Könige, Propheten und der Messias 

Ein Autofahrer hört im Radio, dass auf seiner Strecke ein Geisterfahrer unterwegs sei. Er blickt aus dem Fenster und murmelt: «Einer? Hunderte!»

Im richtigen Leben, das komplexer ist als der Autoverkehr, kann es durchaus vorkommen, dass man ganz allein gegen den Strom der Lemminge schwimmt und deshalb als Geisterfahrer betrachtet wird, obwohl es in Wahrheit die anderen sind.

Als ein solcher Geisterfahrer muss Israel den Völkern in seiner Nachbarschaft erschienen sein. Ein Volk, das alles grundsätzlich anders macht als die anderen, zu allem eine andere Meinung hat und dann noch behauptet, etwas ganz Besonderes zu sein! So ein Volk ist eine Provokation für alle anderen. So ein Volk wird gehasst.

Das Volk Israel hat – nach außen hin – unbeirrt an seinem Kurs festgehalten, denn da war dieses Ereignis am Schilfmeer. Von dem ging ein Kraftstrom aus, der Israel durch die Jahrhunderte trug und es alle Anfeindungen und Katastrophen überstehen ließ. Aber verliert nicht so ein Strom im Lauf der Zeit seine Kraft? Und muss er nicht mal in diese, mal in jene Richtung mäandern, um an sein Ziel zu kommen?

Es war nie leicht, ein Angehöriger des Volkes Israel zu sein. Viele hätten es gern bequemer gehabt, viele meinten, im Lebensstil der anderen Völker durchaus Vorzüge zu erkennen. Könnte man nicht einzelne heidnische Elemente übernehmen und in die eigene Kultur integrieren? Lebt es sich mit Toleranz und einer vernünftigen Kompromissbereitschaft nicht besser?

Solche vernünftigen Fragen wurden selbstverständlich gestellt in Israel. Und gerade weil die Vernunft so lebensklug erscheint, war sie in Israel eine ständige Versuchung. Darum hielt Israel keineswegs so unbeirrt Kurs, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und darum gab es noch eine Besonderheit, die Israel von allen anderen unterschied: Die anderen Völker dienten ihren Göttern gern und zweifelten nicht.

Israel diente seinem Gott ungern, zweifelte immer und lebte ständig an der Grenze zur Verzweiflung. In seiner göttlichen Erwählung sah es stets mehr eine lästige Bürde als eine besondere Würde.

Schon in Ägypten, als Mose vom Pharao eine dreitägige Pause erbat, damit das Volk in der Wüste ein Fest feiere, und der Pharao die Zügel noch straffer zog, statt sie zu lockern, ging das Murren los. Es setzte sich fort am Schilfmeer, ging weiter in der Wüste, gipfelte im Tanz ums Goldene Kalb und hörte nicht mehr auf. Dass Israel so oft nur knurrend gehorchte, die anderen aber ihren Göttern geradezu lustvoll dienten, hat einen einfachen Grund: Die Macht, den Reichtum, die Liebe und den Sex anzubeten, die Natur und die Schönheit zu verehren, das fällt uns Menschen nicht schwer, das tun wir von Natur aus. Religion haben wir sowieso.

Israel aber ist in der Wüste auf den wahren Gott gestoßen und hat erfahren: Der will verlässlich immer das, was unserer inneren Natur zuwiderläuft. Freiwillig dem Ganzen zu dienen, für sich keinen Vorteil aus seiner Potenz zu ziehen, den Schwächeren nicht auszunutzen – dies ist dem Stärkeren von Natur aus so wenig gegeben wie die Einsicht, dass auch der Starke aus sozialer Gerechtigkeit langfristig den größten Vorteil für sich selber zieht.

Zwar spürt Israel, dass das, was Gott will, letztlich vernünftiger und auf Dauer auch erfolgsträchtiger ist, aber es kostet immer Überwindung, es zu tun. Einzusehen, dass die Anbetung der falschen Götter zuverlässig jene unaufhörliche Folge von Mord und Totschlag und Krieg und Katastrophen produziert, die man als Geschichte bezeichnet, genügt nicht. Man muss die Einsicht auch leben. Und das ist immer der Kampf des eigenen Interesses gegen Gottes Interesse. Dafür braucht es den Glauben.

Zwei, drei Jahrhunderte lang gelingt es Israel, sich zu überwinden. Aber das Begehren, zu sein wie die anderen, ist immer da. Es finden sich auch immer «Sachzwänge», die das Begehren rechtfertigen, und beim Wunsch nach einem König setzt sich erstmals so ein Sachzwang durch.

Israel, die Gesellschaft der Freien und Gleichen, hat für bestimmte Führungsaufgaben (Rechtsprechung, Organisation, Landesverteidigung) Richter berufen. Einer der Letzten, die so ein Amt innehaben, ist Samuel. Als er alt wird, setzt er seine Söhne als Richter über Israel ein, aber diese wandeln nicht auf seinem Weg, sondern nehmen Geschenke und beugen das Recht. Darin sehen die Israeliten einen willkommenen Anlass, wieder einmal ihr Begehren vorzutragen: Setze einen König über uns, der uns richten soll nach der Weise aller Heidenvölker.

Schon einmal hatte das Volk versucht, einen König zu bekommen. Gideon, ein Richter, der vor Samuel lebte, hätte es werden sollen, aber der konnte sich noch widersetzen: Nicht ich will über euch herrschen, auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen, Gott soll über euch herrschen.

Samuel gelingt dies nicht mehr, denn ein weiterer, noch stärkerer Grund für den Ruf nach einem König taucht auf: die Schwäche der Landesverteidigung. Ruft ein bedrohter Stamm die anderen zu Hilfe, helfen nur wenige, denn es gibt keine Bündnispflicht. Das geht eine Weile gut, bis die militärisch straff organisierten Philister, ein Nachbarvolk Israels, zu einer tödlichen Bedrohung Israels werden.

Unter dieser Bedrohung zeigt sich, wie es in Wahrheit um Israel steht. Israel ist nicht mehr zu solidarischem Handeln fähig. Es gibt keine einzige Aktion, an der sich alle zwölf Stämme gleichzeitig beteiligen. Der Mangel an Solidarität zeigt den eigentlichen Mangel: Israel hat aufgehört zu glauben, dass Solidarität möglich ist. Israel kehrt zurück zur Weisheit der Heidenvölker: Zum guten Handeln ist der Mensch nur unter Zwang bereit. Israel hat aufgehört zu glauben.

Aber dieser Wahrheit will Israel nicht ins Gesicht sehen. Deshalb richtet es seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bedrohung der Philister, tut so, als sei diese die Ursache der Probleme Israels. Weil Israel der Lösung Gottes nicht mehr glaubt, verfällt es auf die Ersatzlösung des Königtums. Dafür kommen die Philister wie gerufen. Deren Bedrohung begründet den Wunsch, sich von der Volk-Gottes-Idee zu verabschieden und ein normaler Staat zu werden.

Allerdings wächst dagegen eine Opposition, die geradezu fundamentalistisch beharrt, dass in Israel niemals Menschen über Menschen herrschen dürften. Samuel ist ein Sprecher dieser Opposition und malt den «Realos» aus, wie sich Israel bis zur Unkenntlichkeit verändern werde, wenn es jetzt in den Schoß der Normalität der Heidenvölker zurückkehre.

Samuel nennt dem Volk den Preis der Staatlichkeit: Der König wird euch eure Söhne nehmen und sie für sich einsetzen, auf seinen Streitwagen und bei seiner Reiterei, und damit sie vor seinem Wagen herlaufen. Sie werden sein Ackerland pflügen und seine Ernte einbringen müssen. Sie werden ihm Kriegswaffen und Wagengeräte anzufertigen haben. Eure besten Äcker, Weinberge und Ölbäume wird er nehmen und seinen Knechten geben, und eure Töchter wird er als Salbenmischerinnen, Köchinnen und Bäckerinnen verpflichten. Davon lässt sich das Volk nicht abschrecken. Es will seinen König. Und es bekommt ihn, Saul.

Israel wird ein Staat wie jeder andere und, unter Sauls Nachfolger David, zum Großreich. Schon bei Davids Sohn Salomo vereinigen sich Thron und Altar in einer einzigen Person, König Salomo ist zugleich der oberste Priester, und im ganzen Land wird fortan der Frondienst eingeführt. Das Volk, das ausgezogen war, um eine neue Gesellschaft zu etablieren, etabliert nun bei sich die alte Sklavenhaltergesellschaft.

Die «Realpolitik» hat Einzug gehalten in Israel. Nicht nur die Klassengesellschaft, auch alles andere, was durch die Realisierung von Gottes Plan aus der Welt hätte verschwinden sollen, kehrt wieder: Es gibt keine Treue und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Nein: Fluchen, Betrügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen! Sie haben Gewalttat begangen im Land, und Blutschuld hat sich an Blutschuld gereiht.

 

Und wie reagiert Gott, als Samuel ihm bestürzt die Wünsche seines Volkes vorträgt? Gott bleibt überraschend gelassen und sagt: Höre auf die Stimme des Volkes in allem, was sie dir gesagt haben; denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich, so, wie sie es schon immer gemacht haben von dem Tag an, als ich sie aus Ägypten heraufgeführt habe, bis heute.

Gott kritisiert die Entscheidung des Volkes genauso scharf wie Samuel, aber warum zeigt er sich letztlich damit einverstanden? Hat er resigniert? Hat er sich damit abgefunden, dass sein Plan für immer eine Utopie bleiben wird?

So einfach ist es natürlich nicht. Israels Königtum wird zunächst ein großer Erfolg. Während König Saul noch zaudernd regiert, erwächst ihm ein starker Konkurrent, ein jugendlicher Held, der den Riesen Goliath, den Anführer der Philister, mit List und einer Steinschleuder besiegt und rasch zum erfolgreichen König aufsteigt: David.

Aus den lose nebeneinander existierenden Stammesgebieten schmiedet er um das Jahr 1000 vor Christus einen großen Territorialstaat, führt ein paar siegreiche Eroberungskriege und macht Jerusalem zur Hauptstadt seines Reiches.

Israel wird ein fast ganz normaler Staat, mit einem fast ganz normalen Herrscher. Was diesem noch fehlt, stellt sich aber zuverlässig ein: Als David die schöne Frau eines seiner Hauptleute sieht, will er sie haben. Um sie zu kriegen, schickt er den Hauptmann an die Front, gibt dessen Vorgesetzten die Anweisung, ihn ins gefährlichste Getümmel zu schicken, damit er darin umkomme, und dieser Plan geht auf. Der glanzvolle schäbige Herrscher schnappt sich die Frau seines verratenen Dieners.

Dann aber passiert etwas Neues, ganz und gar Unerwartetes, das zeigt, dass Israel eben doch noch nicht vollständig in der Normalität angekommen ist und dort auch nie mehr ankommen wird. Ein Mensch namens Nathan tritt auf, einer ohne Amt und Würden, aber mit großem, scheinbar durch nichts gerechtfertigtem Selbstbewusstsein, ein frecher, völlig unabhängiger, freier Geist.

Dieser Kerl geht zum König und sagt ihm ins Gesicht, dass er ein abscheulicher Schuft sei. Daraufhin passiert etwas noch Überraschenderes. David verfällt nicht auf die nächstliegende Despotenlösung, sagt also seinen Justizbeamten nicht: «Macht Nathan einen fairen Prozess, anschließend wird er gehängt.» Nein, David zeigt sich erschüttert, sieht seine Schuld ein, bereut, schämt sich und macht diesen Nathan, seinen schärfsten Kritiker, zu seinem Berater. Mehr ist von einem König nicht zu erwarten. Deshalb wird David zu Recht bis heute als großer König gerühmt.

Mit Nathan wird unsere Aufmerksamkeit auf ein neues Amt gelenkt, das Amt des Propheten. Der Prophet Israels ist nicht das, was man heute im landläufigen Sinn darunter versteht, also eine Art Orakel, das die Zukunft vorhersagt, sondern ein Intellektueller, der sich über strittige öffentliche Angelegenheiten sein eigenes Urteil bildet und dieses öffentlich mitteilt. Ohne Rücksicht auf die Obrigkeit, aber auch ohne Rücksicht auf das Volk.

Die Propheten Israels kritisieren öffentlich, dass die Armen verachtet und ausgebeutet werden. Sie kritisieren den Machtmissbrauch und halten die Erinnerung an Israels eigentlichen Auftrag wach. Sie reagieren mit einer geradezu seismischen Empfindlichkeit auf Ansätze von Verrat an Israels Auftrag.

Es stehen ihnen dafür keine Machtmittel zur Verfügung, nur das freie Wort, und sie können nicht verhindern, dass sie verhöhnt, verspottet oder einfach ignoriert werden. Aber die Gegenseite kann nicht verhindern, dass die Propheten öffentlich reden. Autoritätshörigkeit ist diesem Volk nicht mehr beizubringen. Während alle anderen Völker sich in Hofberichterstattung üben, leistet sich Israel die Herrschaftskritik. Die Gefahr, den König zu vergöttlichen, besteht in Israel nie.

Propheten stehen mit Gott im Bunde. Von ihm haben sie ihr Amt. Mit diesem Amt ist Gott eine neue Lösung eingefallen, um sein Projekt voranzubringen. Wenn mal wieder alles abzudriften droht, dann schickt Gott einen Propheten – mindestens einen findet er in diesem Volk fast immer – und begabt ihn mit der Macht des Wortes. Das provokante Selbstbewusstsein, mit dem die Propheten ihren Königen und dem Volk in die Suppe spucken, hat also einen geheimen Grund und die stärkste Rechtfertigung, die sich denken lässt: Gott selbst.

Die Propheten entwickelten eine einfache, allen verständliche Theologie, und diese ist der Grund, warum man den Propheten die Gabe der Weissagung andichtete. Die prophetische Theologie stellte, wie die Naturwissenschaft, einen einfachen Kausalzusammenhang her: Wenn Israel Gottes Willen befolgt, dann fährt es gut und kommt voran, wenn Israel es nicht tut, dann fährt es an die Wand. Das gilt fürs Volk als Ganzes, und es gilt für jeden Einzelnen.

Israel befolgte den Willen Gottes nicht, gab nichts auf das Wort seiner Propheten – und verlor seinen Staat, König und Tempel und landete im Exil. Die Propheten hatten Recht. Die Propheten hatten das Unheil vorausgesagt.

Davids Großreich hat gerade mal über drei Jahrhunderte Bestand. Im Jahr 722 geht das Nordreich verloren, im Jahr 586 auch das Südreich. Israel wird von den Babyloniern und Assyrern auseinander genommen und auf Dauer von fremden Mächten beherrscht. Am Ende wird der Tempel zerstört und die Oberschicht ins babylonische Exil deportiert.

 

Warum ist es so gekommen? War der Staat Israel nur ein Experiment, das Gott gewähren und scheitern ließ, damit sein Volk zur richtigen Lebensform finden sollte? Genau darüber denken die Theologen im Exil nach. Das Exil war eine für Israel sehr fruchtbare Phase.

Dort erforschen die Theologen die Geschichte ihres Volkes, lesen noch einmal die alten Texte, interpretieren sie neu und entwickeln ihre Geschichtstheologie von der Schöpfung bis zu ihrer Gegenwart und darüber hinaus.

Im Exil schöpft Israel eine neue Hoffnung: Ein Erlöser werde kommen und jenes Projekt zu Ende bringen, an dem es selber gescheitert ist. Aus dem Geschlecht Davids werde ein Sohn geboren werden, von einer Jungfrau, dieser Sohn werde auf den Thron Davids zurückkehren, ein neues Königreich gründen, in dem auf ewig Recht und Gerechtigkeit herrschen werden – so heißt es beim Propheten Jesaja.

Seitdem wartete Israel auf den Messias. Als er dann kam, merkte es Israel nicht. Jener Jesus, von dem die Christen behaupten, er sei der Messias, ist nicht unser Messias, sagen die Juden. Unserer kommt erst noch.

Er ist schon gekommen, und er ist auch der eure, behaupten dagegen die Christen. Wer irrt?

Ist es so wichtig?

Der israelische Schriftsteller Amos Oz erzählt, seine Großmutter habe ihm, als er ein Kind war, die Sache folgendermaßen auseinander gesetzt: «Schau, die Christen glauben, dass der Messias einmal hier war und dass er zurückkommen wird. Die Juden hingegen glauben, dass der Messias eines Tages erst noch kommen wird. Darüber haben sie sich endlos gestritten, und es gab sehr viel Blutvergießen. Warum, fragte sie, kann nicht jeder einfach abwarten und schauen? Falls der Messias kommt und sagt: ‹Hallo, schön euch wiederzusehen!›, müssen die Juden nachgeben. Falls er aber sagt: ‹Hallo, wie geht’s? Schön, mal hier zu sein!›, wird die gesamte christliche Welt sich bei den Juden entschuldigen müssen.»