„Lea, die Polizei ist nicht hier. Die Motorräder auch nicht ...“

Lea antwortete sofort.

„Keine Sorge! Ihr seid eine Minute zu früh. Ich hab die Polizei instruiert keine Minute zu früh dort zu sein. Ich wollte nicht, das Theo in irgendeiner Weise verunsichert werden könnte. Die kommen in den nächsten dreissig Sekunden, du wirst sehen ...“

Theo blickte an Guillaume hoch und entdeckte den Begleiter in seinem Ohr.

„Ihr seid von der ATO, nicht wahr? Ich hab gestern eine Reportage über euch gesehen. Und jetzt bringt ihr mich zu dem neuen Gefängnis beim Flughafen, nicht wahr?“

Yeva traute kaum ihren Ohren.

„Woher weisst du das?“, fragte sie.

„Es kam gestern im Fernsehen. Ich bin erst heute Morgen aus den USA zurückgekehrt. Dort huscht die Übertragung des Interviews über jeden Sender ...“

„Was für ein Interview ...?“

Doch die Frage musste warten. In dem Moment kam eine Streife mit Blaulicht, aber ohne Sirene die Rue St. Honoré herunter gefahren, gefolgt von einem 3.5 Tonnen-Laster auf dessen Ladefläche zwei Motorräder standen.

„Alles klar, Lea! Sie sind hier!“

 

 

New York, 10 Tage nach „Tag X“

 

Pete hatte die Sitzung auf acht Uhr früh angelegt, danach beabsichtigte er sein Leben zu beenden. Ohne Liv machte die Sache keinen Sinn mehr. Und Liv war unendlich weit weg, unerreichbar. Also würde er von der Brücke springen. Vielleicht gab es eine Spur von Trotz, die in dem Entschluss mitschwang, Trotz dem Schöpfer gegenüber, der es Wesen aus einer anderen Dimension erlaubt hatte, in die eigene Welt zu kommen und Liv, sein Licht und seine Sonne, in eine andere Welt zu entführen. Falls es diesen Schöpfer gab, so war der Selbstmord die einzige Aussage, die Pete machen konnte, um diesem Gott klarzumachen, dass er mit dem grossen Plan nicht einverstanden war.

Pete fühlte sich erleichtert, dass ihm der Entschluss so leicht gefallen war, und er interpretierte das als Bestätigung dafür, dass es der richtige Beschluss war.

Die Quoten waren über Nacht eingegangen. Jetzt ging es nur noch darum herauszufinden, wie erfolgreich das Interview gestern gewesen war, und dann würde er zu Fuss zur Brücke gehen.

Björn kam, einen Ausdruck wedelnd, ins Besprechungszimmer.

„Und?“, fragte Pete.

„Du warst zu lange weg, sag ich dir. Und jetzt bist du zurück und schaffst es innerhalb eines Tages unsere Quoten um 700% zu steigern, Mann.“

Pete lächelte. Das war ein guter Tag um Abschied zu nehmen.

„Aber das ist nur der Anfang. Unsere Out-Licensing-Abteilung hat diese Nacht über dreihundert Verträge unterzeichnet. Unser Interview wird heute in fast jeder Nation dieser Welt ausgestrahlt! Du hast uns innerhalb eines Tages Millionen eingebracht! Wurde Zeit, dass du zurück kommst, Pete.“

„Was hat den Leuten am besten gefallen?“

„Laut den Statistiken diskutieren die Leute auf dem Netz vor allem die Aufnahmen des Gefängnisses in Paris, das du gefilmt hast. Scheint, sie sind dankbar, dass sie schwarz auf weiss gesehen haben, was die Regierungen unternehmen ...“

„Perfekt!“, sagte Pete. „Sitzung beendet. Mehr wollte ich nicht wissen. Jetzt geh ich gemütlich Morgenessen!“

„Tu das, Mann. Tu das!“, antwortete Björn.

Pete nahm seine Jacke vom Stuhl und verliess das Besprechungszimmer. Noch eine halbe Stunde Fussmarsch und dann war es vorüber, dieses Leben.

 

Fünfzehn Minuten später, Pete war gerade auf der Höhe von Ground Zero und ging an den Tafeln mit den Namen all der Opfer vom 11. September vorbei, rollte ihm eine einzelne, einsame Träne die Wange hinunter. Er putzte sie weg. Doch kurz darauf folgte eine zweite, als wolle sein Körper ihm klarmachen, dass er sein Leben nicht lassen wolle. Pete bliebe stehen und horchte nach innen. Es war, als habe er zwei Gehirne, die verschiedene Ziele verfolgten. Er hatte Mitleid mit sich selbst, aber er wollte keine Gnade kennen. Ohne Liv zu leben war unmöglich; dann lieber nicht leben. Trotzdem sandte er ein Stossgebet in den Himmel: Wenn ich leben soll, so gib mir einen Grund dafür. Zeig mir eine Perspektive, ansonsten will ich dieses Leben lassen.

Das war‘s. Er hatte gebetet. Mehr war nicht zu machen. Pete ging weiter. Noch eine gute Viertelstunde bis zur Brücke, wenn er es gemütlich nahm.

 

Taaah, 193 Tage bis „Tag X“

 

Zum neunten Mal innerhalb von drei Tagen hing die kleine Lichterapparatur über ihrem Körper. Livia liess ihre Augen von den kleinen Kerzen zu den bunten Lichtflecken auf ihrem nackten Körper wandern. Die Wunden waren kaum mehr sichtbar. Es war unglaublich, wie schnell ihr Körper die tiefen Schnitte und Stichwunden, die ihren Leib übersät hatten, geschlossen und geheilt hatte. Sie hatte die Frau, welche sie betreute, nach der Wirkungsweise gefragt, aber diese hatte nur gesagt, dass Licht am besten mit Licht behandelt würde. Wir sind Licht, hatte sie gemeint, und deshalb fügen wir unseren Kranken und Verletzten Licht in verschiedenen Frequenzen zu. Nichts heilt besser und schneller.

Livia hatte nicht verstanden, was Melana - so ihr Name - gemeint hatte, aber dass das Licht der kleinen Kerzen sie geheilt hatte, daran bestand kein Zweifel. Je mehr Kraft sie wieder hatte, je gesünder sie sich wieder fühlte, desto mehr wanderten ihre Gedanken zu Pete. Der Arme musste vor Sorgen fast vergehen. Kaum schloss sie ihre Augen, sah sie sein unrasiertes Gesicht, seine wachen, wenn auch meist etwas nervös umherblickenden Augen, und seinen knackigen Hintern. Wenn sie ihm nur eine Botschaft schicken könnte, dachte sie.

Auf dem schwebenden Nachttisch neben ihrem Bett lag ihr Handy, die Tasten immer noch blutverschmiert von ihrem Versuch die Polizei zu verständigen. Doch was nützte ein Telefon, wenn sie in einem Paralleluniversum steckte? Konnten die Signale eines mobilen Telefons den Spalt zwischen den Welten überwinden?

Es war ein milder Tag, der sich draussen vor dem Fenster präsentierte. Die Sonne guckte immer wieder in ihr Zimmer herein und liess ihre sanften Stahlen durch das Zimmer huschen, bevor sie wieder von lockeren Wolken verdeckt wurde.

Als die Türe, so leise wie immer, aufging, drehte Liv ihren Kopf der eintretenden Melana zu.

„Du schläfst gar nicht?“, fragte sie.

„Ich bin nicht mehr müde.“

Melana schritt ans Bett heran. Sie liess ihre feinen Finger über Livs Haut gleiten, dort, wo vor zwei Tagen noch verkrustete Wunden gewesen waren.

„Deine Haut ist wieder glatt und sanft. Heute Abend ist die Behandlung vorüber, denke ich. Wir lassen die Lichter am späten Nachmittag noch einmal über deinen Körper gleiten und tanzen, und dann bist du bereit.“, stellte sie mit ärztlicher Kompetenz fest.

„Es wird gut sein, das Bett mal wieder zu verlassen und die Glieder zu strecken ...“, antwortete Liv.

Melana lächelte.

„Ich werde Tam verständigen, damit er dich heute Abend abholt.“

„Ich will nach Hause ...“, sagte Liv.

„Drei Jahre gehen schnell vorüber, Thekin. Und wer weiss, vielleicht kannst du in den drei Jahren bei uns etwas lernen ...“

„Ich bin aber keine Dienerin, und erst recht nicht für einen jungen, ungebildeten, brutalen Kerl, der mich fast zu Tode gefoltert hat.“

„Tam ist noch jung, Thekin. Du hast recht. Aber er ist bei der Leibgarde in Ausbildung und er schnitzt seit er drei ist. Mein Mann hat ihn unterrichtet. Er ist kein Unmensch, du wirst sehen.“

„Ich werde nicht seine Dienerin!“, sagte Liv energisch.

„Du hast keine andere Wahl.“

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

 

Um Punkt 16.14 Uhr kamen Yeva und Guillaume bei der Ampel an. Theo war per Streife unterwegs zu Kahil und Lea, die ihm bereits ein Zimmer bereitgemacht hatten, und Luc und Danielle würden in genau einer Minute das nächste mündliche Update geben, wobei Yeva und Guillaume sich aber wegen des Einsatzes nicht einloggten.

In drei Minuten würde Mireille vorfahren, vor dem Rotlicht warten müssen und dann ihre Amokfahrt beginnen. Was auch immer ihr jetzt durch den Kopf ging. Was dachte eine Terroristin kurz bevor sie ihre Pläne in die Tat umsetzte? Hatte sie Skrupel? War sie dazu überhaupt fähig oder hatte sie das klassische Profil einer Schwerverbrecherin, die null Einfühlungsvermögen in die Gefühlswelt anderer Menschen besass? Einfach nicht verstehen konnte, dass andere Menschen auch Schmerzen hatten, auch unter Verlusten litten?

Theos Blick und seine unschuldige Visage wollten Guillaume einfach nicht aus dem Kopf. Was bitte machte solche Menschen zu potentiellen Massenmördern? Wer oder was brachte diese Leute an den Rand ihrer Vernunft?

Als Guillaume mit dem Ständer das Motorrad arretierte und am Rand des Gehsteigs hinstellte, musste er sich dazu zwingen all die Fragen in seinem Kopf abzustellen. Seine ganze Aufmerksamkeit musste jetzt Mireille gehören. Auch wenn er die Sache nicht verstand, vielleicht nie verstehen würde.

„Geh‘n wir die Sache von beiden Strassenseiten an?“, fragte Yeva. Guillaume nickte ihr zu. Yeva überquerte den Fussgängerstreifen.

Danach rollte der Verkehr ruhig an den beiden vorbei, als geschehe nichts Böses auf dieser Welt. Väter und Mütter, die nach einem langen Arbeitstag zu ihren Familien heimkehrten. Söhne, Töchter, Grossväter, Grossmütter. Und auf den Gehsteigen wimmelte es um diese Uhrzeit nur so von Passanten. Alle unterwegs zu einem persönlichen Ziel in der Stadt. Dann schaltete die Ampel wieder auf Rot. Es war 16.17 Uhr.

Eine Minute trennte unzählige Leute von ihrem eigenen Tod, wenn es nach Mireille ging. Eine Minute, die so viel verändern konnte.

Der Verkehr kam zum Stillstand. Guillaume presste die Augenlider ein wenig zusammen, um das Licht mehr zu bündeln. Während er auf der linken Strassenseite auf dem Gehsteig die Autokolonne entlang ging, tat Yeva das gleiche auf der anderen Strassenseite. Die rote Ampel verursachte eine lange Autoschlange, und irgendwo in dieser Kolonne waren Mireille und ihr Renault Clio.

Doch unter den ersten sieben Autos war der Clio nicht. Yeva erhöhte ihr Schritttempo. Die Ampel würde in zwanzig Sekunden wieder auf Grün schalten und dann würden sie Mireille nicht mehr aus dem Wagen zerren können. Wenn der Wagen mal in Fahrt war, war es fast unmöglich zuzusteigen, selbst wenn die Türen unabgeschlossen waren. Das ging vielleicht in einem Bruce Willis Streifen, aber nicht in der Realität.

Dann rief Yeva plötzlich etwas quer über die Strasse: „Fünf Wagen weiter, blauer Renault Clio!“ Kaum hatte sie es gesagt, begann sie auf das Auto zu zu rennen. Guillaume spurtete ebenfalls los. Das war zwar mehr als auffällig, aber wenn sie bei Mireille ankamen bevor die Kolonne ins Rollen kam, würde sie nichts gegen ihr Zusteigen tun können. So schnell liess es sich nicht aus einer Kolonne raus kurven, vor allem dann nicht, wenn auf der Gegenfahrbahn der Verkehr nervös vorbei brauste.

Jetzt sah auch Guillaume den blauen Clio. Der Wagen war heruntergesetzt und hatte hinten getönte Scheiben. Eigenartiger Wagen für eine Sechzigjährige, dachte Guillaume im Rennen.

Yeva musste im letzten Moment einem Motorradfahrer ausweichen, der die Kolonne links überholte, dann stürzte sie an den Wagen heran und zog die Fahrertür mit erhobenem Tazer auf. Einen Moment später tat Guillaume dasselbe von der anderen Seite aus.

Im Clio sass ein junger Mann mit seiner Freundin, die vor lauter Piercings, die ihr aus Hals, Nase, Augenbrauen und Wange sprossen, an eine mit Nelken bestückte Orange erinnerte. Er hatte eine Rasta-Frisur und im Aschenbecher des Wagens qualmte eine dicke Zigarette, die den schweren Geruch von Marihuana verströmte.

„Was soll der Scheiss?“, fluchte der junge Mann sie an.

„He!“, schrie seine Freundin hysterisch.

Yeva knallte die Tür wieder zu.

„Falscher Clio! Merde!“, schrie sie. Ihre Augen schweiften über die weitere Kolonne, die noch aus vier weiteren Wagen bestand. Doch da war kein andere Renault Clio. Hatten Luc und Danielle sich getäuscht und den Wagen falsch gelesen? Sass Mireille vielleicht in einem blauen Peugeot 206 und sie hatten das Automodell falsch interpretiert? Oder in einem gelben Clio und die Farbe war falsch? In Yevas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie riss die Tür wieder auf. Was, wenn das Auto stimmte, aber die Täterin nicht Mireille Rakitic war, sondern der junge Mann und seine von unzähligen Piercings aufgespiesste Freundin?

„Aussteigen! Police Nationale!“, schrie Yeva

Guillaume packte die junge Frau und zog sie unter vorgehaltener Waffe am Oberarm aus dem Wagen. Er liess sie breitbeinig mit dem Bauch und erhobenen Händen an den Wagen lehnen. Yeva derweil verpasste ihrem Freund einen Schups, zog seine Hände nach hinten und zog ihm die Handschellen an.

Dann warteten sie. Der Verkehr rollte. Wenn es nicht der blaue Renault Clio war, dann würde die Tragödie jetzt beginnen und sie würden nichts dagegen tun können. Guillaumes Herz pochte bis in die Kinnlade hoch, während er ein Stossgebet in den Himmel sandte. Lass es den blauen Clio sein, bitte! Mit sorgendem Blick scannte er die Umgebung, Atem angehalten. Sekunde um Sekunde verstrich. Einige Autos hupten, weil der Clio die eine Spur versperrte, doch die Welt drehte sich weiter. Die Fussgänger gingen unbekümmert ihres Weges, der Verkehr rauschte an ihnen vorbei. Schliesslich wurde die Ampel wieder rot.

Es war 16.20 Uhr. Der Anschlag hätte vor genau einer Minute beginnen müssen. Nichts geschah. Yeva warf Guillaume den Anflug eines Lächelns zu.

„Was wollt ihr von uns?“, bellte der Junge.

„Ihr seid verhaftet. Der Rest wird euch später erklärt!“, sagte Yeva scharf. Sie langte in das Innere des Wagens hinein und machte die Warnblinker an. Dann pflückte sie den Schlüssel aus dem Zündschloss.

„Vorwärts! Wir gehen zu dem Hotel dort.“

„Und mein Auto?“, gluckste der Halbwüchsige empört.

„Dem wird schon nichts passieren. Vorwärts!“

Zwei Minuten später übergaben sie die beiden der Polizei, die im Foyer des Hotels wartete.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

 

Es war 16.30 Uhr. Lea hatte sich Theo angenommen, ihm einen Tee gemacht, seine Fragen beantwortet und ihn dann in sein Zimmer gesperrt. Ausnahmsweise waren alle Kunden eingesperrt, was etwas ungewöhnlich war, aber Lea wusste, dass Danielle mit der Verordnung recht hatte. Nachdem sie sein Zimmer von aussen verriegelt hatte, ging sie in die Küche. Kahil war am Telefon.

„Sicher, wir kommen raus.“

Er hing auf. „Helena Mesic und Oliver Palms sind am Eingang. Wir sollen sie bei der Rampe abholen.“, sagte er.

„Ich hab Theo versorgt und abgeschlossen. Alles klar.“

Zusammen gingen sie die dreissig Meter durch den Flur und das Empfangsareal zu der Rampe.

„Ich bin nervös ...“, sagte Lea kurz vor der Glastür zur Rampe.

„Ich auch.“, antwortete Kahil, unrasiert, wie fast immer.

Sie standen in der frischen Luft vor der Glastür und warteten. Als Palms und Helena schliesslich auftauchten, war das erste, das man sah, das berühmte Lächeln von Oliver Palms. Es schien ansteckend zu sein, denn kaum nahm man es wahr, fühlte man sich besser und glücklicher; viele Leute lächelten instinktiv zurück. Die Warte, von der aus Palms die Welt betrachtete, schien konstant so viel Höhe zu besitzen wie ein Ausguck im Wald, und wo andere Leute nur Bäume sahen, ragte sein Blick über die Symptome empor und er sah den Wald, die Waldwege und die umliegende Landschaft. Als er den Welthunger beendet hatte, hatte er das nur wegen seiner klaren Analyse der Situation und wegen seines Blickpunkts geschafft. Vielleicht war das Lächeln einfach die Folge davon, dass er immer und überall nur Lösungen wahrnahm und keine Probleme sah, was für die meisten Zeitgenossen genau umgekehrt verlief.

Helena ging an seiner Seite. Sie trug eine Aktenmappe und wirkte unscheinbar, oder war es unaufdringlich? Der Unterschied zwischen unscheinbar und unaufdringlich ist manchmal nur eine Frage der Betonung, merkte Lea, während sie die beiden beobachtete. Stufte man jemanden als unscheinbar ein, degradierte man die Person, fand man sie aber unaufdringlich, gewann sie an Tiefe. Es war klar, welches der Worte besser auf Helena zutraf, vor allem wenn man wusste, wer Helena war.

„Ich hoffe wir stören nicht in der Arbeit mit den Kunden ...“, sagte Palms, nun nahe genug um ein Gespräch zu eröffnen.

„Keinesfalls. Heute ist zwar sehr viel los, aber für Sie haben wir immer Zeit. Mr. Palms!“, sagte Kahil.

Er streckte ihm die Hand hin. „Mein Name ist Kahil El-Badouj. Ich komme aus dem Libanon ...“

Palms streckte ihm die Pranke hin. „Ich bin Oliver ...“

Lea und Helena schüttelten sich herzlich die Hände und nahmen sich kurz in den Arm.

„Tut mir Leid, dass wir gerade zu diesem Zeitpunkt eintrudeln, aber als es los ging, waren wir schon an Bord der Maschine und konnten nicht mehr umdrehen. Aber wir sind hier um zu helfen, nicht um euer Leben komplizierter zu machen, als es schon ist.“, sagte Helena.

„Lasst uns reingehen. Vielleicht könnt ihr uns kurz zusammenfassen, wo ihr gerade dran seid?“, sagte Palms und gestikulierte auf die Glastür.

Fünf Minuten später sassen sie mit einer Tasse Tee in der Küche. Palms war die Ruhe in Person, verschwendete jedoch zur selben Zeit keine Minute seines Lebens. Er war extrem direkt.

„Was habt ihr aus der Zusammenarbeit mit den Kunden gelernt?“, eröffnete er das Gespräch. Nix Smalltalk.

Kahil und Lea tauschten einen Blick aus, Lea antwortete.

„Viel. Wenn eines klar ist, dann, dass alle unsere Kunden quasi von heute auf morgen zu Terroristen wurden. Es gibt bei allen einen klar definierten Moment, wo ihnen der Gedanke zur Tat kam. Viele haben sich anfänglich gegen den Gedanken gewehrt, doch er tauchte mit so einer Wucht und Macht auf, dass sie ihn nach einer kurzen Zeit der Verteidigung gewähren liessen. Und dann hat er ihr Leben infiziert. Plötzlich gab es nur den einen Inhalt für den sie alles hergegeben hätten. Ein älterer Mann aus Vietnam hat sein ganzes Erspartes, das er eigentlich für das Studium seiner Kinder zur Seite gelegt hatte, in Sprengstoff investiert. Keiner unserer Kunden hatte vor der Idee zu diesem Anschlag je kriminelle Neigungen, die wenigsten sind vorbestraft. Aber was sie vereint sind zwei Dinge: Erstens sind sie alle der Meinung, dass der Terrorismus die einzige Chance ist, die unser Planet noch hat um weiter zu überleben, und zweitens haben sie die Idee alle im gleichen Bistro in Paris zu fassen gekriegt. Wir waren lange der Meinung, dass das unmöglich ist, und haben die Security-Kamera Aufzeichnungen des Bistros analysiert, aber es scheint tatsächlich purer Zufall zu sein.“

Diesmal tauschten Palms und Helena einen Blick aus.

„Kann ich die Aufnahmen sehen?“, fragte Helena.

„Sicher, aber es sind achtundvierzig Stunden Videomaterial ...“, antwortete Lea.

„Ich kenn einen Trick, der die Zeit für solche Dinge drastisch verkürzt. Ich würde die Aufnahmen gerne jetzt gleich kurz sehen, wenn das geht.“

Lea stand auf.

„Sicher. Es ist alles im Zimmer nebenan, in unserem Büro.“

Einen Moment später sassen Palms und Kahil alleine in der Küche. Palms Augen ruhten auf Kahil. Sein Atem ging langsam. Der Mann schien keinen Stress zu kennen.

„Was hast du in deiner Zeit bei uns in der ATO bis jetzt gelernt, Kahil?“

„Hast du Zeit?“, erwiderte Kahil.

„Ich nehme mir Zeit ...“

Das schien keine Floskel zu sein.

„So vieles ... zum Beispiel, wie schnell es gehen kann, um von einem friedlichen Menschen zu einem gewalttätigen Menschen zu werden; alles war wir dazu brauchen ist ein plausibler Gedanke, irgendeinen Satz im Kopf, dem wir - wieso auch immer - Gehör schenken ... und schwups wird aus dem sorgenden Grossvater ein besessener Massenmörder.“

Palms nickte. Er verstand, begriff Kahil sofort.

„Ja, wenn wir unseren freien Willen vergessen, sind wir alle ein wenig wie Billardbälle: Einmal in eine gewisse Richtung unterwegs, stoppen uns nur noch andere Bälle oder Wände und wir gehen stur unseren Weg. Deswegen müssen wir das Bildungswesen revolutionieren. Wir müssen Menschen grossziehen, die vor allem ihre eigene Freiheit anzuwenden lernen, nicht einfach blind einem Lehrer gehorchen. Wir müssen Intelligenz in den Mittelpunkt stellen, nicht Wissen, so wie wir das jetzt immer noch viel zu viel tun.“

„Du meinst, so wie das Galileo mal gesagt hat? Erkläre jemandem etwas und er wird vergessen, lasse es ihn selbst entdecken und er wird es auf ewig erinnern?“

„Ja, ungefähr so. Was hast du sonst noch gelernt?“

Kahil musste nicht nachdenken, sondern es plätscherte nur so aus ihm heraus.

„Zum Beispiel in der Ausbildung ... wie wertvoll das Schweigen ist. Lea und ich haben eine Woche kein Wort miteinander gewechselt, aber ich glaube ich kenne niemanden so gut, wie ich sie kenne. Wir sind so viel mehr als unsere Worte, doch im Leben werden wir auf unsere Worte festgenagelt. Aber Worte sind immer zu spät, genauso wie Gedanken, sie dokumentieren oft nur, was wirklich geschieht, werden dem Eigentlichen aber nie gerecht.“

„Du solltest Philosoph werden, Kahil!“, lachte Palms.

„Wer weiss, was ich nach der ATO mit meinem Leben tue ...?“

Dann wechselte Palms das Thema. Abrupt.

„Erzähl mir etwas über den Vorfall in Kanada. Mir wurde gesagt du und Lea wurdet überfallen und für einige Stunden als Geiseln genommen?“

Kaum auf dieses Thema angesprochen, kamen Kahil die Bilder und Erinnerungen wieder hoch. Obwohl es schon viele Wochen her war, war das Gefühl der Machtlosigkeit sofort wieder da.

„Ja, man hat uns Gewalt angedroht, wenn wir gewisse Geheimnisse über die ATO nicht ausplaudern würden. Aber schlussendlich haben die Männer uns verschont und sie sind wieder abgezogen, ohne irgend etwas heraus gefunden zu haben.“

„Was waren das für Männer?“

„Sie waren ...“, - Kahil suchte nach Worten - „ ... sie waren eigenartig. Es gab eindeutig eine Rangordnung. Der Jüngste war roh und ungehobelt, der Älteste zurückhaltend und ... ich hatte das Gefühl, dass er Gewalt genauso verabscheute wie ich. Da war etwas in seinem Blick, in seinen Augen, schwer zu beschreiben, eine Ruhe und eine Traurigkeit vielleicht? Und dann hatten sie dieses komische Messer, das eher einem riesigen geschliffenen Schraubenzieher glich ... sie nannten es Vard ...“

„Vard?“

Kahil nickte.

„Und sie trugen alle schwarze Kleider und hatten lange Haare, die zu einem Rossschwanz zusammen gebunden waren.“

„Vard ...“, wiederholte Palms noch einmal. „Und du hattest das Gefühl er verabscheue Gewalt?“

„Ganz sicher. Ich war früher sehr gewalttätig, bis ich von meinem Mullah auf den rechten Weg geführt wurde. Ich erkenne Gewalt und auch die Verabscheuung von Gewalt.“

Palms nickte. „Wie hat dich dein Mullah den aus der Gewalt befreit?“

Kahil lächelte. Der Moment war ihn in lebhaftester Erinnerung.

„Er hat mir eine Passage aus dem Koran zitiert und die hat mich getroffen wie Blitz.“

„Welche Passage?“

„49:10 Die Gläubigen sind ja Brüder. Stiftet drum Frieden zwischen euren Brüdern und nehmet Allah zu eurem Beschützer, auf dass euch Barmherzigkeit erwiesen werde.“, zitierte Kahil die Stelle aus dem Koran.

„Schön!“, sagte Palms.

In dem Moment kamen Helena und Lea aus dem Büro zurück. Palms drehte sich auf dem Küchenstuhl um. „Und?“, fragte er.

Helena schaute nachdenklich drein, als ob sie mit einem Teil ihrer selbst immer noch bei den Aufnahmen war.

„Nichts. Es scheint tatsächlich ein Zufall zu sein. Einer dieser Zufälle, die eigentlich nicht sein dürften. Die Kunden gehen aus verschiedenen Gründen in das Bistro und verlassen es alle mit einer neuen Richtung im Leben; plötzlich dreht sich alles nur noch um den Terror. Aber niemand hat mit ihnen geredet, niemand ausser der Besitzerin hat ihnen ein Getränk zubereitet, absolut kein anderer Kontakt. Die Sache ist sehr merkwürdig.“

„Genau wie die Sache mit den Männern, die Kahil und Lea in Kanada gefangen genommen haben. Sehr merkwürdig.“, erwiderte Palms. Helena und Lea setzten sich wieder an den Tisch.

„Noch Tee, irgendwer? Oder was Süsses zu essen? Wir haben Amaretti oder Schweizer Pralinen ...“

Palms verdrehte die Augen. „Schweizer Schokolade? Gerne.“

Während Lea aufstand und zum Regal mit den Süssigkeiten ging, ertönte das leise Piepen des Begleiters.

„Das werden Yeva und Guillaume sein, unser B-Team.“

Kahil knipste den Begleiter an. Helena nestelte in ihrer Handtasche. Sie nahm zwei Begleiter hervor und gab den einen Palms, nachdem sie eine Einstellung vorgenommen hatte.

„Vielleicht können wir ja helfen ...“, sagte sie, während sie Palms das Gerät aushändigte.

Keine zwei Sekunden später waren auch Helena und Palms mit von der Partie, als Yevas Stimme im Ohrstück erklang.

„Seid ihr da?“, fragte Yeva.

„Ja. Alles klar hier. Wie ist es gegangen?“, antwortete Kahil.

„Wir sind gerade auf dem Weg aus der Tiefgarage, wo wir Rachel Minz der Polizei übergeben haben. Alles klar soweit, nur die Sache mit Mireille Rakitic hängt uns noch ein wenig im Hals ...“

„Danielle und Luc sind immer noch am Forschen. Das nächste Update ist erst in einer halben Stunde. Aber wir haben Helena hier bei uns, vielleicht kann sie ja helfen?“, sagte Kahil. Er warf Helena einen fragenden Blick zu. Diese reagierte sofort.

„Klar, um was geht‘s?“

Kahil erklärte die Sache kurz. „Yeva und Guillaume versuchten vor rund zwanzig Minuten eine Amokfahrerin abzufangen. Laut unserem A-Team hätte die Frau in einem blauen Renault Clio vor einer Ampel sein müssen. Und da gab es auch tatsächlich einen blauen Clio, aber darinnen war nicht Mireille Rakitic, eine ältere Frau, sondern zwei Halbwüchsige.“

„Genau ...“, fiel Yeva Kahil ins Wort - „... und wir machen uns jetzt Sorgen, dass Mireille Rakitic noch unterwegs ist und den Anschlag woanders verüben wird. Oder haben sich Danielle und Luc vielleicht einfach getäuscht und nur halb-richtige Informationen zurück gebracht?“

„Verstehe.“, sagte Helena. „Lasst mich kurz nachsehen ...“

Sie schloss die Augen.

Es war das erste Mal, dass Kahil und Lea Helena in Action erlebten. Sie hatten von Danielle und Luc so einiges über ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten gehört, aber es selbst zu erleben war etwas anderes. Helena sass total entspannt auf ihrem Stuhl, in der linken Hand eine Praline, die sie eigentlich hatte essen wollen, als Kahil sie ansprach.

Zehn Sekunden verstrichen. Dann öffnete sie die Augen wieder.

„Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Und der Polizei könnt ihr sagen, dass sie die beiden Jungen wieder frei lassen können. Mireille Rakitic kam vor dreissig Minuten bei einem Anschlag ums Leben. Es war einer der Fälle, der an die Polizei delegiert wurde, aber die Polizei kam zu spät. Mireille Rakitic wurde in ihrem Auto von einem Laster angefahren. Sie war sofort tot.“

„Und die beiden Teenager sind unschuldig?“, fragte Guillaume.

„Alle Kunden sind de facto unschuldig, so lange wir sie zu fassen kriegen, bevor sie ihre Intentionen in die Tat umsetzen. Aber die beiden hatten tatsächlich nichts Böses im Sinn. Es war ein blöder Zufall, dass sie in einem blauen Clio unterwegs waren und bei der Ampel standen.“

„Okay, dann können wir unsere Sorgen versorgen ... das reimt sich.“, sagte Yeva. „Wir kommen jetzt rein. Guillaume wurde bei unserem Einsatz soeben an der Schulter angeschossen. Ist zwar nur ein flacher Streifschuss, aber das muss trotzdem angeschaut werden. Sieht nicht gut aus. Unser nächster Einsatz ist erst in vier Stunden, dann kann der Arzt im Ambulatorium sich um die Wunde kümmern. Wir sehen uns in rund zwanzig Minuten. Je nach Verkehr ...“

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

16.30 Uhr

 

Philippe Broccart machte die Sache im Alleingang. Seine Frau war nicht so nachtragend wie er, deswegen betrachtete er es als seine eigene Sache, den Bullen zur Rechenschaft zu ziehen. Mireille Broccart blieb zuhause und schaute fern. Bis zum Charles-de-Gaulle Flughafen fuhr er mit seinem eigenen Wagen, einem alten blauen Mercedes, der noch nicht all den elektronischen Schnickschnack der heutigen Autos hatte. Philippe nannte den Mercedes einfach auto pur.

Er parkierte auto pur in einem der Parkhäuser des Flughafens und machte sich dann zu Fuss zu dem Gefängnis auf, wo Guillaume arbeitete.

Überfälle wir der, der jetzt unmittelbar vor ihm lag, liessen sich nur schwer bis ins Detail planen. Zu viele Variablen waren im Spiel, deswegen veranlagte Philippe das Vorhaben zwar in groben Zügen in seinem Geist, aber die Kleinigkeiten liess er grosszügig aus. Beispielsweise war ihm noch noch nicht klar, ob er den Bullen umbringen oder nur vermöbeln würde. Die Entfaltung der Ereignisse würde das klären; und so war es immer bei solchen Vorhaben: Nur die Zeit konnte den Verlauf der Dinge in Erscheinung bringen lassen.

In einem gewissen Sinne war es auch das, was Philippe an seinem Metier so befriedigend fand: man wusste nie, wie die Dinge laufen würden. Das hielt jung und forcierte auch einen alten Tiger wie ihn - so nannte er sich selbst, wenn er vor dem Spiegel stand - flexibel zu bleiben.

Philippe führte auf dem halbstündigen Weg zum Gefängnis mehrere Selbstgespräche. Die meisten gipfelten in dem Satz: Das wirst du schon schaukeln, alter Tiger.

 

Taaah, 193 Tage bis „Tag X“

 

Hätte Livia die Zeit anhalten können, so hätte sie von der Fähigkeit Gebrauch gemacht. Die Minuten verstrichen eine nach der anderen und brachten den Zeitpunkt unerbittlich näher.

Es war nicht nur die Aussicht auf ein Leben als Geisel, die Livia mehr als sauer aufstiess, sondern vor allem das Wiedersehen mit dem Mann, der sie an den Rand des Todes gebracht hatte, das ihr die Luft in den Lungen stecken liess.

Wenn sie versuchte sich an den Typen zu erinnern, so kamen nur vage Bilder hoch. Die dominante Erinnerung war Schmerz. Und schwarz, er hatte schwarze Kleider getragen, das wusste sie noch. Nicht, dass sie aktiv diese Erinnerungen herzustellen versucht hätte, aber der nahende Moment verordnete die üblen Erinnerungen, als sei er ein Richter ohne Gnade. Livia hielt ihr Handy verkrampft in den Händen und blickte auf das Display.

Melana hatte ihr vor einer Stunden die Lichtapparatur ein letztes Mal abgenommen und sie dann mit den Worten In genau einer Stunde kommt Tam dich holen wieder verlassen. Aus einem dummen Grund hatte Livia dann den Timer gestellt, der ihr anzeigte, wann eine Stunde vorüber war. Und jetzt stand das Display auf 58:20 Minuten. Noch ein wenig mehr als eine Minute. Liv biss auf ihrer Unterlippe herum und schlug so mit ihren Zähnen einen neuen Hick in ihre Haut, kaum waren die alten Wunden verheilt.

War man in dieser Welt pünktlich? War eine Stunde hier dasselbe wie eine Stunde zuhause? Das Display hüpfte auf 59:00.

Genau eine Minute später waren diese Fragen geklärt. Melana trat ein, gefolgt von einem jungen Mann, an dessen Seite das Vard in einer Scheide steckte und von einem Gürtel baumelte.

„Es ist Zeit, Thekin.“, sagte Melana. Sie lächelte, als sei es das Normalste der Welt.

In dem Moment konnte Livia sich nicht mehr zurück halten. Sie spürte, wie die Angst sie übermannte. Sie begann zu schreien, wild und laut. Sie brüllte unverständliche Worte. Ihre Hände verkrallten sich in die Decke, die Melana ihr vom Körper zu ziehen versuchte. Melana verpasste ihr eine Ohrfeige, die ihre Wirkung jedoch total verfehlte. Livia wurde nur umso ungestümer. Sie zog Melana an den Haaren, warf mit der freien Hand das Handy so fest sie konnte in Tams Richtung und traf ihn am Kopf. Melana konnte sich befreien und nahm einen Schritt Abstand.

„Du wirst sie zähmen müssen, Tam. Sie ist wie ein wildes Pferd, stur und zu viel Freiheit gewohnt ...“

Tam wischte sich von der Platzwunde an seiner Stirn das Blut mit dem Handrücken weg.

„Sie hat mich verletzt.“, sagte er.

In dem Moment stürzte Livia wie eine wilde Löwin aus dem Bett und warf sich auf den Mann. Sie kratzte, biss, schlug auf den Anwärter der Leibgarde ein, als sei er der Teufel in Person. Er hob schützend die Hände über sein Gesicht. Melana versuchte Liv von hinten von ihm weg zu ziehen, doch Liv schüttelte sie ab, wie ein Hund, der Wassertropfen abwirft. Währenddessen kassierte Tam eine Unzahl von Schlägen mit der flachen Hand, doch je länger es dauerte, desto mehr hatten die Ohrfeigen, die Liv verteilte, nur noch hysterischen Charakter, und schliesslich verebbten ihre Angriffe ganz.

Liv sass keuchend am Boden.

Melana ging zu ihr hin. „Du bist zwar wieder gesund, aber noch nicht bei deinen alten Kräften angekommen, Thekin. Steh auf! Dein Amt wartet.“

Liv begann zu weinen, doch niemand hatte Mitleid. Niemand nahm sie in die Arme und erklärte ihr, dass es sich nur um einen bösen Traum handelte, niemand streichelte ihr über den Kopf und tröstete sie, sondern Melana griff ihr unter die Arme und zog sie energisch hoch.

„Ich will nicht ...“, jammerte Liv erbärmlich.

„Es gibt keinen anderen Weg.“, sagte Melana streng.

Tam stemmte sich vom Boden hoch und stand auf. Er klopfte sich den schwarzen Mantel glatt. Dann nickte er Melana zu, grabschte Liv am Unterarm und zog seine neue Dienerin aus dem Zimmer. Liv kollerten die Tränen jetzt in Bächen die Wangen hinunter.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

17.00 Uhr

 

Palms nahm den Anruf, welcher sein Handy auf dem Tisch wild umherspringen liess, entgegen. Er brummte ein Hallo und hörte dann dem, was arg nach einem Monolog tönte, zu. Schliesslich sagte er Ich schau‘s mir an und hing auf.

„Wir müssen mal kurz an den Computer. Das geht uns alle an.“

Er erhob sich, ging voraus und steuerte das Büro an, aus welchem Helena und Lea vor kurzem zurück gekehrt waren.

„Kahil, kannst du bitte mal in‘s Internet und die Youtube-Seite öffnen?“

Im Büro setzte Kahil sich an den Rechner. Einige Mausklicks später war das Youtube-Portal offen und die meist gesehenen Videos prangten Aufmerksamkeit erheischend auf dem Bildschirm. Es dauerte keine Sekunde und alle vier wussten sofort, um was es ging und wieso Palms einen Anruf erhalten hatte.

Ganz oben auf dem Bildschirm, gleich unter der Suchleiste, war ein Video mit folgendem Titel: LTG knackt Palms geheime Massnahmen. Das Video hatte 44 Millionen Views und war vor drei Stunden hochgeladen worden. Kahil klickte das Video an, ohne weitere Instruktionen abzuwarten.

Der Rechner lud die Daten und nach einem kurzen Stocken begann das Video abzuspielen. Es war ein Interview. Ein Reporter sass einem Journalisten gegenüber. Unten stand Pete Torrey, LTG Undercover Mission eingeblendet.

„Wir sind zurück. Kaufen Sie die Produkte unserer Sponsoren, dann wird unser Sender noch lange Ihr Wohnzimmer aufheizen!“, sagte der Reporter.

„Das kannst du laut sagen, Bill. Vor der Werbepause haben wir den Kuchen nur angeschnitten, jetzt legen wir wirklich los!“

„Bring die Wohnzimmer zum Kochen, Pete!“

„Unsere Regierungen verfolgen - wie erwähnt - schon seit vielen Jahren eine junge Wissenschaft, die sich Remote Viewing nennt. Die Regierungen haben Millionen von Dollar - unsere Steuergelder - in diese Projekte gestopft. Im kalten Krieg wurden die psychischen Spione dieser Programme dafür eingesetzt, den Feind auszuspionieren. Sie entdeckten durch rein mentale Massnahmen Waffenlager, Raketenstationen usw. Das ist also alles nichts Neues, aber was Palms jetzt mit seinen Leuten tut, ist die Fortsetzung davon. Er hat Leute in diesem Remote Viewing ausbilden lassen, nur dass die jetzt keine Raketenstationen erforschen, sondern mit ihrer Gabe die Zukunft abhorchen, um Terroranschläge zu vereiteln. Und dann gibt es die sogenannten B-Teams, die den Terror stoppen, bevor er zuschlagen kann.“

Bill spielte nervös mit seinen Händen, die er nun hoch hob.

„Halt mal, Pete. Das tönt doch alles nach Science Fiction ...“

„Es ist die pure Wahrheit und sehr real. Meine Undercover Mission hat mich nach Frankreich geführt, Bill. Denn die Frage ist, was tut die ATO von Palms mit den gefangen genommenen Terroristen? Und dieser Spur bin ich nachgegangen und zwar bis ins romantische Paris. Palms sammelt die Terroristen nämlich genau so, wie andere Leute Briefmarken sammeln. Er verfrachtete sie in speziell konstruierte ATO-Gefängnisse, die mehr Ferienwohnung-Charakter haben, als dass sie einer Strafanstalt ähneln. Was er dort genau mit den Terroristen tut, ist mir noch nicht ganz klar, aber bestrafen tut er sie dort kaum. Für das sehen die Gefängnisse zu sehr nach Ferienkolonien aus.“

„Du hast also so ein Gefängnis gefunden?“, hakte Bill ein.

„Gefunden und gefilmt.“

Bill zauberte ein schmalziges Lächeln auf seinen Mund.

„Liebe Zuschauer, jetzt heizen wir Ihre Wohnzimmer auf. Exklusiv und nur auf LTG: Palms Geheimnis ist ab sofort nicht mehr geheim. LTG! Denn wir sind immer zuerst!“

Bills Kopf verschwand aus dem Film und wurde durch ein wackliges Video ersetzt, das eindeutig von einem Mobiltelefon aus aufgenommen worden war. Die Qualität war von der Auflösung her gut, von der Kameraführung her eine holprige Fahrt. Aber die Auffangeinrichtung des C-Teams war eindeutig zu erkennen. Unten eingeblendet stand: LTG entdeckt: das ATO-Gefängnis beim Flughafen Charles-de-Gaulle in Paris.

„Fehlt nur noch, dass man uns beim Teetrinken gefilmt hat ...“, sagte Lea. Das Video endete nach der Aufnahme des Auffanglagers. Youtube schlug sofort ein weiteres Video vor. LTG knackt Palms Geheimnis, Teil 3

„Soll ich das auch anklicken?“, fragte Kahil.

Palms legte seine Hand väterlich auf Kahils Schulter.

„Nein, lasst uns die Pralinen nicht zu lange warten lassen.“

Er drehte sich um und schritt aus dem Büro. Zurück in der Küche ass Palms zunächst ganz ruhig eine Schweizer Praline und liess sie im Mund zergehen.

„Käse, Schokolade, Uhren und Banken. Was wäre die Welt ohne die Schweiz?“, sagte er in philosophischem Ton.

„Jetzt ist mir so einiges klar ...“, dachte Helena laut nach.

„Was meinst du?“, fragte Lea.

„Der plötzliche Ansturm, die plötzliche Vervielfachung der Anschläge ... dieses Video hat den Sturm ausgelöst. Ich nehme an es sind entweder Trittbrettfahrer, die jetzt auf den Zug aufspringen, oder das Video hat den Leuten, die einen Anschlag geplant hatten, die letzten Skrupel genommen.“

Palms nickte still. Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer.

„Nils, lass die Auffangstation in Paris Charles-de-Gaulle vom Militär bewachen. Vielleicht zwei Einheiten bei allen zuführenden Wegen und Strassen. Das sind ja nicht so viele, nehme ich an, aber ich geh davon aus, dass wir es demnächst mit einigen Schaulustigen zu tun haben, oder noch schlimmer mit Leuten, die die ATO in irgendeiner Form attackieren wollen.“

 

 

New York, 10 Tage nach „Tag X“

09.20 Uhr

 

Pete war angekommen. Er blickte nach unten. Noch nie war ihm aufgefallen wie hoch die Brücke tatsächlich war. Man munkelte sie throne 83 Meter über der Meeresoberfläche.

Es gab drei Varianten, wie sich das Ganze abspielen konnte: entweder er starb während des Sturzflugs aus Schock, oder er starb durch den Aufprall auf dem Wasser, das ja bekanntlich wie Beton sein sollte, wenn man aus dieser Höhe fiel, oder er starb danach im Wasser, würde ertrinken, weil ihm die Muskeln im kalten Wasser den Dienst versagen würden. Er hoffte auf ersteres. Einen kurzen Moment lang fühlte er wieder das Selbstmitleid in sich hochsteigen, doch mit einem Gedanken an Liv rückte er die Emotion ins rechte Licht. Liv war in einer fremden Welt gestrandet. Vielleicht würde auch sie den Freitod wählen, und falls es ein Leben nach dem Tod gab, würde er sie dort wieder treffen.

Pete stand still. Die Welt um ihn herum brauste, hupte, lärmte, aber er war im Auge des Zyklons angekommen. Sein Geist war ruhig. Er blickte nach links und nach rechts. Den entscheidenden Schritt wollte er erst dann tun, wenn keine anderen Passanten in der Nähe waren, die ihn an seinem Vorhaben hätten hindern können. Die Luft war rein.

Pete setzte den rechten Fuss auf die unterste Sprosse des Geländers während seine Hände die obere Stange fest ergriffen. Er zog sich hoch, schwang das linke Bein über das Geländer und balancierte für eine Sekunde zwischen Brücke und Abgrund. Dann suchte er mit dem linken Fuss Halt auf der anderen Seite. Er wollte sich noch drehen, damit er Kopf voran springen konnte, doch genau in diesem Moment tauchte Henk wie aus dem Nichts neben ihm auf und hielt ihn mit bestimmtem Griff am Handgelenk fest. In der freien Hand hielt er das blaue Sprungtuch.

„Der König hat dich erhöht, Theke. Du musst dein Leben nicht beenden.“

„Lass mich los! Ich beende mein Leben, wenn ich will!“

„Du kannst deine Liv befreien. Du kannst um sie kämpfen. Der König hat es erlaubt. Hast du gehört?“

Es dauerte eine Weile bis die Worte bei Pete ankamen, einen Sinn ergaben. Nun hielt auch er sich plötzlich wieder mit eiserner Umklammerung am Geländer fest.

„Ich kann Liv befreien?“

„Wenn du gegen Tam gewinnst, wird sie aus seinem Dienst entlassen. Dann könnt ihr zurück in diese Welt springen und der Rest eures Lebens gehört euch.“

Obwohl Pete den Leuten aus Taaah nicht mehr wirklich vertraute, kletterte er wieder auf die sichere Seite des Geländers zurück. Seine Glieder zitterten jetzt. Kalter Angstschweiss verteilte sich auf seiner Stirn. Als ob er sich selbst erst jetzt eingestehe, dass er panische Angst hatte.

„Was sagst du genau?“, fragte er Henk, beide Beine wieder auf dem Gehsteig der Brücke.

Henk liess ihn los. „Wir nennen es ein Duell. Es ist eine Art Gerichtshandlung ...“

„Ich muss gegen Tam kämpfen? Er ist doch dein Lehrling ... trainiert verbissen den Zweikampf und all diesen Kram; zudem ist er zwanzig Jahre jünger als ich und in besserer Form.“

Pete blickte Henk kalt an. Er hatte den Scheiss mit diesen Halbchancen satt, schliesslich hatte er Henk die Adressen, wie abgemacht, besorgt und sie hatten sich nicht an ihren Teil der Abmachung gehalten. Und jetzt erhielt er wieder eine Chance, die gar keine war?

„Ich hätte keine Aussicht auf Erfolg, Henk. Ich kann nicht kämpfen. Meine Waffen sind die Worte, das Schmieden der Sprache. Ich bin Journalist, zu viel mehr tauge ich nicht.“

„Du willst die Gelegenheit Liv zurück zu erobern in den Wind schlagen?“, fragte Henk.

„Nein. Ich komme und versuch‘s. Dann sterbe ich eben nicht jetzt und hier, sondern dann und dort.“

„Du nimmst das Duell an?“, fragte Henk nüchtern.

Pete schlug mit der Faust gegen das Stahlgeländer.

„Natürlich nehme ich das Scheiss-Duell an!“, sagte er aggressiv.

Der Leibgardist nickte ihm zu, dann breitete er das Sprungtuch, welches er immer noch in der einen Hand gehabt hatte, am Boden aus. Er ging in die Knie, zupfte es zurecht. Danach blieb er in der Hocke.

„Geh schlafen und ruh dich aus, Theke! Ich hole dich morgen früh um neun in deiner Wohnung ab.“

Henk liess sich seitlich von der Hocke aus auf das Tuch fallen. Pete sah, wie er das Tuch mit sicheren Griff nach sich zog. Dann war er weg.

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

17.20 Uhr

 

Warm in seinen grauen Wollmantel gewickelt, schritt Philippe Broccart die letzten Meter dem Häuschen entgegen, das vor den Barrieren, die das Gefängnis schützten, positioniert war. Ein Mann in Uniform stand darin und sah ihn kommen. Er ging ans Fensterchen heran und zog eine kleine Glasschiebetüre zur Seite. Alles wirkte irgendwie amtlich. Das konnte Philippe sowieso nicht ausstehen. Beamte hatten seiner Erfahrung nach immer das Gefühl etwas Besseres zu sein; diese Haltung musste grundsätzlich bestraft werden. Philippe korrigierte die Haltung, wo er konnte; meist mit Fausthieben. Und heute passte die Korrektur wunderbar zum grösseren Plan, soweit er bereits existierte, nur dass Fausthiebe heute nicht ausreichen würden. Philippe nahm das Fläschchen Chloroform unter dem Mantel hervor und benässte damit einen Lappen, den er bereit hielt. Er ging zum Fensterchen heran und dann ging alles sehr schnell. Mit der rechten Hand zog er den Kopf des Mannes an den Haaren nach unten, was so schnell ging, dass dieser sich kaum wehren konnte. Mit der Linken presste er ihm den Lappen auf Mund und Nase. Viele Menschen denken, dass Chloroform innerhalb weniger Sekunden wirke, doch mitunter konnte die Bewusstlosigkeit auf sich warten lassen. Philippe Broccart hatte schon viele Leute mit Chloroform in einen kurzen Schlaf geschupst; die Reaktion auf das Mittel variierte stark. Diesmal dauerte es vielleicht dreissig Sekunden. Und genau aus diesem Grund ging Philippe jeden Tag ins Krafttraining; er musste einen erwachsenen Mann eine halbe Minute schachmatt stellen können, damit das Mittel seine Wirksamkeit entfalten konnte.

Der Wachmann wehrte sich vehement, aber Philippe war einfach zu stark. Einmal in seinen Pranken befand man sich wie in einer Schraubzwinge, die keinen Zentimeter nachgab.

Dreissig Sekunden später lag der Wachmann schlapp da. Philippe ging in das Häuschen und verabreichte dem Schlafenden ein starkes Beruhigungsmittel mit einer Spritze.

„Schlaf gut, du Beamten-Schwein!“, sagte er.

Philippe machte sich über den Computer her. Er wusste nur wenig über den Bullen, den er heute abservieren wollte, aber vielleicht genügte das ja.

In die Suchleiste gab er simpel das Wenige, das er wusste, ein: ein Wort - Guillaume. Der Name war selten, vielleicht hatte er Glück. Einen Augenblick später spuckte der PC tatsächlich Daten aus. Alles fein säuberlich geordnet auf dem Bildschirm.

 

Guillaume Giroux

B-Team, Wachholder, Frankreich & Belgien

Begleiter Code 2987

 

Viel war es nicht. Aber immerhin hatte er jetzt auch seinen Nachnamen. Sollte er ihn hier verpassen oder nicht finden, könnte er ihm einen Besuch zuhause abstatten. Einen Guillaume Giroux gab es garantiert nur einmal in Frankreich.

Doch dann wurde es Philippe plötzlich warm, und es war kein angenehmes Warm, vielmehr ein Warm, das mit einem Gefühl von Enge einherging. Wieso wusste er sofort. Ein Blick aus dem Fenster genügte. In etwa sechzig Metern Abstand bezogen zwei Militärjeeps Stellung und riegelten den Feldweg ab. Emsige Uniformierte verbreiteten eine Stimmung von Notfall. Das hiess nichts Gutes.

Philippe zählte acht Soldaten, die eine provisorische Barrikade errichteten und sich, mit Maschinengewehren bewaffnet, in Stellung brachten. Plötzlich waren die Vorzeichen für die Lektion, die er dem Bullen erteilen wollte, andere. Verdammt, dachte Philippe. Aber allzu lange konnte er die neue Situation nicht analysieren oder sich darüber nerven. Ein Taxi fuhr an die Strassensperre heran und hielt neben einem Soldaten, welcher die Ausweise der Fahrgäste kontrollierte. Dann wurde das Taxi durch gewinkt.

Plötzlich gab der Computer neben ihm einen Summton von sich. Auf dem Bildschirm blitzte ein Fensterchen auf.

 

Arrival-Alert

Guillaume Giroux, 2987

Yeva Nuruhyan, 2986

 

Um zu verstehen, was das bedeutete, war Philippes Englisch gut genug. Es hiess ganz einfach, dass Guillaume unterwegs zu ihm war. Wenn das mal nicht ein Wink des Schicksals ist, dachte Philippe. Er kauerte sich hinunter, so dass man ihn von draussen nicht sehen konnte. Zeitgleich wanderte seine Hand zu seinem Gürtel, wo in einem Halfter sein Revolver bereit sass. Er nahm die Waffe hervor, lud sie durch und entsicherte sie. Wenn er jemanden damit bedrohte, dann meinte er es ernst, deshalb richtete er nur die entsicherte Waffe auf seine Mitmenschen, nie die gesicherte, wie das Polizisten oder andere lahmflüglige Zeitgenossen taten.

Der Wagen fuhr vor und bremste vor der Barriere ab, kam zum Stillstand. Das war der Moment. Philippe öffnete die Tür und sauste ins Freie, Waffe auf das hintere Fenster, wo Guillaume und Yeva sassen, gerichtet. Das Fenster war offen. Guillaume hielt seinen Ausweis bereit und hatte ihn dem Wachmann zeigen wollen, doch jetzt wurde er einfach nur bleich. Philippe liebte diese Momente, wo die Beamten das Entschwinden der Überlegenheit registrierten. Es waren die Momente, wo sie verstanden, dass sie genau so verletzlich und normal waren wie alle anderen Menschen, und dass die Macht, die sie zu haben glaubten, nur eine Täuschung war.

Philippe winkte mit der Pistole.

„Aussteigen!“, sagte er in geflüstertem Drohton. Er wollte nicht zu laut sein und sich die Soldaten auf den Hals hetzen.

Der Fahrer stieg als Erster aus. Philippe donnerte ihm mit dem Griff der Pistole eins an den Kinnladen. Er ging runter. Die Waffe wanderte wieder zu Guillaume und Yeva. „Du auch, Mädchen!“

Yeva stieg aus. „Komm hier rüber!“ Sie blickte zu den Soldaten hinüber, tat aber wie ihr geheissen.

Dann öffnete Philippe die Hintertür des Autos. „Zieh ihm Handschellen an, schnell!“

„Was wollen Sie?“, sagte Yeva und versuchte damit Zeit zu schinden. Doch Philippe ging nicht auf sie ein. Stattdessen grabschte er sie an den dunkelroten Haaren und zog sie hinunter bis auf eigene Kniehöhe.

„Du sollst ihm Handschellen anziehen und keine dummen Fragen stellen!“

Seine Hand immer noch in ihr Haar verkrallt, liess er ihren Kopf gegen die Karosserie des Wagens krachen, um zu unterstreichen, dass er keine Spielchen spielen wollte.

„Ist ja gut!“, sagte Yeva. Sie nahm ihre Handschellen hervor und wollte sie Guillaume vorne anziehen.

„Hinter dem Rücken!“, bellte Philippe sie an.

Der Taxifahrer lag bewusstlos am Boden und Yeva musste zuerst seine Beine wegschieben, bevor sie gut an Guillaume rankam. Sie lehnte sich in den Wagen und band Guillaumes Hände hinter seinem Rücken zusammen. Kaum war sie fertig, zog Philippe sie an den Haaren wieder zu sich.

„Geh ins Häuschen dort hinein!“

Philippe schupste sie in Richtung des Wärterhäuschens. Sie stolperte, konnte sich aber auf den Füssen halten. Philippe nahm währenddessen Guillaumes Kevlar-Handschellen von seinem Gürtel und folgte ihr zum Häuschen.

„Mach dich dort an der Stange fest, aber schick mir die Schlüssel zuerst!“

Yeva warf ihm das kleine Schlüsselchen zu, dann machte sie sich an einer dicken Heizröhre fest.

„Was willst du von uns?“, fragte Yeva noch einmal, doch Philippe schloss die Tür vor ihrer Nase. Er ging zum Hintersitz, überprüfte ob Guillaumes Handschellen wirklich fest genug angezogen waren, und schwang sich dann elegant auf den Fahrersitz.

„Nicht schlecht für einen alten Mann, alter Tiger!“, sagte er zu sich selbst. Dann wendete er den Wagen und fuhr querfeldein davon.

 

 

Taaah, 190 Tage bis „Tag X“

 

Drei Tage lang hatte Livia sich jetzt geweigert dem jungen Schnösel zu dienen. Er hatte sie in eine Besenkammer gesperrt. Kein Licht, schlechte Luft. Nur Wasser und Dörrobst brachte er ihr einmal am Tag.

Anfangs hatte sie noch geweint, Selbstmitleid gehabt. Doch das war jetzt vorbei. Jetzt war sie nur noch stur. Es ging nicht mehr nur um ihr persönliches Schicksal und dass sie sich dagegen wehrte, nein, nun ging es um eine grundsätzliche Überzeugung: man hatte Menschen nicht gegen ihren Willen einzusperren und man durfte sie nicht unschuldig zu etwas verurteilen.

Livia hörte Schritte. Es war wieder Zeit. Das würde das vierte Mal werden, dass sie das Ritual durch exerzierten. Er würde die Tür öffnen, sie mit seinen kleinen Knopfaugen anstarren und sie dann anbrüllen.

„Gehorchst du mir jetzt?“

Sie würde den Kopf schütteln, weil sie ihm keine Worte mehr schenken wollte. Ihren Blick würde sie absichtlich auf die Wand richten. Er würde entnervt die Türe zu ziehen, sie dann aber sogleich wieder öffnen und ihr das Wasser und das Dörrobst auf den Boden stellen. Fluchend.

Dreimal war es genau so gewesen. Wieso sollte es jetzt anders sein? Er machte am Schloss rum. Dann fiel Tageslicht in ihre Besenkammer. Der aufgewirbelte Staub tänzelte in den Sonnenstrahlen durch die Luft. Livia wendete den Blick demonstrativ ab und gegen die Wand.

Doch Tam sperrte einfach die Tür weit auf, legte einen Stein vor sie, damit sie nicht wieder zu fiel, und blieb stehen.

„Ich hab dir einen Tee gemacht und einen Teller Mavaki zubereitet. Komm!“

Dann ging er davon, geradewegs in den Garten, den Liv von ihrer Kammer aus sehen konnte, und von wo die Sonnenstrahlen her kamen.

Etwas Warmes essen und trinken ..., die Idee alleine stimmte sehnsüchtig. Dreieinhalb Tage in der Dunkelheit hinterliessen Spuren. Liv schluckte ihren Stolz hinunter und folgte ihm in den Garten. Wenn auch eher widerwillig.

Ein Tisch hing an vier Seilen unter zwei Bäumen mit tiefen Ästen. Rote Blüten mit breiten Blütenblättern, die spiralig angeordnet waren, umgarnten einen tiefschwarzen Stempel. Sie waren wie bunte Kleckse in einem Meer von Grün. Vier Schritte vom Tisch entfernt floss ein Bach und an einem schmalen Steg war ein Floss angemacht. An zwei dicken Ästen hingen auf jeder Seite des Tisches Stühle.

„Setz dich ...“, sagte Tam.

Livia trat an den Tisch heran. Zwei Schalen und je ein Holzlöffel standen neben zwei Tassen mit heiss dampfendem Tee. Sie setzte sich auf einen der schwebenden Stühle und brachte sich mit Hilfe ihrer Füsse, die noch Bodenkontakt hatten, zum Stillstehen.

„Iss!“, forderte Tam sie auf.

In den Schalen war eine weisse milchige Suppe mit kräftig leuchtenden grünen Kräutern, obenauf schwammen brotartige Knödel. Livia roch an der Speise. Dann steckte sie den Löffel in die Brühe und begann zu essen. Es war himmlisch. Eine Art dicker Joghurt mit frischer Pfefferminze, und die Knödel waren mit Pflaumen gefüllt.

„Hast du das gekocht?“, fragte Liv nun doch beeindruckt.

„Nein, meine Schwester war hier. Ich kann nicht gut kochen, nur schnitzen, die Va‘ehr spielen und kämpfen. Aber meine Schwester hat als erste Kunst das Kochen gewählt. Sie ist sehr gut!“

Liv nickte, aber mehr sprach sie nicht. Sie ass still und spürte, wie die Speise sie wieder kräftigte. Die Wärme des Essens entspannte sie von innen her. Erst als sie den letzten Rest gegessen hatte, schaute sie wieder vom Teller auf.

„Deine Schwester kann wirklich kochen! Wo ist sie?“

„Sie ist wieder heim gegangen. Sie kommt täglich hierher um für mich zu kochen, seit unsere Eltern gestorben sind.“

Liv nickte. „Wie alt bist du?“

„Ich bin siebzehn ...“, antwortete Tam. „Hör mir zu, Thekin. Ich verstehe jetzt, dass du unsere Traditionen nicht nachvollziehen kannst, und dass es in deiner Welt vielleicht eine Schande ist, demjenigen zu dienen, der einen mit dem Vard behandelt hat ...“

„Bei uns gibt es kein Vard.“, antwortete Liv trocken.

„Jedenfalls will ich dich nicht mehr dazu zwingen meine Dienerin zu sein. Aber zurück kannst du auch nicht. König Karel würde dir den Sprung zurück erst in drei Jahren erlauben, wenn die Zeit des Vard vorbei ist.“

Er nahm einen Schluck Tee.

„Was willst du also tun? Willst du davon ziehen und auf den Strassen schlafen und um Essen betteln? Niemand würde dir Almosen geben, weil sie alle wüssten, dass du deiner Aufgabe und deiner Pflicht nicht nachgekommen bist. Zudem würde es meinen Ruf schädigen.“

Liv fiel ihm ins Wort. „Dein Ruf ist mir egal. Es ist nicht meine Pflicht dir zu dienen!“

„Hier bei uns schon, Thekin! Ich kann die Gesetze nicht ändern.“

Liv gab keine weitere Antwort. Sie dachte nach. Jetzt mit gesättigtem Magen ging das schon besser. Tam atmete laut hörbar aus.

„Was willst du tun? Meine Geduld leidet. Ich will dich nicht mehr als meine Gefangene in meiner Besenkammer. Du musst eine Entscheidung treffen. Du bist hier bei uns gestrandet, vielleicht hat das ja seinen Grund? Entweder du beugst dich unseren Gesetzen, oder ...“

Liv schaute auf und widerstand seinem Blick, indem sie zurück starrte.

„Oder was?“

„Oder ich muss dich mit dem Vard töten.“

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

17.30 Uhr

 

Yeva hörte das Auto davon fahren. Sie rüttelte an der Stange, an der sie sich fest gemacht hatte; leider zu gut fest gemacht hatte, aber der Kerl hätte es sofort gemerkt, wenn sie gemogelt hätte. Sie ging mit ihrem Kopf zu den Händen herunter - umgekehrt ging nicht - und schaltete den Begleiter auf aktiv.

„Kahil, Lea, seid ihr da?“

„Ja, wir sind hier. Wo seid ihr?“, kam Leas Antwort einen Augenblick danach.

„Ich bin bei den Barrieren im Häuschen. Der Wärter wurde betäubt, er liegt neben mir, und Guillaume wurde soeben von einem Mann entführt.“

„Was?“, fragte Lea.

„Keine Ahnung, Lea. Alles ging total schnell. Ich bin an der Heizung fest gemacht. Bringt einen Schlüssel für die Handschellen ... meiner hat der Entführer. Und einen Arzt, der Taxifahrer ist auch bewusstlos.“

Zehn Minuten später betrat Yeva zusammen mit Kahil und Lea die Küche der Wachholder Abteilung. Palms war am Telefon, Helena sass wie abwesend am Küchentisch.

„Ich mach dir einen Tee.“, sagte Lea fürsorglich und ging schnurstracks zum Wasserkocher.

„Gerne. Habt ihr Danielle und Luc schon verständigt? Wir müssen Guillaume helfen. Vielleicht können sie herausfinden, wo der Mann ihn hingebracht hat?“

„Helena ist schon dran. Sie hat damit begonnen den Vorfall zu untersuchen, als wir zu dir rannten.“

Palms beendete das Gespräch und steckte sein Handy in die Hemdentasche. Er kam mit ausgestreckter Hand auf Yeva zu.

„Was ist mit dem Wärter und dem Fahrer? Geht es ihnen gut?“

„Der Fahrer ist okay, hat wahrscheinlich einen gebrochenen Unterkiefer, die Wache ist immer noch bewusstlos. Der Arzt vermutet er ist mit einem starken Schlafmittel betäubt worden.“

Palms wandte sich Kahil und Lea zu.

„Das Gelände ist jetzt umstellt. Bei der Abzweigung beim Flugplatz gibt es bereits eine kleine Menschenmenge, die vor dem Auffanglager protestieren will, aber das Militär hat sie im Griff.“

„Weswegen wollen sie protestieren?“, fragte Lea.

„Sie wollen, dass die Kunden sofort hingerichtet werden.“

Einen Moment war es still.

„Im Ernst?“, doppelte Lea nach.

„In der Bevölkerung lauert eine riesige Wut. Die meisten Menschen haben in den letzten vier Jahren jemanden wegen eines Anschlags verloren. Und jetzt richtet sich die Wut gegen die Täter. Das war zu erwarten ...“, sagte Palms. Dann wandte er sich Helena zu. „Hast du etwas über Guillaume rausfinden können?“

Helena stand auf. Sie begrüsste zuerst Yeva mit einer Umarmung, bevor sie Palms antwortete.

„Sieht nicht gut aus. Er fährt mit ihm in einen Wald fünfzehn Kilometer von hier. Momentan steckt er im Stau etwa fünf Kilometer östlich von hier.“

„Und was will er von Guillaume? Wer ist der Kerl?“, fragte Yeva.

„Das hab ich noch nicht genau herausfinden können. Ihre Lebenswege kreuzten sich vor etwa zehn Monaten ...“

Yeva dachte kurz nach. „Damals war Guillaume noch bei der Polizei in Nizza ...“

„Mehr weiss ich noch nicht, aber er hat nichts Gutes mit ihm vor. Wenn er der momentanen Spur in die Zukunft folgt, dann wird er ihn in fünfundzwanzig Minuten in diesem Wald umbringen.“

Lea reagierte als Erste. Sie knipste den Begleiter an und gab einen Verbalbefehl an das High-Tech-Gerät.

„Anruf Polizei-Attaché Wegwarte ...“

Sie wartete einen Moment. Alle anderen stellten den Begleiter auf dieselbe Frequenz ein.

„Gragnardi hier. Lea?“

„Pierro, hör mir zu. Einer unserer Agenten wurde soeben von einem unbekannten Mann entführt und wird in genau fünfundzwanzig Minuten in einem Wald zwanzig Kilometer von hier exekutiert.“

Helena schaltete sich in das Gespräch ein.

„Es handelt sich um einen Mann namens Philippe Broccart. Der Wald ist einen Kilometer westlich von Ermenonville. Es gibt dort einen Parkplatz.“

Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment lang still.

„Verdammt!“, war dann zu hören. Im Hintergrund raschelte der Attaché mit irgendwelchem Papier.

„Pierro?“

„Lea, wir kriegen alle zwanzig Minuten Updates von den A-Teams der ATO. Alleine für die Stechpalmen A-Teams müssen wir in den nächsten fünfzehn Minuten fünfunddreissig Einsätze durchführen. Wir haben alle Polizisten aus einem Umkreis von siebzig Kilometern nach Paris beordert. Hier ist die Hölle los, sag ich dir! Ich hab niemanden mehr Lea! Es sind alle im Einsatz ...“

„Mist! Du hast niemanden im Umkreis von Ermenonville?“, sagte Lea.

„Leider nicht, Lea.“

Im Hintergrund piepste es. „Ich muss auflegen. Da kommt schon wieder eine Nachricht per SMS rein, diesmal vom Efeu-Team. Ihr müsst selbst weiter schauen, Lea. Entschuldigung.“

Er legte auf. Yeva ging zu den Schubladen beim Spülbecken und begann eine nach der anderen aufzureissen.

„Wo ist der Schlüssel für den weissen Peugeot draussen?“

Lea rannte aus der Küche. „Hier, Yeva. Komm!“ Sie öffnete eine Schublade in einer Kommode im Eingangsbereich. Yeva rannte ihr hinterher, nahm die Schlüssel entgegen und stürmte aus dem Empfangsareal. Einen Moment später hörte man ihre Stimme im Begleiter.

„Kahil, kannst du mir die schnellste Route nach Ermenonville raussuchen?“

„Klar. Gib mir eine Minute!“

Lea kam wieder in die Küche. „Wird sie‘s schaffen?“

Helena sass wieder am Tisch, Augen geschlossen, Gesicht entspannt, abwesend. Palms schaute sie an. Eine Mischung von Trauer und Enttäuschung war in seinem Ausdruck. „Sie ist dran. Bald werden wir‘s wissen ...“

Lea setzte sich an den Tisch, stand aber gleich wieder auf. „Ich schau mal nach den Kunden ...“ Sie verliess die Küche.

Dann war Kahils Stimme im Begleiter zu hören. Für einmal tönte sie nicht ruhig und ausgeglichen, sondern zackig und schnell.

„Yeva, nimm die N2 und dann bei Le Plessis-Belleville die N330 ...“

„Mach ich!“, kam die Antwort. „Guillaume, hast du den Begleiter an?“, fragte sie danach. Doch der Äther schwieg. Yeva drückte den Wagen. Man hörte wie sie jeden einzelnen Gang bis zum Maximum ausfuhr.

Helena öffnete die Augen. Ihr Blick verriet nichts Positives.

„Yeva, du wirst zu spät sein. Egal, welche Route du fährst. Philippe Broccart steigert sich total in etwas herein und der Zeitpunkt bis er durchrastet hat sich vorverschoben. Er wird Guillaume in fünfzehn Minuten erschiessen.“

Aus dem Begleiter kam lange keine Erwiderung.

„Yeva? Hast du gehört?“, fragte Kahil.

Yeva hupte. Sie forderte den kleinen Peugeot 205. Das war deutlich wahrzunehmen. Dann meldete sie sich. Sie weinte.

„Es muss reichen ... es wird reichen. Guillaume wird überleben!“

Palms hob beschwichtigend die Hände. Er schaltete seinen Begleiter ab, damit Yeva ihn nicht hörte.

„Lasst sie ... sie muss es probieren. Sie würde sich sonst ewig Vorwürfe machen.“

 

Lea schaute durch die kleinen Fensterchen in die Zimmer der Kunden. Auch wenn die Welt da draussen durchdrehte, sie wollte einfach sicher stellen, dass es wenigstens den Kunden gut ging. So viel in der Vereitlung zukünftiger Anschläge hing davon ab, dass sie den Kunden ihre Geheimnisse entlocken konnten. Also mussten sie sich wohl fühlen, damit sie sich öffnen konnten. Das war Teil des Jobbeschriebs der C-Teams, und Lea nahm ihre Arbeit ernst. Aber ein anderer Grund, wieso sie nach den Kunden sah, war der Abstand, den sie damit kurz gewann. Die Sache mit Guillaume ging ihr zu nahe. Und Yeva weinen zu hören, ging ihr direkt ins Herz. Das war einer der Gründe, wieso sie und Kahil zu den C-Teams rekrutiert wurden, weil sie beide so empathisch waren, dass das Leid anderer Leute gerade so gut das eigene Leid hätte sein können.

Mien Dang Gao sass mit geschlossenen Augen auf seinem Bett. Lea wusste, dass er regelmässig meditierte. Das war eine dieser Auffälligkeiten, die einfach nicht passen wollten. Normalerweise waren über längere Zeit meditierende Leute ausgeglichen und friedfertig. Sie umwickelten eher nicht die Pfeiler des Eifelturms mit Sprengsätzen, um ihn zu stürzen. Doch genau das hatte Mien Dang Gao getan.

Lea ging zum nächsten Zimmer. In der Mitte des Zimmers lag Takashi im Trainingsanzug auf dem Bauch und trainierte. Er hielt sich fit, indem er täglich zehnmal dreissig Push-Ups machte. Er war genau so ein Rätsel wie Mien Dang Gao. Ein friedfertiger, intelligenter Typ, der Karriere machte und leidenschaftlich Grüntee sammelte, nur um dann plötzlich alles aus dem Fenster zu werfen, weil er die Belegschaft und die Gäste des Ritz in Paris vergiften wollte. Lea schüttelte den Kopf und ging zum nächsten Zimmer.

Tom Varese lag auf dem Bett. Er schien zu schlafen. Neben seinem Bett auf dem Nachttisch brannte eine Kerze, die nur noch klein war. Eigentlich sollte nichts passieren, wenn die Kerze ganz hinunter brannte, aber sicher war sicher. Lea steckte den Schlüssel leise ins Schloss und drehte. Sie wollte Tom nicht wecken. Doch genau in dem Moment spürte sie, wie jemand ihr von hinten ein kaltes Metall an die Schlagader drückte und ihr den Mund mit der flachen Hand verschloss.

„Keinen Laut!“, zischte ihr eine bekannte Stimme ins Ohr.

Lea zog die Hand vom Schlüssel. Sie hob sie instinktiv hoch.

„Wo ist dein Partner?“, hauchte die Stimme.

Wie konnte das sein? Leas Gedanken überschlugen sich. Sie zählte eins und eins zusammen, aber es ergab nicht zwei. Wie hatten die Männer es geschafft die Militärblockade zu überwinden? Wie hatten sie sie gefunden? Es machte keinen Sinn. Wieso hatten die Männer sie in Kanada unverletzt liegen lassen und waren genau so verschwunden, wie sie damals aufgetaucht waren? Und wieso waren sie jetzt wieder hier? Eins und eins ergab in diesem Fall überhaupt nicht zwei.

Sie gestikulierte nach vorne, wo die Küche in zwanzig Meter Entfernung lag.

 

In der Küche erhob Palms sich wieder von Tisch.

„Ich habe gerade eine SMS an unsere PR-Abteilung geschickt.“, sagte er. „Wir müssen in etwa einer Stunde ...“

Palms kam nicht dazu den Satz fertig zu sprechen. Aus dem Flur drang ein lautes Geräusch in die Küche. Scherben zerklirrten am Boden.

„Was war das?“, fragte Kahil aus dem Büro. „Lea, du hast doch alle Zimmer abgeschlossen, oder nicht?“

Dann hörte man für ein halbe Sekunde Leas Stimme. „Ka ...“, schrie sie. Doch das Wort wurde abgewürgt. Palms rannte schon in Richtung von Leas Stimme.

„Lea?“, rief Kahil. „Lea, was ist?“

Doch die Frage beantwortete sich von selbst. Palms stand wie zu Stein gefroren zwischen Flur und Küche. Als Kahil vom Büro in die Küche gestürmt kam, sah er Lea, und er verstand sofort. Hinter ihr stand der Mann, dessen Bekanntschaft sie in Kanada gemacht hatten. Er hielt ihr das konische lange Eisen an die Gurgel. Hinter ihm standen die gleichen Männer in Schwarz, die er bestens in schlechter Erinnerung hatte.

„Setzen Sie sich an den Tisch! Alle!“, sagte der Mann eindringlich.

Lea war bleich, nur dort wo der Mann das Eisen gegen ihre Haut drückte, war sie rot.

„Ruhig, Mann. Ruhig!“, sagte Kahil. Er setzte sich mit beschwichtigenden Gesten an den Tisch neben Helena.

„Tam, schliess die Tür dort!“

Henk zeigte auf die Tür, welche ins Büro führte.

„Lass sie los, Mann!“, sagte Kahil, so ruhig er konnte.

Henk warf Kahil einen kühlen Blick zu, dann stiess er Lea von sich. „Setz dich, Mädchen!“

Henk drehte sich kurz um. „Bewach sie, Terry!“

Dieser nahm sein Vard hervor und positionierte sich neben Helena und Lea, die Waffe mit unmissverständlicher Absicht vor sich. Tam schloss die Tür auf der anderen Seite der grossen Küche, die laut ins Schloss fiel.

„Was ist mit dir? Brauchst du eine Extra-Einladung?“, fragte Henk. Er blickte Palms scharf an, der immer noch beim Ausgang der Küche stand, seinen Schock aber abgelegt hatte. Er schien nicht vor zu haben sich zu setzen, sondern lächelte. Kahil wollte ihn gerade auffordern, den Instruktionen der Männer Folge zu leisten, da begann Palms zu sprechen.

„Deine Gardisten sollten das Vard lieber wieder versorgen, Henk Nakape. Ich glaube kaum, dass König Karel gerne hören würde, dass du mich und meine Leute bedrohst ...“, sagte er nüchtern.

Henk betrachtete Palms als habe er einen Geist gesehen.

„Woher kennst du meinen Namen? Wer bist du, Theke?“

„Jedenfalls bin ich kein Theke, so viel sollte dir jetzt klar sein, Leibgardist!“, sagte Palms.

Henk schwieg und dachte nach.

„Sprich, wenn du kein Theke bist!“

 

 

Taaah, 186 Tage bis „Tag X“

 

Livia kauerte im Feld, in dem Tams Schwester Gemüse anbaute. Es regnete. Seit acht Stunden kniete sie im Matsch und rupfte Unkraut aus dem Boden. Sie war durchnässt bis auf die Knochen und über die letzten zwei Stunden hatte sich ein Husten entwickelt, der sie beunruhigte.

Tam hatte sie auf das Feld geführt und ihr gesagt, er hole sie nach dem Arbeitstag wieder ab. Doch wie lange ein Arbeitstag auf dem Feld in dieser Welt effektiv dauerte, darüber hatte sie keine Ahnung. Aber dann waren die acht Stunden auch mehr ein geschätzter Wert, als ein gemessener, denn ihr Handy lag bei Tam in einer Amphore neben der Besenkammer und eine Uhr hatte sie seit sie ihre Jugendjahre hinter sich gelassen hatte nicht mehr getragen. Aber es fühlte sich definitiv nach acht Stunden an.

Früher hatte Liv ihrer Grossmutter im Garten geholfen. Maximum zehn Minuten. Seit dann war ihre Bekanntschaft mit Mutter Erde auf Asphaltstrassen und Betongebäude reduziert. Sie konnte sich effektiv nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal Erde in den Händen gehabt hatte. Vielleicht als sie mal gestolpert war und sich auf dem Boden abgestützt hatte? Jedenfalls war Unkraut jäten kein Fach in der Journalismus-Schule gewesen. Und als Reporterin für LTG hatte sie es auch nie mit Gärten und Feldern zu tun gehabt. Höchstens mal mit Unkraut im übertragenen Sinne, wenn sie über faule Geschäftspraktiken berichtete.

Ein erneuter Anfall tiefen Hustens fiel über sie her. In ihrem Kopf spielte sich die Szene vorgestern auf der Terrasse immer wieder ab, wie ein Film in Endlos-Schleife. Sie sah Tams Ausdruck im Gesicht, als er gesagt hatte: „Dann muss ich dich töten!“ Seine kalten Augen, die keinen Zweifel an den eigenen Worten zu kennen schienen, sondern scharf unterstrichen, dass er es mehr als ernst meinte. Die Nüchternheit, mit der er es in den Raum gestellt hatte. Ihre Angst, die sie plötzlich so sehr überrannt hatte, dass sie ihm die Schuhe geküsst hätte, wenn er es verlangt hätte. Sie hatte sich kaum mehr erkannt, aber vielleicht tat die Aussicht auf den eigenen Tod genau das mit den Menschen: es krempelte die eigenen Vorstellungen über richtig und falsch gehörig um. Jedenfalls war der Ausblick, drei Jahre lang Tams Dienerin zu sein, plötzlich wesentlich attraktiver, als die Perspektive des eigenen Ablebens in einer fremden Welt.

Tam kam erst vier Stunden später wieder auf das Feld, um sie zurück zu holen. Geschätzte vier Stunden. Vielleicht waren es auch fünf oder sechs. Der Husten kam jetzt in regelmässigen Intervallen. Es war mehr ein Bellen, als ein Husten. Doch zuhause angekommen ging die Arbeit weiter.

„Der Keller muss aufgeräumt werden!“, hatte er gesagt und sie fast schon die Treppe hinunter gestossen.

Feucht, kalt, dunkel. Liv weinte bittere Tränen, aber niemand scherte sich einen Dreck darum. Irgendwann schlief sie im Keller auf einem Sack Kartoffeln ein.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

17.46 Uhr

 

Wäre es nicht Feierabend gewesen, wären die Strassen vielleicht frei und befahrbar gewesen. Aber jetzt steckte Yeva im Stau. Links Leitplanken, die ein Ausweichen über die Felder unmöglich machten, rechts eine Autokolonne, die so dicht war, dass an ein Ausbrechen nicht zu denken war. Ganz Paris schien auf den Strassen aus der Stadt unterwegs zu sein.

Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Sie liebte Guillaume wie keinen anderen je zuvor. Ein Traum war in Erfüllung gegangen, als sie ihn im Camp vor einigen Wochen kennen gelernt hatte. Und die erste gemeinsame Nacht war ein Geschenk gewesen, das ihr zu sagen schien Auch du hast dein Glück in der Liebe verdient.

Noch einmal versuchte sie ihn über den Begleiter zu erreichen. „Guillaume, bist du da? Gib mir ein Zeichen, bitte!“

Doch die Antwort blieb aus. Yeva hupte, versuchte sich wie ein Krankenwagen eine Mittelspur zu erzwingen und die Autos zum Ausweichen zu bringen, aber sie kam nur im Schritttempo voran. Sie hatte kein Blaulicht, keine Sirene. Niemand wusste, was dieser drängelnde Peugeot in der Strassenmitte wollte. Irgend so ein Narr versperrte ihr sogar den Weg, so dass sie aussteigen und ihm ihren Ausweis vor die Nase halten musste. Arschloch, sagte Yeva frustriert, als sie wieder am Steuer sass. Aber das Fluchen änderte nichts daran, dass sie noch sechs Kilometer von Ermenonville entfernt war und dass es bei diesem Tempo noch eine gute halbe Stunde dauern konnte, bis sie in dem Wald um Ermenonville ankommen würde.

Aus dem Geschichtsunterricht wusste sie, dass genau in diesem Wald 1974 unzählige Menschen ums Leben gekommen waren, als ein Flugzeug dort wegen einer undicht geschlossenen Ladetür in tausend Teile zerrupft wurde. Und jetzt war ihr Liebster in genau diesem Wald und wurde von einem Amok gelaufenen Irren festgehalten und bedroht.

Sie schlug auf das Steuer. „Merde, merde, merde!“

 

6 Kilometer weiter nördlich, im Wald von Ermenonville

 

Philippe Broccart hatte den Wagen in den dichten Wald hinein gefahren. Zuerst auf einen Parkplatz und dann quer durch den Wald hinter eine Böschung, so dass der Wagen vom Parkplatz aus nicht zu sehen war. Er stieg aus und öffnete die hintere Tür auf der Seite, wo Guillaume sass.

Guillaume hatte innerlich schon alle möglichen Fluchtstrategien durchgespielt. Es sah gar nicht gut aus. Broccart hatte die Handschellen beim Überprüfen so fest angezogen, dass er seine Hände keinen Zentimeter bewegen konnte und aus der Wunde des Streifschusses floss kontinuierlich Blut. Sein Ärmel war ganz durchtränkt davon. Kam dazu, dass der Blutverlust und der Schock langsam ihr Tribut zu fordern begannen. Guillaume hatte kalt und er schwitzte am ganzen Körper. Er war dem Ganoven ausgeliefert.

„Nicht mehr ganz so überlegen wie im Hotel in Nizza? Nicht wahr?“, sagte Broccart und wedelte mit der Waffe vor Guillaumes Gesicht auf und ab.

„Es war nichts Persönliches ... ist mein Job ...“, antwortete Guillaume.

„Für mich war es sehr persönlich! Du Bullenschwein!“ Broccart verpasste Guillaume einen Schlag auf die Wunde am Arm. Guillaume schrie auf.

„Bis vor wenigen Sekunden hab ich noch nicht gewusst, was ich mit dir anstelle. Aber jetzt, wo ich dich sehe, kocht mir die Galle über!“, schrie Broccart. Speichelfetzen flogen ihm wie kleine Geschosse von einem Katapult aus dem Mund. Guillaume starrte auf den Vordersitz. Er wollte den Spinner, der offensichtlich ein Jähzorn-Problem hatte, nicht noch weiter reizen.

„Schau mich an! Du Narr!“

Guillaume drehte den Kopf widerwillig. Dabei versuchte er unterwürfig zu wirken. Was tat man, wenn ein Spinner, der schlichtweg alles als Provokation erlebte, einen mit einer Waffe bedrohte? Dem Blick standzuhalten war falsch. Ihn nicht anzuschauen war falsch. Angst zu zeigen war in solchen Situationen fast immer falsch. Was tun? Guillaume bemerkte, wie auch sein Denken nicht mehr klar funktionierte. Normalerweise war sein Denken flink und beweglich. Jetzt fühlte es sich wie eine betäubte Gliedmasse an.

„Ich werde dich umnieten! Heute ist dein letzter Diensttag, Bulle!“, spuckte Broccart.

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

17.50 Uhr

 

„Mein Name ist Olivé Palms.“ Palms stand wie ein Felsen in der Brandung, aufrecht.

„Woher bist du, wenn du kein Theke bist?“, fragte Henk.

Kahil, Lea und Helena folgten dem Gespräch der beiden wie einem Tennismatch. Ihre Köpfe drehten sich synchron dem jeweils Sprechenden zu. Palms war ruhig, gefasst und überlegen. Als habe er die befremdliche Situation klar im Griff. Er wartete einen langen Moment bevor er antwortete.

„Ich bin der Kronprinz von Noooh und vor dreissig Jahren zu den Theken gewandert, um ihnen die Wende des Adlers zu ermöglichen.“

Henk liess sich auf die Knie fallen. Er senkte den Kopf.

„Verzeih mir Kronprinz! Ich habe dich nicht erkannt ...“

„Was?“, fragte Lea.

Kahil sass verkrampft auf seinem Stuhl und hielt sich an der Tischkante fest. Palms wandte sich den Sitzenden zu. „Ich werd‘s euch später erklären. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt.“

Auch Tam und Terry waren auf den Knien. Dann begannen die drei Männer gleichzeitig zu singen.

 

Das Lied der Erkennens

 

Tausend Formen kannst du haben

In tausend Stimmen kannst du sprechen

Was erkenne ich in dir?

 

Tausend Gesichter magst du haben

In tausend Farben mir erscheinen

Wie erkenne ich den Stamm?

 

Führe mich zu deinem Kern

Lass mich durchschauen

die Vielheit deiner Kleidung.

 

Erkenne ich dich

kenne ich dich

in den tausend Gewändern.

 

Palms verneigte sich kurz. Da erhoben sich die Männer wieder.

„Was führt euch zu den Theken?“, fragte Palms.

Kahil erhob sich, bevor Henk antworten konnte.

„Was um Himmels Willen sind die Theken?“, fragte er.

„Wir - alle Menschen auf der Erde - sind die Theken ...“, antwortete Palms.

„Aber diese Männer sind doch auch Menschen!“, protestierte Kahil.

„Ja, aber nicht von hier. Ich erklär‘s euch später, Kahil.“ Palms wandte sich wieder Henk zu. „Wieso seid ihr gekommen?“

„Prinz Melbar, der Bruder von König Karel, ist verschwunden. Er ist aus einer Heilstätte geflohen und seine Spur führt hier zu den Theken.“, antwortete Henk.

„Und wieso droht ihr den Mitarbeitern meiner Organisation mit dem Vard? Ihr habt Kahil und Lea in Kanada besucht, oder nicht? Wieso führt euch eure Suche heute hierher?“

„König Karel vermutet, dass Prinz Melbar die Theken malträtiert, dass er es geschafft hat, sie gegeneinander aufzuwiegeln. Wir haben gehofft, bei den Leuten, die die Verhöre leiten ...“ Er zeigte auf Kahil und die immer noch bleiche Lea. „ ... Informationen über Prinz Melbar zu finden. Deswegen haben wir ihnen gedroht ...“

Palms nickte. „Das ist jetzt nicht mehr nötig. Wir werden das, was wir wissen, mit euch teilen. Ich verstehe nur nicht wie Prinz Melbar die Theken gegeneinander aufwiegeln soll? Der Terror hier hat sich über Jahre aufgebaut und dann exponentiell verstärkt ...“

„Wie wissen es auch nicht. Deshalb unsere Sprünge ins Reich der Theken. Wir müssen ihn zurückholen und hoffen, dass der Frieden hier dann wieder Einkehr nehmen kann.“

 

Plötzlich hörten die ATO Mitarbeiter im Begleiter wieder Yevas Stimme. „Was ist bei euch los? Seid ihr da?“

„Ja, wir sind hier, Yeva. Wo bist du?“, sagte Kahil.

„Ich war in einem Funkloch. Plötzlich war die Verbindung weg. Ich sitze im Stau ... ich werd‘s niemals rechtzeitig zu Guillaume schaffen!“ Sie schluchzte.

Palms griff mit der Hand an seinen Begleiter.

„Yeva, hier spricht Palms. Komm zurück ins Auffanglager. Wir werden schon einen Weg finden um Guillaume zu retten. Du musst dich ausruhen, bevor eure Einsätze heute Abend weiter gehen.“

Yeva weinte jetzt ungehemmt. „Wie wollt ihr ihn retten? Alle Polizisten sind im Einsatz und die Sondereinheiten ... das sind wir selbst!“

Helena schaltete sich ein. „Yeva, die Variablen haben sich geändert. Guillaume hat gute Chancen, die Sache zu überleben. Komm zurück! Dann bist du für das nächste Update mit Luc und Danielle bei uns ...“

Man hörte wie Yeva in ein Nastuch schnäuzte. Das Schluchzen ebbte langsam ab. „Gut. Ich komme.“

 

 

Ermenonville, 10 Tage nach „Tag X“

18.01 Uhr

 

„Steig aus!“

Broccart machte Platz, indem er zwei Schritte rückwärts ging.

„Wir wollen den Wagen ja nicht schmutzig machen, nicht wahr, mein Täubchen?“

Guillaume verlagerte sein Gewicht. Ohne die Hilfe von Armen und Händen aus einem Wagen zu klettern war gar nicht so einfach; vor allem nicht, wenn jede Bewegung schmerzte. Guillaume torkelte aus dem Auto und fiel auf die Knie.

„Hast du‘s eilig, Bulle?“, lachte Broccart ihn aus.

Der Blutverlust machte Guillaume ganz schwindlig. Er hörte Broccart nur noch als sei dieser fünf Meter weit weg. Der grauhaarige Broccart nahm sein Handy hervor und wählte eine Nummer. Guillaume war ihm egal. Jede Geste, jedes Worte machte das nur umso deutlicher. Als die Verbindung stand, veränderte sich seine Visage schlagartig. Plötzlich wirkte er mild und er lächelte.

„Mäuschen! Was tust du? Schaust du fern?“ Er lehnte sich gegen die Karosserie. Mit dem Fuss schlug er die offene Hintertür zu.

„Das ist gut. Die Sendung hat dir schon immer gefallen, ich weiss. Mäuschen, ich hab den Bullen. Ich mach ihn jetzt fertig. Kochst du was Feines zum Abendessen?“

Während er der Antwort lauschte, schabte er mit den Schuhen Blätter vom Waldboden und machte ein kleines Loch.

„Ja, ich halte unterwegs noch an und bring uns einen Tropfen Roten. Bordeaux? Gut! Bis später, Mäuschen!“

Er drückte die Taste, die den Anruf beendete.

„Bulle, ist das nicht hart? Während ich zuhause ein gutes Essen serviert kriege, wirst du hier am Boden starr wie ein Ast werden. Schade um dich, aber als Neureicher, der Bilder kaufen will, hast du mir einfach besser gefallen. Ich mach‘s schnell, Bulle. Den Gefallen tu ich dir. Von Franzose zu Franzose, du verstehst?“

Er lud die Waffe durch und trat hinter Guillaume.

„Einen letzten Wunsche Bulle?“

Guillaume schwieg. Was gab es zu sagen? Vieles, aber nichts, das er gerne Broccart mitgeteilt hätte.

„Hör auf zu labern!“, sagte er mit brüchiger Stimme.

Broccart lachte laut los. Er trat Guillaume von hinten in den Rücken, so dass dieser flach vorne runter fiel.

„Vielleicht lass ich mir doch lieber Zeit mit dir! Du bist noch nicht gebrochen, Bulle! Aber das kriegen wir schon noch hin, bevor du diesen Planeten verlässt!“

 

 

Paris, 10 Tage vor „Tag X“

18.02 Uhr

 

„Wie willst du Guillaume helfen?“, fragte Kahil. Er verstand nicht, wie sich die Variablen geändert haben sollten, seit Helena das letzte Mal nachgeschaut hatte. Wollten sie einfach Yeva ein Desaster ersparen und griffen deshalb zur Notlüge? Das wäre so ganz und gar nicht Palms gewesen. Und Helena traute er so was auch nicht zu.

„Der Cocktail, der die Zukunft bestimmt, hat sich drastisch geändert, Kahil. Du wirst sehen ...“, antwortete Palms. Er wandte sich Henk zu.

„Henk Nakape, ich muss dich um deine Hilfe bitten. Einer unserer Mitarbeiter wurde von einem Verbrecher entführt und wird in wenigen Minuten von diesem umgebracht. Du musst das verhindern!“

Henk betrachtete Palms ruhig. Dann nahm er sein Vard aus der Scheide.

„Dein Wunsch ist meine Pflicht, Kronprinz Olivé. Hast du die Raum-Zeit-Individual - Koordinaten?“

Palms nickte. Er schrieb drei Worte auf ein Blatt Papier, das auf dem Küchentisch lag. Ermenonville - Guillaume Giroux - Jetzt-Zeit. Er gab den Zettel Henk, der ihn entgegen nahm und überflog.

„Kronprinz, wir haben die Schrift der Theken nicht studiert. Tut mir Leid. Ich beherrsche keine Schrift.“

Palms lachte kurz. „Ich bin wohl schon zu lange fort von Noooh.“

„Nenn mir die Koordinaten, wenn ich bereit bin.“, erwiderte Henk. Aus seiner Manteltasche nahm er ein blaues Tuch und legte es auf den Boden, wobei er sich hinkniete, um die Ecken glatt zu zupfen. Dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn über die Lehne eines Stuhls. Mit erhobenem Vard positionierte er seine Füsse so, dass die Schuhspitzen den Rand des Tuches berührten.

„Ich bin bereit!“

Palms nahm etwas Abstand. Dann sprach er laut und deutlich aus, was er zuvor auf den Zettel geschrieben hatte.

Ermenonville, Guillaume Giroux, Jetzt-Zeit.

Henk wiederholte die Koordinaten, ging kurz in die Knie und hopste leichtfüssig auf das Tuch, wobei er es, wie bei jedem Sprung, geschickt hinter sich nachzog. Dann war er weg.

Kahil sprang auf, als sei er von einem elektrischen Schlag getroffen worden. Lea rutschte auf ihrem Stuhl einen halben Meter rückwärts, als müsse sie sich plötzlich aus einer Gefahrenzone weg manövrieren. Helena sass einfach nur mit offenem Mund da; dann begann sie zu lächeln, scheinbar froh darüber, dass sie nicht die Einzige war, die quasi Unmögliches tun konnte.

„Was ... wo ... wie ist das möglich?“, fragte Kahil steif.

Palms ging zu Kahil hinüber und legte seine Riesentatzen auf die Schultern des Libanesen.

„Die Welt ist bei weitem ein grösseres Wunder, als man gemeinhin annimmt, Freunde. Ich bin vor dreissig Jahren aus einer Parallelwelt hierher gezogen, um eurer Welt zu einem Durchbruch zu verhelfen. Das war schon immer so: die verschiedenen Welten inspirieren sich gegenseitig und helfen sich beim Vorankommen. So wie ich hierher gekommen bin, werden Leute aus eurem Reich einmal zu anderen Völkern im Universum ziehen, um ihnen in ihrer Evolution zu helfen. Unsere Welt ist der euren vielleicht tausend Jahre voraus, deshalb verfügen wir über Technologien und Fähigkeiten, die euch magisch vorkommen oder hier schlichtweg als unmöglich gelten.“

„Und wer sind diese Männer?“, fragte Kahil und zeigte dabei auf Tam und Terry.

„Henk und seine beiden Leibgardisten hier gehören zum Stab von König Karel, meinem Onkel.“

„Du bist gar nicht von hier?“, fragte Lea.

„Nein, ich bin aus Noooh, einem Reich in einer parallelen Welt. Aber das spielt keine Rolle, Lea. Wenn wir wachsen, realisieren wir, dass wir überall zu Hause sind. Es ist alles Teil der Schöpfung. Ich bin hierher gekommen und habe zuerst Halt in einer zerrütteten Familie gefunden. Die Frau war von einem üblen Mann missbraucht worden, aber ich hatte etwas Wunderschönes in ihr gesehen. Ich habe sie geheiratet und wir haben uns gegenseitig ein neues Leben ermöglicht. Danach habe ich mich daran gemacht, die Probleme dieser Welt zu lösen. Den Rest meiner Geschichte kennt ihr.“

„Und das Tuch?“, fragte Kahil.

„Wir nennen es ein Sprungtuch. Es erlaubt die Reise in fremde Welten, andere Gegenden, als auch die Reise in die Zukunft oder in die Vergangenheit.“, antwortete Palms.

„Aber die Zukunft verändert sich andauernd, Oliver! Wie soll man da in die Zukunft reisen können ...?“, hakte Helena ein.

„Du hast natürlich recht, Helena. Die Zukunft ist eine Probabilität. Wenn wir heute mit dem Sprungtuch in‘s Morgen reisen, dann kommen wir in der Welt an, die heute die höchste Probabilität hat. Jede Intention, die die Zukunft ändern wird, aber zum Zeitpunkt der Abreise noch nicht formiert wurde, ist dann eben nicht Teil dieses Morgens, auch wenn sie objektiv dort vertreten sein sollte. Die Welt ist bei weitem nicht so objektiv, wie wir meinen.“

Ein kurzes Schweigen liess Palms Worte in die Gehirne sinken. Die Worte trafen nach den Ohren auf etliche Widerstände und mussten sich mühsam ihren Weg ins Zentrum des Verstehens bahnen.

Dann waren draussen im Flur plötzlich Schritte zu hören. Jemand trat auf die Scherben, die immer noch dort lagen, was unter den Sohlen der Schuhe gehörig knirschte. Die Blicke wurden dem Flur zugewandt. Henk tauchte, das Vard noch in der Hand, auf.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

16.30 Uhr

 

Als Prinz Melbar die Reportage auf LTG gestern in New York gesehen hatte, machte sie ihn zuerst einfach wütend. Wieso versuchten die Theken ihn daran zu hindern, das in Besitz zu nehmen, was ihm zustand? Er hatte sich aus Frust so fest in die eigene Hand gebissen, bis er den Eisengeschmack seines Blutes im Mund geschmeckt hatte.

Der Schmerz erdete ihn, half ihm wieder klarer zu sehen, was im grossen Plan als nächstes anstand. Danach hatte er sich die Hand verbunden und ein Ticket nach Paris gekauft. Paris war die einzige Fährte, die er - Dank dem Interview auf LTG - hatte, und wenn er etwas gegen die Pläne von diesem Palms unternehmen wollte, dann war die französische Hauptstadt die Adresse um loszulegen. Er würde die Leute mit seiner eisernen Faust zerschlagen.

Als er dann am späten Nachmittag in Paris gelandet war, spürte er den Aufwind in seiner Seele als ein Prickeln, das über seinen ganzen Körper lief. Um keine wertvolle Zeit zu verlieren, rief er auf dem Flughafen Charles-de-Gaulle in einem Internetcafé die Google Maps -Seite auf und inspizierte die Gegend um den Flughafen im Satelliten-Modus. Wenn die Theken eines wirklich gut taten, dann war es all die Arbeit, die sie in das Internet steckten. So vieles wurde dort andauernd auf dem neusten Stand gehalten. Melbar hatte sich die Konturen des Gefängnisses, das man auf dem kurzen verwackelten Filmchen im Interview gesehen hatte, gemerkt. Und jetzt musste er nur ein Gebäude finden, das diesen Konturen einigermassen entsprach, was genau eine kleine halbe Minute dauerte. Wieder spürte er das Prickeln auf seiner Haut. Palms und seine ATO wussten es zwar nicht, aber ihre Zeit war um. Wenn sich Ereignisse wie Butter streichen liessen, dann war das ein Indiz für ihre Richtigkeit, für ihre Zeit.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.07 Uhr

 

Guillaume dachte nicht mehr klar, aber er hielt sich an einer Idee fest, wie ein Ertrinkender sich an einem Stück Holz festklammerte. Danielle und Luc würden ihn aufspüren, und wenn er nur genug Zeit kaufte, indem er Broccart immer wieder auf‘s Neue herausforderte und sich nicht fügte, dann würde man ihm Hilfe schicken und ihn retten.

Er lag auf dem Rücken. Broccart stand neben ihm und liess genüsslich Erde auf sein Gesicht rieseln.

„Bullen sollten regelmässig Erde essen, weisst du? Das ist gesund!“, sagte Broccart. Er lachte, fand seinen eigenen Humor göttlich.

Guillaume hielt seinen Mund geschlossen und atmete durch die Nase. Trotzdem war es schwierig an genügend Luft zu kommen. Er drehte den Kopf, versuchte die Erde weg zu schütteln.

„Meine Freunde werden dich finden, Broccart! Du wirst in einer Zelle verrotten!“ Guillaume murmelte es nur, er hatte nicht mehr genug Kraft um es laut und deutlich zu sagen, aber Broccart hatte es gehört.

Provozieren, Zeit kaufen, dachte Guillaume immer wieder. Broccart würde ihn nicht fertig machen, solange er widerspenstig war. Der alte Mann hatte ein riesiges Ego-Problem, er würde erst Schluss machen, wenn er ihn gebrochen hatte. Broccart holte aus und trat Guillaume in die Seite. Er geiferte jetzt, wenn er sprach: „Du dummer Bulle! Glaubst immer noch nicht an deinen eigenen Untergang?“

Er trat wieder zu, zweimal. Guillaume rollte sich weg. Dann schaute er Broccart direkt in die Augen und lächelte ihn an. „Ist das alles, alter Mann?“, hauchte er stückweise.

Alles tat ihm weh, aber das durfte er nicht zeigen. Das wäre reines Ego-Futter für Broccart, also schluckte er die Schmerzen hinunter, so gut es ging. Broccart wurde einen Moment lang ganz steif. „Was hast du gesagt, Bulle? Wie hast du mich genannt? Alter Mann? Soll ich dir zeigen, was der alte Mann alles kann? Soll ich dir jeden Finger einzeln brechen?“

Broccart kniete sich hinunter und rollte Guillaume auf den Bauch. „Ich werde dir jedes Gelenk einzeln knacken, du Dreckstück!“

Guillaume spürte, wie er sich an seinen Händen zu schaffen machte. Doch im nächsten Moment hörte er einen blubbernden Schrei, einen Vokal, der kein Vokal mehr war. Broccart fiel neben ihn. Blut floss aus seiner Kinnlade, die von unten mit einem grossen Schraubenzieher aufgespiesst war. Das Metall guckte oben aus der Schädeldecke raus. Broccarts Kopf war von unten nach oben aufgespiesst worden. Er zuckte, gab aber keinen Laut mehr von sich.

Dann zog ihm jemand von hinten die Handschellen aus, als seien sie ein Paar Handschuhe. Guillaume drehte sich um. Er verstand die Welt nicht mehr. Ein Mann in schwarzer Kleidung und mit einem hochgebundenen Rossschwanz stand vor ihm. Der Mann ging in die Hocke und zog den Schraubenzieher aus Broccarts Schädel.

„Er hat das Vard kennen gelernt!“, sagte er.

„Wer bist du?“, fragte Guillaume.

„Der Kronprinz von Noooh hat mich geschickt.“

Der Mann verneigte sich und ging davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er verschwand hinter einem kleinen Hügel im Wald.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.10 Uhr

 

Flying Shark war nicht zu bremsen. Er hielt sich ziemlich sicher für eine Gazelle, so wie er von links nach rechts sprang und dann Sekunden lang mit allen vier Pfoten Bodenkontakt vermied. Vielleicht dachte er auch, er sei ein Storch, da er danach Ansätze vom Stand auf einem Bein zeigte. Jedenfalls war er in Fahrt. Danielle und Luc hatten so viel Zeit im Forschungszimmer verbracht, dass Flying Shark der hundischen Meinung erlegen war, man habe ihn verlassen und aus dem Rudel ausgestossen. Und jetzt, wo seine beiden Chefs plötzlich wieder ins Zimmer traten, war die Freude einfach nicht zu unterdrücken.

„Es ist nur eine kurze Pause, Shark! Freu dich nicht zu fest!“, sagte Danielle und schüttelte ihn am Nacken.

„Tee?“, fragte Luc, bereits unterwegs zum Wasserkocher.

„Gerne! Und was zu essen. Ich geh kurz in die Mensa und hol uns was.“

Fünf Minuten später sassen sie über dampfenden Teetassen und schwiegen sich an. Neben dem Tee lagen zwei Pain au chocolat, die noch warm waren. Beide angebissen und nur noch einen kurzen Moment lang Teil dieser Welt.

Danielle hatte die Liste aus dem Forschungszimmer mit in die Pause gebracht. Mit dem Zeigefinger fuhr sie die Namen und Anschlagszeiten all der identifizierten Terrorakte ab.

„Achtundvierzig Anschläge allein in unserem Sektor!“, sagte sie. „Das können doch unmöglich alles Trittbrettfahrer sein. Ich hoffe, dass Kahil und Lea etwas Neues herausgefunden haben. Bei diesem Tempo und bei dieser Häufung von Anschlägen kommen wir nicht mehr mit, Luc! Und die Polizei und die C-Teams auch nicht.“

Luc schaute auf die Uhr. „Noch zwei Minuten bis zum Update. Dann wissen wir mehr ...“

Er rutschte näher zu Danielle heran und nahm sie in die Arme. Sein Körper fühlte sich frisch an; kein Wunder bei all der Entspannung, die dem Schlaf gleichkam, aber sein Geist war müde und ausgelaugt. Das Scannen der Zukunft, das andauernde wach und aufmerksam bleiben, obwohl der Körper quasi schlief, war anstrengend. Danielle legte ihren Kopf auf seine Schultern. Die Zeit bis zum Update hielten sie sich fest.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.15 Uhr

 

Henk versorgte das Vard in der Vard-Scheide. Er trat in die Küche ein und verneigte sich vor Palms. Ein eleganter Knicks ging mit einer leichten Beugung des Oberkörpers einher.

„Ich habe deinen Auftrag ausgeführt und dem Mann das Vard gezeigt. Euer Freund ist wohlauf.“

„Allah sei Dank!“, murmelte Kahil.

„Ich danke dir, Leibgardist. Setz dich an den Tisch und trink eine Tasse Tee. Wir haben hier zwar keine Tojah-Blätter, aber ein Pfefferminztee wird dir gut tun. Danach wollen wir dir mitteilen, was wir wissen.“

Palms drehte sich Tam und Terry zu. „Das gilt auch für euch. Setzt euch ...“

Lea stand auf und ging zum Wasserkocher. „Es hat noch heisses Wasser. Für alle Pfefferminztee?“

Henk nickte ihr zu.

„In zwei Minuten beginnt das nächste Update ...“, sagte Kahil.

„Das ist der ideale Einstieg für unsere neuen Freunde. Sie sollen beim Update dabei sein. Wenn Prinz Melbar seine Finger im Spiel hat, dann werden Henk und die beiden Leibgardisten am besten wissen, wie wir ihn stoppen können.“

„Ich sehe nicht, wie dieser Prinz an den Terrorakten beteiligt sein könnte, Oliver.“, sagte Helena.

Palms hob die Schultern. „Ich weiss es auch nicht, Helena, aber wenn König Karel diesbezüglich eine Vermutung äussert, müssen wir der Sache nachgehen. König Karel würde nicht ohne ernsten Grund seine Leibgardisten in unsere Welt schicken.“

Plötzlich ertönte im Begleiter Guillaumes Stimme.

„Hallo ... seid ihr da?“

Er tönte nicht gut. Die Stimme war brüchig, schwach. Palms gestikulierte den Leibgardisten eine stumme Botschaft zu, die Moment bitte! ausdrückte.

Yeva antwortete sofort. „Guillaume! Wo bist du?“

Man hörte ein langes Einatmen. „Ich bin in einem Wald. Broccart liegt neben mir. Er ist tot. Ein Mann hat ihn mit einem Schraubenzieher attackiert und getötet ...“

„Wie geht es dir?“, fragte Yeva sofort weiter.

„Ich bin schwach. Eine Frau, die im Wald ihren Hund ausführt ... ich hab sie soeben getroffen ... sie fährt mich zurück ins Auffanglager. Der Schlüssel im Taxi steckt noch.“

Palms schaltete sich ein. „Guillaume, hier Oliver Palms. Lass den Begleiter an, damit du das Update mithören kannst. Der Arzt hier wird auf dich warten, wenn du ankommst. Dann kannst du gleich ins Ambulatorium.“

„In Ordnung. Bin langsam, aber unterwegs ...“, antwortete Guillaume.

Kahil stand auf. „Wir müssen rüber ins Büro. Danielle und Luc kommen jeden Moment online.“ Er ging voraus.

Lea brachte den Männern je eine Tasse Tee ins Büro. Sie balancierte die Teetassen geschickt auf einem Tablett, wirkte aber abwesend. Sie war auch immer noch bleich. Der Schock erneut von den selben Männern - wenn auch nur kurz - als Geisel genommen worden zu sein, sass tief. Daran änderte die Tatsache, dass Palms die Männer zu kennen schien und sie deshalb jetzt wie Freunde gehandelt wurden, auch nichts.

Das kleine Büro platzte kurz darauf aus allen Nähten. Der kleine Raum war für zwei, nicht für sieben Leute konzipiert. Kahil gab am Schreibtisch sitzend ein Passwort ein und loggte sich dann in den Update-Bereich der ATO-Webseite ein. Dann drückte er das Wachholder-Icon. Ein neues Fenster öffnete sich auf dem Bildschirm. Einen Moment später sah man Hund, Danielle und Luc. Flying Shark sass auf Danielles Schoss und hielt sich jetzt eindeutig für einen Dackel.

„Habt ihr Besuch?“, fragte Luc, als er die vielen Leute vor dem Bildschirm sah.

„So ist es ...“, antwortete Kahil.

Danielle räusperte sich. Dann legte sie los.

„Lasst uns gleich zur Sache kommen. Die nächste Welle beginnt in zwei Stunden. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“, sagte Danielle.

„Schiess los“, antwortete Kahil.

„Wir haben keine Ahnung, wieso plötzlich dieser Ansturm stattfindet, aber er kommt eindeutig in Wellen. Die erste Welle ist bald vorbei. Die Polizei müsste in den nächsten fünfzehn Minuten die letzten Kunden festnehmen. Dann gibt es zwei Stunden Pause. Und dann geht‘s leider genau gleich weiter, wie zuvor. Ein Anschlag jagt den nächsten, aber interessanterweise sind die Anschläge weiterhin alle auf den Grossraum Paris und auf die USA beschränkt.“

„Das ist wirklich eigenartig!“, hakte Luc ein, als wolle er Danielles Worten mehr Gewicht verleihen.

Kahil antwortete. „Nicht unbedingt. Wir haben vielleicht eine Erklärung dafür. In den USA lief gestern auf LTG ein Interview. Habt ihr das schon mitgekriegt?“

„Mein Herr, wir schauen momentan kaum fern, wir sind anderweitig beschäftigt ...“, sagte Luc bissig.

„Entschuldigung, klar ... jedenfalls hat man in dem Interview der breiten Bevölkerung die ATO erklärt und Aufnahmen von unserem Auffanglager gesendet. Wir gehen davon aus, dass die Leute, die das Interview in den Staaten gesehen haben, heute Nachmittag - also genau zu Beginn des Sturms - in Paris gelandet sind und dann gleich zur Tat übergegangen sind. Wahrscheinlich sind es alles Trittbrettfahrer, die sich aus irgend einem Grund plötzlich für Terroristen halten. Die ersten Kunden sind bereits bei uns eingetroffen, aber wir konnten sie noch nicht sprechen, weil hier zu viel los war. Dummerweise wird das gleiche Interview jetzt von Sendern überall in Europa und auf der ganzen Welt gesendet. Und auf Youtube hat es Millionen von Klicks. Ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt total ausflippt ...“

Danielle dachte nach. Dann antwortete sie. „Alles Trittbrettfahrer? Ist das nicht extrem? So verrückt ist doch selbst unsere Welt nicht ...“

„Wir haben keine andere Erklärung für den exponentiellen Anstieg der Anschläge. Wir hatten weltweit zehn Anschläge pro Tag und Land. Jetzt sind es zehn pro Stunde. Es muss einen Grund dafür geben, und das Interview ist der einzige plausible Grund, den wir bis jetzt gefunden haben.“, schaltete Helena sich in das Gespräch mit ein.

„Dann müssen die Kunden der heutigen Anschläge unbedingt so schnell wie möglich interviewt werden. Wir müssen wissen, ob es einfach Trittbrettfahrer sind, oder ob sonst etwas der Auslöser sein könnte. Ich kann einfach nicht glauben, dass ein simples Interview so viele Leute zum Durchdrehen bringt.“, brachte Danielle die Sache auf den Punkt.

„Wir werden gleich nach dem Update beginnen, Danielle!“, bestätigte Lea. „Wir haben Theo Barrier und Rachel Minz hier, und die Polizei müsste uns demnächst sieben weitere Kunden bringen ...“

Einen kurzen Moment lang war es still. Dann hob Palms die Hand, als sei er noch in der Schule. Immer der Bescheidene.

„Ich habe eine internationale Pressekonferenz einberufen, die hier im Auffanglager in knapp einer Viertelstunde über die Bühne gehen wird. Wir müssen Stellung beziehen. Vielleicht können wir so den einen oder anderen Trittbrettfahrer von seinem Vorhaben abbringen.“

 

10 Tage nach „Tag X“

 

WORLD TERROR UPDATE

 

Paris, Frankreich

 

In einer Stellungnahme zu dem von LTG produzierten Interview mit dem Undercover-Journalisten Pete Torrey, das gestern in den USA ausgestrahlt wurde und heute von Sendern auf dem ganzen Planeten aufgegriffen wurde, als auch auf Youtube und anderen Videoportalen schon weit mehr als eine halbe Milliarde Klicks erhalten hat, hat Oliver Palms die Bevölkerung zur Besonnenheit und Vorsicht aufgerufen. Er hat die Aussagen des Journalisten weitgehend bestätigt und mit eindrucksvollen Zahlen belegt, dass seine Strategie den Terror schon erheblich hat reduzieren können. Palms zufolge hat die ATO - die von ihm gegründete Anti-Terror-Organisation - weltweit schon mehr als vierhundertzwanzig Terroranschläge unterbinden können. Er wehrte sich jedoch gegen den Vorwurf, dass die ATO die potentiellen Terroristen mit Handschuhen anfasse. In einer Kommunikation der PR Abteilung der ATO, die sich heute ebenfalls, zum ersten Mal seit der Entstehung der ATO, zu Wort meldete, schrieben die Verantwortlichen wortwörtlich:

Unsere Strategie fusst auf der Erkenntnis, dass eine weltweite Welle von Terroranschlägen, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, einen identifizierbaren Grund haben muss. Wir arbeiten deshalb mit den potentiellen Tätern (die rechtlich gesehen nur der Planung und nicht der Ausführung eines Anschlags beschuldigt werden können) zusammen, um Rückschlüsse auf ihre Motivation ziehen zu können. Das ist für einen sicheren Frieden in der Zukunft unabdingbar.

 

Palms versprach der Bevölkerung aller Nationen dieser Welt den vollen Zugang zu allen Akten der ATO, sobald die ATO ihre Mission erfüllt habe. Und dass sie die Mission erfolgreich zu Ende bringen würde, daran hege er keinerlei Zweifel. Trotzdem muss heute festgestellt werden, dass insbesondere in Frankreich und in den USA ein weiterer Anstieg von Anschlägen registriert wurde. Ob Palms‘ Hoffnung wahr wird, kann uns nur die Zukunft zeigen.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.40 Uhr

 

Lea entschied sich mit Theo zu beginnen, während Kahil sich kurz in sein Zimmer verzog, um seine Familie anzurufen. Es war der Geburtstag seiner Schwester. Die Welt war scheinbar von allen guten Geistern verlassen worden, aber er wollte das Spiel der Verrückten kurz zu Gunsten der Vernunft unterbrechen und als anständiger Bruder durch die Welt gehen. Nadja, seine Schwester, wäre mehr als traurig gewesen, wenn er diesen Tag vergessen hätte, also hatte er entschieden die Welt für zehn Minuten alleine spinnen zu lassen. Zehn Minuten heile Welt spielen; das hatte noch niemandem geschadet.

Lea machte aber zuerst das Zimmer für Yeva bereit, wo sie sich ein wenig erholen konnte, bevor sie kurz darauf wieder in die Stadt musste.

„Wo bist du, Yeva?“, fragte sie über den Begleiter.

Die Antwort kam sofort. „Beim Kontrollpunkt vor dem Lager. Bin in zwei Minuten dort.“

Lea liess die Läden in dem Zimmer etwas hinunter, damit sich Yeva wirklich würde entspannen können. Dann berührte sie noch einmal den Begleiter.

„Und du Guillaume? Wo bist du?“

„Das dauert noch ein wenig, Leute. Louise, die Frau, die mich zurück fährt, ist Krankenschwester. Sie bestand darauf, mich von einem Arzt in Ermenonville verarzten zu lassen, weil ich zu viel Blut verloren habe. Er hat mir ein Schmerzmittel gegeben und ist jetzt daran, die Wunde zu nähen. Wir fahren hier in etwa zehn Minuten los, dann sollte ich in rund einer halben Stunde bei euch sein.“

„Du tönst schon viel besser!“, sagte Lea.

„So ein Schmerzmittel wirkt manchmal Wunder, aber ich bin immer noch schwach.“

Lea schüttelte die Decken kurz aus und tröpfelte zwei Tropfen Lavendel-Öl in ein Duftlämpchen auf dem Nachttisch. Dann ging sie zu Theo.

Sie entschloss sich, das erste Gespräch mit Theo draussen bei der Rampe in der frischen Luft zu führen. Das war am wenigsten bedrohlich für einen neuen Kunden. Als sie die Türe zu seinem Zimmer öffnete, fand sie ihn tränenüberströmt und weinend vor. Er wendete sich ab, starrte auf die Wand.

„Wieso weinst du, Theo?“

Lea setzte sich neben ihn auf das Bett.

Er rutschte von ihr weg. „Lass mich!“

Sie liess einige Augenblicke verstreichen. Theo unterdrückte die Tränen und kämpfte gegen sein eigenes Schluchzen.

„Weisst du, ich finde Weinen eher ein Zeichen eines gesunden Geistes, als ein Zeichen für Schwäche ...“

Er schaute sie an. Rote Wangen, laufende Nase. „... wenn ich ein gesunder Geist wäre, sässe ich jetzt kaum hier, oder nicht?“

„Was meinst du?“

„Diese verdammten Gedanken in meinem Kopf, meine ich! Diesen andauernden Lärm, den ich einfach nicht abstellen kann.“

„Welche Gedanken, Theo?“

„Du würdest es nicht verstehen. Lass mich, bitte! Ich muss alleine sein.“ Er wandte den Blick wieder ab, strich sich mit dem Ärmel seines Pullis die Tränen ab.

„Ich glaube du würdest darüber staunen, wie viel ich verstehe ...“, sagte Lea.

„Das bezweifle ich. Ich studiere Psychologie, bin im letzten Semester, und verstehe nicht den kleinsten Teil von dem was in mir vorgeht ...“

Lea strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du bist nicht der erste Terrorist, mit dem ich es zu tun habe.“

Theo ereiferte sich plötzlich und schlug mit der Faust gegen die Wand. „Das ist es! Das genau ist es! Ich bin kein Terrorist! Heute morgen bin ich in Paris gelandet, nachdem ich in New York ein Praktikum in der Mayo Klinik gemacht hab. Und dann plötzlich beginnen diese verdammten Gedanken in meinem Gehirn auf und ab zu gehen, belästigen mich und zwingen mich dazu, etwas zu tun, das ich nie und nimmer tun würde. Kannst du mir das erklären, he? Wieso würde ich meine ganze Zukunft auf‘s Spiel setzen? Ich hab noch einen Moment bis zu meinem Doktortitel!“

„Und du hattest vorher nie irgendwelche Gedanken in die Richtung?“

„Nie! Aber jetzt, selbst jetzt, wo ich in diesem Zimmer sitze, foltern sie mich weiter. Als könne ich nur noch an etwas denken. Es macht mich fix und fertig!“

Erneut kollerten Tränen aus seinen aufgedunsenen Augen.

„Theo, hör mir zu. Ich bring dir nachher ein Schlafmittel, damit du abschalten kannst, aber vorher muss ich noch eins wissen! Wann haben die Gedanken angefangen? War es ein eindeutiger Moment oder schleichend?“

Theos Augen wanderten nach oben, als er sich kurz erinnerte.

„Es war plötzlich. Ich sass in einem Kaffee in der 22. Strasse. Und dann hat es Bang! gemacht, als entlade sich ein Gewitter in meinem Kopf. Dann waren sie da. Aber ich hab sofort gewusst, dass es nicht meine Gedanken sind.“

„Und trotzdem musstest du den Anschlag ausführen?“

„Wie wehrst du dich gegen etwas, das in deinem eigenen Kopf abgeht? Sag mir das! Ich kann dir sagen, je mehr du dich wehrst, desto stärker wird der Gedanke!“

 

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.45 Uhr

 

„Was meint ihr mit Trittbrettfahrer? Das Wort fiel vorher einige Male.“, fragte Henk, als er mit Palms alleine in der Küche sass. Helena war mit Tam und Terry im Büro geblieben, weil sie ihnen die Security- Aufnahmen vom Bistro zeigen wollte.

„In der Geschichte von Taaah nennt man diese Leute die Maulvögel. Kurz vor der Wende des Adlers waren sie fast überall bei uns, und zwar in Taaah und in Noooh. Erinnerst du dich an die Geschichten über die Maulvögel?“

„Mein Meister hat mir viel über sie erzählt. Ich erinnere mich bestens. Aber denkst du wirklich, dass es nur die Maulvögel sind, die die Gewalt vorwärts treiben? Sind die Theken wirklich so nah an der Wende des Adlers? Was ich bis jetzt von ihrer Gesellschaft gesehen habe, ist nicht gerade eine Bestätigung dafür ...“

Palms fuhr sich durch das Haar und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Du hast recht. Es ist noch nicht Zeit für die Wende, aber der Adler befindet sich momentan eindeutig im Torkelflug. Erinnere dich an die Flugbahn eines ausgewachsenen Maulvogels, wenn er jagt ... das Torkeln ... genau dort sind die Theken jetzt, würde ich sagen.“

Aus dem Büro hörte man plötzlich Stimmen, die sich erhoben. Palms blickte Henk an. „Meister, schnell!“, rief Terry aus dem Büro.

Henk erhob sich ohne Verzögerung, seine Bewegungen andächtig wie ein Puma, der ohne sichtliche Anstrengung einen Baum hoch klettert. Er ging zum Büro; Palms folgte ihm. Terry winkte nervös. Er zeigte auf den Monitor, während Tam seine Nase ganz nah an die Bildschirmoberfläche drückte, als wolle er jedes einzelne Pixel separat erfassen.

„Es ist doch etwas faul an der Sache!“, sagte Helena zu Palms. Henk starrte auf das pausierte Bild auf dem Monitor. Man sah Jean Vurieux an der Bar mit einem Bier vor sich und an einem Tischchen Takashi im Anzug mit einer Tasse Tee vor sich. Neben Takashi, am Nachbartisch, sass ein Mann in seinen Vierzigern und las Zeitung. Nur dass er sie verkehrt rum hielt, was man der Schlagzeile auf dem Kopf entnehmen konnte. Man sah sein Profil, doch das schien zu genügen. Henk stellte seinen Finger auf die Monitorscheibe, genau dort, wo im Standbild die Zeitung des Mannes war. Dann sagte er zwei Worte.

„Prinz Melbar!“

Palms trat näher an den Monitor.

„Bist du sicher?“, fragte er den Leibgardisten.

„Sicher wie eine Brücke von Malchyar!“

Palms ging noch näher. „Ich habe Prinz Melbar das letzte Mal gesehen, als er ein zwölfjähriger Knabe war. Ich hätte ihn nie und nimmer erkannt.“

„Ich habe ihn als Leibgardist über zehn Jahre seines Lebens begleitet. Ich würde ihn in einer grossen Menschenschar auf fünfzig Meter Distanz ausmachen können.“, antwortete Henk.

„Was ist eine Brücke von Malchyar?“, fragte Helena.

Palms wandte sich ihr zu. „Vor der Wende des Adlers hatte unser Volk viele Katastrophen zu erdulden. Wir hatten Erdbeben und Erdrutsche, Fluten und Vulkanausbrüche. Vieles unserer damaligen Kultur ging unter. Unendliche viele Bauwerke fielen zu Schutt in sich zusammen, aber nach der Wende des Adlers standen alle Brücken, die Malchyar, ein Architekt des Königshauses, gebaut hatte, noch genau so sicher an Ort und Stelle wie vor der grossen Wende. Als könne man ihnen nichts anhaben. Seit dann assoziieren wir Sicherheit mit den Brücken von Malchyar ...“

Palms lächelte, und man hatte das Gefühl ein klein wenig Heimweh leuchte aus dem Lächeln.

Helena nickte.

„Das heisst also, dass wir den Beweis haben! Prinz Melbar hat irgend etwas mit dem Terror zu tun ...“, sagte sie.

„Es nicht so zu sehen, hiesse die Augen gehörig zu verschliessen.“

Palms berührte seinen Begleiter.

„Ludovic, stell mir bitte eine Verbindung zu allen ATO- Mitarbeitern her. Notfall-Modus! Sie sollen die Nachricht hören, egal ob sie den Begleiter anhaben oder nicht!“

Er wartete einen Moment lang. Dann schien die Verbindung zu stehen. „Hier spricht Oliver Palms. Wir haben einen Hauptverdächtigen identifiziert, der hinter den Anschlägen stehen könnte. Sie erhalten alle eine Bilddatei auf ihre Mobiltelefone geschickt. Wenn Sie den Mann sehen, nehmen Sie ihn sofort fest. Alle Polizei-Attachés leiten das Bild bitte an die nationalen Polizeiorganisationen weiter. Wir müssen den Mann finden! So schnell wie möglich. Over and out.“

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.50 Uhr

 

Es war erstaunlich. Immer wieder. Seit er das Ding in Warschau geklaut hatte, gingen eigentlich all seine Wünsche in Erfüllung. Natürlich war das schon immer so gewesen, schliesslich war er ein Prinz, aber früher meinten andere Menschen immer besser zu wissen, was für ihn gut sei und was nicht. Jetzt war er seit etlichen Jahren selbst am Steuerknüppel.

Das Ding zu stehlen, war der beste Einfall gewesen, den er in seinem Leben je gehabt hatte. Und der kleine Pole, den er dafür hatte abmurksen müssen, war ein kleiner Preis gewesen.

Nachdem er die Militärköpfe beim Check-Point davon überzeugt hatte, dass er ein Mitarbeiter der ATO sei, war er schnurstracks zu dem Gefängnis gegangen. Auf der kleinen Strasse kamen ihm sicher zwanzig Reporter entgegen. Scheinbar hatte es eine Pressekonferenz gegeben.

Jetzt kauerte er unter einem Fenster, hinter einer schön geschnittenen Hecke. Prinz Melbar beobachtete von seinem Versteck aus eine Rampe, die zu einem der Wohnblocks herauf führte. Dort standen zwei Leute: ein Mann und eine Frau, aber er war zu weit weg, um Details zu erkennen.

Dann fuhr ein weisser Peugeot 205 durch die Pforte, durch die auch er vor zwei Minuten das Gelände betreten hatte. Das Auto fuhr auf ihn zu, dann an ihm vorbei und die Rampe hoch. Eine Frau stieg aus und wurde von den zwei Wartenden begrüsst und umarmt. Schliesslich gingen alle drei in das Gebäude.

Prinz Melbar legte sich auf den Rücken, wie er es als Kind immer so gerne getan hatte. Er betrachtete die Wolken, die weit über ihm vorbei zogen. In dieser Lage konnte er sich noch immer am besten konzentrieren. Er atmete tief in den Bauch hinunter, verkrallte sich mit seinen Händen in das Gras unter ihm und spürte die Erdenergie, wie sie in ihm aufstieg und sich mit seinen Energien verschmolz.

Es war Zeit, dass die Widersacher seines Plans auf seine Seite wechselten. Und mit seinem Spielzeug war das eigentlich keine Sache, aber er musste nahe genug an die Leute rankommen. Einmal da, würde er ihnen eine volle Salve verpassen. Melbar ging innerlich die Schritte durch, die eine Kurskorrektur seiner Sache bewirken würden.

Erstens, musste er die ATO Mitarbeiter von seiner Sache überzeugen. Davon, dass die einzige Rettung für diese Welt daraus bestand, dass die Welt von ihrem Parasiten, dem Menschen, befreit werden würde. Natürlich wusste Melbar, dass er die Menschheit nicht ganz ausrotten konnte, das war auch nicht der Plan. Aber sie so zu dezimieren, dass der Planet nicht mehr unter dem Gewicht der Milliarden zu leiden hatte, das musste zu bewerkstelligen sein. Schliesslich war sein Plan bis jetzt auf‘s Beste gediehen und nur diese ATO stand seinem Erfolg im Weg. Er musste die ATO-Leute bekehren. Das war Schritt eins.

Zweitens, musste er die nächste Phase des grossen Plans einleiten. Und je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde es: wieso nicht hier und jetzt zu Phase 2 übergehen? Früher oder später musste die Menschheit ihn für das akzeptieren, was er war. Die Idee zum grossen Schachzug überzugehen, gefiel ihm und sie zauberte ein entspanntes Lächeln auf seine Lippen.

Wie alle Monarchen aus Taaah summte er ein kurzes Lied, um die Mächte in der Angelegenheit entscheiden zu lassen. Es tat gut auf dem Gras zu liegen und die Zeremonien seiner Welt zu feiern. Die Melodie nahm ihn auf eine Reise, perlte in kleinen Sekunden eine Quinte hinab und kletterte dann in Quarten zwei Oktaven hoch. Schlussendlich endete das Lied auf einem Tritonus, dem Intervall des Teufels, welches immer Veränderungen einleitete. Melbar liess den Ton in sich nachhallen. Dann stand er auf. Die Zeit war jetzt.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.50 Uhr

 

Yeva wurde von Palms und Helena draussen auf der Rampe begrüsst. Helena umarmte sie, als verstehe sie nur zu gut, wie ermüdend die letzten Stunden für Yeva gewesen waren. Um ein Haar den Team-Partner zu verlieren und nichts dagegen tun zu können, das ging nicht spurlos an einem vorbei.

„Tut mir Leid, dass ich einfach davon gerauscht bin, aber ich musste irgend etwas tun!“, sagte Yeva halblaut.

Palms legte seine Bärenhand auf ihre Schulter. „Sicher!“, antwortete er nur.

„Wer ist der Hauptverdächtige?“, fragte Yeva, das Thema wechselnd. „Ich stand die letzte halbe Stunde im Stau, und als ich die Nachricht hörte, wäre ich am liebsten über die Wiesen und Äcker hierher gefahren. Gibt es wirklich jemanden, der hinter all dem Wahnsinn steckt?“

„Es scheint so ...“, antwortete Helena. „Lass uns rein gehen.“ Helena zog die Glastür auf.

„Wo sind Lea und Kahil?“

„Lea unterhält sich mit einem Kunden. Theo heisst er, glaube ich. Und Kahil hat sich kurz zurück gezogen, um seine Familie anzurufen.“

Yeva ging voraus geradewegs in die Küche. „Ich brauch was zu trinken!“, sagte sie.

Doch in der Küche angekommen, blieb sie wie angewurzelt stehen.

„Das sind Freunde von mir, Yeva.“, sagte Palms, der ihre Reaktion sofort richtig interpretierte. „Mit ihrer Hilfe haben wir den wahrscheinlichen Drahtzieher identifiziert ...“

Yeva nickte den drei Männern zu. „Freut mich!“, sagte sie.

In dem Moment kam auch Lea durch den Gang in die Küche.

„Schon fertig mit Theo?“, fragte Helena.

„Ich hab ihm beim Arzt im Ambulatorium ein Schlafmittel besorgt. Theo sagt, er habe den Anschlag unter innerem Zwang durchführen müssen. Anscheinend sind die Stimmen in seinem Kopf jetzt immer noch genau so laut, wie vor einigen Stunden, als er den Waffenladen überfallen hatte.“

„Und seit wann hört er die Stimmen?“, fragte Palms.

„Seit er heute heute früh New York verlassen hat. Er sagt, dass es ganz plötzlich aus heiterem Himmel angefangen hat.“

Palms nickte, dann wandte er sich Henk zu.

„Wurde Prinz Melbar je in den alten Wegen ausgebildet?“

Henk schüttelte den Kopf.

„Nein, der Prinz hat die grösste Zeit seines Lebens in einer Heilstätte verbracht. Sein Ungleichgewicht ist uns schon seit Jahren bekannt, deswegen wurde ihm nur das Schnitzen und das Malen erlaubt, obwohl er sich von einigen Leibgardisten im Geheimen etwas Kampfunterricht erhandeln konnte. Aber in den alten Wegen wurde er sicher nie geschult. Das Wissen wird in Taaah genau so streng bewacht, wie in Noooh.“

„Dann sehe ich nicht, wie er seine Hände im Spiel haben soll. So viele Menschen zu beeinflussen, bedarf selbst bei einem in den alten Künsten ausgebildeten Meister eines riesigen Energieaufwands. Wie soll Prinz Melbar all die Leute manipulieren? Vielleicht war es doch ein dummer Zufall, dass er in dem Bistro war?“

„Das ist viel zu viel Zufall. Die einfachste Erklärung ist meist auch die richtige.“, antwortete Helena.

„Wer ist Prinz Melbar?“, fragte Yeva.

 

In Ermenonville

18.55 Uhr

 

„Die Kugel hat die Hälfte Ihres Triceps Brachii-Muskels zerfetzt. Ich habe jetzt das Notdürftigste getan, aber Sie müssen in Paris in ein Spital, das muss chirurgisch behandelt werden. Sonst werden Sie ein Leben lang unter Schmerzen im Schulterbereich leiden und Ihre Bewegungsfähigkeit im Arm könnte permanent beeinträchtigt sein. Wirkt das Schmerzmittel schon?“

Guillaume bewegte den Arm ein wenig. „Ja, viel besser.“

„Sehen Sie? War doch richtig zuerst zum Arzt zu gehen. Jetzt bluten Sie wenigstens nicht mehr!“, sagte die Frau, die er im Wald angetroffen hatte und die ihn im Taxi zum Arzt gefahren hatte.

Er nickte ihr zu. „War wohl besser so. Danke ...“

Die Frau hatte in der Zwischenzeit ihren Hund nach hause gebracht, da sie gleich gegenüber des Arztes wohnte. Sie nahm ihre Handtasche hoch.

„Dann fahr ich Sie jetzt zum Flughafen?“

„Gerne. Ich wäre Ihnen sehr dankbar!“

„Das ist gar kein Problem. Wenn ich meinen Kindern heute Abend erzählen kann, dass ich der Polizei im Kampf gegen den Terror geholfen habe, wird mir das einige Pluspunkte einbringen ...“, lachte sie.

Der Arzt gab Guillaume eine Mappe.

„Geben Sie das dem behandelnden Arzt im Spital, damit er oder sie weiss, was wir schon getan haben und welche Chemikalien in Ihrem Blut umher schwimmen.“

„Chemikalien im Blut?“, fragte Guillaume.

„Das Schmerzmittel ...“, antwortete der Arzt mit einem Augenzwinkern.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

18.55

 

Melbar nahm das Gerät hervor und stellte die Regler in die optimale Stellung. In der Hitze des Gefechts würde er keine Einstellungen mehr vornehmen können, deshalb musste er jetzt sicher stellen, dass alles stimmte.

Die Intensität schob er auf‘s Maximum, so dass der Regler an der oberen Plastikeinfassung ankam. Dann erhob er sich und verliess die schützende Hecke. Die zwanzig Schritte bis zur Rampe ging er bedächtig. Einfach nicht durch hastige Bewegungen auffallen. Vor kurzem hatte es hier noch von Reportern gewimmelt, da fiel ein Mann ein wenig später ja sicher nicht auf. Hätte ja sein können, dass er ein Reporter war, der sich verlaufen hatte.

Niemand bemerkte ihn. Bei der Rampe angekommen veränderten sich die Geräusche, die seine Schuhe verursachten. Vorher auf dem Kies war es ein Knirschen gewesen, jetzt auf dem Betonboden waren seine Turnschuhe kaum zu hören. Er ging an dem weissen Peugeot vorbei, den die Frau vorher hier abgestellt hatte. Dann war er oben und stiess die Glastür auf, durch die die drei vorher gegangen waren. Das Gerät trug er wie eine Waffe vor sich. Das sah ein wenig aus als lese er irgendwelche Werte von dem Gerät ab.

Kaum war er drinnen, hörte er Stimmen, die durch das Gebäude hallten. Ein langer Flur lag vor ihm. Bilder hingen an der Wand. Pflanzen standen der Wand entlang in Töpfen am Boden. Eine Kommode mit einer Skulptur darauf war nicht ganz bündig an die Wand heran gestossen worden. Melbar ging zu der Kommode und rückte sie leise zurecht. Es war kaum zu hören.

Er blickte um sich. Niemand schien das Gefängnis hier zu bewachen. Keine Wachen, ausser dem Mann beim Gate draussen. Das war perfekt. So würde ihn auch niemand an der Berichtigung der Ereignisse in dieser Welt hindern.

Er ging den Flur hinab, folgte den Stimmen, die angeregt miteinander zu diskutieren schienen. Noch einmal überprüfte er die Einstellungen auf dem Gerät. Die maximale Feuerkraft des Gerätes hatte er noch nie angewendet. Aber wenn sich das Gerät so verhielt, wie er es vermutete, dann würde die Wirkung sofortig sein. Dann würde der Text, den er eingesprochen hatte, sofort jeglichen anderen Glauben, jede andere Überzeugung in den Gehirnen der Leute überschreiben. Sie wären dann innerhalb von Sekunden auf seiner Seite. Sie würden zwar nicht wissen wieso das so war, aber war das im menschlichen Leben nicht sowieso der Fall? Wer wusste schon ganz genau, wieso welche Überzeugung im eigenen Gehirn dominant war? In einem gewissen Sinne war doch alles einfach Zufall. Und heute half er diesem Zufall ein wenig nach. Wenn die Welt dann mal ihm gehörte, würden die Leute ihm dankbar sein.

Melbar wollte den Überraschungseffekt auf seiner Seite haben, deshalb begann er nun zielstrebig und rasch auf die Stimmen zu zu gehen. Einmal in dem Zimmer, musste er das Gerät auf jede einzelne Person richten, damit die Strahlen ihre Wirkung entfalten konnten. In seinem Geiste sah er, wie er zuerst die unmittelbar Nächsten attackierte und dann sukzessive alle Menschen in dem Raum bekehrte. Er wusste zwar nicht, wie viele Leute in dem Zimmer vor ihm waren, aber mehr als fünf oder sechs waren es bestimmt nicht, dachte er.

Jetzt sah er die Leute. Es waren dieselben, die vorher vor der Glastür standen. Und dann erkannte er ihn. Er war grösser, als er im Fernsehen wirkte. Aber es war eindeutig Palms, der Nobelpreisträger. Noch hatte niemand registriert, dass er mit leisen Schritten auf sie zukam. Um die volle Feuerkraft des Gerätes zu nutzen, musste er noch ein wenig näher heran. Noch drei Schritte, dann war das Schicksal von Palms Organisation so gut wie besiegelt.

 

 

Helena drehte ihren Kopf, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Sie hatte sich das Bild auf dem Video so gut gemerkt, so dass sie ihn sofort erkannte.

„Das ist doch der Mann!“, sagte sie und pochte Palms an den Oberarm. Palms blickte sich um.

„Melbar!“, sagte er laut. Er machte einen Schritt auf Melbar zu, konnte aber den Fuss nicht mehr aufsetzen. Als erlitte er einen plötzlichen Hirnschlag, begann er zu torkeln und musste sich an der Wand abstützen um nicht umzufallen.

Helena eilte zu ihm und stütze ihn. Doch aus heiterem Himmel verlor sie selbst allen Halt. Die eigenen Gedanken schienen sich zu überstürzen, purzelten plötzlich plump über sich selbst. Schwindel übermannte sie und sie musste sich auf den Boden setzen. Orientierungslos. Und dann ging ihre eigene Identität weg, als sei sie in ihrem Kopf nur ein Gast gewesen. Plötzlich war die Welt eine andere. Und sie selbst mit ihr.

Yeva verstand zwar nicht, was hier vor sich ging. Doch es war nicht schwierig, eine Verbindung zwischen dem Gerät, das der Mann in den Händen trug, und dem plötzlichen Torkeln von Palms und Helena herzustellen. Mit ihren perfekt eintrainieren Reflexen verlor sie keine Sekunde, sondern sprang so schnell sie konnte auf den Mann zu, um ihm das Gerät zu entreissen. Sie kriegte es zu fassen. Aber in genau dem Moment zog ihr jemand den Boden unter den Füssen weg. Plötzlich wusste sie nicht mehr, wo oben und wo unten war. Dann spürte sie einen Schlag, der ihren Schädel erschütterte. Yeva verlor das Bewusstsein und krachte zu Boden.

 

Melbar spürte die Wut, die ihn seit Kindheit überkam, wenn jemand seinen Willen nicht respektierte. Die junge Frau hatte versucht ihm sein Gerät zu entreissen. So etwas machte ihn rasend. Zuerst verpasste er ihr die volle Salve, dann schlug er sie mit der Faust an den Hinterkopf. Blöde Frau, dachte er.

Doch dann kam seine eigene Welt für einen Moment ins Wanken. Aus dem Raum vor ihm, einer Küche, traten plötzlich genau die Leibgardisten auf ihn zu, die ihn in Taaah gefangen gehalten hatten. Drei Meter trennten die Männer von ihm. Jetzt spürte Melbar die Verzweiflung von Jahren in sich aufsteigen. Er hätte schreien können. Er sah Henk und wie dieser das Vard hervorzog, um ihn zu bedrohen. Er hatte es hunderte von Malen erlebt und immer klein beigeben müssen, doch jetzt war er am längeren Hebel.

Melbar hielt das Gerät mit ausgestreckten Armen vor sich und betätigte die Taste. Das Gerät war auf Henk gerichtet. Er drückte ab. Henk, der grosse Leibgardist, taumelte, seine Freunde versuchten ihn zu stützen, doch dann wurden sie selbst vom Strahl der Gerechtigkeit getroffen. Melbar legte so viel aufgestaute Wut in den Tastendruck, dass er am ganzen Körper ein befreiendes Kribbeln fühlte, als er Tam, Terry und Henk gemeinsam in der Küche umher schwanken sah. Zwei Sekunden später sassen sie alle am Boden und hielten sich die Köpfe.

Melbar betrachtete sein Werk. Sechs Menschen lagen wie angeschlagene Raubtiere umher und würden bald nicht mehr wissen, dass sie mal Raubtiere gewesen waren. Melbar setzte sich an den Tisch in der Küche. Jetzt hiess es abwarten, bis sich die neue Konfiguration des Bewusstseins eingestellt hatte. Es konnte kaum viel länger als zwei, drei Minuten gehen, dachte Melbar. Er beobachtete Henk. Reichte eine volle Dosis bei einem Leibgardisten wie ihm? Kurzerhand stand Melbar auf, richtete das Gerät noch einmal auf Henk und feuerte eine zweite volle Dosis auf den Mann. Dieser schrie auf und vergrub seinen Kopf in seinen Händen.

„Jetzt müsste es genügen!“, sagte Melbar laut zu sich selbst. Er setzte sich wieder hin. Und wartete.

 

 

Paris, 10 Tage nach „Tag X“

19.05 Uhr

 

Kahil legte auf. Kaum zu glauben, dass sich seine Schwester verlobt hatte. Das Leben zuhause ging weiter, während er hier in Frankreich an der Zukunft der Menschheit arbeitete. Einen Moment lang überkam ihn Heimweh. Seine Schwester verlobte sich und er kannte seinen künftigen Schwager nicht einmal. Wenigstens hatten sie sich dazu verabredet, über‘s Wochenende mal einen Videoanruf zu tätigen. Dann würde er ihn kennen lernen.

Kahil griff an seinen Begleiter, knipste ihn an und meldete sich zurück. „Lea, wo bist du?“, sprach er in den Äther.

Lea war hier in Frankreich zu einer Art Heimat für ihn geworden. Kein Wunder, bei dem, was sie alles zusammen erlebt hatten. Er versorgte sein Tagebuch, das seit gestern auf dem Nachttisch lag und in dem er gestern ein Gedicht für Lea verfasst hatte, im Büchergestell. Der Begleiter schwieg. Er erhielt keine Antwort.

„Lea?“, sagte er noch einmal.

„Sie wollte mit Theo sprechen. Vielleicht hat sie den Begleiter abgeschaltet ...“, kam die Antwort. Es war Guillaume.

„Ich dachte sie sei mittlerweile fertig mit dem Gespräch. Aber wieso würde sie den Begleiter abstellen, wenn sie bei einem Kunden ist?“

„Weiss jemand, wo Lea ist? Yeva?“, fragte Guillaume.

Im Begleiter blieb es still. Guillaume und Kahil liessen gute fünf Sekunden verstreichen.

„Hallo, hört uns jemand?“, doppelte Kahil dann nach.

Nur die Stille der digitalen Verbindung war zu hören. Ein reines Geräusch, das keine Dezibel und kein Rauschen verursachte und trotzdem einen eigenen Klang hatte. Die Absenz von Klang.

„Na, das ist ja eigenartig. Ich geh mal nachschauen, wo die alle stecken.“, sagte Kahil.

„Tu das! Ich bin in etwa zehn Minuten im Auffanglager. Dann helfe ich dir beim Suchen, falls du sie noch nicht gefunden hast ...“, kam die Antwort.

Kahil verliess sein Zimmer, das im unteren Stock, unter den Unterkünften für die Kunden lag. Er warf kurz einen Blick in Leas Zimmer, das aber leer war. Dann ging er den Flur entlang und die Treppe hoch. Er ging an den Zimmern der Kunden vorbei. Alles war still. Eigentlich unauffällig, trotzdem war etwas anders. Vor Theos Zimmer hielt er kurz an und schaute durch das Fensterchen ins Zimmer. Theo lag auf dem Bett und schien zu schlafen. Auf dem Nachttisch lagen zwei Plastikverschalungen eines Medikaments. Lea hatte ihm ein Schlafmittel gegeben, folgerte er.

Er versuchte es noch einmal. „Lea, wo bist du?“

Dann horchte er in die Stille. Keine Reaktion.

„Das kann doch nicht sein ... sind die denn alle ausgewandert?“, sagte er. Diesmal war die Message für Guillaume, und dieser antwortete auch sofort. Mit dem Begleiter war also alles in Ordnung.

„Vielleicht sind sie auf der Rampe draussen?“

„Genau da geh ich jetzt hin.“ Kahil bemerkte, wie er sich schneller zu bewegen begann. Wenn Lea vier Mal nacheinander keine Antwort gab, war etwas faul. Die Situation von vorher, als plötzlich aus dem Nichts die fremden Männer aufgetaucht waren und Lea mit ihrer Waffe bedroht hatten, sass ihm noch im Nacken. Auch wenn schlussendlich nichts passiert war. Der Schrecken blieb und diese kleine seelische Wunde interpretierte jetzt die fehlende Antwort Leas als etwas Gefährliches. Als etwas, das nicht stimmte.

Die Rampe war leer. Der weisse Peugeot stand auf der für ihn reservierten Fläche.

„Niemand auf der Rampe, aber der Peugeot ist wieder hier, also muss auch Yeva irgendwo hier sein.“

„Hallo, hört ihr uns? Yeva? Lea?“

„Ich geh mal in die Küche.“, sagte Kahil. Er begann zu rennen. Im Empfangsareal drehte er nach links und rannte den Flur, der in die Küche führte, hinab. Er sah schon von weitem, dass die Tür zur Küche zu war. Das war sehr eigenartig, weil die Tür eigentlich an der Wand arretiert war und man sie bewusst aus der Verankerung lösen musste, wenn man sie schliessen wollte. Von alleine fiel sie nicht zu.

„Hier stimmt was nicht, Guillaume. Die Küchentür ist zu.“

Bei der Tür angekommen, legte Kahil sein Ohr an die Tür, doch sie war zu dick und schallisoliert, als dass er etwas gehört hätte. Er kniete sich nieder und spähte durch das Schlüsselloch. In dem Moment spürte er, wie eine Last von ihm fiel. Er sah die Silhouette von Lea, die neben Palms stand. Kahil atmete auf.

„Alles in Ordnung, Guillaume. Sie sind in der Küche, haben wahrscheinlich einfach den Begleiter ausgeschaltet, weil sie alle zusammen sind.“, sagte Kahil, während er sich wieder in die Aufrechte hoch stemmte.

„Okay. Mach mir doch schon mal einen Kaffee, wenn du magst; den brauche ich jetzt. Bin in fünf Minuten bei euch.“

„Kein Problem. Bis gleich!“, antwortete Kahil. Dann knipste er den Begleiter aus und zog ihn vom Ohr ab. Er steckte das Gerät in die Hosentasche. Danach öffnete er die Tür. Er trat in die Küche. Am Tisch sassen Henk und seine beiden Leibgardisten. Palms stand mit Helena und Lea vor dem Kochherd. Doch in der fernen Ecke der Küche stand ein Mann, den Kahil nicht kannte. Obwohl Kahil eindeutig nicht zu übersehen war, blickte niemand ihn an. Im Gegenteil, sie schienen ihn alle zu ignorieren. Was ist hier los?, dachte Kahil. Als der Mann in der Ecke ihn jedoch sah, schrie dieser plötzlich auf wie ein Wahnsinniger.

„Packt den Mann dort!“ Seine Stimme überschlug sich, was dem Ganze eine hysterische Note verlieh.

Kahils Verstand versuchte zu erfassen, was hier vor sich ging. Aber einen Bruchteil einer Sekunde später rannten alle im Raum auf ihn zu. Verbissen. Henk stiess einen Stuhl um, um schneller an ihn heran zu kommen, und Lea fixierte ihn, als sei er ihr Erzfeind. Yeva war als Erste bei ihm. Sie packte ihn an seinem Baumwollhemd.

„Was ist los?“, bellte Kahil. „Was soll das?“

Jetzt war auch Henk bei ihm. Dieser grabschte ihn grob am Handgelenk.

„Bringt ihn zu mir!“, rief der Mann aus der Ecke. Er hantierte an einem Gerät herum. Kahil blickte hin und her, von Yeva zu dem Mann und wieder zurück. Was spielte sich hier ab? Yeva und Henk eskortierten ihn wie einen Gefangenen zu dem Mann, quer durch die Küche, zogen an ihm wie an einem störrischen Esel.

„Lea, was ist hier los?“, fragte Kahil. Sie war hinter ihm. Aber Lea beachtete ihn nicht. Im Gegenteil, sie würdigte ihn keines Blickes. Kahil versuchte sich los zu schütteln, aber weder Yeva noch Henk lockerten den Griff. Dann waren sie bei dem Mann angekommen.

„Gleich wirst du die Wahrheit sehen!“, sagte dieser. Seine Augen schielten, so dass Kahil nicht sicher war, ob er ihn ansah oder irgendwo an die Decke starrte. Er hob das Gerät in seinen Händen auf Brusthöhe hoch.

„Was hast du mit meinen Freunden getan? Was ist das für ein Gerät?“, fragte Kahil. Seine Augen begannen zu brennen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm jemand Gewalt antun wollte. Wenn er nur den Begleiter nicht in die Hosentasche versorgt hätte, dachte Kahil, dann hätte er wenigstens Guillaume warnen können.

„Deine Welt wird ein klein wenig zu wackeln beginnen, aber nachher wird alles gut. Besser, als es jetzt ist!“, sagte der Mann.

Kahil sah, wie sein Daumen auf eine Taste auf dem Gerät zusteuerte. Es war nicht schwierig vom Verhalten von Yeva, Lea und den anderen auf die Wirkung des Teils zu schliessen. Es schien Menschen zu manipulieren, ihren Willen auszulöschen. Dass so etwas überhaupt möglich war, hätte Kahil auf‘s schärfste bezweifelt. Aber hier stand er. Lea war eindeutig nicht mehr sich selbst, Yeva behandelte ihn wie einen Verbrecher und Palms stand daneben und unternahm nichts. Und in einer halben Sekunde würde er ihr Schicksal zweifelsohne zu teilen beginnen. Kahils Augen brannten jetzt wie glühende Eisenstäbe in der vorderen Schädelhälfte.

Er musste etwas tun. Blitzschnelle Gedankenabläufe schossen ihm durch‘s Gehirn. Keine Gewalt, hallte seine eigene Einsicht durch den Schädel. Keine Gewalt! Doch wie befreite man sich ohne Gewalt aus einer solchen Lage? Die Fülle der Gedanken, die ihm in diesem kurzen Moment durch den Kopf zogen, war furchteinflössend.

Dann entschied er sich, musste sich entschliessen. Er liess keinen weiteren Augenblick verstreichen. Seinem Gewissen würde er später Rechenschaft ablegen. Blitzartig hob Kahil seinen Fuss und kickte den Mann zwischen die Beine.

Dieser liess fast in Zeitlupe das Gerät fallen, während ihm seine Beine unter dem Körper wegsackten. Er landete auf den Knien, als bete er zu Gott. Gleichzeitig zog Kahil hastig seine Arme aus der Umklammerung und schaffte es so, sich aus dem Griff von Yeva und Henk zu lösen. Dann stürmte er vorwärts an dem Mann auf den Knien vorbei ins Büro. Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss um. Weder Henk noch Yeva waren ihm nachgerannt. Sie waren wie Marionetten, die ohne ihren Puppenspieler keine Initiative zu ergreifen schienen.

Kahil dachte nicht nach, sondern ging sofort zum Fenster. Jetzt zählte nur eins: weg von dem Mann und herausfinden, was zum Teufel hier los war.

Er öffnete das Fenster, indem er seinen Passepartout in das Fensterschloss steckte und aufschloss. Alles im Auffanglager konnte ab- und aufgeschlossen werden, das war von den Architekten von Anfang an so geplant worden. Dann zog er den Fensterflügel auf und stieg mit Hilfe eines Stuhles aus dem Gebäude.

Kahil blickte um sich. Sein Kopf fühlte sich wie eine Autobahn an. Wohin? Die Stechpalmen-, Efeu- und Wegwarten-Teams hatten auf dem Gelände zwar ihre eigenen Wohnblocks, aber mit all den Anschlägen, die momentan stattfanden, konnte er sie nicht stören. Es war ein Wachholder-Problem und das Wachholder-Team würde die Sache bereinigen. Die Aufmerksamkeit der anderen Teams durfte nicht für anderweitige Dinge abgezogen werden; zu viele Menschenleben standen auf dem Spiel.

Der Wächter beim Gate, war sein nächster Gedanke. Dort war er erstmal in Sicherheit und konnte dann Guillaume, Luc und Danielle verständigen. Ohne weitere Ideen abzuwarten, sprintete er über den Vorplatz in Richtung des Wachhäuschens bei den Barrieren. In weiter Ferne hinter den Feldern sah er die Militärpatrouille, die als letzte Bastion die Leute von dem Auffanglager abhielt. Doch es war niemand dort, ausser den Soldaten. Wahrscheinlich wurden die Demonstranten und Schaulustigen von einer Patrouille weiter vorne angefangen, dachte Kahil während des Rennens. Doch dann waren seine Gedanken sofort wieder bei Lea. Was hatte der Typ mit ihr gemacht? Und mit Helena und Palms? Es war ihm ein Rätsel.

Die Sicherheit des Wachhäuschens lag noch zwanzig Meter weit entfernt. Kahil blickte hinter sich. Er wusste, dass der Mann seine Flucht nicht einfach tolerieren würde, wenn der Typ denn überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen konnte, denn Kahil hatte ihm tüchtig eins in die Nüsse geschlagen. Doch tatsächlich liefen vierzig Meter hinter ihm Yeva und Henk auf ihn zu. Er verstand die Logik der Situation immer noch nicht, aber der Mann hatte den beiden - wie auch immer - einen neuen Befehl erteilt und hatte sie unter Kontrolle.

Jetzt zählte jede Sekunde. Kahil beschleunigte seinen Sprint auf den letzten zehn Metern noch einmal. Er musste die Wache warnen, vielleicht selbst einen Tazer ergattern, um sich zu wehren. Seine Füsse spulten auf dem Kies.

Es war absurd auch nur in Gedanken darüber nachzudenken Yeva mit einem Tazer zu begegnen. Und doch war es Yeva gewesen, die ihn dem Mann vorgeführt hatte. Sie war nicht sich selbst, wobei es das nicht einfacher machte, Yeva mit einem Tazer zu bedrohen. Bei der Wachhütte angekommen, rannte Kahil fast die Türe ein.

„Wir wurden infiltriert ... ich brauche einen Tazer ... schnell!“, sagte er ausser Atem.

Der Wachmann sass hinter der Computerkonsole, hob ruhig den Kopf. Er liess sich erstmal nicht aus der Ruhe bringen. Trotzdem schien er gehört zu haben, was Kahil gesagt hatte. Er griff sich an seinen Gürtel und nahm den Tazer hervor. Man hörte wie Yeva und Henk auf dem Kies heran gerannt kamen.

„Schnell! Sie kommen!“, sagte Kahil, den Mann mit untermauernden Gesten zu mehr Tempo antreibend.

Der Wachmann erhob sich. Er hatte immer noch kein Wort gesagt. Entweder er ist fantastisch gut und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, dachte Kahil, oder er ist eine totale Flasche. Doch dann richtete der Mann innerhalb einer halben Sekunde die elektrische Waffe auf ihn und drückte ab.

Kahil spürte, wie die kleinen Metallspitzen durch seine Kleidung drangen und sich in seine Haut verkrallten. Im selben Moment wurde er von einer unsichtbaren Welle geschlagen, die seinen ganzen Körper scharf ergriff und in eine schmerzhafte Erstarrung brachte. Plötzlich waren seine Muskeln wie aus Stein, hart und unbeweglich. Selbst atmen konnte er nicht mehr. Die Sinne wurden unscharf. Verdammt, dachte er.

Er bekam nur noch am Rande mit, wie Yeva und Henk das Wachhäuschen betraten, ihm die Metallteile von der Haut lösten und ihn mit Handschellen versahen.

Als Kahil zehn Sekunden später wieder klarer denken konnte, ging sein erster Gedanke zu Guillaume, der jetzt, genau so wie er, ungewarnt in die Bedrouille geraten würde. Doch dann liess die Wirkung des Elektroschlags nach und Kahil begann sich zu wehren. Wahrscheinlich hatte er nicht die volle Dosis des Tazers angekriegt. Kahil schrie aus ganzer Lunge: „Yeva! Was soll das? Hör auf!“

Doch Yeva zerrte ihn an den Handschellen einfach aus dem Häuschen. Ihr Blick war kalt. „Halt‘s Maul! Du wirst die Wahrheit auch noch lernen zu sehen!“, zischte sie.

Kahil glaubte sich verhört zu haben. „Was?“

„Klappe!“, schnauzte Yeva. Sie zog ihn wieder auf den Wachholder-Wohnblock zu. Kahil blickte nervös um sich. Die Soldaten weiter vorne standen gelangweilt herum, hatten nichts zu tun, waren aber zu weit weg, als dass es Sinn gemacht hätte, sie um Hilfe zu rufen.

Die Muskeln schmerzten immer noch, sonst wäre das Davonlaufen wohl die beste Lösung gewesen. Doch mit derart reduzierter Muskelkraft war das unterwürfige Mittrotten das einzige, was er tun konnte.

 

19.10 Uhr

 

Guillaume zeigte nach links. „Einfach dort hinter dem Lagerhaus nach links halten. Das Auffanglager steht hundert Meter nördlich der Nord-Startbahn. Wir sind gleich da.“

„Ich wusste gar nicht, dass man so nah an die Startbahn heran fahren kann ...“

„Doch, doch, das kleine Dorf Epiais lès Louvres ist ebenfalls ganz in der Nähe der Startbahn.“, antwortete er.

Die Militärpatrouille war jetzt zu sehen.

„Dort hinten ist es, sehen Sie? Fahren sie einfach zu dem Checkpoint dort, den Rest kann ich gehen ...“

„Kommt nicht in Frage. Ich fahre Sie bis zu dem Lager. Nur, weil Sie keine Schmerzen mehr spüren, heisst das noch lange nicht, dass Sie schon wieder über die Stränge schlagen können.“ Sie lächelte.

Bei der Patrouille angelangt kurbelte sie das Fenster hinunter.

„Ich bringe einen angeschlagenen Mitarbeiter der ATO ins Lager dort ...“

Der Soldat musterte sie und warf einen Blick uns Wageninnere.

„Ausweis?“

Guillaume zückte den ATO-Ausweis und hielt ihn dem Soldaten unter die Nase. Er betrachtete ihn, zuerst vorne, dann hinten. Schliesslich nickte er.

„Gut. Sie können durch!“

Die Strasse wurde frei gemacht. Die Krankenschwester fuhr die vielleicht sechzig holprigen Meter bis zum Auffanglager langsam und vorsichtig, dabei musste sie mindestens zwei Schlaglöchern ausweichen, die das tiefgelegte blaue Toyota-Taxi kaum ohne grösseren Schaden überstanden hätte. Als sie bei der Schranke ankamen, hielt sie den Wagen erneut an.

„Ich denke wir brauchen ihren Ausweis noch einmal ...“, sagte sie leicht zu Guillaume hinüber gebeugt. Das Fenster war immer noch unten.

Der Wachmann trat aus dem Häuschen. Guillaume streckte ihm seinen Ausweis entgegen. Doch dann begann der Alptraum. Der Wachmann nahm eine Waffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer hervor und schoss ohne zu zögern viermal auf die Frau neben Guillaume. Guillaumes Herz blieb fast stehen. Was sollte das? Seine Instinkte übernahmen sofort das Ruder. Als der erste Schuss fiel, öffnete er automatisch die Türe und rollte Kopf voran aus dem Toyota. Den zweiten, dritten und vierten Schuss hörte er, als er hektisch auf dem Kies spulte und sich hinter dem Wagen verkroch.

Die Frau, die ihn im Wald aufgegabelt hatte, machte keinen Wank mehr. Kein Laut kam aus dem Inneren des Wagens; sie musste schon vom ersten Schuss tödlich verletzt worden sein. Wieso trifft es immer die Unschuldigen? Immer die Guten? Die Fragen waren Reflexe seines Geistes.

Guillaume hörte wie der Mann um den Wagen herum ging. Als ehemaliger Polizist erkannte er verschiedene Waffen meist auf Anhieb. Diese jedenfalls hatte er sofort erkannt. Der Wachmann trug eine Walther P22 mit einem Stangenmagazin, welches serienmässig zehn Schüsse hielt. Vier hatte er verschossen.

Guillaume fühlte sich in die eigene Vergangenheit zurück gesetzt. War er nicht gerade hier, an genau diesem Fleck, vor rund zwei Stunden von Philippe Broccart mit einer Waffe bedroht worden und dann entführt worden? Konnte das überhaupt sein, dass man innerhalb von so kurzer Zeit zweimal so einen Mist durchleben musste?

Die Schritte kamen näher. Der Mann würde jeden Moment hinter der Motorhaube auftauchen und zweifellos auf ihn schiessen. Guillaume robbte synchron mit den Schritten hinter den Kofferraum. Dann griff er an seinen Gürtel, wo der Tazer gesichert hing. Broccart hatte ihm den Tazer abgenommen und auf dem Hintersitz des Taxis liegen lassen, als er ihn im Wald exekutieren wollte. Guillaume hatte ihn vor fünfzehn Minuten wieder an den Gürtel gesteckt.

Plötzlich wurde die Situation zu einem Duell. Guillaume, der jetzt mit schussbereiter Waffe halb unter das Auto gerobbt war und unterhalb des Hinterrads wie ein jagender Adler nur in eine Richtung starrte, hatte den Tazer entsichert. Zeigefinger am Auslöser. Was war bloss in den Mann gefahren? Verdammt, was war mit der Welt los? Gab es überall nur noch Wahnsinnige?

Guillaume würgte sein eigenes Denken ab, bis nur noch pure Aufmerksamkeit übrig war. Dann gab es eine kurze Ewigkeit destillierter Stille, in der Guillaume jede Bewegung mit einem Schuss des Tazers quittieren würde. Der Wachmann tauchte in seinem Sichtfeld auf. Guillaume drückte ohne auch nur einen Moment lang zu zögern ab. Ein weiterer Schuss fiel aus der Walther P22 und bohrte sich auf Höhe der Hintersitze durch das blaue Blech des Toyotas. Guillaume hatte so etwas erwartet, weil die plötzliche Verkrampfung der Muskulatur auch den Finger am Auslöser tangierte. Der Uniformierte in ATO-Uniform fiel zuckend zu Boden. Hastig robbte Guillaume unter dem Auto hervor und nahm dem Mann die Waffe ab. Dann zog er ihm die Handschellen an, zog ihn zum Häuschen und kettete ihn an derselben Heizung an, wo noch vor kurzem Yeva angekettet gewesen war. Ohne zu verschnaufen, tippte Guillaume an seinen Begleiter.

„Kahil, bist du da?“

Keine Antwort. Nur das Stöhnen des Wachmanns neben ihm war zu hören.

„Kahil?“

Nichts.

„Guillaume an Wachholder. Hört mich jemand? Yeva? Lea?“

Scheisse, dachte er. Was ist hier bloss los? Er blickte auf den Bildschirm in Wachhäuschen.

Arrival-Alert, Guillaume Giroux, 2987, stand in roten Buchstaben dort.

Nichts deutete auf etwas hin, das nicht stimmen könnte. Dann wandte Guillaume sich dem Wachmann zu.

„Was ist hier los? Hast du eine Schraube locker? Wieso schiesst du auf uns und tötest eine Frau kaltblütig? Du wirst den Rest deines Lebens hinter Gittern verbringen! Arschloch!“

Der Mann blickte ihn unbeeindruckt an. Als gehöre er einer anderen Welt an. „Deine Welt wird sowieso nicht mehr lang weiter existieren. Und wenn mein Meister dich erwischt, wird er dich den Hunden zum Frass vorwerfen!“

Guillaume schaute den Mann am Boden an. „Hast du nicht alle Tassen im Schrank?“

Er kickte gegen die Wand. Das ganze Gebäude wackelte.

„Wir werden ja sehen, wer hier richtig tickt und wer nicht ...“, erwiderte die Wache. Der Mann atmete laut aus, als sei er empört.

Guillaume tat einen Schritt aus dem Häuschen. Der Typ war eindeutig nicht mehr bei Sinnen, schien nur halb zu realisieren, was er getan hatte. War das das nächste Stadium im Terror? Dass Halbzombies durch die Welt streiften und willkürlich Leute abknallten, ohne recht zu verstehen, was sie eigentlich taten?

Guillaume berührte noch einmal seinen Begleiter. „Hallo? Wachholder?“

Doch nur die kalte Stille der digitalen Welt war zu hören. Er wartete fünf Sekunden, dann ging er los und auf den Wachholder-Wohnblock zu. Den Blick musste er von der toten Krankenschwester im Auto abwenden, als er an dem Wagen vorbei ging. Vor fünf Minuten hatte sie ihm noch von ihrem Chef erzählt, dem sie heute zum Geburtstag eine Überraschung machen würde. Und jetzt lag sie starr in einem Taxi. Die Welt war mehr als am Durchdrehen. Jetzt ragte der Terror bereits in die eigenen Reihen hinein; in die Organisation, die doch eigentlich all dem Wahnsinn ein Ende hätte bereiten sollen.

 

19.15 Uhr

 

Tom Varese wachte erholt auf und blickte um sich. Es war der vierte Tag seit seinem missglückten Anschlag. Die Kerze, die er auf Anraten seiner Zähne angezündet hatte, brannte noch immer, nur war sie jetzt deutlich kleiner. Draussen war es am Eindunkeln. Tom rollte aus dem Bett und machte sich zum Badezimmer-Spiegel auf. Seine Zähne strahlten in kräftigem Weiss. Er öffnete halb den Mund und starrte sie an. Hatten sie ihm den Misstritt verziehen? Jeden Tag schienen sie ein wenig besser gelaunt, ein wenig mehr in der Stimmung ihm sein Versagen zu vergeben. Tom tat etwas Zahnpasta auf seine Zahnbürste und begann die Zähne zum achten Mal heute zu putzen. Sie erzählten etwas über eine Gelegenheit, die Dinge wieder gut machen zu können; er müsse nur aufmerksam sein, sagten die Zähne. Tom war froh, dass sie sich einer weiteren Kommunikation nicht länger verschlossen. Er spülte seinen Mund mit einem Bakterien vernichtenden Mundwasser, das Lea ihm besorgt hatte, als sie gemerkt hatte, wie wichtig es ihm war. Dann blickte er auf seine goldene Uhr. Es war viertel nach sieben. Einen Moment lang war er irritiert. Normalerweise wurde hier doch um sieben das Essen serviert? Tom spürte seinen Magen. Der knurrte zwar noch nicht, aber eine Füllung war bitter nötig. Und seine Zähne wollten etwas zum Kauen, das nahm er deutlich wahr.

Er verliess das Badezimmer, löschte die Kerze mit einem kräftigen Pusten aus und begab sich zum Fenster in der Tür, um in den Gang spähen zu können. Es war Essenszeit, merkten die dummen Menschen hier das nicht?

Im Flur war es dunkel. Das war untypisch. Tom klopfte an die Tür. „Hallo? Essenszeit!“, rief er durch die Tür.

Doch er erhielt keine Antwort. Entnervt packte er die Tür an der Türfalle und begann daran rum zu rütteln. Doch anstatt den Widerstand der abgeschlossenen Tür zu spüren, ging die Tür beim ersten Rütteln sofort auf.

Tom hielt inne. Hatten die Dummen vergessen seine Tür abzuschliessen? Seine Gedanken rasten sofort zur Bemerkung seiner Zähne, die brav in seinem Kurzzeitgedächtnis wartete. Eine Gelegenheit würde sich ergeben, hatten sie gesagt. Tom fühlte einen Schwall an Dankbarkeit und Freude, der ihm durch die Wirbelsäule aufstieg und sich im ganzen Körper ausbreitete. Bevor er etwas weiteres tat, streichelte er über seinen Unterkiefer. Eine Liebkosung für seine Zähne.

Dann öffnete er behutsam die Tür. Für einmal war er froh, dass es ein neues und teuer gebautes Gebäude war: die Türe quietschte kein bisschen. Kein Knarren, nicht der Spur nach, alles gut geölt und neu. Er horchte. Nichts war zu hören. Die Freiheit lag plötzlich in erreichbarer Nähe. Die Dummen, sagte Tom zu sich selbst. Er spürte, wie selbst seine Zähne im Mund über die Dummheit der ATO lachten. Doch dann zwang er sich zur Besonnenheit. Er wollte seine Zähne kein zweites Mal enttäuschen; diesmal würde er auf Nummer sicher gehen und nichts vermasseln. Zuerst musste er die Situation besser erfassen.

Tom ging auf Zehenspitzen und in den Socken durch den Flur. Einfach keine Geräusche verursachen, sagte er sich selbst immer wieder. Er ging bis ins Empfangsareal. Auch dort war niemand. Aus der Küche hörte er Stimmen. Doch es war nicht das Geräusch von Stimmen, das er normalerweise hier hörte. Üblicherweise waren die Stimmen hier besonnen, ruhig und ausgeglichen, etwas, das er sofort als Strategie entlarvt hatte; eine Strategie, angewandt um Leute wie ihn gefügig zu machen. Aber die Gesprächsfetzen, die jetzt an sein Ohr drangen, waren aufgebracht. Es waren zwei Männerstimmen. Tom pirschte durch den langen Gang, der zur Küche führte. Je näher er kam, desto mehr erkannte er die eine Stimme. Sie gehörte Kahil, dem Mann, der immer so tat, als sei er ein Freund. Das war eine weitere Strategie, die die Leute hier benutzten. Alles Lügen. Instrumentalisiertes Verhalten, das ihn weich kochen sollte. Es kotzte ihn an.

Tom hielt inne und tauchte in das Gespräch, das er jetzt deutlich vernahm, ein. Und dann realisierte er es: das war kein herkömmliches Gespräch, das war ein Verhör, nur dass Kahil nicht der Verhörende war, sondern derjenige war, der durch die Mangel gedreht wurde.

Die Tür zur Küche war halb offen. Tom sah niemanden, wusste aber sofort, dass er die andere Stimme nicht kannte. Er fand sie spontan sympathisch. Vielleicht hatte das zwar nur damit zu tun, dass sie Kahil übergeordnet war, aber sie war eindeutig nett, fand Tom.

Plötzlich hörte er, wie die Glastür im Empfangsareal zu fiel. Jemand kam. Tom blickte um sich. Er musste sich verstecken. Auf seiner Höhe gab es einen Wandschrank. Das einzige Versteck weit und breit. Ohne einen weiteren Moment verstreichen zu lassen, öffnete er die Holztüren des Schranks. Die eine Seite war mit Regalen gefüllt, wo alles von Vasen über Putzlappen gelagert wurde, die andere Seite war für Besen und ähnliches gedacht. Ein Staubsauger stand neben einem Mopp. Rasch kletterte Tom in den Schrank, stellte sich zwischen Putzgeräte und Wand. Er hatte ganz knapp Platz. Dann zog er die Schranktür zu, liess aber einen Spalt offen, damit er unauffällig heraus spähen konnte.

Viel zu lange passierte gar nichts. Es gab keine weiteren Geräusche, als ob die zugefallene Tür ein einsamer Vorfall in einer leeren Welt gewesen war. Hätte Tom das Geräusch vorher nicht so klar ausmachen können, hätte er jetzt an seinem Verstand gezweifelt. Nichts geschah.

Doch dann, aus heiterem Himmel, schlich ein Mann an dem Wandschrank vorbei. Tom sah ihn aus seinem Spalt nur von hinten. Er trug einen Verband am Arm. Ein anderer Gefangener, fragte sich Tom. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Ein Gefangener würde nicht ins Gebäude kommen, sondern es verlassen. Weiter nachdenken musste er auch nicht mehr, denn in dem Moment erkannte er den Mann: Guillaume, der Bastard, der ihn hierher gebracht hatte.

 

19.20 Uhr

 

Kahil war wieder auf den Knien. Genauso, wie er es zehn Minuten früher auch schon gewesen war. Der Mann mit dem Gerät vor ihm war bleich. Nachwirkungen des Tritts in die Kronjuwelen. Doch er schien keinen Zentimeter von seinem Plan abweichen zu wollen.

„Es wird bald vorbei sein.“, sagte er. „Du erhältst, wie Henk, die volle Dosis. Danach wird deine Welt der Wahrheit entsprechen.“

„Du meinst, danach werde ich ein genau so willenloser Sklave sein, wie meine Freunde hier?“, antwortete Kahil.

Er versuchte Zeit zu kaufen. Irgendetwas musste er tun. Zum x-ten Mal zog er an den Kevlar-Handschellen vor seinem Bauch, doch die Dinger gaben keinen Millimeter nach.

„Wo hast du das Scheiss-Gerät überhaupt her? Aus einem geheimen Militär-Labor abgestaubt? Ist ein Wunder, dass du das Ding überhaupt bedienen kannst bei deiner fehlenden Intelligenz ...“

Kaum hatte er das gesagt, wurde sein Kopf von hinten kraftvoll an den Haaren gepackt und verdreht. Kahil blickte zurück und nach oben. Henk schaute ihn aus der Höhe herab mit verkrampften Gesichtszügen an.

„Den König zu beleidigen, spricht auch nicht von einem erleuchteten Geist, Theke! Noch ein Wort und ich breche dir das Genick!“ Er hielt den Griff zwei Sekunden aufrecht, um zu unterstreichen, dass er es meinte.

„Beruhig dich ... schon gut ...“, sagte Kahil. Henk liess wieder locker.

Der Möchtegern-König klopfte mit den Fingern auf das Gehäuse des Geräts.

„Er wird unsere Vision bald teilen. Lass ihn, Leibgardist!“, sagte er. Dann hob er das Gerät und richtete es auf Kahils Kopf.

„Nein!“, schrie Kahil. „Das kannst du nicht tun!“ Er begann seinen Kopf und seinen ganzen Oberkörper heftig hin und her zu werfen.

„Halt ihn still!“, sagte er nun scharf. Kahil spürte, wie sich der Griff hinten in seinem Nacken wieder verstärkte, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Henk hatte die Kraft eines Triathlon-Weltmeisters. Aus diesem Würgegriff gab es trotz Kahils eigener Kraft kein Entkommen. Kahil stellten sich alle Nackenhaare einzeln auf.

Doch dann gab es plötzlich einen Knall. Die Eingangstüre der Küche wurde grob aufgetreten. Als nächstes hörte Kahil die bekannte Stimme von Guillaume.

„Lass ihn los!“ Der B-Team Agent stand mit erhobenem Tazer da; die Waffe auf Henk gerichtet. Kahil drehte ihm den Kopf halb zu.

„Sie wurden alle manipuliert, Guillaume! Sie sind nicht sich selbst ...“, rief er. Während er Guillaume warnte, benutzte er die kurze Verwirrung um Henk an dem einen Unterarm zu packen. Das ging trotz Handschellen gerade gut genug. Mit aller Kraft zog er ihn nach vorne und schaffte es, ihn über die eigene Schulter zu werfen. Henk krachte vor ihm auf den Boden und schrie laut auf, als seine Hand sich in einem dummen Winkel auf dem Grund aufstützte und abknickte. Er rollte sich ab und hielt sich danach sofort mit der anderen Hand die abgeknickte. Kahil packte die Chance beim Schopf und kickte Henk mit dem Fuss ins Gesicht. Dieser schwankte kurz, dann wurde er bewusstlos.

„Packt sie!“, schrie Melbar. Er wurde hektisch, fummelte wild an den Knöpfen seines Geräts herum und versuchte zu zielen, was Kahil ihm aber erschwerte, weil er sich durch geschickte Bewegungen aus der Schusslinie brachte. Tam und Terry rannten wie Roboter auf Kahil zu, kaum hatte Melbar den Befehl erteilt. Yeva und Lea folgten seinen Worten genauso schnell und steuerten verbissen Guillaume an.

„Bleibt stehen, oder ich muss schiessen!“, sprach Guillaume die beiden Frauen an, doch das zeigte null Wirkung.

„Verdammt!“, sagte er verzweifelt. Dann schoss er auf Yeva, die ihm in einem Zweikampf deutlich mehr Probleme gemacht hätte als Lea. Lea, als Sozialarbeiterin, hatte kaum einen Schwarzgurt im Aikido und Strassenkampf-Erfahrung so wie Yeva.

Die Pfeilspitzen mit den dünnen Kabeln bohrten sich durch Yevas Kleidung. Ihr Körper begann zu zittern. Sie fiel mit einem dumpfen, erstickten Schrei zu Boden. Der Anblick liess Guillaumes Herz weinen, doch was hätte er anderes tun können? Im nächsten Augenblick kam Lea bei Guillaume an und versuchte verbittert ihn an den Haaren zu ziehen und in den Arm zu beissen. Guillaume wich aus, machte zwei Schritte zu Yeva, nahm ihr ihre Kevlar-Handschellen ab und stellte sich dann der tobenden Lea gegenüber. Mit sicheren Bewegungen verdrehte er ihr den Arm.

Lea schrie. Sie hieb mit der freien Hand nach ihm, wo sie konnte. Doch zwei Sekunden später hatte sie die Handschellen an den Handgelenken und war keine Gefahr mehr. Sie heulte auf wie eine enttäuschte Furie. Guillaume liess sie links liegen.

Yeva würde sich die nächsten zwei Minuten noch nicht ungehemmt bewegen können. Er blickte zu Kahil hinüber, der kurz davor war von Tam und Terry überwältigt zu werden. Mit vier grossen Schritten war er bei den Kämpfenden. Der Tazer hatte eine zweite Ladung Pfeilspitzen, danach war die Waffe unbrauchbar, aber das wussten die Männer ja nicht.

„Aufhören, oder ich schiesse!“, rief Guillaume drohend.

Tam und Terry drehten sich um, starrten auf die Waffe. Kahil nutzte den Moment und zog Tam von hinten die Handschellen an, die er immer am Gürtel trug. Es ging zu schnell, als dass Tam sich hätte wehren können. Ein Leben auf den Strassen von Tripoli hatte Kahil schnell und wenn es darauf ankam knallhart gemacht.

„Nimm dem Typen das Gerät ab!“, sagte Guillaume, die Waffe jetzt auf Terry gerichtet. Henk lag immer noch regungslos auf dem Boden neben der Wand.

 

19.25 Uhr

 

Es war nicht schwierig eins und eins zusammen zu zählen. Tom beobachtete die Auseinandersetzung zwischen Guillaume und Kahil und all den anderen mit wachsender Faszination. Der Türspalt gab ihm einen perfekten Überblick. Aber zugleich war er entsetzt, als er realisierte, dass die beiden Männer die Oberhand gewannen. Was hier geschah, war selbstredend. Lea, die Männer in schwarzer Kleidung und Yeva hatten die Wahrheit entdeckt. Genau so wie er, damals in dem Bistro in Paris. Sie waren jetzt auf seiner Seite, verstanden, dass es nur eine Lösung gab. Aber Guillaume und Kahil waren offensichtlich weiterhin dem Widerstand treu.

Tom dachte nach. Ein Gedanke jagte den nächsten. Allein war er den Männern kein Gegner. Seine Rettungsaktion wäre vorbei, bevor sie angefangen hätte. Eine Waffe hatte er keine. Also gab es nur eines: er brauchte Hilfe. Innerlich ging er die anderen Gefangen durch, die ihm im Kampf beistehen könnten. Der alte Mien Dang Gao, der dickliche Jean Vurieux, der neue zerbrechliche Student Theo - sie alle wären keine Hilfe. Doch dann dachte er an Takashi; ein durchtrainierter Karateka. Das war es.

Tom zog die Socken aus, schmiss sie in den Putzschrank. Barfuss, weil er so nicht auf dem glatten Boden umher rutschte, rannte er den Gang zurück zum Empfangsareal und von dort aus geradewegs zu den Zimmern. Takashi war sein Zellnachbar, deswegen wusste er, welches Zimmer er ansteuern musste. Angekommen, guckte er kurz durch das Fenster. Takashi las ein Buch. Er sass mit geradem Rücken auf der Bettkante. Dass der keine Rückenschmerzen kriegt, dachte Tom. Dann ging er drei Schritte nach links, zog den Schlüssel aus dem Schloss seiner eigenen Zellentür und öffnete damit Takashis Tür.

„Was ist los? Wieso hast du einen Schlüssel?“, fragte dieser, von seinem Buch aufblickend.

„Die Wärter haben es erkannt!“, flüsterte Tom.

Takashi flüsterte zurück. „Wer hat was erkannt?“

„Lea und Yeva, sie spüren die Wahrheit und haben versucht Guillaume und Kahil zu überwältigen, aber sie haben es nicht geschafft. Sie brauchen unsere Hilfe. Komm, schnell!“

Es dauerte vielleicht zwei Sekunden bis Takashi verstand. Dann stand er auf und holte aus der Ecke sein Traineroberteil vom Stuhl.

„Wo sind sie?“, fragte er, während er das synthetische Jäckchen anzog.

„In der Küche. Wir können uns unterwegs mit Besen bewaffnen.“

Takashi blickte Tom wie einen Schuljungen an.

„Ich brauche keinen Besen. Ich habe die hier!“ Er hob demonstrativ die Fäuste. Er liess die Fäuste zweimal kurz hintereinander durch die Luft sausen. Tom konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Alles würde gut werden. Seine Zähne hatten es schon immer gewusst, nur er hatte nicht genug Vertrauen gehabt. Doch jetzt begann er wieder daran zu glauben.

„Das ist unsere Chance! Wir können alles wieder gerade biegen, was wir vermasselt haben. Gehen wir?“, fragte Tom.

Takashi stülpte seinen zweiten Turnschuh über und zog die Schuhbändel beim Binden fest an.

„Auf geht‘s!“

Ohne auf Tom zu warten, sprintete Takashi aus dem Zimmer in Richtung der Küche. Tom gab sein bestes ihm an den Fersen zu kleben, doch die Distanz zwischen ihnen wurde mit jedem Schritt grösser, und erst als Takashi vor der Küche sein Tempo reduzierte, konnte Tom ihn wieder einholen.

„Scheisse, bist du schnell!“, flüsterte Tom ihm ausser Atem zu.

Takashi schien keine Zeit verlieren zu wollen. Er zog die Tür auf und trat in die Küche. Tom sprach zu seinen Zähnen: „Ich verstecke mich nicht mehr. Ich werde für die Zukunft kämpfen! Treu bis zum Sieg!“ Er folgte Takashi, wenn auch mit einem Klumpen Angst im Magen. Er schritt in die Küche und positionierte sich wie ein Schlachtenbummler neben dem Japaner. Es war erstaunlich, wie viel Mut er in sich spürte, einfach weil er neben Takashi stand. Stärke war ansteckend.

Die Situation in der Küche präsentierte sich wie eine Verhaftungsszene bei einer Razzia. Überall Handschellen, einander bedrohende Menschen und ein wildes Geschrei.

 

19.27 Uhr

 

Kahil versuchte an Melbar ranzukommen. Aber das war leichter gesagt als getan. Der Prinz verteilte geschickte Fauststösse und richtete den Strahl des Geräts immer wieder auf Guillaume oder Kahil, was ein andauerndes Rotieren verursachte.

Plötzlich schrie Lea laut auf. „Takashi, Tom, helft mir. Ich hab einen Handschellen-Schlüssel in meiner Hosentasche. Schnell!“

Bevor Guillaume etwas dagegen tun konnte, war Takashi bei Lea und steckte seine Hand in ihre Hosentasche. Kurz darauf war sie frei. Den Befehl immer noch in ihrem Unterbewusstsein raste sie sofort auf Guillaume zu, um ihn zu attackieren, wie ein kleiner Terrier, der den Kampf gegen einen viel grösseren Hund ohne zu zögern aufnahm, einfach weil er über Generationen dazu gezüchtet worden war.

Terry nutzte die Ablenkung. Er rannte ebenfalls auf Guillaume, der immer noch den Tazer in der Hand hatte, zu. Guillaume starrte auf Lea, die heran preschte. Terry bemerkte er zunächst nicht. Noch zwei Meter fehlten diesem, doch dann sah Guillaume ihn aus dem Augenwinkel, drehte sich und feuerte die Waffe ab. Wie in einem Zeitraffer sah er wie die kleinen Geschosse aus der Verankerung losschossen und wie eine kleine Armee auf Terry zu flogen. Genau das hatte Terry jedoch erwartet. Im richtigen Moment wuchtete er seinen Mantel den fliegenden Pfeilgeschossen entgegen und benutzte ihn so als Schutzschild. Die Spitzen bohrten sich in den Mantel oder perlten daran ab und fielen zu Boden. Terry kriegte nichts ab.

Dann stand er vor Guillaume. Er platzierte ihm einen sauberen Fauststoss auf den Brustkasten. Guillaume schaffte es im letzten Moment abzuwehren, war aber einfach nicht sein altes Selbst. Der Schmerzmittel-Cocktail in seiner Blutbahn machte ihn langsamer und träger, als er es eigentlich war, und der Blutverlust, den er durch den Schuss beim letzten Einsatz erlitten hatte, tat den Rest. Guillaume konnte dem zweiten Fauststoss nichts mehr entgegen setzen. Er traf ihn am Wangenknochen. Sein Sehfeld wurde schwarz, er musste sich an der Wand abstützen.

„Guillaume!“, schrie Kahil. Er stürzte zu seinem Freund hinüber.

Oliver Palms und Helena sassen die ganze Zeit über unbeteiligt am Tisch und verfolgten die Sache wie ein Tennisspiel. Ohne direkte Anweisung von Melbar wurde nichts getan.

Terry stellte sich Kahil in den Weg, was einen erbitterten Zweikampf zur Folge hatte. Kahils Strassenkampf-Erfahrung gegen Terrys Ausbildung als Leibgarde. Die Fäuste flogen hin und her, ohne dass jemand die Überhand kriegte. Tom registrierte die Chance sofort. Er stürzte sich zu den beiden heran und begann Kahil von hinten an den Haaren zu Boden zu ziehen.

Einen Augenblick später war alles vorbei. Kahil lag auf dem Boden mit Terry und Tom halb auf ihm. Tam gesellte sich in Handschellen dazu und setzte sich auf Kahils Beine, so dass er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Kahil sah aus dem Augenwinkel, wie Melbar einen Schritt zu ihm herantrat und das Gerät auf seinen Kopf richtete.

„Nein!“, schrie er. Doch dann wurde er von einem gewaltigen Strudel der Einsamkeit und Verwirrung ergriffen, der die eigene Seele so aufrüttelte, dass Kahil nach zwei Sekunden nicht mehr hätte sagen können, wer er war oder wofür er lebte. Melbar hatte abgedrückt.

Gleichzeitig zog Lea dem am Boden kauernden Guillaume, der sich immer noch benebelt den Kopf hielt, die Handschellen an, die sie erst gerade noch selbst angehabt hatte. Guillaume wehrte sich nicht. Seine Welt war durch den Schlag an den Kopf so sehr aus den Fugen geraten, dass er links nicht mehr von rechts unterscheiden konnte. Er hätte sich vor Schwindel sowieso kaum auf den Füssen halten können. Insofern kriegte er es auch kaum mit, wie Melbar sich mit dem Gerät vor ihm positionierte und ihn - mit einem kranken Lächeln im Gesicht - mit der vollen Dosis bestrahlte. Guillaume fiel in Ohnmacht.

 

20.00 Uhr

 

Was vor einer halben Stunde arg nach einem Schlachtfeld ausgesehen hatte, sah jetzt zivilisiert und freundlich aus. Takashi beobachtete, ohne Schlüsse zu ziehen. Jahrelange Zen-Meditationen hatten in ihm die Fähigkeit zum stillen Zusehen herangebildet. Kommentare aus seinem Inneren kamen nur noch selten zum Vorschein und wenn, dann behandelte Takashi sie, wie nach Süssigkeiten stürmende Kinder an der Kasse im Supermarkt. Mit anderen Worten: er ignorierte sie.

Die Küche war voll von Leuten. König Melbar, wie er sich selbst offiziell betitelte, hatte Lea den Auftrag gegeben alle Gefangenen aus ihren Zimmern zu holen und in die Küche zu bringen, damit er eine Ansprache halten konnte.

Und genau diese dauerte jetzt bereits zwanzig Minuten. Palms, Helena und das Wachholder-Team sassen um den Tisch. Henk, zwischenzeitlich wieder bei Bewusstsein, Terry und Tam standen an der Wand, und die Gefangenen der ATO - Mien Dang Gao, Theo, Jean, als auch etliche andere, die Takashi noch nicht beim Namen kannte, sassen wie Spielgruppen-Kinder auf dem Boden und hörten begierig den Worten des Königs zu. Takashi selbst hatte sich auf die Kommode gesetzt, wo das Geschirr und das Besteck aufbewahrt wurden.

„... der Planet will Ruhe und nur die gierigen Menschen erlauben ihm nicht diese Ruhe zu finden. Deshalb müssen wir die Menschheit, wie sie jetzt ist, zum Teufel schicken, und danach eine neue Menschheit Fuss fassen lassen.“

Er unterbrach sich selbst. „Habt ihr gehört? Fuss fassen lassen, ist das nicht lustig wie das tönt? Fuss fassen lassen ...“ Er fand seinen eigenen Humor prächtig, lachte wie eine wiehernde Hyäne.

Dann fasste er sich wieder, begann aber während des Weitersprechens in Intervallen auf seinen Fingernägeln zu kauen.

„Und die neue Menschheit wird nur einen König verehren: mich! Ich werde dafür sorgen, dass es nie wieder zu einer Menschheit wie der jetzigen kommt. Zusammen werden wir die herrschende Klasse sein und die anderen - die wenigen Überlebenden - ganz klitzeklein halten!“

Das nervöse Kauen an den Fingerkuppen machte keinen königlichen Eindruck, hatte eher etwas verzweifeltes. Takashi nippte an dem Grüntee, den er sich vor zehn Minuten gebraut hatte, und der jetzt lange genug gezogen hatte. Schön bitter, wie er ihn liebte. Und bei weitem geschmacksvoller als Fingernägel.

Er hörte dem König aufmerksam zu. In seiner Seele regte sich begeisterter Beifall, trotz dem nervösem Gekaue, das Takashi gründlich auf den Senkel ging. Doch irgendwie fühlte sich dieser Beifall nicht nach Takashi an, fand er. Die Begeisterung hatte etwas Gauklerisches, als wolle sie unbedingt überzeugen. Wurde er jetzt total schizophren, fragte er sich. Die Sache fühlte sich einfach nicht nach ihm selbst an. Aber wer war er schon?

Wenn ihn seine jahrelange Meditationserfahrung eins gelehrt hatte, dann, dass sein Selbstbild eine trügerische Angelegenheit war. Nur die Unerfahrenen wussten, wer sie selbst waren. Je mehr ein Mensch sich mit der eigenen Wirklichkeit anfreundete, desto mehr verstand er, dass er nicht wusste, wer er wirklich war. So vieles war Schein, Illusion, Einbildung. Aber so sehr Takashi nicht wusste, wer er wirklich war, so wusste er doch eindeutig, wer und wie er nicht war. Und der Beifall in der eigenen Innenwelt fühlte sich nicht richtig an. Unwahr, hätte sein Karate Meister das Gefühl wohl genannt.

Melbar sprach weiter; von einem Leben im Einklang mit der Natur und ohne Technik, vom Luxus, den man nur geniessen könne, wenn der Planet nicht so überbevölkert sei.

Takashi sah Lea an, die wie hypnotisiert am Tisch sass und jedes Wort des Mannes förmlich auflechzte. Sie sah so gar nicht mehr nach der Lea aus, die mit ihm Schach gespielt hatte, die ihm einen Tee an sein Bett gebracht hatte, die ihn im Ping-Pong fast jedes Mal schlug. Er nahm einen weiteren Schluck Tee.

 

Kulisse.

 

Plötzlich hörte er in sich drinnen dieses Wort. Kulisse. Irritiert stellte er die Teetasse hin. Was sollte das? Bleib bei der reinen Aufmerksamkeit, Junge, sagte Takashi zu sich selbst.

Kulisse. Wieder. Er sah das Bild einer Theaterbühne. Ein Heer von Blumensträussen verstellte die Bühne, so dass man das eigentliche Bühnenbild gar nicht mehr sah.

Kulisse, wiederholte sein Gehirn das Wort, als sei es ein Wiederkäuer. Wieso bewarf sein Unbewusstes ihn mit willkürlichen Worten und Vorstellungen von Theaterbühnen? Er hatte null Bezug zum Theater oder zu Bühnenbildern. Takashi ignorierte das innere Geplapper, aber jetzt begann er sich wirklich zu sorgen. Wurde er tatsächlich schizophren? Waren das nicht alles Anzeichen dafür? Das Gefühl unechte Gefühle zu fühlen, eine Stimme in seinem Inneren, die ihm willkürlich Worte eintrichterte? Takashi richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem nervösen König zu. Wenigstens versuchte er das ...

Melbar verstrickte sich immer tiefer in seine eigenen Ausführungen, doch das schien niemandem etwas auszumachen.

„Seid ihr bereit für den nächsten Teil des grossen Planes?“, fragte Melbar.

Alle Anwesenden schienen von den Ausführungen total verzaubert zu sein. Er erhielt mindestens fünf Ja-Antworten. Takashi musterte die Leute kritisch. War er schizophren oder waren es alle hier drinnen? Wie kam es, dass diese Leute sich plötzlich alle wie Kindergärtner verhielten? Er hatte immer Mühe damit, wenn Leute ihre Selbstdarstellungen zu offensichtlich grossartig fanden, und Melbar schien sich absolut fantastisch zu finden. Aber vielleicht war es auch einfach seine japanische Bescheidenheit, die so eine Liebe für die eigene Grösse einfach nicht nachvollziehen konnte.

Melbar entwarf in seinem weiteren Monolog ein immer komplexeres Weltbild, aber er verstrickte sich dabei. Er wollte den totalen Luxus und gleichzeitig die Natur. Er wollte die Menschheit dezimieren, aber Arbeiter halten, die ihm seinen Luxus bereitstellten. Die Sache ging nicht auf.

Erneut hörte Takashi das Wort in seinem Kopf. Kulisse. Versuchte sein Unterbewusstsein ihm etwas zu sagen?

„Jetzt kommen wir aber zu dem, das wirklich zählt, mein Volk! Die Taten! Es gibt keine Veränderungen ohne Handlungen. Manche von euch haben ja bereits mit der Umsetzung des grossen Planes angefangen, bis ihr von der Lüge gestoppt wurdet. Ihr habt Anschläge geplant und sie durchführen wollen, doch dann wurdet ihr gehindert. Das wird in Zukunft nicht mehr geschehen, dafür wollen wir heute sorgen. Jetzt, wo ihr die Wahrheit gesehen habt, werden wir gemeinsam der ATO den Grund unter den Füssen wegziehen, bis uns nichts mehr daran hindert, die Menschheit langsam aber sicher auszurotten. Die alte Menschheit, wie ihr jetzt versteht!“

Palms lächelte. Takashi liess seinen Blick noch einmal über die Gesichter der Anwesenden gleiten. Was war hier geschehen? Hatten sie alle plötzlich die gleiche Vision gehabt? Palms, der die ganze Strategie geplant hatte, war einfach so von einer Sekunde auf die andere von seinem Plan abgewichen und glaubte jetzt den Ausführungen König Melbars?

Takashi dachte an seine eigene Erleuchtung zurück. Es war wahr, solche Dinge konnten aus heiterem Himmel kommen und alte Überzeugungen ohne Widerstand hinweg schwemmen. Vielleicht war es einfach eine Idee, deren Zeit gekommen war? Was hatte Kahil in der Gruppenstunde vor zwei Tagen gesagt? Mindestens vier Gefangene hier hatten ihre Ideen am selben Ort und am selben Tag gehabt. Der Geist weht, wo er will. Takashi dachte an das Zitat aus dem Johannes-Evangelium, welches ihn vor Jahren intensiv beschäftigt hatte, als er es in einem Marketingplan verwendet hatte. Vielleicht waren mit dem Ausspruch genau solche Dinge gemeint und der Geist wehte an jenem Tag in einem Bistro an der Rue Balzac?

Melbar kam immer mehr in Fahrt.

„Jetzt können wir den Unterschied machen! Ich habe alles vorbereitet! Ihr müsst nur noch in die Welt ziehen und eure Anschläge gnadenlos durchziehen. Und die ehemaligen Mitarbeiter der ATO ... ihr könnt diese teuflische Organisation von innen her auflösen. Nietet diese ATO-Agenten um wo und wann immer ihr sie seht! Wir können jetzt gleich loslegen! Gibt es in dieser Überbauung nicht noch andere ATO-Einheiten? Leute, die wir sofort erledigen können?“

Lea stand auf. „Sicher! Es gibt die Efeu-, die Stechpalmen- und die Wegwarten-Teams. Alle haben ihr eigenes Gebäude. Wir können sie locker übermannen! Die rechnen nicht mit der Kraft der Wahrheit! Und erst recht nicht mit so vielen Wahrheitskämpfern ...“

Yeva erhob sich. „Lasst uns in den Kampf ziehen!“

Melbars Augen begannen zu leuchten. Genauso hatte er sich die Sache vorgestellt.

„Und ihr dürft keine Gnade kennen! Kein Mitleid zeigen!“, krächzte er entzückt.

Henk streckte seinen Arm gen Himmel. „Ich werde sie anführen, mein König!“

Jetzt kam Leben in die kindlichen Augen der am Boden Sitzenden. Sie erhoben sich, seltsam orchestriert, als bewegten sie sich zum Schlag eines unsichtbaren Dirigenten. Selbst Mien Dang Gao, der auf keinen Fall genug Englisch konnte, um die Rede des Monarchen zu verstehen, war jetzt auf den Beinen. Alle sprachen durcheinander, entweder zu ihren Nachbarn oder zu sich selbst; es war ein Tumult. Dann hörte man Henk, wie er die Meute anzuführen begann: „Folgt mir!“

Doch bevor er aus der Küche stürmte, drehte er sich noch einmal um.

„König Melbar, würdest du uns in die Schlacht führen?“

Das hatte Melbar kaum erwartet, aber unter dem Druck von zig Augenpaaren, die ihn hoffnungsvoll anstarrten, antwortete er seiner Rolle getreu.

„Ich führe euch in die letzte Schlacht!“, schrie er.

Dann wehte er an der Kommode, auf der Takashi sass, vorbei und preschte Faust erhoben der Meute voran.

Zwanzig Sekunden später war Takashi alleine in der Küche. Kulisse, hörte er sein Inneres wiederum das Wort betonen. Alles ist eine Kulisse.

Takashi schlug sich selbst mit der Handfläche auf die Stirn. „Was willst du mir sagen? Sprich Klartext!“

Er hüpfte von der Kommode und blickte aus dem Fenster. Die mordgierige Meute kam gerade die Rampe herunter. Sie johlten. Ein Zug voller Verrückter. Angeführt von einem Nervösen.

Takashi stand am Fenster. Wieso konnte er ihren Enthusiasmus nicht teilen? Hatte seine Vision ihn verlassen? Er dachte zurück an all die Gedanken, die er sich gemacht hatte. Dass er es den Reichen hatte zeigen wollen und dass er für die Armen einen Unterschied hatte machen wollen. Ging es Melbar nicht genau um das? Und er sprang jetzt im entscheidenden Moment vom Boot und liess die Verbündeten alleine kämpfen?

Kulisse! Kulisse!

Er schlug seinen Kopf gegen die Scheibe. „Hör auf! Lass mich!“ Doch zu wem sprach er? War seine Vernunft baden gegangen? Planschte irgendwo fröhlich in einem Becken und hatte ihn verlassen?

„Scheisse!“, sagte Takashi. Dann fasste er den Entschluss. Er musste ihnen helfen, seine Mission zu einem erfolgreichen Ende bringen. Vielleicht war sein Verstand am Durchdrehen, weil er die Sache noch nicht zu Ende gebracht hatte. Mit raschen Schritten ging er der Türe zu, doch dann blieb sein Blick beim Fenstersims hängen. Was war das?

Er hielt inne und ging zum Sims auf der gegenüber liegenden Seite der Fensterfront hinüber. Es war Melbars Gerät, dasjenige, das er bei Kahil und Guillaume angewandt hatte. Er hatte gesagt, es vertreibe die Lüge.

Takashi nahm es in die Hände, drehte es um. Auf der Hinterseite klebte eine Etikette, auf der sieben Buchstaben in verbundener Schrift standen: Kulisse.

Takashis Herz setzte kurz aus. Wenn die Innenwelt plötzlich auf die Aussenwelt trifft, wird die Welt als Ganzes aufgerüttelt. Konnte das sein? Als er sich wieder gefasst hatte, inspizierte er das Gerät gründlicher. Es gab zwei Schieberegler, drei Haupt-Knöpfe, drei kleinere Schalter auf der Vorderseite und dann einen grossen Gummi-Knopf mit der Aufschrift Fire.

Die Regler gingen von null bis hundert Prozent und waren alle beschriftet. Der linke war mit dem Wort Intensity der rechte mit Angle bezeichnet. Takashis Englisch war bei weitem gut genug dafür, dass er die beiden Begriffe sofort übersetzen konnte: Intensität und Winkel. Die drei grösseren Knöpfe waren in ihrer Funktion unschwer zu erkennen: Record, Play und Stop. Und tatsächlich war oben am Gerät ein kleines Mikrophon auszumachen. Die kleineren Schalter, deren es ebenfalls drei gab, waren weniger klar verständlich. Introduce, Force und Undo stand unter den schwarzen Schaltern. Takashi drehte das Gerät in alle Richtungen. Wieso hatte es einen Kleber mit der Aufschrift Kulisse? Was tat es? Er inspizierte die Rückseite genauer. Ganz unten hatte das Gerät einen eingravierten Namen: Jaczek Szorovsky Inventions.

Takashi hatte den Namen der Firma noch nie gehört, wobei das nicht gross verwunderlich war, da sein Fachgebiet eher im Bereich Hüft- und Knieimplantate lag.

Etwas stimmte ihn skeptisch. Dass das Gerät ausgerechnet das Wort auf der Etikette hatte, das ihm über die letzten zwanzig Minuten im Geist herum irrte, musste einen Grund haben.

Ohne weiter nachzudenken, ging Takashi mit dem Gerät ins Büro von Lea und Kahil. Er setzte sich an den Computer und öffnete eine Suchmaschine. Dann gab er den Namen der Firma ein: Jaczek Szorovsky Inventions. Es gab nur drei Einträge, was als Resultat für eine Internetsuche eher unwahrscheinlich war. Der oberste Eintrag war ein Artikel einer polnischen Zeitung, den Takashi erst gar nicht öffnete. Der zweite Eintrag stammte aus einem Blog namens Polish Freedom and Resistance Blog. Takashi klickte den Link an.

 

Jaczek Szorovsky, Erfinder und Computer-Genie wird in Warschau ermordet. Die Polizei steht vor einem Rätsel.

 

Mein Freund Jaczek wurde gestern tot in der Herrentoilette am Bahnhof in unserer Hauptstadt gefunden. Wer würde Jaczek etwas Böses tun wollen? Er war friedfertig, lebte nur für seine Forschungen und hat nie in seinem Leben einer Fliege etwas zu Leide getan. Warum? Ich weine, während ich diesen Blog-Eintrag schreibe. Gestern morgen tranken wir noch Kaffee. Er erzählte mir von seiner neuen Erfindung, die die Welt aufwirbeln würde, mehr sagte er nicht. Ich werde wohl nie herausbekommen, was er damit gemeint hat.

 

Die Beerdigung findet morgen statt. Bis dann weine ich. RIP Jaczek!

 

Im nächsten Augenblick war es, als würde Takashi mit der Auflösung eines Rätsels beschenkt, an dem er seit Monaten intensiv gearbeitet hatte.

Der Blog-Eintrag war etwas mehr als vier Jahre alt. Das war genau die Zeit gewesen, als der Terror weltweit von heute auf morgen Dimensionen angenommen hatte, die bis dahin als undenkbar gegolten hatten. Es gab nur eine Erklärung: Melbar war der Urheber des Terrors! Das war es. Deshalb hatten er, Mien Dang Gao, Jean und Tom alle gleichzeitig denselben Gedanken im selben Bistro gefasst. Es war nicht der Geist, der wehte, wo er wollte, sondern Melbar, der in dem Bistro gewesen war und Jaczeks Erfindung gegen sie verwendet hatte. Scheisse, dachte Takashi. Melbar hatte nicht die Lüge aus Guillaume und Kahil entfernt, sondern die Lüge mit Hilfe dieses Geräts installiert. Verdammt!

Takashi schielte auf das Gerät hinab. Dann drückte er die Play Taste. Sofort begann er Melbars Stimme zu hören.

 

Es gibt nur eine Lösung für diese Welt. Die Lösung ist der Terror. Wir müssen die Menschheit aufhalten, bevor sie den Planeten tötet. Jeder tote Mensch, ist eine Gefahr weniger und ein Chance für die Zukunft. Wir müssen Terroristen sein, keine Gnade kennen und hart zuschlagen. Allen Gedanken, die dieser Einsicht widersprechen, verwehren wir den Zugang zu unserem Bewusstsein. Wir bekämpfen diese Gedanken genau so, wie wir die Menschheit mit terroristischen Anschlägen bekämpfen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir beginnen jetzt und heute.

 

Takashi blieb eine halbe Minute lang erschlagen am Pult vor dem PC sitzen. Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Er war manipuliert worden, und hätten Yeva und Guillaume ihn nicht daran gehindert, wäre er heute ein Massenmörder. Die Erkenntnisse purzelten nur so in seinen Geist. Die Wahrheit wird euch frei machen, dachte er. Genau das spürte er jetzt bis in die hintersten Regionen seines Seins. Die Wahrheit reinigte ihn, sonderte die Lüge aus. Plötzlich verstand Takashi nicht einmal mehr, wie er in allem Ernst solche Gedanken überhaupt hatte ernst nehmen können. Eine rote Wut stieg aus seinem Bauch auf. Eine Wut auf Melbar und auf dieses teuflische Gerät.

Er hob es hoch und wollte es voller Wucht auf den Boden schmettern, als er plötzlich innehielt. Das Gerät hatte einen Knopf namens Undo. Abrupt stoppte er seine Armbewegung.

Dann ging alles ganz schnell. Takashi stand auf und rannte so schnell er konnte aus dem Büro, durch die Küche, von dort aus durch den Gang ins Empfangsareal und dann die Rampe herunter. Das nächste Gebäude war vielleicht fünfzig Meter weit vom Wachholder-Block entfernt. Takashi sprintete über den mit Kies belegten Vorplatz zur Rampe des Efeu-Blocks. Alle Gebäude hatten denselben Aufbau. Kannte man sich in einem Wohnblock aus, kannte man alle.

Er rannte die Rampe hoch, das Gerät in sicherem Griff, damit es auf keinen Fall runterfiel und im entscheidenden Augenblick kaputt ging. Durch die Glasfront des Empfangsareals sah er, was er befürchtet hatte. Ein Mann lag in einer Blutlache am Boden. Takashi öffnete die Tür. Er hörte Schreie, die aus dem unteren Geschoss kamen. Wahrscheinlich hatten die ATO-Mitarbeiter sich dort in den Zimmern eingeschlossen. Er kniete sich kurz neben den Mann am Boden und suchte einen Puls. Doch der Mann war tot.

Fuck!, sagte Takashi. Einen Moment später spurtete er den Zimmern der Kunden entlang bis zum Treppenhaus, das in den unteren Stock führte. Dann sah er sie. Wie ein Rudel hungrige Wölfe standen sie vor einer Tür und versuchten sie einzuschlagen. Sie flockten sich um die Tür und feuerten Henk, der sie mit seinen Schultern bearbeitete, an. In ihren Augen gehörte er immer noch zu ihnen, deshalb musste Takashi nicht weiter aufpassen.

Er blickte die Menschentraube an und richtete dann seinen Blick auf das Gerät, wo er die Taste Undo auf ON schaltete. Die Tasten Introduce und Force legte er so um, dass ein kleines OFF zu sehen war. Dann betrachtete er die beiden Regler. Angle und Intensity. Er liess den Intensity-Regler auf einhundert Prozent. Was er mit dem Angle-Regler tun sollte war ihm nicht ganz klar. Momentan stand auch dieser auf hundert Prozent. Takashi schloss daraus, dass das Gerät in dieser Konfiguration einen gebündelten Strahl aussandte, der nur für einen Menschen gedacht war. Wahrscheinlich war das die sicherste Variante; wenig Streuverlust.

Dann hörte er plötzlich Melbars Stimme.

„Du! Bring mir mein Gerät!“, schrie er. Alle drehten sich Takashi zu. Dieser blieb wie angefroren stehen. Fünfzehn Augenpaare waren auf ihn gerichtet und sahen ihn an. Niemand lächelte, nur starre Visagen.

Er hatte einen Moment zu lange gezögert.

„Nehmt ihm mein Gerät weg, Soldaten!“, schrie Melbar heiser.

Yeva und Mien Dang Gao standen ihm am nächsten. Mit wütenden Blicken setzten sie sich in Bewegung. Takashi rannte zurück zur Treppe. Das Gerät durfte auf keinen Fall zurück in die Hände von Melbar fallen. Aber was konnte er alleine gegen so viele Wahnsinnige ausrichten? Bei der Treppe angekommen, stiess er den Angle-Regler auf siebzig Prozent hinunter, erhoffte sich dadurch einen Streuwinkel von vielleicht dreissig Grad, was in dem engen Flur reichen sollte. Dann drehte er sich um und konfrontierte die vor Kampfeslust fast schon sabbernde Meute.

Takashi hob das Gerät auf Brusthöhe, richtete es auf die Rennenden - denen vielleicht noch sechs Schritte fehlten, bis sie ihn erreicht hatten - und drückte auf den einzigen Knopf, den er noch nicht manipuliert hatte. Fire.

Es folgte ein leises Summen und Vibrieren. Wenigstens tut es was, dachte Takashi, noch nicht ganz von seinem Plan überzeugt. Doch konnte er etwas anderes tun? Die Sache musste jetzt und hier beendet werden. Und entweder dieser Versuch kostete ihn sein Leben, oder er hatte Erfolg.

In dem Moment, wo der unsichtbare Strahl des Geräts auf Yeva und Mien Dang Gao traf, geschah etwas, das Takashi nie so erwartet hätte. Mit absoluter Verzweiflung schrieen sie gleichzeitig auf, als wären sie im Bruchteil einer Sekunde auf einer Folterbank gelandet. Dann versagten ihnen die Knie und sie fielen zu Boden, ohne dass sie auch nur den Versuch unternahmen sich aufzustützen. Wie bei einer Kettenreaktion setzte sich der Effekt bei den zwei hinter ihnen Rennenden fort. Guillaume und Jean heulten auf und krachten zu Boden. Dann Lea und Tam, Terry und Tom.

Sollte es so etwas wie das letzte Gericht geben, so stellte Takashi sich den Fall der Schuldigen in etwa so vor. Sie fielen aus der Gier nach Blut in die tiefste Verzweiflung, scheinbar ohne Übergang. Zwei Sekunden später lagen alle am Boden und wimmerten. Ganz hinten vor der Tür stand nur noch Melbar. Den absoluten Terror in den Augen. „Nein!“, jammerte er. Doch dann verspannte sich sein ganzer Körper und in grossen Schritten hechtete er auf Takashi zu. Wut, Angst und Hass zugleich im Blick. Unterwegs trat er auf die Umherliegenden. Er nahm keine Rücksicht, hatte nur eins im Sinn: sein Gerät zurück zu erobern.

Takashi legte das Gerät auf eine Treppenstufe hinter sich. Bei Melbar gab es nichts, was er mit einer Undo-Taste wieder zurechtrücken konnte. Nein, hier gab es nur einen Weg aus der Misere. Er musste das Gerät mit seinem Leben verteidigen. Sein jahrelanges Karate-Training musste heute seine Früchte unter Beweis stellen. Schaffte er es den Mann vor seinem eigenen Wahnsinn zu schützen? Konnte er ihn so abfertigen, dass er ihn nicht verletzen musste, aber trotzdem daran hindern konnte das Gerät wieder in die Hände zu bekommen?

Melbar legte die letzten zwei Meter mit einem Schrei in der Kehle zurück. Er stürzte sich auf Takashi, als gehe es um sein Leben. Purer Wahnsinn lag ihm im Gesicht.

Takashi tat einen instinktiven Schritt nach hinten auf die nächste Treppenstufe. Dann legte er die Wucht und Intensität von tausend trainierten Tritten in seinen rechten Fuss und kickte Melbar seitlich in die Gallengegend. Der Fuss sauste so schnell an Melbar heran, dass dieser dem Fuss nicht einmal den Ansatz einer Abwehr entgegenhalten konnte. Melbar spürte nur, wie ihm plötzlich die Luft weg blieb. Sein ganzer Bauch fühlte sich an, als sei eine Bombe in seinen Eingeweiden explodiert. Dann kippte er röchelnd zu Boden.

akashi stieg über den Gefallenen und ging zu Lea, an deren Gürtel die Kevlar-Handschellen hingen. Lea selbst war nicht ansprechbar, sie gab zwar Laute von sich, doch diese waren unverständlich, als habe sie einen Fiebertraum. Er nahm ihr die Handschellen vom Gürtel. Eine Minute später hatte er sie Melbar umgelegt und er selbst sass auf der Treppe. Er fühlte sich wie nach einem bösen Alptraum: gerädert und gerupft.

 

 

 

 

11 Tage nach „Tag X“

 

WORLD TERROR UPDATE

 

Paris, Frankreich

 

Die ATO berichtet in einer PR-Meldung von einem grossen Erfolg in der Terror-Bekämpfung. Laut Aussagen des Mediensprechers wurde einer der Haupt-Drahtzieher des organisierten Terrors gestern in Paris verhaftet.

 

Oliver Palms, der Nobelpreisträger, ist guter Hoffnung, dass der Terror damit entscheidend geschwächt wurde.

 

Zeitgleich wurde Paris von sieben Anschlägen erschüttert. Mindestens zweiundvierzig Anschläge wurden in Paris aber von der ATO vereitelt.

 

 

New York, 11 Tage nach „Tag X“

 

Als Pete aufwachte, hörte er im Wohnzimmer Geräusche. Ein Schaben. Er wusste sofort, um was es sich handelte, und musste nicht weit denken. Mittlerweile hatte er es so oft gehört, dass er es für den Rest seines Lebens sofort erkennen würde.

Er zog sich an, ging in die Küche, um ein Glas Milch hinunter zu stürzen, und tauchte dann im Wohnzimmer auf.

„Guten Morgen.“, sagte er.

Henk sass gemütlich auf dem dunkelroten Sofa, das Livia vor rund drei Jahren in einer Designer Gallery aufgestöbert hatte. Am Boden lagen Holzspäne und Sägemehl, das von den Partien des Kunstwerks stammte, die schon einigermassen fertig waren und von Henk mit Schleifpapier bearbeitet wurden.

„Bist du bereit?“, fragte Henk, während er weiter schliff.

„Bereiter werde ich nie sein. Alles oder Nichts!“

„Dann können wir aufbrechen.“

„Und wenn ich gewinne, muss Liv diesem Tam nicht dienen, sondern darf mit mir zurück in unsere Welt kommen?“

Henk zog die Augenbrauen hoch. „Theke, deine Freundin ist schon seit mehr als einem halben Jahr Tams Dienerin. Wir sind in der Zukunft, hast du das vergessen?“

Pete hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füssen wackle. Doch dann gab er sich einen innerlichen Stoss; die Vergangenheit konnte er nicht ändern, jetzt ging es nur darum Liv aus dieser Misere zu holen, egal ob aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft. Diese Leute waren wie sie waren, und die eigene Wut oder das eigene Unverständnis würden das nie ändern. Er schluckte die Wut und den Stolz hinunter.

Henk versorgte das Stück Holz in seinem Mantelsack, erhob sich und machte zwei Schritte zum Teppich vor dem Fenster. Dort legte er vorsichtig das Sprungtuch hin, wobei er es an den Ecken glatt zog.

„Und die Späne lässt du liegen?“, fragte Pete.

„Wenn du gewinnst und zurück kommst, werden die Späne dich nicht stören. Wenn du verlierst und zurück kommst, wirst du von der Brücke springen, dann stören sie dich genau so wenig ...“

Pete musste ein wenig schmunzeln. So anders Henk und seine Welt waren, sie hatten in ihrer Weise die Welt zu sehen doch etwas nüchtern-charmantes an sich.

„Ich nehme an, ich springe zuerst?“

„So ist es.“

Pete ging zum Tuch und platzierte seine Füsse so, dass der Vorderteil der Schuhe fast an dem Tuch ankam. Das war es also. Bald würde sein Leben mit einer Niederlage enden oder mit einem Sieg neu beginnen. Pete holte Luft, ging in die Knie und sprang. Für Liv, war sein letzter Gedanke.

 

Die Ankunft war genau wie das letzte Mal. Er schien in ein dickflüssiges Magnetfeld zu springen und sah zwei Meter unter sich festen Boden. Mit schwerfälligen Bewegungen schwamm er quasi auf die Erde hinunter und tat, unten angekommen, in Zeitlupe einen Fuss vor den anderen bis er aus der Macht des Kraftfelds entlassen wurde.

Terry wartete bereits auf ihn.

„Sei gegrüsst, Pete, der Theke!“

Pete nickte ihm zu. Neugierig drehte er sich dann dem Kraftfeld zu, um zu beobachten, wie Henk die Landung bewerkstelligte. Dieser tauchte wie aus dem Nichts auf und liess sich dann andächtig nach unten gleiten. Kaum hatte er Bodenkontakt schritt er elegant, wenn auch langsam, dem Ausgang zu. Es war augenscheinlich, wer hier zuhause war.

„Das Duell beginnt in zehn Minuten, Theke. Lass uns direkt zum Schauplatz gehen.“

Ohne anzuhalten ging Henk an ihm vorbei und voraus. Pete folgte ihm. Er merkte, wie viel einfacher es war in dieser Welt zu Kräften zu kommen und aufzuwachen - schliesslich war er vor fünfzehn Minuten noch im Bett gewesen - die Luft hier war so frisch, dass sie sich wie pure Lebensenergie anfühlte. Doch nicht nur die Luft fiel ihm sofort wieder auf, sondern auch die milden Sinneseindrücke, die verspielten Mäuerchen, Hecken und Blumenbeete, die Skulpturen, die die Wege zierten, und dann natürlich der Geruch des Süsswassers von all den Kanälen, der die Luft durchtränkte.

„Ein Schauplatz?“, fragte Pete während des Gehens.

„Ja. Solche Ereignisse sind bei uns immer öffentlich und stossen auf grosses Interesse in der Bevölkerung. Unsere Landsleute lieben es, wenn die Duellierenden sich selbst Höchstleistungen abringen müssen, weil in diesen Situationen schon so manches Kunstwerk mit dauerndem Wert entstanden ist.“

„Wie viele Menschen werden dort sein?“

„Ich weiss es nicht, Theke. Der Schauplatz lässt sich gut mit zehntausend Seelen füllen, aber ich bezweifle, dass so viele Leute den Weg nach Taaah unter das Floss genommen haben.“

Pete folgte dem Mann im langen schwarzen Mantel danach einige Minuten lang still. Der Weg schlängelte sich jetzt durch einen Wald, wobei alle fünfzig Meter oder so ein kleines offenes Hüttchen aus Holz mit vergoldetem Dach stand.

„Für was sind diese Hütten?“

Henk drehte sich kurz um und ging einige Schritte rückwärts.

„Es sind Stätten, wo man zur Besinnung kommen kann.“

Sie waren sicher schon fünf Minuten unterwegs. Pete spürte ein Kribbeln im Bauch, ein sich ankündigendes Lampenfieber.

„Wie lange gehen wir noch bis zum Schauplatz?“

„Nicht mehr weit, Theke.“, sagte Henk laut.

„Ist Tam schon dort?“

„Sicher. Tam nimmt das Duell sehr ernst. Du willst ihm seine erste Dienerin wegnehmen, dagegen wird er sich mit all seiner Kraft wehren. Er bereitet sich auf den Kampf vor, nehme ich an.“

Plötzlich hörte Pete weiter vorne mehrere Stimmen; erst wie ein undefinierbares Raunen, wenig später erkannte er Gesprächsfetzen. Der Waldweg vor ihnen stieg etwas an und eröffnete einem, oben angekommen, eine spektakuläre Szenerie. Ähnlich einem römischen Amphitheater lag vor ihnen, wie in einem künstlichen Tal liegend, ein grosses Bauwerk, mit breiten Treppen, auf denen schon tausende von Menschen sassen. Unten in der Mitte des runden Theaters gab es eine Bühne, wo zwei Stühle und zwei Tische bereit standen.

„Hier ist der Schauplatz, Theke. Komm, ich führe dich ins Areal für die Duellierenden.“

Henk ging nun eine vielleicht zwei Fuss breite Treppe hinunter, die die breiten Sitz-Treppen durchfurchte.

„Finden bei euch oft solche Duelle statt?“, fragte Pete, vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend, damit er die steile Treppe nicht herunter segelte.

„Ja, wir lieben Turniere und Duelle.“, kam diesmal von hinten die Antwort. Pete hatte ganz ausgeblendet, dass Terry ja die ganze Zeit hinter ihm her ging.

Unten angekommen führte Henk ihn in eine Unterbauung, dort durch zwei steinerne Gänge, und schliesslich in ein Zimmer, welches einen Direktzugang zur Bühne zu haben schien. Eine steile Wendeltreppe war am Ende des Raums; dass sie zur Bühne führte, malte Pete sich einfach so aus.

„Hier sind wir. Du kannst hier noch kurz zur Ruhe kommen, bevor das Duell losgeht. Der Zeremonien-Meister wird dich dann abholen und dir alles erklären.“

„Und wer entscheidet darüber, wer der Gewinner sein wird?“

„Das Lied ...“, sagte Henk. Er blickte Pete zwei, drei Sekunden an, dann nickte er ihm zu und verliess ohne ein weiteres Wort den Raum. Pete blickte ihm nach.

Einige Minuten lang war er alleine. Er wanderte das kleine Zimmer in alle Richtungen ab, während ihm Gedanken über das nahende Duell durch den Kopf huschten. Alles, was er unter dem Wort Duell verstand, hatte mit irgendwelchen Filmszenen zu tun. Duell, das hiess für ihn zwei Männer, die sich mit einem Florett gegenüber standen und sich gegenseitig aufzuspiessen versuchten. Meist ging es um die eigene Ehre oder um eine Frau. Genau wie bei ihm heute, wo es um Livia ging. Des Mannes Kampf um die Frau ... wie viel Blut war seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte dafür geflossen? Und ausgerechnet er - Pete, der magere Journalist, der früher im Pausenhof immer als Zweiter entwürdigt davon gezogen war - sollte heute ein Duell austragen und wohl oder übel Blut vergiessen?

Absurd. Das war das einzige Wort, das passte.

So friedlich diese Welt und die Stadt Taaah anmuteten, so sehr steckten sie eben doch noch im Mittelalter fest. In einer zivilisierten Welt gab es doch keine Duelle mehr. Oder doch? Pete dachte an die organisierten Hahnenkämpfe, die überall auf dem Planeten im Verborgenen immer noch ausgetragen wurden. Trotz internationaler Verbote riskierten die Männer Haftstrafen, einfach damit sie duellierenden Hähnen beim Kämpfen zusehen konnten. Vielleicht hatte sich die eigene Welt zuhause ja auch nicht so sehr weiterentwickelt, seit die Römer in den Arenen Sklaven aufeinander losgehen liessen. Vielleicht gehörte das Duell und die Schaulust der Zuschauer einfach zum Menschsein dazu?

Pete setzte sich auf den einzigen Stuhl, der in der Mitte des Zimmers von der Decke hing.

Dann ging die Türe auf. Herein kam ein älterer Mann mit grauen Haaren. Er trug eine königsblaue Uniform und hatte einen Holzstab mit Ornamenten in der Hand.

„Theke, das Duell beginnt in wenigen Augenblicken.“, sagte er mit sanfter, fast fragiler Stimme, während er den Holzstab dem Boden entlang schleifen liess.

Pete schaute den Mann mit grossen Augen an. Immer mehr dämmerte ihm, dass das alles real war, dass er kurz davor war in einem Duell gegen einen jungen, durchtrainierten Soldaten anzutreten. Und das vor Tausenden von Schaulustigen. Für Liv.

„Mit welchen Waffen kämpfen wir?“, fragte Pete, um wenigstens den Eindruck von einem Hauch von Professionalität an den Tag zu legen.

„Ich erkläre dir alles oben auf der Bühne vor dem Volk. Bist du bereit?“

„Bereiter werde ich nie sein.“

Er klopfte mit dem Stab auf den Boden. Dreimal.

„Dann folge mir!“

Tatsächlich ging der Mann nun die Wendeltreppe hoch. Langsam, weil sein Alter grössere Schritte nicht mehr zuliess. Pete folgte ihm. Der Mann klopfte mit dem Stock an eine Falltür über ihm, und kaum hatte er dies getan, wurde die Tür von oben aufgezogen. Licht fiel auf die Wendeltreppe. Das Murmeln der Menge war wieder da.

Einige Augenblicke später stand Pete neben dem Zeremonien-Meister und schaute in die Menschenmenge, die nun immer ruhiger wurde. Die Sache schien sehr zivilisiert: kein Geschrei oder Anfeuern, keine Schlachtgesänge wie in einem Fussballstadion. Vielleicht würde es doch weniger wie ein Gladiatoren-Kampf werden, dachte Pete. Das Herz schlug ihm trotzdem bis in den Kopf hinauf; er spürte jedes Pochen bis in seine Schläfen.

Auf der anderen Seite des Mannes in der blauen Tracht stand Tam. Er war ruhig und gefasst. Erst jetzt merkte Pete, dass er sich den jungen Mann immer mehr als ein Monster vorgestellt hatte, seit er in Paris davon erfahren hatte, dass Liv ihm dienen musste. Aber war er nicht genau das? Ein Monster? Pete erinnerte sich an das viele Blut zurück, das in der Wohnung vergossen worden war. Der Soldaten-Lehrling hatte seine Liv mit diesem grausamen Metallteil pikiert, als sei sie eine Lammkeule, die danach mit Knoblauch gespickt werden sollte. Er war ein Monster! Wenn auch eines, das sich momentan zivilisiert benahm. Aber auch ein Massenmörder konnte bei der Verkündung des Urteils im Gericht stramm stehen; das hiess noch lange nicht, dass er zivilisiert war.

Während der Zeremonien-Meister scheinbar darauf wartete, dass auch die hinterste und letzte Stimme verstummte, stieg in Pete wieder die heilige Wut auf, wie er sie mittlerweile benannte. Der Junge würde kein leichtes Opfer in ihm finden. Pete würde bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen und sei es nur deshalb, weil er dem Kerl so den eigenen Hochmut brechen konnte.

„Liebe Versammelte, lasst uns den König ehren!“, sagte der Zeremonien-Meister schliesslich. Die ganze Arena erhob sich leise. Die Köpfe wurden nach vorne geneigt, als handle es sich um ein Gebet. Pete tat es ihnen nach.

Eine kleine Ewigkeit später setzten sich die Leute wieder. Der Zeremonien-Meister sprach weiter.

„Wir sind heute versammelt, um die Weisheit über einen Disput entscheiden zu lassen, liebe Versammelte. Pete, der Theke - zu meiner Rechten -, fordert Tam, den Anwärter der Leibgarde - zu meiner Linken -, zu einem Duell heraus. Und zwar, weil er seine Freundin Livia, die Thekin, aus den Diensten von Tam, dem Anwärter, befreien will. Und wir sind alle hier versammelt, um die Weisheit in ihrem Urteilsspruch zu unterstützen, liebe Versammelte.“

Wie aus einem Munde antwortete die Meute mit einem tiefen A-Vokal, der fast schon gesungen war. Aa!

„Bringt die Utensilien, damit das Duell beginnen kann!“

Von links und rechts trugen nun in blaue Tücher gewickelte junge Männer und Frauen kleine Tische auf die Bühne. Sieben Tische wurden hingestellt. Dann kamen in blaue Tücher gewickelte Kinder und legten verschiedene Utensilien auf die Tische, nur um gleich darauf wieder von der Bühne zu springen.

„Wählt eure Kunst!“, sagte der Zeremonien-Meister. „Und erschafft die vollkommenste Äusserung eurer Argumente!“

Er trat zur Seite. Tam ging zu den Tischen und begann vor ihnen auf und ab zu gehen. Pete, derweil, begriff langsam, dass das Duell, das ihm bevorstand kein gewöhnliches Duell werden würde. Er musste nicht gegen Tam kämpfen und sein Blut vergiessen, sondern Tam in einem Kunstwettbewerb schlagen.

Pete spürte, wie eine milde Erleichterung sich in ihm breit machte. Vielleicht hatte er doch eine Chance? Vielleicht konnte er noch heute mit Liv zurück reisen? Eine Zukunft mit ihr haben?

Pete schritt an die Tische heran. Auf dem ersten Tisch lagen verschiedene Schnitzmesser. Auf den folgenden gab es Farben und Pinsel, kleine dichte Hecken in langen Töpfen, neben denen Scheren bereitlagen, Kohlenstifte und Pergamente, Wolle und Stricknadeln, Tusche und Feder und Papier und schliesslich lagen auf dem letzten Tisch Rasseln bereit.

Pete musste nicht lange überlegen. Er ging zum sechsten Tisch und nahm die Tusche, Feder und das Papier zur Hand. Seine Wahl wurde mit einem leisen Klatschen vom Publikum quittiert. Tam wählte die Schnitzmesser und das Holz, auch er erhielt einen kleinen Applaus.

„Ihr habt gewählt. Ihr habt ab jetzt eine halbe Stunde Zeit. Erschafft euer Meisterwerk. Auf dass der Bessere gewinne!“

Der Zeremonien-Meister klopfte mit seinem Stab auf den Boden, was in der ganzen Arena zu hören war. Dann verliess er die Bühne.

Tam begann sofort an seinem Holz herum zu schnitzen. Grosse Späne landeten auf dem Boden. Pete setzte sich an den Tisch, wo vorher die Utensilien ausgestellt waren. Es gab einen Stuhl, der für einmal wie ein Stuhl auf der Erde stand und nicht an Seilen von einer Decke schwebte. Vielleicht einfach deshalb, weil sie unter freiem Himmel waren.

Pete schloss die Augen. Es war Jahre her, dass er das letzte Mal einen Text verfasst hatte. In seiner Arbeit als Redaktor editierte er die Texte von anderen oder plante Programm-Abläufe, aber einen eigenen Text hatte er das letzte Mal vor Jahren verfasst. Emails waren die einzigen Texte, die er normalerweise verfasste. Trotzdem wusste er, dass er in diesem Metier zuhause war. Das war sein Handwerk, seine Kunst, und er würde Tam einen harten Kampf liefern. Er setzte an und schrieb die ersten Worte.

 

Eine exakte halbe Stunde später kam der Zeremonien-Meister wieder auf die Bühne. Das Publikum war so still gewesen, dass Pete mit der Zeit nicht mehr realisierte, dass er von hunderten von Augenpaaren beobachtet wurde. Er fügte drei Auslassungspunkte an und beendete damit sein Werk. Tam feilte mit einem Schleifpapier letzte Unebenheiten von seinem Werk und stellte die Skulptur auf den Tisch vor sich.

Der Zeremonien-Meister klopfte wieder mit dem Stab auf den Boden. „Das Duell ist vorbei!“, sagte er. Dann setzte er sich.

Ein Musiker mit einem Instrument, das eine Mischung aus einem Cello und einer Gitarre zu sein schien, kam auf die Bühne, setzte sich und begann zu spielen. Fremdartige Töne und Melodien drangen an Petes Ohren. Die Musik versetzte ihn in einen merkwürdigen Zustand: halb wach, halb träumend, fühlte er sich. Die Melodien liessen Bilder in seinem Kopf entstehen. Landschaften, Farbkompositionen huschten vor seinem inneren Auge vorbei. Schliesslich beendete der Musiker den Vortrag.

Als die letzte Töne verklungen waren, erhob Tam sich ohne ein Wort. Er kannte den Ablauf des Duells wohl von unzähligen anderen Duellen, die er seit Kindheit an hier angeschaut hatte. Tam legte sein Stück Holz auf die eigens für seine Kreation bereitgestellte Erhöhung aus vergoldetem Metall. Die Vorrichtung erinnerte an einen Altar, dem das Kunstwerk nun als Krone aufgesetzt wurde. Die flimmernden Energiefelder senkten sich, näherten sich von allen Seiten gleichzeitig dem Holz, das eigentlich kein Holz mehr war. Pete richtete seinen Blick auf die kleine Skulptur. Tam hatte einen Sonnenaufgang und ein eigenartiges Tier geschnitzt, und obwohl man den Sonnenaufgang nicht direkt erkennen konnte, war es unmittelbar klar, dass es sich nur um einen solchen handeln konnte.

Pete spürte, wie sich die Muskeln seines Schlundes verkrampften und ihm das Schlucken nicht mehr so einfach fiel. Mit bitterem Schmerz realisierte er, dass er diese Welt und ihre Bewohner nicht verstand, dass er Tam nicht nur falsch eingeschätzt, sondern schlichtweg unterschätzt hatte.

Vielleicht war es auch nur die Hoffnung auf eine Zukunft mit Liv, die ihm Tams Fertigkeiten heruntergespielt hatten. Egal, Tatsache war, der junge Leibgardist hatte ein Meisterwerk geschaffen. Die Energiefelder übertrugen das Bild der Skulptur auf irgendwelche unsichtbaren Leinwände, so dass die Schnitzerei jetzt von allen Zuschauern in der Mitte des Theaters überdimensional gross studiert werden konnte.

Ein Raunen ging durch die Reihen, kaum erschien die Übertragung. Vereinzelt konnten Leute ihre Freude nicht zähmen und klatschten wild in die Hände. Andere sassen einfach mit offenem Mund da und sogen scheinbar den Eindruck tief in die Seele hinein, um sich von ihm inspirieren zu lassen.

Hier zählte nur die Kunst, sah Pete immer mehr ein. Er blickte auf die Worte, die er niedergeschrieben hatte. Hatte er auch nur den Hauch einer Chance? Tam war seit er ein kleiner Junge war daran seine Künstlernatur zu finden und auszudrücken, doch er selbst hatte seit dem Studium keine Kunst mehr erschaffen, musste Pete sich selbst eingestehen. Er hatte für die dummen Quoten gelebt. Was für ein Verschleiss von wertvoller Zeit.

„Das Lied wird entscheiden. Wir danken dem Anwärter für die Kraft, die in dieses Werk geflossen ist und keiner anderen Bestimmung mehr zugeführt werden kann. Die Zeit ist unsere Aufmerksamkeit und wo sie hin floss, ist sie gebunden für immer und ewig.“, sagte der Meister der Zeremonie.

„Theke, lass uns dein Werk erhören.“ Er setzte sich wieder.

Pete stand auf. Er wollte formal wirken. Sein Herz pochte laut in seiner Brust. Er räusperte sich, damit er den Vortrag mit reiner Stimme tätigen konnte. Dann liess er etwas Zeit verstreichen und begann zu lesen. Zuerst sprach er den Titel seines Gedichts.

 

Die Fäulnis

 

Wieder eine kurze Pause, dann legte er los. Ruhige Stimme.

 

Wenn die Sterne dich kochen

der Atem dir stockt

und in der Kehle brennt

weil er weder ein, noch aus will.

 

Wenn der Grund dich zerbricht

dein wallendes Blut dich erstickt

und dir dabei die Adern gefrieren

weil sie ihren Sinn nicht mehr kennen.

 

Wenn die Zukunft dich anlügt

deine Haut dich verlässt

und deine Schreie sich im Überrest

deines Kehlkopfs verirren

 

Wenn deine Welt dich auskotzt

wie einen faulen Bissen vergammelten Brotes

 

Wenn sie dir nehmen, was du nie verdient hast,

dann fehlen die Worte, dann ...

 

 

Pete liess die Worte verklingen, als handle es sich um die letzten Töne einer Symphonie. Er hielt die Augen zu. Mehr konnte er seiner Kunst nicht mehr abringen, mehr hatte er es nicht auf den Punkt bringen können. Es war die Zusammenfassung seines Lebens, seiner Situation. Ein Leben in fünf Verse gegossen.

Er war in einem Vakuum. Kein Laut, selbst die Vögel dieser fremden Welt waren scheinbar verstummt und horchten jetzt in ein sich ausbreitendes Nichts hinein. Mehr gab es nicht. Das war‘s dann wohl, dachte Pete. Er erinnerte sich an den brausenden Applaus, als die Zuschauer Tams Skulptur gesehen hatten und an das Raunen, das ihm vorausging.

Jetzt, nach dem Vortrag seines Gedichtes, herrschte Ruhe. Selbst der Wind schien die Wipfel der Bäume um den Schauplatz nicht mehr zu bewegen.

Ich hab‘s vermasselt, dachte Pete still. Eine unendliche Traurigkeit bemächtigte sich seiner Sinne. Jetzt war es endgültig vorbei, dieses Leben.

Doch dann schwoll es an. Zuerst waren es einzelne Zuschauer, die kräftig zu klatschen begannen. Kurz danach kam es einer Standing Ovation gleich. Vereinzelt riefen Leute das Wort tapfer!, was wohl dem Bravo! der Erde entsprach, folgerte Pete. Erst als der Zeremonien-Meister seinen Stab tüchtig auf den Boden schmetterte, kehrte wieder Ruhe ein. Der alte Mann hob die Arme gen Himmel.

„Möge die Harmonie den Gewinner bestimmen!“

Plötzlich begannen die Zuschauer und der Zeremonien-Meister einen willkürlichen Ton zu singen, was arg nach einer Kakophonie tönte, da jeder Einzelne in der Arena einen anderen Ton gewählt hatte. Die ideale Klangkulisse für einen Horrorstreifen, dachte Pete. Die Nackenhaare standen ihm auf; sein Körper schien das Wirrwarr von Tönen als Bedrohung zu erleben. Gute zehn Sekunden hielt das Durcheinander an, aber dann begann der Klang sich wie ein lebendiges Wesen zu bewegen. In kleinen Teilen der Arena glichen die Leute ihre Töne aneinander an. Und das setzte sich so fort, bis aus den Hunderten von Frequenzen plötzlich nur noch vier Töne geworden waren, die gesungen wurden.

Pete blickte kurz zu Tam hinüber. Doch Tam war am Mitsingen, er schien sich selbst als einen Teil der Jury zu sehen. Eine eigenartige Weise zu einer Entscheidung zu kommen, dachte Pete. Man konnte hinten und vorne nicht nachvollziehen, was hier geschah; zumindest nicht, wenn man von der Erde war und den Grossteil des Lebens in New York verbracht hatte.

Nach guten fünf Minuten gab es nur noch einen Ton, der von der ganzen Arena gesungen wurde. Der Zeremonien-Meister hob die Hände und brachte damit die Menge zum Schweigen.

Petes Kehle war trocken wie Schmirgelpapier. Der alte Mann mit dem Stab richtete seinen Blick auf Tam, dann auf Pete.

„Mögen die Duellierenden einen Schritt nach vorne tun, um die Urteilsverkündigung zu vernehmen.“

Pete tat einen Schritt. Dann schloss er die Augen. Alles oder Nichts, wiederholte er in Gedanken. Alles oder Nichts.

Eine Stille, einer Ewigkeit gleich, breitete sich im Tal der Arena aus. Schliesslich holte der Meister Luft.

„Die Harmonie erklärt den Theken zum Gewinner!“

Es blieb still. Kein weiterer Beifall. Doch die Köpfe der Zuschauer gingen auf und ab; sie nickten, den Entschluss der Harmonie anerkennend.

Tam verneigte sich vor dem Zeremonien-Meister. Dann trat er zu Pete hinüber und verneigte sich noch einmal.

„Ich danke dir für das Duell!“, sagte er zu Pete.

„Wo ist Liv?“, fragte Pete.

„Bei mir zuhause. Ich habe ihr nichts von dem Duell erzählt. Du kannst mit mir heim kommen und deine Dienerin abholen. Möge sie dir wohl dienen!“

Pete erwiderte nichts.

„Das war‘s?“, fragte er den Zeremonien-Meister.

Dieser nickte ihm zu.

 

New York, 12 Tage nach „Tag X“

 

Als sie gestern Abend in New York angekommen waren, hatten sie mit vielen gerechnet, aber nicht mit dem, was sie effektiv erwartete. Henk hatte es angetönt, als er Liv und Pete zum Sprungtuch begleitet hatte.

„Eure Welt braucht eure Hilfe. Ich habe einem Freund von mir von euch erzählt. Er wird euch bei der Ankunft in New York begrüssen und euch einen wichtigen Auftrag erteilen.“

Pete hatte sich nicht viel dabei gedacht. Die ganze Story mit der Entführung, den Verletzungen, dem Duell hatte ihn nicht gerade freudig gestimmt. Er war einfach froh war die Sache vorbei und überstanden, deshalb schenkte er Henks Worten keine grosse Bedeutung. Doch als er und Liv im Central Park um Mitternacht ankamen, waren sie beide doch recht erstaunt über das Empfangskomitee. Wie immer bei der Reise mit dem Sprungtuch tauchten sie einfach an einem prädestinierten Ort aus dem Nichts aus.

Livia war übel dran. Sie hatte es kaum geglaubt, dass der Alptraum vorüber war. Tam hatte sie an ganz kurzer Leine gehalten, wohl in der Ansicht, dass er durch seine Härte an Image in Leibgardisten-Kreisen gewann. Liv hatte zehn Kilo abgenommen, sie war bleich und sehnig geworden.

Eigentlich wollte Pete sie einfach nach Hause bringen und sie die nächsten Wochen langsam wieder an ein Leben in Freiheit gewöhnen. Doch jetzt, zurück in New York, stand niemand anders als Oliver Palms im Central Park um sie zu begrüssen. Das hatten weder er noch Liv erwartet. Der Mann, an den er wochenlang zu gelangen versucht hatte, stand jetzt ohne Terminvereinbarung vor ihnen und schaute ihnen zu, wie sie aus dem Nichts auftauchten.

„Willkommen auf der Erde!“, sagte Palms.

Pete fand keine Worte. Liv schwieg, weil sie das Sprechen sowieso fast verlernt hatte, da Tam sich nie für sie interessiert und sie nur wie eine Sklavin behandelt hatte.

„Es tut mir Leid, dass Sie so viel Mühsames durchmachen mussten. Hatten Sie wenigstens eine gute Rückreise?“

Pete nickte, immer noch perplex.

„Ich gratuliere Ihnen zum Sieg im Duell!“

„Sie wissen ...?“

„Ich weiss alles. Ich komme nicht aus dieser Welt, sondern aus Noooh, dem Nachbarland von Taaah. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich bin hier, weil ich eure Hilfe brauche. Wir können den Terror beenden und zwar in den nächsten zwei, drei Tagen, ohne dass je irgendjemand erfahren wird, wie wir es getan haben.“

Pete langte sich an den Kopf, als habe er Kopfschmerzen. Er verstand nicht, und er war auch nicht sicher, ob er überhaupt noch verstehen wollte.

„Mister Palms, wir können morgen darüber sprechen. Jetzt will ich Liv nach Hause bringen. Alles andere ist mir momentan egal.“

Palms sah ihn mitleidsvoll an.

„Ich verstehe. Lassen Sie mich wenigstens Ihren Weg verkürzen.“

Er nahm ein blaues Sprungtuch aus den Manteltasche und legte es auf das Gras vor sich.

„Das Sprungtuch bringt Sie direkt in Ihr Wohnzimmer. Ich folge Ihnen und werde Sie dann auch gleich in Ruhe lassen. Ich verlange nur zwei Minuten Ihrer Zeit ...“

Pete seufzte. Er war müde und Liv war ein Häufchen Elend. Er wollte nur noch Ruhe haben und nicht schon wieder über Terrorismus oder ähnliches sprechen. Er hatte jetzt in seinem Leben genug Terror gehabt. Doch das Sprungtuch kürzte den einstündigen Heimweg mit Taxi gehörig ab. Die Aussicht darauf in zwei Minuten zuhause zu sein, war zu verlockend.

„Zwei Minuten!“, sagte Pete.

Palms nickte. „Springen Sie zuerst, ich folge gleich nach.“

Pete ging einen Schritt bis an den Rand des Tuchs. Liv zog er an der Hand nach sich. Doch er musste sie weder stossen noch zum Springen aufmuntern. Liv hielt gar nicht an, sondern sprang ohne zu zögern auf das glatte Tuch.

 

Zehn Minuten später

 

Nachdem er Liv zu Bett gebracht hatte, kam Pete ins Wohnzimmer zurück. Palms sass auf dem Sofa, auf dem Henk Pete vor einem halben Jahr das Vard durch die Wade gestossen hatte. Für Pete war es eine knappe Woche her, aber durch den Sprung vorwärts in der Zeit fehlte ihm ein halbes Jahr. Pete wischte die Erinnerungen mit einer inneren Bewegung aus seinen Gedanken.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, kam er gleich zur Sache.

Palms griff in einen eleganten Aktenkoffer, den er mitgebracht hatte, und legte das Gerät auf den niederen Wohnzimmertisch.

„Was ist das?“, fragte Pete.

„Es ist eine Erfindung von Jaczek Szorovsky und erlaubt es anderen Menschen Überzeugungen aufzuzwingen.“

„Tönt nicht gut ...“, antwortete Pete.

„Es ist der Ursprung des Terrors, der uns alle die letzten vier Jahre dominiert hat. Leider fiel es in die falschen Hände ... Jaczek Szorovsky wurde dafür ermordet.“

„Von wem?“, fragte Pete.

„Von Melbar, dem Bruder von König Karel.“

Pete schluckte leer.

„Dem König Karel aus Taaah?“

„Genau dem. Melbar ist vor vier Jahren aus einer psychiatrischen Klinik in Taaah entflohen und hat es geschafft sich ein Sprungtuch zu beschaffen. Er flüchtete damit hierher, in die Welt der Theken, und wollte hier sein eigenes Empirium aufbauen. Er hat das Gerät Jaczek geraubt, nachdem er ihn ermordet hat, und dann damit unzähligen Menschen die Idee, dass sie Terroristen seien, eingepflanzt. Die Folgen davon haben wir alle erlebt.“

Pete wurde übel. Die Verrücktheit eines einzelnen Menschen, der nicht einmal von der Erde stammte, hatte so viel Leid verursacht? Dieser Gedanke war unerträglich.

„König Karel und seine Leibgarde haben vermutet, dass er hierher geflohen war und Unheil stiftete, deshalb waren Henk und seine Männer hier und versuchten herauszufinden, was ich gegen den Terror zu unternehmen gedachte. Sie hofften mit meiner Hilfe an Melbar heranzukommen, haben mich aber nicht gefunden.“

„Dann verdanken Liv und ich also diesem Melbar unsere Misere?“

„Ja. Und tausende anderer Familien ...“

„Und mit der Hilfe dieses Geräts können Sie den Terror jetzt stoppen?“

Palms nickte.

„Was muss ich tun?“

„Sie machen ein Exklusiv-Interview mit mir, das andere Sender kaufen können. Und in diesem Interview verwenden wir das Gerät, das die Nachricht zur Auflösung der Überzeugungen in alle Haushalte dieser Welt überträgt.“

„Das funktioniert?“

Palms nickte wieder.

Eine halbe Stunde später waren Pete und Palms im Studio 2 von LTG. Björn und Ernesto wurden mitten in der Nacht aus ihren Betten getrommelt und fanden sich um ein Uhr früh ebenfalls bei LTG ein. Es war nicht schwierig gewesen die beiden zu überzeugen, als Pete ihnen am Telefon erklärt hatte, dass es sich um eine Exklusiv- Interview mit Oliver Palms handelte. Im Gegenteil, man hörte förmlich, wie die beiden aus dem Bett sprangen.

 

 

Eine Woche später. 19 Tage nach „Tag X“

 

WORLD TERROR UPDATE

 

London

 

Experten aller Nationen der Welt sind sich einig, dass die Strategie, welche von Oliver Palms vor rund drei viertel Jahren den Präsidenten und Kanzlern dieser Welt vorgeschlagen wurde, nun definitiv ihre Wirkung zeigt. Es ist nunmehr drei Tage her, dass der letzte Terroranschlag verübt wurde. Drei Tage ohne Terror! Das ist etwas, das wir fast nicht mehr zu hoffen gewagt hätten. Trotzdem ist es eine Tatsache. Vielleicht schaffen wir es, unsere Welt doch noch zu einem besseren Ort für unsere Kinder zu machen.

 

Die Redaktion

 

Warschau, 1876 Tage vor „Tag X“

 

Er hatte es nur einmal ausprobieren wollen, ein einziges Mal, verdammt noch mal! Niemand konnte ihm daraus einen Vorwurf machen. Doch die Sache war mächtig in die Hosen gegangen. Nicht zu leugnen.