Ich wurde geboren, während mein Vater seinen Militärdienst ableistete in Algerien, erklärte Hélène bei ihrem nächsten Treffen auf seine Frage nach ihrer Abneigung gegen Krieg und Soldaten.
Das war ja kein Krieg, wohlgemerkt, sondern eine Befriedungsmaßnahme gegen aufständische Elemente. O, ich habe sehr früh die Wörter gelernt, die er mitgebracht hatte: Bougnouls. Ratons. Nein, sie führten dort keinen Krieg, sondern jagten Ratten. Rattisage nannte sich das. Eine Vertilgungsaktion. Und während er fort war, hat meine Mutter sich einen Liebhaber genommen. Onkel Jean-Luc. Der war ein richtiger Soldat. Luftwaffe. Sie hat ihn auf dem Rummel kennengelernt, der Foire du Trône. Da trug er eine schicke blaue Uniform und schob den Kinderwagen, in dem ich lag. Natürlich erinnere ich mich daran nicht, aber es gibt Fotos. Sie im geblümten Kleid, Kokossandalen, zwei Luftballons in der Hand. Er mit angelegtem Gewehr vor der Schießbude. Ja, sonst hat sie das Baby meistens bei ihrer Mutter untergebracht. Ich weiß nicht, ob mein Vater das Trinken schon in Algerien begonnen hat oder erst nach seiner Rückkehr. Er ist gestorben, als ich vierzehn war. An einer Leberzirrhose. Aber von Algerien hat er nie erzählt. Ich weiß nicht wirklich, ob Algerien ihn umgebracht hat oder meine Mutter. Wahrscheinlich ist es so, dass Algerien ihn so weichgeklopft hat, dass er meiner Mutter nichts entgegensetzen konnte. Natürlich auch deswegen nicht, weil er sie trotz allem abgöttisch liebte. Sie war eine sehr schöne junge Frau, bevor sie aus dem Leim gegangen ist. Und eine wilde, im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester. Sie hat immer erzählt, sie habe einmal mit Miles Davis geflirtet, in Saint-Germain, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Wahrscheinlich nicht. Umgezogen sind wir, als ich drei war. Weg aus Paris, um diese Verbindung zu kappen. In eine brandneue Hochhaussiedlung nach Melun, die sie für die Pieds-Noirs hochgezogen hatten. Nur dass dann dort auch die Harkis hingingen und in den Siebzigern die Algerier. Da hatte er sie wieder vor der Nase, auf demselben Korridor, seine Bougnouls. La Pierre Collinée hieß diese Siedlung. Mittlerweile reißen sie sie wieder ab. Aber Melun war nicht weit genug weg von Paris.
Ich mochte Jean-Luc gern. Er hat mir immer etwas mitgebracht. Wenn er am Nachmittag da war, musste ich mich auf den Balkon raussetzen, oben im elften Stock, wo wir wohnten, von wo aus man den Parkplatz im Auge hatte, und Bescheid sagen, wenn ich den blauen Panhard von Papa einbiegen sah, damit Jean-Luc Zeit hatte rauszukommen. Er im Treppenhaus runter. Papa im Aufzug hoch. Irgendwann hat meine Mutter nicht mal mehr das Schlafzimmer gelüftet, wenn mein Vater von der Arbeit kam.
Hélène erinnerte sich an diesen Geruch nach Schweiß, Zigarettenrauch, Chanel N° 5 und ungemachtem Bett und an die ängstlich suchenden Augen ihres Vaters, wenn er die Wohnung betrat. Einmal erzählte sie ihm aus Mitleid von Onkel Jean-Luc, was ihre Mutter ihr streng verboten hatte, und zeigte ihm die rosa und grüne Wasserpistole, die er mitgebracht hatte. Es war Sommer, und in der niedrigen, nach Süden ausgerichteten Wohnung stand die Hitze, und sie hielt sich den Lauf der Wasserpistole in den Mund und spritzte das lauwarme Wasser hinein. Da packte er sie am Arm, riss mit der freien Hand den Lederimitatgürtel aus der Hose, drehte ihn zu einer Schlaufe und versohlte ihr damit den Hintern. Und bei jedem Schlag schrie er: Du - sollst - nicht - lügen! Du - sollst - keine - Lügen - über - deine - Mutter - erzählen! Weil der Gürtel fehlte, rutschte die Hose, sodass unter dem hellblauen, kurzärmligen Hemd, das er trug, seine Unterhose zu sehen war, da musste er aufhören. Dann zertrampelte er die Wasserpistole mit seinen blankgeputzten schwarzen Schuhen zu rosafarbenen und grünen Splittern. Ihre Mutter hatte den Fernseher eingeschaltet, um das Geschrei nicht zu hören.
Mit zwölf war sie in die kleine Eisenbahnerwohnung ihrer Großeltern in der Rue des Batignolles gezogen, wo auch ihre Tante lebte, die ältere Schwester ihrer Mutter, eine Junggesellin, mit der sie das Zimmer teilte. Der Großvater starb schon kurz nach seiner Pensionierung, aber an den Drei-Frauen- und Drei-Generationen-Haushalt dachte sie gern zurück. Da sie eine gute Schülerin war, wurde sie in Chaptal aufgenommen, und nachmittags traf sich der maoistische Schülerclub in einem Café an der Place Clichy nahe dem Wepler und las Althusser. Aber das war später.
Und Ihre Mutter?
Onkel Jean-Luc war ja auch verheiratet und hatte eine Tochter, die so alt war wie ich. Ich erinnere mich an gemeinsame Ausflüge in den Bois de Vincennes. Er ist gerudert, und wir haben die Hände durchs Wasser ziehen lassen. Mein Vater hat noch einen weiteren Versuch gemacht, ihm zu entkommen, und ist von Melun nach Auxerre gezogen, noch mal hundert Kilometer weiter weg.
Da war Hélène nicht mehr mitgegangen, sondern hatte sich nach fürchterlichen Streitereien in die Obhut ihrer Großmutter geflüchtet, zurück nach Paris. Ihre Mutter hatte danach Jean-Luc überredet, seine Frau zu verlassen, und sie gingen gemeinsam in die Banlieue. Aber das funktionierte nur ein halbes Jahr.
Wahrscheinlich war die Liebe, die ja auch nicht mehr frisch war, nicht tragfähig, meine Mutter, die ebenso viel trank wie mein Vater, war zänkisch und auch nicht mehr so schön wie ehedem. Jedenfalls ist Jean-Luc nach einem halben Jahr reumütig zu seiner Familie zurückgekehrt und meine Mutter zu ihrem Mann, rechtzeitig, um ihn die letzten Monate zu pflegen und dann zu beerdigen.
Und was ist aus ihr geworden?
Sie ist dort geblieben, in Auxerre, in ihrer Wohnung, bis die Fürsorge sie vor einigen Jahren daraus entfernt hat. Ich habe es mehrmals versucht, zuerst, den Kontakt wieder aufzunehmen nach dem Tod meines Vaters, mich wieder mit ihr anzufreunden, später, wenigstens ein normales Verhältnis zu ihr zu haben, noch später, ihr zu helfen. Es hat alles nichts genützt. Sie hat mich gehasst. Ich war die Eisenkugel an ihrem Fuß, die sie in ihrem ungeliebten Leben mit Mann und Kind gehalten hat.
Soldaten, das waren für mich die abgekauten Fingernägel meines Vaters und der bebende Hass auf die Araber, die er dort unten auf dem Parkplatz der Siedlung traf und die im Treppenhaus mit ihm vor der blau lackierten Tür des Fahrstuhls warteten. Und der große, lachende, selbstbewusste Fliegerhauptmann Jean-Luc, der mir meine Mutter weggenommen und mir zum Trost Geschenke mitgebracht hat.
Der Amerikaner erzählte, er habe ganz andere Erinnerungen, die sich mit dem Wort Soldat verbanden. Eine Kopie von Winslow Homers Schlachtengemälde Prisoners from the Front über dem Sideboard im Wohnzimmer neben dem Gummibaum. Der Unionsoffizier, die Hände im Rücken gefaltet, der sich, ein Bein herrisch und ungeduldig vorgestellt, drei konföderierte Gefangene vorführen lässt, von denen zwei ziemlich abgerissen und niedergeschlagen aussehen, der dritte aber, einer mit langem Haar, frech und ungezogen die Hände in die Seiten stemmt und ebenfalls herausfordernd ein Bein vor das andere stellt.
Was habe ich dieses Bild studieren können als Kind. Jedes Detail und die Geschichten, die es erzählte, gingen mir bis in die Träume nach. Das rostige Bajonett meines Großvaters an der Wand. Uniformen mit leuchtenden Messingknöpfen, die perfekt auf Bügelfalte zusammengelegt, in Seidenpapier eingeschlagen, aus der Reinigung kamen. Salutschüsse bei Paraden in der Kaserne. Mein Vater, der sich sonntagmorgens vor der Messe im Badezimmer rasierte und dabei den River-Kwai-Marsch pfiff. Mein Vater, wie er meinem Bruder und mir zeigt, wie man Schuhe wichst. Meine Mutter und wir Kinder, wie wir am Tor stehen und ihm nachwinken, als er, die Reisetasche in der Hand, von einem Fahrer, der ihm den Schlag aufhält und salutiert, abgeholt wird, und meine Mutter, die weinte, als am selben Abend LBJ im Fernsehen sprach. Das Glaskästchen mit den Orden auf der Anrichte. Als ich vierzehn war, nahm mein Vater seinen Abschied nach mehr als zwanzig Dienstjahren. Das war kurz vor oder kurz nach dem Pariser Abkommen. Wir sind eine Soldaten-Familie. Wie ich schon sagte. Aus Tradition und vom Vater zum Sohn. Es gab irgendwelchen Ärger oder Groll, weil er gehofft hatte, als General abzutreten, aber als Full Colonel entlassen wurde. Angefangen hat es mit meinem Großvater. Nein, eigentlich mit meinem Urgroßvater Cote. Der ist irgendwann Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus Kanada eingewandert, aus Quebec. Und sein Sohn war es, der die Tradition begründet hat. Der Kriegsheld, mein Großvater. Sagt Ihnen Belleau Wood etwas?
La Forêt de Belleau? Nein, sagte sie, nichts.
Ich glaube, es heißt Le Bois de Belleau. Bei Château-Thierry an der Marne. Ein historischer Sieg der Marines im Juni 1918. Und mein Großvater mittendrin. Als Zwanzigjähriger. Der Mythos des Marine. Ich bin mit solchen schneidigen Sätzen großgeworden, die mein Vater immer einmal wieder angeführt hat, den Großvater selbst habe ich ja nie gekannt. Retreat? Hell, we just got there! Oder ein anderer, entschuldigen Sie, es ist mehr ein Fluch als ein Satz: Come on, you sons of bitches, do you want to live forever? Als Aufforderung, durch ein Kornfeld hindurch eine MG-Stellung der Deutschen anzugreifen. Und nun bringen Sie das zusammen mit: Ich bin die Liebe und das Leben, was wir sonntags in der Messe hörten, dann haben Sie unsere Familie.
Dass ich schließlich in einer Division gelandet bin, deren Wahlspruch lautet »First to fight«, kann dann kein Zufall mehr sein. Nein, erinnern Sie sich, dass ich Ihnen gesagt habe, ich müsste Ihnen Concord zeigen, um unser patriotisches Pathos verständlich zu machen? Es gibt auch noch einen anderen Weg: Als wir in Frankreich lebten, unternahm mein Vater mit uns eine Pilgerreise, zum Aisne-Marne-Memorial. Dort hat ein General eine Rede gehalten, die in Stein gehauen wurde und die wir auswendig lernen mussten, mein Bruder und ich. Meine Schwester als Mädchen war dispensiert. Ich kann sie noch: Immer wieder einmal wird ein Veteran hierherkommen, um die heldenhaften Tage jenes lang vergangenen Juni wieder zu erleben. Hier werden unsere neuen patriotischen Altäre errichtet, hier werden die Schwüre des Opfergeists und der Verpflichtung aufs Vaterland neu geleistet werden. Hierher werden unsere Landsleute in Zeiten der Depression, ja sogar in Zeiten des Scheiterns pilgern und an diesem Schrein großer Taten ihren Mut erneuern.
Nicht schlecht, sagte Hélène. Aber in Sachen patriotischer Rhetorik macht uns Franzosen keiner etwas vor. Hierzulande steht ein solcher Schmus an jedem Wegstein.
Der Amerikaner musste lachen. Sie sind wirklich unverschämt, Hélène.
Und angesichts dieser Familientradition konnten Sie nun auch nicht anders, als ein Held zu werden?
Ja, vielleicht. Obwohl, ganz so einfach war es nicht.
Er erinnerte sich, dass damals eigentlich alles eher für seinen jüngeren Bruder Gregory gesprochen hätte. Gregory war the popular boy, er war der Baseballspieler, er war der Sohn seines Vaters, auch schon vom Gesichtsschnitt her, während er, genau wie Isabelle, eher nach ihrer Mutter kam. Er war eigentlich mehr ein ruhiger Typ gewesen als Kind und Jugendlicher, ein Einzelgänger, Schwimmer. Lange einsame Wanderungen durch die Wälder, Birdwatching, das war nichts, womit man in der Schule hätte Ruhm erwerben können.
Es hat sich geändert, als ich in der Schule einen bösen Spitznamen verpasst bekam: turtle boy. Wegen der Schwimmerei und so weiter. Nun müssen Sie wissen, der turtle boy, der Junge mit der Schildkröte, das ist eine Skulptur und ein Wahrzeichen von Worcester, zugleich aber auch, wegen der Art der Darstellung, eine Quelle für geschmacklose Anspielungen und Scherze. Wenn Sie in Worcester jemand so nennt, dann bleibt Ihnen eigentlich nur auszuwandern oder zuzuschlagen. Wahrscheinlich um diesen Hänseleien zu entkommen und zugleich um mich dagegen wehren zu können, habe ich mit dem Rudern begonnen und in zwei Jahren fünfzehn Kilo an Muskelmasse zugelegt. Plötzlich war ich kein Hänfling mehr, sondern Schlagmann im Doppelzweier, zusammen mit meinem Freund gewann ich Regatten, Preise für die Schule, und ich habe irgendwie angefangen, an diesen Dingen Gefallen zu finden, Sport, Verantwortung, ein gewisses Repräsentieren. Und Gregory hat Vater schnell klargemacht, dass er Jurist werden wollte und es für ihn nicht infrage kam, zur Armee zu gehen. Und da die Familientradition ohnehin verlangt hat, der Erstgeborene müsse die Fahne hochhalten, mein Großvater war ja auch der Ältere gewesen, ja, doch, ich wollte das. Und ich sah auch keinen Widerspruch zu meinen anderen Vorlieben. A man of books und zugleich a man of action, das war das Ideal, das mir vorschwebte.
Dann war Ihr Großvater womöglich ja auch hier, sagte Hélène.
Der Amerikaner schüttelte den Kopf. Er war ja kein Ambulanz-Fahrer, sondern Kriegsfreiwilliger. Nach dem Schuss, der ihm die Schulter zertrümmert hat - und da konnte er von Glück sagen bei den Kämpfen in Belleau, wo sie mit Bajonetten und nackten Fäusten aufeinander los sind -, nach dieser Heimatwunde ist er ins Feldlazarett gekommen und war im August 1918 wieder zu Hause. Vollbehängt mit Orden. Mein Vater war der einzige Sohn, meine Großmutter hatte danach noch fünf Fehlgeburten, ich weiß nicht, woran das lag.
Und er ist dann auch Soldat geworden.
Ja, er hat die Militärakademie besucht, dann als ganz junger Mann den Koreakrieg mitgemacht und fünfzehn Jahre später als Oberstleutnant Vietnam …
Das Wort unterbrach das Gespräch.
Und jetzt Sie, sagte Hélène. Meinen Sie, Ihr Land wird weiter so regelmäßig Kriege führen, dass auch Ihr Sohn wieder einen mitmachen kann?
Muss. Mitmachen muss.
Das erkennen Sie also doch an, dass der Krieg für den Soldaten keine reine Freude ist.
Bestimmt nicht. Er ist eine merkwürdige Mischung aus momentanen Hochgefühlen und einer solchen Todesangst im Magen, dass es einen zugleich lähmt und einem die Gedärme öffnet, von unsäglich viel red tape, unklaren Lagen und Zusammenhängen, administrativer Dummheit, der Krieg ist nie zu überblicken, selbst ein General sieht kaum mehr als Fabrice in Waterloo, man wartet und wartet und versucht, seine Ängste zu disziplinieren, versucht sich zu konzentrieren, versucht perfekt zu funktionieren, die Befehlskette nicht reißen zu lassen wegen eigener Schwäche oder zu viel Nachdenkens. Und immer sagt man sich: Ich tue das für ein höheres Ziel. Ich tue das, damit das Gute siegt. Ich tue das aus einer Art von Opfergeist heraus, ohne den keine Zivilisation entstehen kann. Und natürlich hofft man immer, der Krieg, in dem man gerade ist, möge der war to end all wars sein.
Er muss relativ jung gestorben sein, Ihr Großvater, wenn Sie ihn nicht mehr gekannt haben.
Ja, sagte der Amerikaner. Er war noch keine sechzig. Kurz nach dem Koreakrieg, mein Vater war noch nicht verheiratet. Ja, er litt an Parkinson. Die letzten zwei Jahre hat meine Großmutter ihn im Rollstuhl durch die Gegend geschoben. Damals konnte man noch nicht viel dagegen tun.
Und Ihre Großmutter?
War eine wunderbare Frau. Ma Cote haben sie alle genannt. Sie ist vorletztes Jahr gestorben. Hochbetagt. Eine richtige Pionierin. Eine Outdoors-Frau. Sie war es, die mit mir Vögel beobachten gegangen ist und von früher erzählt hat. Sie hat mir den Feldstecher meines Großvaters geschenkt und ein paar Brote eingepackt, und dann sind wir losmarschiert. Sie war Mitglied im Forbush Bird Club. Wir sind im Rutland State Park gewesen, am Wachusett Reservoir, in Cascades Park, überall, wo ich später auch alleine gewandert bin. Und sie hat mir die Vögel gezeigt. Baumwachteln, Raufußhühner, Weißbauch-Phoebetyrannen, Blaurückenwaldsänger. Allein die Namen ergeben ein Gedicht. Und manchmal hinterher machten wir noch Rast am Grab meines Großvaters, und sie zupfte ein bisschen an den Blumen herum und redete mit ihm, als säße er neben ihr auf der Bank: So, mein Guter, das war ein schöner Tag, ich war mit dem Jungen im Wald, und wie geht es dir? Gut bei diesem herrlichen Wetter, hoffe ich. Morgen früh muss ich dran denken, in der Kirche eine Kerze für die Seele von Großvater Kerouac anzuzünden -.
Erinnerst du mich daran?! Hat sie nicht auch gesagt: Erinnerst du mich daran?, unterbrach ihn Hélène. Das tut nämlich meine Großmutter immer, wenn sie am Grab meines Großvaters ist. Meistens nur einmal im Jahr, denn er liegt draußen in Thiais, und der Weg ist weit. Meistens nur an Allerheiligen. Dann strömen die Menschen die Straße entlang, von der Metro oder der Bushaltestelle kommend, stehen im Blumengeschäft am Haupteingang Schlange, leihen Schäufelchen und Gießkannen und fallen dann wie eine Herde Sonntagsgärtner in den Friedhof ein. Der ist riesig, unübersehbar, mit Autostraßen zwischen den Gräberreihen. Divisionen - ja, so heißen die. Er ist nicht schön, zu wenig Wildwuchs, zu geometrisch, immerhin, wenn man weiß, wo die Menschen liegen, die man sucht, findet man sie. Aber es sind zwanzig Minuten zu Fuß vom Eingang aus, und meine Großmutter ist nicht mehr gut zu Fuß, sie leidet seit ihrer Jugend im Krieg an Polyarthritis, angeblich die schlechte Ernährung während der Besatzung, die letzten zwei Jahre ist sie in so einer Art Golfwägelchen hingefahren worden. Ja, und da verbringen wir jedes Jahr den größten Teil des Allerheiligentages. Wir haben unsere Vesper dabei, wir fegen das tote Laub vom Grab, bürsten die Platten der Grabumrandung mit der Nagelbürste, die Vertiefungen der goldenen Lettern des Namens auf dem Stein werden mit der Zahnbürste vom Grünspan befreit, wir holen die alten Pflanzen raus, das Heidekraut vom Vorjahr, pflanzen neu, wässern, zupfen Unkraut, rechen die Kieselsteine, ja, und meine Großmutter redet mit ihrem Mann. Gus, sagt sie, er hieß ja Auguste, Gus, sieh mich an, mit mir ist es auch nichts mehr. Diesen Herbst haben deine Kollegen wieder gestreikt, das erzählt sie immer, er war ja ein alter Gewerkschafter, oder eben: Ich muss XY noch eine Karte zur Taufe seines Enkels schicken, erinnerst du mich daran?
Der Amerikaner lächelte und sagte: Wir unterhalten uns nur über Tod und Friedhöfe. Das sollten wir nicht tun.
Aber es bietet sich hier doch an, in diesem Zwischenreich, sagte Hélène.
Der Amerikaner hob fragend die Brauen.
Nun ja, hier in diesem Korridor findet doch sozusagen der Wechsel der Aggregatzustände statt. Ungeborene kommen herein, schreiende Babys werden hinausgetragen, Moribunde werden gebracht und die Särge dann diskret am Hinterausgang entsorgt. Dazwischen, in den Betten, an den Maschinen, in den Sprechzimmern und Labors, ist alles möglich. Das Krankenhaus ist die Schleuse zwischen Leben und Nichtleben.
Nur dass alle für das Leben kämpfen. Jeder Tod, jeder… jeder ungelöste Fall ist eine Niederlage.
Und Niederlagen können wir uns nicht erlauben, sagte Hélène und sah ihn an.
Er erwiderte den Blick. Nein, Niederlagen können wir uns nicht erlauben.
Sie schwiegen eine Weile, dann schlug Hélène einen Spaziergang durch den Garten vor, weil sie rauchen wollte. Er wies sie darauf hin, dass das in der Schwangerschaft nicht ratsam sei. Hélène brauste auf. Erstens sei sie noch nicht schwanger, und dann gebe es auch Grenzen dessen, was sie sich antun und was sie sich versagen wolle und was nicht.
Und das Rauchen nicht, sagte sie. In drei Tagen finde die Punktion statt, und wenn es diesmal etwas werde, dann, aber erst dann könne man darüber nachdenken, mit dem Rauchen aufzuhören.
Was heißt wenn? Es wird etwas! Sie müssen daran glauben. Sie müssen es wollen!
Oh, Gott weiß, dass ich es will, sagte Hélène.
Sie wären bestimmt eine großartige Mutter, sagte der Amerikaner.
Was haben Sie eigentlich, seit Sie hier sind, von Paris und der Umgebung gesehen?, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
Er antwortete nicht, und sie gingen schweigend weiter bis zu einer Parkbank im Schatten der Außenmauer, hinter der ein teures Apartmenthaus mit dunkel getönten Glasscheiben vor den Balkonen zu sehen war. Sie setzten sich.
Nichts, sagte der Amerikaner. Gar nichts.
Hélène sah ihn ungläubig an. Was meinen Sie mit nichts? Nichts, was Sie interessiert hat?
Nein, gar nichts, sagte der Amerikaner und schlug die Augen nieder. Ich - ich kann nicht. Ich kann nicht durch die Gegend gehen. Ich - ich traue mich alleine nicht aus dem Haus. Außer dem Kasernengelände in Fontainebleau und dem Krankenhausareal habe ich nichts gesehen. Nicht allein. Wenn ich im Tross oder in Begleitung war, rechts und links jemand hatte, beschirmt war, dann … Aber sonst … Ich gerate in Panik. Ich werde im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig. Ich habe das Gefühl, ich falle, ich stürze ab. Oder mir wird schwindlig. Die Mauern kommen von allen Seiten auf mich zu, schließen mich ein …
Er fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar und umfasste mit der anderen die Lehne der Bank. Hélène wusste nicht, was sie sagen sollte.
Es ist diese Agoraphobie oder Angststörung, die Dr. Mehran diagnostiziert hat und gegen die ich Medikamente bekomme. Ich bin so weit, dass ich hier am liebsten gar nicht mehr rauswollte. Die hohen Mauern, die Apparate, die weißen Kittel, das ist meine sichere Welt. Ich bin wieder wie ein Kleinkind im Haus der Eltern - oder wie ein Irrer, der sich in seiner Anstalt zu Hause fühlt … Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen mit alldem auf die Nerven falle, glauben Sie mir, ich falle mir selbst auf die Nerven. Manchmal …
Ja?, fragte Hélène, als er nicht weitersprach.
Nein, nichts. Der Amerikaner winkte ab und entschloss sich dann dazu, sie um eine Zigarette zu bitten. Sie legte die Packung zwischen sie auf die Bank, und in der folgenden halben Stunde, die sie noch beisammenblieben, rauchte er fünf Stück, ohne es zu bemerken. Hélène war zu taktvoll, ihn darauf hinzuweisen.
Und wenn Sie Auto fahren?, fragte sie schließlich.
Er lächelte matt. Eine öffentliche Gefahr. Manchmal bekomme ich einen Fahrer für irgendeine Mission und lasse ihn ein paar Umwege fahren. Das ist alles, was ich bislang von Paris gesehen habe. Fahren Sie doch bitte die Champs-Elysées runter. Fahren Sie doch bitte die Rue de Rivoli entlang …
Wenn Sie wieder einmal so eine Fahrt in Begleitung haben, dann fahren Sie nach Moret. Moret-sur-Loing. Das ist nicht weit von Fontainebleau.
Und was ist da?
Hélène lächelte und dachte: Erinnerungen. Die hatten sich ganz von alleine eingestellt, aus innerer Notwendigkeit heraus, der Traurigkeit etwas entgegenzusetzen, die aus der Stimme mehr noch als aus den Worten des Amerikaners sprach.
Aber dann sagte sie: Schönheit. Sisley. Die Seine da, wo sie am lieblichsten ist. Balsam für die Seele. Sie kennen doch Sisley, den Impressionisten? Alfred Sisley? Einen großen Teil seines Werks hat er dort gemalt, und dort liegt er auch begraben. Es ist ein stilles, kleines Dorf, das sich seither kaum verändert hat. La douce France.
Sisley, sagte der Amerikaner. Helfen Sie mir auf die Sprünge. Gibt es ein besonders bekanntes Bild von ihm?
Sie schüttelte den Kopf. Nicht so wie bei seinen Freunden Monet und Renoir. Er ist der lyrischste unter ihnen. Und hat fast nur Landschaften gemalt. Und ist auch gestorben, bevor er bekannt wurde.
Gibt es dort ein Museum?, fragte der Amerikaner.
Hélène lachte. Nein, das nun wirklich nicht. Aber die Kirche ist noch so, wie er sie gemalt hat, ockerfarben auf der Sonnenseite und lila im Schatten und mit einer Alm aus roten Fischschuppen als Dach. Das Ganze so bröselig wie eine Sandburg, auf der die Sonne zu lange gestanden hat. Und auch der Fluss ist noch derselbe wie zu seiner Zeit …
Sie lächelte bei dem Bild vor ihrem inneren Auge.
Erzählen Sie weiter, bat der Amerikaner. Selbst wenn ich mich nicht dorthin traue, habe ich das Gefühl, ich könnte es sehen.
Ja, man kann unten am Loing entlanggehen, durch die Feuchtwiesen. Gegenüber hört man noch immer die Eisenbahn, wie auf seinen Bildern. Man kann bis Saint-Mammès gehen, wo der Loing in die Seine mündet. Manchmal ist er himmelblau, manchmal flaschengrün, und unter der Brücke, die Sisley auch gemalt hat, mit den kräftigen Pfeilern, stehen die Angler.
Stellte man sich dazu, dann schnappte die Zeit nach dem Köder und blieb am Haken hängen …
Waren Sie oft dort? Ist es ein wichtiger Ort für Sie?, fragte der Amerikaner.
Ja, ein paar Jahre lang jedes Frühjahr. Aber nicht in Moret selbst. Ein paar Kilometer flussaufwärts. In Montigny. Mein Mann hat sich in die Gegend verliebt, und wir beide haben uns in ein kleines Hotel dort verliebt …
Er wartete, dass sie weitersprach.
Die Auberge de la Vanne Rouge. Direkt am Wehr, sodass man vom Zimmer aus die ganze Nacht das Wasser rauschen hört. Und an der Rezeption sitzt ein großer Papagei, ein grau-roter Ara, und scherzt mit dem Patron. Ja, da waren wir immer Anfang März.
Am Abend lief im Fernseher die Zeremonie der Césars, und sie hatte feuchte Augen bekommen, als Bernard Blier quälend langsam auf die Bühne tappte, um seinen Ehrenpreis entgegenzunehmen, nur mehr ein Schatten seiner selbst, das runde volle Gesicht dünn und abgezehrt, und nur die Schauspielerdisziplin eines halben Jahrhunderts machte, dass er es von den Kulissen bis zur Rampe schaffte und in die stehende Ovation hinabblinzelte.
Wir sind im Wald spazieren gegangen tagsüber. Es ist ja alles der riesige Wald von Fontainebleau, in dem einst die Könige gejagt haben.
Sie mögen sie gerne, die französische Provinz, nicht wahr?, fragte der Amerikaner.
Ja, sagte Hélène und überlegte. Vielleicht ist es zur Hälfte Nostalgie und zur anderen Hälfte Eskapismus. Stadtflucht. Paris ist immer schwerer auszuhalten.
Das hört man oft, sagte der Amerikaner. Für unsereinen ein ganz unvorstellbarer Gedanke.
Auf einen kurzen Nenner gebracht, ist es der rasende Kapitalismus, der die Stadt kaputtmacht - und die Menschen, die hier leben.
Sie sind nicht nur Antimilitaristin, Sie sind auch Sozialistin, sagte der Amerikaner und zwinkerte.
Ja, das bin ich tatsächlich, antwortete Hélène.
Wenn ich nicht - früher wäre das eine paradiesische Vorstellung für mich gewesen, durch diesen Wald von Fontainebleau zu streifen mit einem Fernglas, einem Notizbuch und vielleicht einem Aufnahmegerät für die Stimmen. Jetzt bekomme ich allein bei dem Gedanken daran feuchte Hände. Wie, sagten Sie, hieß das Hotel mit dem Wehr und dem Papagei?
Vanne Rouge. Auberge de la Vanne Rouge. In Montigny am Loing. Sisley hat übrigens auch Ruderer gemalt. Es gibt ein schönes Bild von ihm: Ruderer auf der Seine bei Saint-Mammès, sagte Hélène.
Ich werde mich mit Paroxetin vollstopfen und meinen Fahrer bitten, nach Moret und Montigny zu fahren.
Sein Blick verlor sich im Grün des Gartens. Er schien die Gesprächspause, die eingetreten war, nicht zu bemerken.
Schließlich fragte Hélène, den grünen brüchigen Lack der Bank fixierend: Möchten Sie - können Sie über den Krieg sprechen?
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