New York, 202 Tage vor „Tag X“

 

„Mike, wie wir soeben erfahren, müsste die Konferenz innerhalb der nächsten Stunde beendet werden. Selbstverständlich werden wir vor Ort bleiben. Sobald die anschliessende Pressekonferenz beginnt, sind wir wieder am Ball! Bis dann wünschen wir dir und unseren Zuschauern viel Spass auf LTG, denn wir sind immer zuerst vor Ort! Zurück ins Studio!“

Livia Keighs drückte ihrem Assistenten das Mikrofon grob in die Hand, fuhr sich mit der Hand kräftig durch das blonde Haar und verliess dann impulsiv die Stelle, die ihr von den Sicherheitskräften für ihre Live-Reportage zugewiesen worden war. Sie rempelte im Vorbeigehen einen Kameramann von ABC an und verschwand dann in der Menge. Überall Reporter, überall Neugier, überall Hoffnung auf eine Story, welche die Zuschaltquoten endlich wieder einmal in die Höhe schnellen lassen würde. Aber Livia war nicht die Einzige, die gereizt und am Rande eines Nervenzusammenbruchs war. Es ging allen ähnlich. Nur die Art und Weise, wie der Stress geäussert wurde war unterschiedlich, hing vom Temperament ab. Der eine wurde eben ruhig, die andere begann wild Leute anzurempeln. Aber gestresst waren sie alle, die Leute, die während Jahren den Ton auf dieser Erde angegeben hatten, indem sie sich für die Meinungsbildung verantwortlich zeichneten.

Im Studio drückte Pete Torrey den Knopf, welcher Kamera 9 auf Sendung brachte. Er schüttelte den Kopf. Die Nachricht war gerade hereingekommen. Schon wieder war ein Flugzeug abgestürzt. Diesmal mitten in den Ozean. Gott sei Dank, denn das hiess, dass wenigstens am Boden keine Menschen hatten dran glauben müssen. Näheres war noch nicht bekannt. Aber alle gingen vom Selben aus: Es war wieder ein Terroranschlag, genau wie gestern abend, gestern morgen und vorgestern mittag auch. Also das Übliche, sprach man im Sinne der letzten Jahre. Die Menschen waren am Durchdrehen.

In der Tasche seiner Lederjacke, die über dem Stuhl hing, klingelte sein Handy. Es war Livia. Pete erkannte es an der Melodie, die er für Livia gewählt hatte und die jetzt immer erklang, wenn sie ihn anrief.

„Hallo?“

„Pete, ich bin’s. Hör mal, das wird nichts diesmal. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier in Washington aussieht. Überall Polizei und Secret Service! Ich denke, die werden heute nicht mal eine Pressekonferenz geben. Ich hab ein schlechtes Gefühl. Nehme mal an, dass sie diesmal alles für sich behalten, nach der letzten Katastrophe. Wenn das so weiter geht, ist unser Beruf dem Tode geweiht, das sag ich dir!“

Pete streckte sich. Er war schon viel zu lange in dem gottverdammten Studio.

„Liv, mein Schatz! Bleib dran, auch wenn’s nichts wird. Wir haben ein Image aufrecht zu erhalten. Spiel die Frau von Welt, als ginge dir die ganze Sache am Arsch ab, okay?“

„Ich weiss nicht. Ich brauche ein Bett! Ich bin seit über dreizehn Stunden hier. Das ganze ist Warten auf Godot! Und es geht mir alles andere als am Arsch ab. Ich habe Angst!“

„Du musst jetzt stark sein! Das müssen wir alle!“ Pete wartete kurz. „Hast du es schon gehört?“, fragte er sie dann.

„Was?“

„Es gab noch einmal einen Absturz. Die Nachricht ist soeben rein gekommen. Irgendwo über dem Atlantik, zwischen England und New York.“

Livia fluchte.

„Scheisse! Wo führt das hin? Was denken sich die Typen? Wollen sie unsere Spezies ein für allemal ausrotten? Das macht doch keinen Sinn mehr!“

„Halt durch, mein Kleines!“

Der rote Knopf, der Pete anzeigte, dass die Werbung in fünf Sekunden aufgeschaltet werden musste, blinkte auf.

„Ich muss gehen! Werbung! Ruf mich in einer Stunde nochmals an!“

Pete hing auf und drückte den Knopf, der die Werbung in Millionen von Haushalte spedieren würde. Dann lehnte er sich in seinem schwarzen Lederstuhl zurück. Er war müde und verzweifelt. Livia hatte recht. Das machte überhaupt keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich wussten die Terroristen nicht einmal mehr gegen wen oder für was sie eigentlich kämpften. Die Sache entbehrte jeglicher Logik. Mal traf es Frankreich, dann China, dann die USA, dann Ägypten, dann die Schweiz und dann wieder die USA. Der totale Wahnsinn.

Pete kämpfte gegen seine Augen. Sie hatten genug gesehen und wollten das Gehirn vor noch mehr Input schützen, wollten die Augenlider schliessen. Er brauchte einen Kaffee, schon wieder. Mit seiner linken Hand winkte er Pamela heran.

„Übernimmst du mal kurz, bitte? Ich brauche einen Kaffee.“ Pam zwinkerte ihm zu. Sie war erst seit zwei Stunden im Studio, hatte noch Kraftreserven, zudem war sie frisch verliebt und die Sache ging ihr wirklich am Arsch ab.

Pete liebte seinen Kaffee stark und schwarz. Eine Leidenschaft, die er mit vielen anderen Journalisten teilte. Normalerweise tat er nur einen Würfel Zucker in den Kaffee, aber heute waren es drei. Als könne die Süssigkeit ihn über die Ängste und Sorgen dieser Welt hinwegtrösten.

Er dachte an Livia, während er sich in dem kühlen Pausenraum eine Zigarette ansteckte. Sie war am Limit, das hatte er deutlich gespürt, und trotzdem musste er sie als ihr Vorgesetzter zum Durchhalten auffordern. In diesen Tagen waren alle an ihren Grenzen. Pete dachte nach, während er darauf wartete, dass der blaue Dunst ihm den nötigen Abstand zu der Sache bringen würde. Aber vielleicht konnte man sich gegen diese selbstmörderische Welt mit milden Drogen gar nicht mehr zur Wehr setzen.

Wenn die Regierungen dieser Welt – und seines Wissens nach hatten fast alle Länder einen Abgesandten zu dem Kongress geschickt, oder waren durch ihre jeweiligen Präsidenten selbst vertreten – es nicht schaffen würden mit einem Plan aufzuwarten, der wirklich etwas zu ändern im Stande war, dann konnte man nur noch auf Gott hoffen. Dass er endlich eingreifen und dem Wahnsinn ein Ende setzen würde. Falls es ihn denn gab?

Pete war eigentlich religiös. War es schon immer gewesen. Seine Mutter hatte ihn so erzogen, mit dem wöchentlichen Gang in die Kirche und allem drum und dran. Doch je länger der Wahnsinn dauerte, desto mehr musste man die Existenz Gottes in Zweifel ziehen. Welcher Vater schaute denn schon kaltblütig zu, wie sich seine Söhne und Töchter gegenseitig abmurksten und dazu den ganzen Planeten, das ureigene Werk, zu zerstören drohten? Wenn es so weiter ging, dann würden alle Tiere, alle Pflanzen, eben der ganze Planet dran glauben müssen.

„Scheisse, das macht doch alles keinen Sinn!“, wiederholte er leise fluchend.

Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Doch gleichzeitig war er sich schmerzlich darüber im Klaren, dass die Medien und vor allem das Fernsehen eine grosse Rolle im Hinaufbeschwören der Situation, die jetzt so total ausser Rand und Band geraten war, gespielt hatten. Er hatte dabei geholfen den ganzen Irrsinn mit Negativschlagzeilen zu füttern und zu erfinden – schliesslich gab so etwas früher mehr Zuschaltquoten, also mehr Geld.

Und jetzt war der Schuss nach hinten losgegangen.

Die einzige Hoffnung lag jetzt bei den Politikern in Washington, dort wo sich heute alles mit Rang und Namen versammelt hatte.

Und doch war die Situation heute so wie sie immer gewesen war. Was einzig und alleine zählte waren die Einschaltquoten. Denn wenn sie diese nicht nachweislich liefern konnten, würden die Sponsoren abspringen. Auch wenn es sich um LTG handelte. LTG wäre nicht der erste grosse Sender, der den Laden dicht machen müsste. Einige waren schon gefallen, und Staatssender gab es soviel Pete wusste nur noch einen, nämlich in Cuba. Die Regierungen mussten sparen, um den Alltag aufrecht erhalten zu können, und da wurden solch unnütze Dinge wie Fernsehketten und Radiostationen eben aufgegeben.

Pete zwang sich logisch nachzudenken.

Die Situation war wie sie war, daran konnte man nichts mehr ändern. Die Vergangenheit war geschrieben, aber man konnte versuchen die Gegenwart zu formen und der Zukunft eine leichte Kursänderung zu verpassen. Was also konnte er noch in die Wege leiten, was die Konkurrenz in diesem spezifischen Fall ausstechen würde. Wie konnte er dafür sorgen, dass LTG wirklich an Informationen über diese Konferenz herankommen würde?

Er zündete sich eine weitere Zigarette an. Gewohnheit. Die Schreie seines Körpers, der das Zeug nicht mehr ausstehen konnte, überhörte er dabei genauso, wie die Stimme seines Gewissens, die ihn dazu aufforderte mit dem ganzen Scheiss Schluss zu machen, anstatt wieder nach neuen Strategien zu suchen, die das weitere Überleben des Senders garantierten.

 

 

Washington, 202 Tage bis „Tag X“

 

Oliver Palms stieg die drei Stufen zum Podest langsam und gemächlich hoch. Er war die Ruhe in Person. Palms war einer der Typen, die immer gleich alt zu sein schienen, als unterstehe er keinem Alterungs-Prozess. Sein schwarzer Anzug mit dem dunkelblauen Seidenhemd darunter, sein Gang, sein Ausdruck, und nicht zuletzt auch seine Begleitung, eine etwa dreissigjährige Frau mit rabenschwarzen Haaren, die ihm vorausging, machten den ganzen Eindruck zu einem rituellen Erlebnis. Vielleicht auch deshalb, weil es allen schmerzlich bewusst war, dass kaum noch Zeit war, das Ruder noch einmal herum zu reissen. Zudem wussten, nein, hofften alle, dass er vielleicht die Lösung hatte.

Wenn nicht er, wer dann?

Palms hatte den Nobelpreis drei Mal nacheinander gewonnen. Seine revolutionären Anschauungen und Thesen hatten schon vieles auf der Welt neu definiert. Beispielsweise seine Arbeit über den Welthunger: Sie hatte nicht nur Millionen das Leben gerettet, sondern ihre Umsetzung hatte den Regierungen sogar zusätzliches Geld eingebracht.

Die Aufmerksamkeit des Abends gehörte ihm. Der grosse Saal im weissen Haus war bis auf den letzten Platz besetzt. Etliche Staatsoberhäupter mussten sogar stehen, weil es nicht genügend Stühle gab. Aber es schien, als mache das niemandem wirklich etwas aus. Nicht heute. Angesichts der Not wurden Helden wieder zu Normalsterblichen ohne den Sonderstatus, auf den sie üblicherweise bestanden. Zu sehr wussten alle Teilnehmer dieser letzten offiziellen Konferenz, was von dem Abend abhing. Die Zivilisation war kurz davor aufzugeben.

Man hatte dem Terrorismus den Krieg erklärt. Das war jetzt viele Jahre her. Doch der Terrorismus hatte sich ausgeweitet; wie ein Waldbrand hatte er schonungslos jeden Versuch der Welt ihn zu stoppen hinweggefegt. Dann hatten sich die Industriestaaten verbündet, und wenig später hatte sich die ganze Welt, das heisst alle Regierungen dieser Welt verbündet, um gegen den Terror zu bestehen. Aber je mehr man gegen den Terror unternahm, desto grösser wurde sein Ausmass. Und als man vor einem halben Jahr geglaubt hatte, die federführenden Personen in einem Überraschungsangriff eliminiert zu haben, ging es erst richtig los. Seit dann waren Terrorangriffe an der Tagesordnung und die Zivilisation war quasi nur noch damit beschäftigt, die Scherben wieder aufzuwischen und die Toten zu begraben. Das letzte halbe Jahr war die Hölle gewesen, was dadurch noch schlimmer wurde, dass niemand wusste wer der Feind war. Natürlich wurde ab und zu ein Terrorist gefasst, aber es gab so viele Splittergruppen, dass das nur ein Tropfen auf den heissen Stein war.

Die Frage war, wer hinter dem ganzen Wahnsinn steckte. Gab es überhaupt eine übergeordnete Instanz, die alles organisierte, oder hatte sich alles verselbstständigt?

In der Zwischenzeit schien es, als spiele es keine Rolle mehr, ob man die Antwort auf diese Fragen kannte oder nicht. Es würde keinen Unterschied mehr machen. Die meisten Menschen hatten die Hoffnung aufgegeben, dass man die Lawine noch zum Stoppen bringen konnte, indem man den Leithammel tötete. Falls es denn überhaupt so etwas wie einen Chef gab.

Im Saal war es still. Überall ernste Gesichter mit starrem Blick auf Palms oder seine Begleiterin. Doch für einmal zog die weibliche Schönheit nur wenige Blicke an. Die meisten Blicke klebten an Palms.

Eine dichte Ruhe herrschte. Lediglich ein unterdrücktes Husten hier und da.

Die Frau mit dem schwarzen Haar ging am Mikrophon vorbei und wartete etwas abseits. Palms blieb vor dem Mikrophon stehen. Er richtete sich in seiner ganzen Grösse von fast zwei Metern vor dem Publikum auf. Einen kurzen Moment lang schaute er wie in sich hinein. Es sah aus, als sammle er sich, oder als mache er sich das Ausmass dieses Momentes nochmals ganz bewusst.

Dann begann er zu sprechen. Worte, die in die Geschichte eingehen würden.

„Was ich Ihnen heute als Vorschlag unterbreiten werde, darf diesen Raum unter keinen Umständen verlassen. Wir wissen alle, was davon abhängt, deshalb möchte ich gleich jetzt zu Beginn darauf bestehen, dass die Presseverantwortlichen die Orientierung, die für acht Uhr angesagt war, absagen!“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Pressesprecher.

„Jetzt gleich, bitte! Sonst warten die Leute für Nichts und wieder Nichts vor dem Gebäude. Sie sollen nach Hause gehen und sich etwas ausruhen.“

Er wartete.

Langsam, fast schon zögernd wegen des inneren Widerstandes, den die Pressesprecher gegen diese Massnahme verspürten, erhoben sie sich, einer nach dem anderen.

Palms war berühmt für seine unorthodoxen Methoden. Aber die Presse gänzlich auszuschliessen, das hatte es noch nie gegeben. Und vor allem in einer Zeit wie dieser erschien es als das Abstruseste, das man tun konnte. Würde die Bevölkerung nicht durchdrehen und auf ihr Recht an Information bestehen? Wollte Palms den Kessel noch mehr einheizen, oder übersah er schlichtweg, dass seine Anordnung genau diesen Effekt haben würde?

Während die Presseverantwortlichen den Raum unsicher und frustriert, manche auch wütend verliessen, wurde in den Reihen leise geflüstert. Niemand wusste, worauf Palms heute hinaus wollte.

Dann wurden die Türen wieder geschlossen. Zwei ganze Reihen waren nun leer. Palms forderte die Stehenden dazu auf sich zu setzen. Die Pressesprecher kämen nicht mehr zurück, weil er der Security den Auftrag gegeben hatte niemanden wieder herein zu lassen.

Diesmal ging das Raunen durch die Reihen der Präsidenten und Staatsoberhäupter. Das war ein Skandal. Palms behandelte die Presse wie ein kleines unartiges Kind, dem er nicht einmal eine Erklärung für die Bestrafung zu geben gedachte. Doch kaum sprach Palms weiter, kehrte die Ruhe sofort wieder ein.

„Lassen Sie uns zu Beginn etwas eingestehen!“ Alle Augen waren jetzt auf Palms gerichtet. Die verschiedensten Emotionen flackerten in den Augenlichtern der Versammelten. Wut, Neugier, Unsicherheit, Sympathie je nach Einstellung der Zuhörer, doch im Saal herrschte Stille.

Palms klopfte sich mit der Faust auf den Brustkasten, was über die Lautsprecher deutlich im ganzen Raum als dumpfes Klopfgeräusch zu hören war.

„Wir haben versagt!“ sagte er dazu. „Wir haben alle eine Politik betrieben, deren Folgen wir jetzt zu spüren bekommen. Doch bevor Sie sich innerlich zu rechtfertigen beginnen: ich klage niemanden an! Ich fordere Sie lediglich am Anfang meiner Ausführungen dazu auf, dem Drachen in‘s Gesicht zu blicken. Einzugestehen, dass vieles in der Vergangenheit falsch gelaufen ist. Wir können die Zukunft unseres Planeten nur dann retten, wenn wir aufhören unsere vergangenen Fehler zu verdrängen. Wir alle haben Fehler gemacht, haben um Macht gekämpft und uns oft falsch entschieden. Wenn wir aber in eine neue Zukunft aufbrechen wollen, und das müssen wir – soll es denn eine geben – dann müssen wir aus unseren Fehlern lernen. Wir müssen unsere Fehler identifizieren, zu ihnen stehen und dann bessere Lösungen für die Probleme dieser Welt finden. Und das bedarf unseres Mutes und unserer Ehrlichkeit.“

Palms wartete kurz.

„Ich frage Sie deshalb: Sind Sie bereit, sich selbst, Ihre Anschauungen und Ihre Verhaltensweisen zu ändern, damit die Welt für unsere Kinder fortbestehen kann? Sind Sie bereit zuzugeben, dass die alten Methoden nicht länger das Fundament dieser Welt sein können? Haben Sie den Mut mit der Macht, die Ihnen die Menschen dieser Welt verliehen haben, eine neue, bessere Zukunft zu formen?“

Palms blickte streng und zugleich traurig in die Reihen. Aber nichts an seiner Erscheinung milderte die Strenge in seinem Blick. Jeder war angesprochen, und alle wussten es. Palms hielt die Stille der Betroffenheit für eine kleine Ewigkeit aufrecht. Er hatte das Segel bereits herumgerissen. Und wer es noch nicht bemerkt hatte, würde es bald zu spüren kriegen.

Wie viele Männer und Frauen waren hierher gereist, um neue Strategien gegen die Terroristen kennen zu lernen? Um zu lernen, wie man den Bösen ein für alle Male den Garaus machen könne?

Doch Palms kehrte den Spiess um. Und wer Palms kannte, wusste, dass sein Plan von Genialität zeugen würde.

Auch das letzte Hüsteln war jetzt verstummt.

„Was ich Ihnen vorschlagen werde, ist die Frucht langer Überlegungen und tagelanger Kontemplation. Es ist mein einziger Vorschlag; einen anderen habe ich nicht. Sie können ihn entweder annehmen, nachdem Sie mich angehört haben, oder ihn ablehnen. Ich werde beides mit derselben Demut annehmen. Die Welt wird, was wir aus ihr machen. Unser Leben wird, was wir aus ihm machen. Ich appelliere an die Vernunft und an die Menschlichkeit, aber ich werde nicht für meinen Plan kämpfen! Ich hoffe Sie verstehen mich! Die Welt der Zukunft basiert nicht mehr auf Kampf. Und die Zukunft beginnt jetzt!“

Ein Politiker oder Philosoph, der nicht für seine Theorie kämpfen würde. Das war für viele neu. Einzig diejenigen, die Palms schon kannten, hatten so etwas erwartet.

„Lassen sie mich also beginnen.“ sagte er dann. Palms winkte die schwarzhaarige Schönheit zu sich heran.

„Ich möchte Ihnen zuerst Helena Mesic vorstellen und mit Helenas Hilfe ein kleines Experiment durchführen. Dafür brauche ich zwei Freiwillige.“

Bewegung kam in den Saal. So sehr die Männer und Frauen es eigentlich gewohnt waren im Rampenlicht zu stehen, so sehr scheuten sie sich nun doch davor, sich für das kleine Experiment von Palms freiwillig zu melden. Als sich nach zwanzig Sekunden immer noch niemand gemeldet hatte, kehrte Palms seine autoritäre Seite nach aussen. Sein Ton liess keine Widerrede zu.

„Mister Benson und Miss Al-Gajer, darf ich Sie bitten hervor zu kommen?“

Benson war in seiner ersten Amtszeit als Präsident der USA und Al-Gajer war die erste Präsidentin des Freistaats Palästina. Die beiden erhoben sich sichtlich verunsichert. Im Rampenlicht hätte niemand es gewagt Palms auszuweichen, aber auch ausserhalb des Rampenlichts widerstand niemand seiner Autorität.

Dann wandte Palms sich wieder an die Zuhörer. Al-Gajer und Benson waren auf ihrem Weg nach vorne und drückten sich durch die Reihen, die viel zu eng gestuhlt waren.

„Neben mir steht Helena Mesic. Ich kenne Frau Mesic seit dreissig Jahren, genauer - seit sie drei Jahre alt ist -, und vertraue ihr wie keinem anderen Menschen. Sie ist für mich so eine Art Tochter, aber sie ist eine sehr begabte Tochter. Helena wurde von Kreisen, die hier nicht weiter erwähnt werden wollen, in einem äusserst speziellen Gebiet ausgebildet. Die US-Army, als auch viele andere militärische Spezialeinheiten verschiedener Länder haben sich Jahre lang mit Helenas Spezialgebiet befasst. Mit unterschiedlichem Erfolg, das liegt im Wesen der Sache. Aber niemand hat es zu der Meisterschaft gebracht, die Helena zu jedem beliebigen Zeitpunkt an den Tag legen kann. Sie fragen sich natürlich, um welches Spezialgebiet es sich hierbei handelt?“

Er pausierte. „Und genau das wollen wir Ihnen jetzt mit unserem kleinen Experiment zeigen.“

Al-Gajer und Benson standen jetzt seitlich vor dem Podest. Palms trat einen Schritt zur Seite und liess Helena Mesic ans Mikrophon.

„Guten Abend, werte Zuhörer.“

Sie räusperte sich und griff sich kurz symbolisch an den Hals. Allem Anschein nach war sie es nicht gewohnt vor vielen Menschen zu sprechen. Sie wirkte unsicher.

„Ich möchte Ihnen heute beweisen, dass es möglich ist, die Zukunft verlässlich voraus zu sagen!“

Ein ungläubiges Raunen ging durch den stickigen Saal, der offensichtlich ein Problem mit der Klimaanlage hatte. Die Luft war bereits dick, weil aufgebraucht, und jetzt wurde sie noch dicker, denn was hatten parapsychologische Experimente mit der Lösung der Weltsituation zu tun?

Helena wartete, bis sich der Lärm im Saal wieder gelegt hatte. Es schien als habe sie solch eine Reaktion erwartet, denn, obwohl sie immer noch unsicher wirkte, hatte sie sich doch gut im Griff.

„Ich möchte Mister Benson bitten, zu mir hoch zu kommen.“

Benson, ein mächtiger Mann mit der Figur und Ausstrahlung eines Bären, ging die drei Treppenstufen zum Podest hoch. Seine Bärenhaftigkeit verlieh ihm ein gemütliches Aussehen, aber wer es schon mit ihm zu tun gehabt hatte, wusste, dass hinter der scheinbaren Gemütlichkeit ein messerscharfer Verstand und ein eiserner Wille steckten. Dann stand er neben Helena und schaute sie mit grossen fragenden Augen an.

„Mister Benson, ich schreibe Ihnen hier fünf Worte auf.“

Helena nahm einen Stift hervor und kritzelte fünf Wörter auf ein bereit liegendes Papier. Benson beobachtete sie dabei. Dann richtete sie sich wieder auf. Die Aufmerksamkeit im Saal war gespannt wie ein Bogen, der gleich seinen Pfeil durch die Luft zittern lassen würde. Was hatte Palms vor? Wer war diese Helena Mesic und was schrieb sie dort oben auf diesen Zettel?

„Mister Benson und ich sind jetzt die einzigen beiden Menschen in diesem Raum, die wissen, was auf diesem Blatt steht.“

Sie faltete es zweimal und drückte es Benson in die Hand. Es schien, als spiele sie mit der Geduld der Zuhörer.

„Nun möchte ich Frau Al-Gajer bitten, von der anderen Seite her hier hoch zu mir zu kommen.“

Die Palästinenserin setzte sich nach einem kurzen Achsel-zucken in Bewegung. Ihr ganzer Ausdruck und ihre Haltung zeigten deutlich, dass sie nicht viel von irgendwelchen Experimenten hielt. Helena wartete, bis die Frau bei ihr angekommen war. Sie ignorierte die eindeutige Körpersprache der Präsidentin. Bei genauem Hinsehen sah man, dass sie sogar ein stolzes Lächeln zu unterdrücken versuchte.

„Vielen Dank für Ihre Kooperation Frau Al-Gajer.“

Al-Gajer nickte ihr kalt zu.

„Ich möchte Sie jetzt bitten, fünf willkürlich gewählte Worte auszusprechen, bitte dort ins Mikrophon, damit alle die gewählten Worte hören können!“

Die ehrwürdige Präsidentin mit dem vollen grauen Haar zog eine Augenbraue hoch.

„Irgendwelche Wörter?“ Sie betonte die zwei Worte fast schon lächerlich.

Helena nickte.

„Also dann, lassen Sie mich überlegen.“ sagte Al-Gajer überlegen.Wenige Sekunden später griff die Präsidentin zum Mikrophon.

„Weintraube, Kochlöffel, Winter, Niere und hell.“

Helena bedankte sich und winkte Benson wieder herbei. Der Mann kam kopfschüttelnd das Podest hoch, als habe er gerade etwas Unglaubliches erlebt.

„Würden Sie uns bitte die fünf Wörter vorlesen, die ich Ihnen vorher auf das Blatt geschrieben habe?“

Wiederum trat Helena zur Seite.

Der amerikanische Präsident schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. Dann sprach er mit seinem mächtigen Bass in das Mikrophon.

„Weintraube, Kochlöffel, Winter, Niere, hell!“ las er vor.

Es war unfassbar. Der Lärm im Saal schwoll an, jeder sprach mit seinem Nachbarn. Doch Helena sorgte schnell wieder für Ruhe.

„Nun gibt es sicher solche unter Ihnen, die skeptisch sind und denken, hier sei etwas nicht mit rechten Dingen vorgegangen. Ja? Bitte heben Sie die Hand hoch, wenn Sie nicht daran glauben können, dass sich die Zukunft genau voraussehen lässt.“

Mindestens die Hälfte der Leute im Saal hoben die Hand. Palms, der etwas abseits auf einem freien Stuhl Platz genommen hatte, lächelte. Er erinnerte sich daran, wie er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal mit Helenas eindrücklichen Fähigkeiten konfrontiert worden war.

„Gut, dann hätte ich gerne vier Freiwillige, die zu mir hoch kommen!“ sagte Helena. Sie hatte ihre Unsicherheit abgelegt.

Diesmal dauerte es keine zehn Sekunden, bis vier Freiwillige ausgemacht waren. Es waren drei Frauen und ein Mann. Jocelyne Pignon war seit zwei Jahren französische Präsidentin, Mbeja Owambe war die frisch gewählte Präsidentin von Kenia, Ute Meringer, die jüngste deutsche Bundeskanzlerin aller Zeiten, und Dirk van Meyers, der langjährige Präsident von Belgien.

„Darf ich zwei von Ihnen zu mir hoch bitten?“

Miss Owambe und van Meyers setzten sich in Bewegung. Dann ging das gleiche Spiel von vorne los. Helena kritzelte je fünf Worte auf einen Zettel und hiess die beiden Abstand nehmen, während die anderen zwei zum Mikrophon schritten. Madame Pignon stand vor den Tisch mit dem professionellen Tonabnehmer.

„Sie haben gesagt es können irgendwelche Wörter sein, das heisst es müssen keine englischen Worte sein, ja?“ fragte sie mit einem Lächeln im Gesicht.

Helena nickte wiederum.

„Gut, dann hier meine Wahl: Fraises, Table, la manche, jaune und Thierry, das ist der Name meines Hundes!“

Dann trat van Meyers an den Tisch mit dem Mikrophon. Er entfaltete den Zettel und räusperte sich.

„Fraises, Table, la manche, jaune und Thierry!“

Beim letzten Wort hätte fast seine Stimme versagt und er musste sich erneut räuspern. Die französische Präsidentin stand wie geohrfeigt da und bekam den Mund kaum mehr zu. Helena winkte das andere Paar herbei.

Diesmal war es an der deutschen Bundeskanzlerin fünf willkürlich gewählte Worte auszusprechen.

„Trigonometrie, Spektralanalyse, Vakuum, Cantus firmus und Vanille-Eis.“

Frau Owambe begann lauthals zu lachen, so frei und unbekümmert wie es nur Afrikaner in ihrer Spontanität können. Sie las genau die selben fünf Worte laut vor, wobei sie eine so kräftige Stimme hatte, dass sie keinen Bedarf für das Mikrophon hatte. Helena bedankte sich wiederum bei den Freiwilligen.

„Ich nehme an, dass jetzt auch die Skeptiker unter Ihnen zufrieden sind, ja?“

Diesmal kam keine Antwort aus dem Saal. Es war still und man hatte das Gefühl die Leute seien alle innerlich beschäftigt. Hiess das nicht, dass die menschliche Willensfreiheit somit eine Illusion war? Was sie soeben erlebt hatten, hatte riesige Implikationen. Helena interpretierte die Stille so, dass es vorerst keine Fragen mehr gab.

„Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Ich nehme an, Sie haben jetzt alle viele Fragen, die Sie beschäftigen. Wir werden am Ende dieses Abends noch Zeit dazu haben, Fragen, die im Verlauf des Abends nicht beantwortet werden, zu besprechen. Jetzt möchte ich das Wort wieder Mister Palms geben.“

Helena setzte sich auf den Stuhl, den Palms jetzt freigab, um sich weiter an die Gemeinschaft zu wenden.

 

 

1426 Tage vor „Tag X“

 

WORLD TERROR UPDATE

 

Okinawa, Japan

 

In Japan fand heute der siebte Anschlag auf eine Schule statt. Seit Anfang Monat häufen sich die Anschläge auf Universitäten und Schulen in Japan. In Okinawa schlich sich heute um 09.20 Uhr lokale Zeit ein Feuerwehrmann in das Schulgebäude der technischen Schule im Zentrum des Stadt ein. Er ging wahllos von einem Klassenzimmer ins nächste und schoss in seinem terroristischen Amoklauf mindestens zweihundertzehn Studenten, Studentinnen und Lehrerinnen nieder. Die Polizei, die schon nach drei Minuten vor Ort war, konnte den Mann erst stoppen, als er ins obere Stockwerk der Schule unterwegs war. Weil die Fenster, die wegen der Terroranschläge erst kürzlich mit schusssicherem Glas versehen worden waren, sich nicht öffnen liessen, konnten die Studenten die Räume nur über die Gänge verlassen, wo der Amokschütze wild umher schoss.

Der Rat von Okinawa trifft sich heute, um über zusätzliche Sicherheits-Massnahmen in Schulen und Universitäten zu diskutieren.

 

Über den Feuerwehrmann ist nicht viel bekannt. Er arbeitete als Ausbildner und seine Kollegen bezeichneten ihn als unauffälliges Mitglied der örtlichen Feuerwehr. Der Mann hatte vom Stadtrat zwei Medaillen auf Grund seines vorbildlichen und untadligen Verhaltens in Krisensituationen erhalten.

Der japanische Präsident ordnete eine landesweite Niederlegung der Arbeit um Punkt 17.00 Uhr an, um der Opfer zu gedenken.