Golgatha

Rom war eine normale militärische Supermacht und hatte daher, wie jede derartige Macht, zwei Gesichter: vorne das schöne, edle, kunstsinnig-liberale eines Kaisers Augustus oder Tiberius, hinten die Fratze des Gewaltherrschers, der über Leichen geht und sich um die Qualen seiner Opfer nicht kümmert.

Man vergisst das oft, wenn man staunend und bewundernd vor den Bau- und Kunstwerken der römischen Antike oder anderer untergegangener Kulturen steht. Man denkt dann nur an die Kaiser als Förderer der Maler, Bildhauer, Architekten, Dichter und Denker, Erbauer der Tempel und Theater, Verbreiter der Zivilisation und Wegbereiter der Kultur.

Man vergisst, dass diese Kulturen sich nur entwickeln konnten, weil deren Herrscher das Töten als Geschäft betrieben. Ihre Macht, ihr Glanz und ihre Größe wurzelte im organisierten Raubmord und in der Bereitschaft, jeden, der sich dieser Tötungsmaschine in den Weg stellte, grausam zu quälen und zu töten.

Derjenige, der eine Welt realisieren wollte, die ganz ohne Gewalt auskommt, hat vor rund zweitausend Jahren am eigenen Leib zu spüren bekommen, was es heißt, einer kultivierten Weltmacht in die Quere zu kommen. Als Pontius Pilatus sein Urteil über Jesus gefällt und seine Hände «in Unschuld gewaschen» hatte, begann die blutige, widerwärtige Vollstreckung des Urteils.

Der lange, qualvolle Tod am Kreuz zählt zu den grausamsten Hinrichtungsarten, die sich Menschen ausgedacht haben. Bei den Römern galt diese Strafe als so furchtbar und entehrend, dass sie nur über Sklaven und Nichtrömer verhängt werden durfte.

Das Martyrium beginnt schon vor der Kreuzigung mit der Geißelung. Das Opfer wird römischen Soldaten ausgeliefert, denen es offenbar Lust bereitet, auf Menschen einzudreschen mit Peitschen, in deren Riemen Knochenstückchen und Metallteile eingearbeitet sind. Die Zahl der Schläge ist nicht begrenzt. Die Peiniger dürfen so lange zuschlagen, wie es ihnen gefällt. Die Opfer können dabei bis auf die Knochen zerfleischt werden.

Ein fester Bestandteil des juristisch legitimierten Sadismus ist die Verhöhnung und Verspottung des Opfers durch die staatlich besoldeten Henker und Folterer. Roms Söldner staffieren Jesus als König aus, imitieren die feierliche Königsinthronisation, drücken ihm die Stacheln einer Dornenkrone in die Stirn, werfen sich vor ihm nieder, brüllen, grölen, johlen «Heil dir, König der Juden» und schlagen ihm dabei ins Gesicht, immer wieder.

Von der Geißelung ist er schon so geschwächt, dass er sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte nicht mehr tragen kann. Der zufällig vorbeikommende Simon von Kyrene wird von den Soldaten gezwungen, das Kreuz zu übernehmen, und geht dadurch, ohne es zu ahnen, in die Weltgeschichte ein.

Am Freitag früh um neun Uhr wird Jesus am Boden liegend mit den Händen an den Querbalken genagelt, mit diesem hochgezogen und am Längsbalken befestigt. Dann erst werden die Füße angenagelt. Nun beginnt der Todeskampf.

Ein Gekreuzigter hängt, sobald ihm die Kräfte schwinden, mit seinem vollen Körpergewicht an den Armen, was zu schweren Durchblutungsstörungen und heftiger Atemnot führt, wodurch sich das Opfer wieder unwillkürlich aufrichtet. Nun werden die Fußwunden belastet, bis er erneut in sich zusammensinkt. Das wiederholt sich so lange, bis das Opfer ohnmächtig wird und stirbt. In manchen Fällen kann sich dieses qualvolle Sterben über mehrere Tage hinziehen, und während es da hängt, wird es von Sensationsgierigen, Vorbeikommenden und heimlichen Sadisten begafft und oft noch verspottet.

Manchmal wurden solchen Menschen aus Mitleid die Beinknochen zerschlagen. Dann hängt der Körper nur noch an den Armen, und der Tod durch Thrombose, Ersticken oder Kreislaufversagen kommt schneller. Jesus hatte «Glück». Er starb schon nach sechs Stunden.

Kein Wort des Hasses gegen seine Peiniger war Jesus während seines Leidens über die Lippen gekommen. Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, hatte er gebetet.

Am Kreuz betete er weiter. Zu einem Gebet mit lauter Stimme war er wohl nicht mehr in der Lage, sodass die Umstehenden nur Wortfetzen zu hören bekamen, weshalb sich die Berichte über seine letzten Worte widersprechen. Aber wahrscheinlich betete er den 22. Psalm, dessen Anfang sich mit den überlieferten Fragmenten der letzten Worte Jesu deckt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Sterben aber wird er mit dem Wort: Mein Gott bist du. Bis zum Ende lässt er nicht von Gott.

 

Gekreuzigten wurde in der Antike das Grab verweigert. Die Leichen blieben einfach am Kreuz hängen und dienten Raubvögeln, Aasgeiern und wilden Tieren als Nahrung. Nicht so in Israel. Das unterdrückte Land war zivilisierter als seine Unterdrücker. Selbst Feinde und Exekutierte mussten nach dem Gesetz sorgfältig bestattet werden.

Im Fall des gekreuzigten Jesus bittet Josef von Arimathäa, ein vornehmer Bürger des Landes, den römischen Statthalter um die Erlaubnis, die Leiche bestatten zu dürfen. Pilatus entspricht der Bitte. Jesus wird in frisch gekaufte Leinwand gehüllt und in einem Felsengrab beigesetzt. Ein Rollstein verschließt das Grab. Ein paar Frauen aus dem Jüngerkreis sind dabei und schauen zu. Von den Jüngern selbst ist niemand zu sehen.

Wo sie jetzt sind, ob sie sich allein oder in Gruppen versteckt haben, was sie denken und tun, was sie reden, fürchten und hoffen, was sie vorhaben, all das wissen wir nicht. Die Evangelien schweigen davon.

Man kann sich aber vorstellen, was in ihnen vorging. Sie waren ja alle Juden. Als solche teilten sie mit ihren Zeitgenossen die damals in Umlauf befindlichen Vorstellungen von einem Messias. Was die Jünger von den anderen unterschied, war nur der Glaube, dass Jesus der von allen ersehnte Messias sei.

Deshalb, und weil sie hofften, dass er die für einen Messias typischen Wundertaten vollbringen werde – Vertreibung der Römer, Gericht über die Guten und Bösen, Schaffung eines Gottesreiches in Macht und Herrlichkeit –, hatten sie ihren Beruf aufgegeben, sich Jesus angeschlossen und Armut, Hohn und Spott ertragen. Dafür erwarteten sie, mit einer privilegierten Stellung im neuen Reich belohnt zu werden.

Dieser Traum war jetzt ausgeträumt. Jesu Hinrichtung als Schwerverbrecher, der Tod am Kreuz, das war das Schändlichste, was passieren konnte. Ein schlimmeres Ende war nicht mehr vorstellbar. Sie mussten gedacht haben: Wir waren Idioten. Wir sind einem Phantom aufgesessen.

Darum hockten sie in ihren Verstecken und blickten verzweifelt einer hoffnungslosen Zukunft entgegen. Nur ein Wunder hätte sie noch retten können. Den Glauben an Wunder aber hatten sie verloren, und den Glauben an Jesus, den Messias, auch. Wenn er tatsächlich der Messias gewesen wäre, hätte sich ein Wunder längst ereignet haben müssen, oben auf dem Hügel namens Golgatha.

Dort hing ihr Herr und Meister, mit einer Dornenkrone auf dem Kopf und einem Schild darüber mit der Aufschrift «König der Juden», dem Gelächter und Gespött des Pöbels freigegeben. Etliche derer, die vorübergingen, spotteten, er solle doch einfach von seinem Kreuz herabsteigen, wenn er der Messias sei. Die obersten Priester und Schriftgelehrten sagten: «Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.»

Nicht anders dachten die Jünger. Da es keine Wunder gab, nicht einmal das geringste Zeichen, konnte der Gekreuzigte nicht der Messias sein.