, als ich ins Auto stieg, ist es Thorsten, der eigentlich erzählen will. Der jemanden zum Erzählen braucht. Er sagt nur, er will nicht über seine Kinder reden, weil jeder von ihm erwartet, dass er das sagt.

Und auf einmal hatte ich eine absurde Vision: Thorsten, David und ich gingen am Meer entlang, ausgerechnet am Meer! Ein Bild wie in einer Versicherungsreklame. Und weil es ein Versicherungsreklamebild war, waren Thorsten und ich ein Paar. David saß, trotz der Reklame, tatsächlich im Rollstuhl, das Abendlicht spielte in seinen rotblonden Haaren, und der Rollstuhl war viel mehr ein Königsthron, der Thron von Prinz Goldhaar. Und Thorsten hätte also wieder ein Kind, eines, das überlebt hatte, und ich würde wieder lieben, nach so langer Zeit.

Ich schüttelte die Vision ab, sie schmeckte zu sehr nach künstlichem Vanillepudding.

Natürlich würde es niemals so sein.

Ich fand mich auf der Autobahn in der verkehrten Richtung wieder. Kurz vor der Warnowtalbrücke, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt, hielt ich auf dem Seitenstreifen und stieg aus. Ich kletterte wieder über die Leitplanke und den Hügel hinauf, setzte mich zwischen die Büsche ins junge Frühlingsgras und wollte eigentlich eine Weile gar nichts tun als dazusitzen, ich wusste nicht einmal, weshalb ich hergekommen war. Vielleicht, weil es ein wenig so war, als könnte ich hier mit David sprechen, ihn spüren – den David, der er gewesen war, ehe er ins Koma fiel.

Ich wünschte, du könntest mir sagen, ob das mit heute Abend richtig ist, wollte ich zu ihm sagen. Ich wünschte, du könntest mir erklären, was ich in Thorsten Samstag sehe. Einen Lückenfüller, einen Statt-Claas? Einen Retter, einen Heiligen, der rund um die Uhr bei seinen Patienten sitzt und der dich, aufgrund seiner Heiligkeit, irgendwann aufwecken wird? Einen Verbündeten im Kampf gegen den Schmerz? Einen Fremden, für den ich eine neue Lovis sein kann, weil er die alte nicht kannte, eine bessere Lovis, eine Lovis, die versucht, die Welt zu ändern?

Wenn du aufwachst, David, morgen, übermorgen, in einer Woche, wenn du aufwachst und in dieses Gesicht mit den ernsten, verschiedenfarbigen Augen blickst, das sich über dein Bett beugt – was wirst du denken?

Und dann klingelte mein Telefon.

Ich kannte die Nummer nicht, ich erwog, nicht abzuheben, doch die Neugier siegte.

Und aus dem Telefon kam ein Schwall von Worten.

»Frau Berek? Sind Sie Frau Berek? Ich sollte eigentlich gar nicht Sie anrufen, sondern die Polizei, aber mit der Polizei hab ich’s nicht so, wer ruft schon gerne die Polizei an, oder, und dann hab ich Ihre Nummer doch rausgefunden, das war gar nicht so einfach, übers Radio war das, aber das ist ja jetzt schon was her, ich war im Urlaub, gleich hinterher, deshalb, war gar nicht da bis vorgestern, und da haben sie mir erzählt, wie jemand nachgefragt hätte, das war einer von der Polizei, aber die konnten dem natürlich nichts sagen, weil da ja ich am Schalter stand, das Auto war ziemlich groß, und der Junge hatte rote Haare, eher noch golden, über so einen wollte die Polizei was wissen, haben meine Kollegen erzählt, und die Zeit hat auch gestimmt, am Abend war das, kurz vor der Dämmerung …«

»Moment«, sagte ich in den Redeschwall hinein und merkte, dass meine Stimme komisch klang, wie unter Wasser. Mir war auf einmal heiß. »Mit wem spreche ich überhaupt?«

»Das ist doch unwichtig«, sagte der Redeschwall, »Namen, egal, ich will da auch nicht reingezogen werden, ich wollte Ihnen nur sagen, wie’s war, und so war’s, nur damit Sie’s wissen, die sind ausgestiegen, und dann sind sie rein, oder eigentlich nur der Junge, der andere hat getankt, und der Junge ist rein und hat eine Tafel Schokolade gekauft, ich glaube, es war Vollmilch, und ich denk noch, die Haare, wie ein Goldhelm, schön bei dem Abendlicht, so ein hübscher Junge, war vielleicht zehn oder so, hatte irgendwas Dunkles an, grau oder schwarz, in der Dämmerung sah man fast nur die Haare, wie die geleuchtet haben, und er hat dann bezahlt, hatte das Geld wohl lose in der Tasche, und ist wieder raus und in das Auto gestiegen, so ein großes, ich weiß das Kennzeichen nicht, natürlich nicht, nur groß wars, die Marke, keine Ahnung, Männer merken sich ja immer die Marke, aber ich hab da nicht drauf geachtet, ich weiß nur noch, dass es dunkel war, dunkelblau oder dunkelgrün oder sogar schwarz, und dann sind sie weg, der Mann hat auch noch bezahlt, so ein ziemlich großer, mit einem Bartansatz, als hätte er sich ein paar Tage nicht rasiert, bisschen schiefe Nase, Windjacke. Jeans, glaube ich. Sah irgendwie aus wie in der Reklame für die Firma, die immer diese Outdoorsachen macht … Die Polizei hat wohl nach einem gesucht, der den Jungen entführt hat oder so? Der sah aber nicht aus, als ob ihn einer entführt, er hat mit dem Mann geredet, mehr so als würde er ihn kennen, aber na ja, vielleicht hat der ihn ja auch irgendwie gezwungen, wieder einzusteigen, ich weiß nicht, hier ist er nur rein wegen der Schokolade, jedenfalls dachte ich das, hat auch gar nichts weiter gesagt, bloß das Geld hat er mir gegeben, ein bisschen blass sah er schon aus, wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, aber ich dachte, dass das am künstlichen Licht liegt. Vielleicht war’s nicht das Licht. Vielleicht hatte er Angst.«

Der Redeschwall versiegte, zum allerersten Mal, und ich hörte den Sprecher oder besser die Sprecherin am anderen Ende Luft holen.

»Sie arbeiten«, sagte ich sehr langsam, »an einer Tankstelle? Ist das richtig?«

»Ja«, sagte der Redeschwall, der keiner mehr war. »Ich wollte nur, dass Sie das wissen. Dass mich aber da keiner mit reinzieht, ich hab nichts damit zu tun. Aber der Junge … haben Sie ihn denn wiedergefunden?«

»Haben Ihnen das Ihre Kollegen nicht erzählt?«

»Nein, ich weiß nicht, nee, hab nicht gefragt … o Gott … er ist doch nicht etwa … so ein hübscher Junge, Ihr Sohn, nehme ich an … er ist doch nicht tot?«

»Nein«, sagte ich, und ich wollte noch mehr sagen, viel mehr. Vor allem wollte ich fragen. »Bitte, kann ich mit Ihnen sprechen? Können wir uns irgendwie treffen? Am besten jetzt gleich? Ich komme zu Ihnen, sagen Sie mir nur, welche Tankstelle das ist …«

»Tut mir leid«, sagte die Stimme, »ich hab das schon gesagt, ich will da nicht reingezogen werden. Auch nicht vor Gericht aussagen oder so. Ich bin gar nicht auf Arbeit, bin zu Hause, es nützt also nichts, die Tankstellen abzuklappern, ich wünsch Ihnen was. Und dem Jungen. Aber lassen Sie mich da bitte außen vor.«

Und dann war die Leitung tot.

Ich stand auf, stand da, auf einem Hügel an der Autobahn, mit einem nutzlosen Handy in der Hand, ganz allein. Einen Moment lang starrte ich es an, in der Hoffnung, es würde noch einmal klingeln. Dann feuerte ich es mit einem wütenden Aufschrei ins Gras.

»Warum?«, schrie ich. »Warum haben Sie aufgelegt? Sie … verstehen Sie denn nicht … ich muss es wissen! Ich muss wissen, wer David mitgenommen hat! Ich muss …«

Der Wind trug meine Worte die leere Autobahn entlang. Und dann fiel mir ein, dass ich vielleicht genug wusste. Und mir wurde schlagartig schwindelig. Ein großes, dunkles Auto. Ein hochgewachsener Mann in einer Windjacke. Er hat mit ihm geredet, als würde er ihn kennen. Etwas schiefe Nase.

»Claas?«, flüsterte ich.