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Als ich mein Gespräch mit Finnigan beendet habe, geht die Sonne unter - oder würde es tun, wenn man sie durch die Wolkendecke sehen könnte. Im Augenblick bedeutet Sonnenuntergang nicht mehr als den Übergang von einem nassen, dunklen Grau zu einem nassen dunkleren Grau. Ein paar Straßenlaternen erhellen sich, und in den Blechtonnen, an die ich mich noch von letzter Nacht erinnern kann, fangen die Feuer wieder an zu flackern und zu rauchen.

Bei diesem Gedanken spüre ich wieder die Kraft meiner Wut. Bei allem, was mir heilig ist, ich werde herausfinden, wer Cat umgelegt und dasselbe mit mir versucht hat und wer mich bei den Cutters verpfiffen hat. Ich werde sie finden und eine Menge Zeit und Kreativität darauf verwenden, sie dafür büßen zu lassen.

Die Schwierigkeit liegt darin, wie ich das anstellen soll. Im Moment verfüge ich über keinerlei Hilfsquellen - es sei denn, man zählt Nicholas Finnigan dazu, aber das tue ich nicht, nicht wirklich. Ein paar Spuren, aber nichts Solides, nichts, was sich nicht auf mehrere Arten interpretieren ließe, die einander alle ausschließen. Meine finanziellen Mittel beschränken sich auf die paar Tausend Nuyen auf meinen privaten Kredstäben. Selbstverständlich wage ich es nicht, den Notgroschen anzutasten, den der Star für mich eingerichtet hat, jedenfalls nicht, solange ich nicht will, daß bei jeder Transaktion eine kleine Fahne mit der Aufschrift »Geekt mich!« geschwenkt wird. Nein, Augenblick, ich vergaß, daß ich den verdammten Taschensekretär gekauft habe. Damit belaufen sich meine finanziellen Mittel noch auf... ein- oder zweihundert Nuyen. Drek! Das reicht nicht mal, um aus dem Sprawl herauszukommen.

Was mir, wie ich zugeben muß, langsam wie eine verdammt gute Idee vorkommt. Zumindest die Vorstellung, für eine befristete Zeit unterzutauchen. Es gibt einen Unterschied zwischen einer sang- und klanglosen Flucht und einem strategischen Rückzug, um sich neu zu formieren und die nächste Schlacht zu planen. Seattle mag ein Megaplex mit über drei Millionen Einwohnern sein, ist aber eine Kleinstadt, wenn man sich verstecken will. Mein Leben wäre sehr viel einfacher, wenn ich die gute alte Fliege machen und ein paar Wochen abwarten könnte - vielleicht im Sioux-Gebiet oder weiter südlich bis sich der Staub gelegt hat, um dann wieder zurückzukommen. Bewaffnet mit Informationen und Geldmitteln und vielleicht ein oder zwei fetten Kanonen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser klingt es in meinen Ohren.

Und das bringt mich wieder auf die Geldmittel. Ich brauche welche, Priyatel, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Vielleicht würde ich es mit zweihundert Nuyen ins Salish-Shidhe-Territorium oder zu einer anderen Native Nation schaffen, die nicht so enge Verbindungen mit Seattle unterhält. Aber einmal dort angekommen, hätte ich null Geldmittel. Und man braucht Geld, um Geld zu machen, sogar in der Erwachten Welt des Jahres 2054 - vielleicht sogar ganz besonders im Jahre 2054. Fragen Sie mal die Elfen von Tarislar.

Das ist also der Grund, warum ich an diesem kalten und regnerischen frühen Abend zur Verheißung zurückgehe. Dieser verdammte Taschensekretär. Die Helden im Trid - und wahrscheinlich auch in Finni-gans Büchern - scheinen sich nie Gedanken um Kohle zu machen, wenn sie sich von ihrem Konzern oder ihrer Regierung oder was auch immer lossagen. Sie scheinen sich immer ihre Kanonen und Granaten, ihre Muni und Kinkerlitzchen kaufen zu können - ganz zu schweigen von den Drinks für die Bräute und einem Zimmer im heißesten Hotel der Stadt -, ohne sich je Gedanken machen zu müssen, woher die nächsten Nuyen kommen sollen. Ich muß dagegen wieder zu meiner Absteige schleichen, um den Taschensekretär zu holen, damit ich ihn wieder verscherbeln kann -für die Hälfte dessen, was ich vor ein paar Stunden dafür bezahlt habe, darauf können Sie Ihren Arsch verwetten.

Damit gehe ich natürlich ein Risiko ein, und letzten Endes hätte ich mir auch den kleinen Stunt mit der Relais-Schaltung sparen können. Wenn jemand Finnigans Nummer überwacht hat, ist dieser Jemand wahrscheinlich längst auf dem Weg nach Tarislar und zur Verheißung, und genau dorthin bin ich ebenfalls unterwegs. Zweifellos würden die Dinge einen ganz anderen Verlauf nehmen, wenn ich eine von Finnigans Romanfiguren wäre.

Das einzig Gute ist, daß jedes Team, das nach mir sucht, damit rechnen wird, daß ich mich in der Absteige aufhalte, weil sich das Telefon dort befindet. Man wird kaum auf der Straße nach mir Ausschau halten, was bedeutet, ich sollte sie erkennen, bevor sie mich erkennen. Je nachdem, wer mich besuchen kommt, weiß ich dann etwas, das ich zuvor noch nicht wußte, vielleicht sogar etwas Wichtiges. (Das rede ich mir jedenfalls ein, um meiner Angst zu begegnen, je näher ich der Absteige komme.)

Ich nähere mich vorsichtig und benutze alle Tricks, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe. Zum Beispiel komme ich nicht aus östlicher Richtung die Straße entlanggeschlendert, auf der sich Die Verheißung befindet, o nein. Statt dessen gehe ich einen Block weiter und nähere mich über die nächste Querstraße von Norden. An der Kreuzung angelangt, gehe ich einfach geradeaus weiter, als hätte ich ein ganz bestimmtes Ziel, während ich die Vorderseite des niedrigen Gebäudes eindringlich, aber verstohlen mustere.

Kein Wagen vor dem Haus. So weit, so gut. Auf dem Bürgersteig hängen keine verdächtigen Gestalten herum. Noch besser.

Jetzt kehre ich um und biege in die Straße ein, in der Die Verheißung liegt. Natürlich wiederum sehr vorsichtig gehe ich auf die andere Straßenseite. Es ist dunkel, und es brennt vielleicht jede zehnte Straßenlaterne, so daß es massenhaft Schatten gibt, insbesondere in Höhe der freien Plätze und verfallenen Häuser. Ich bin unterwegs und mitten in dem Spiel, von dem ich am meisten verstehe. Ich bin ein Geist in der Nacht.

Ich bin jetzt fast gegenüber der Verheißung angelangt, als ich ihn sehe. Auf dem Bürgersteig sitzt ein abgerissener Gossenpunk, der sich mit dem Rücken an die Stahlbetonwand der Absteige gelehnt hat. Er sieht aus, als hätte man ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt, während er eine Schnapsbrennerei leerzutrinken versuchte. Ich habe ihn bei meinem ersten Kontrollgang über die Querstraße nicht gesehen, weil Die Verheißung eine etwas vorgezogene Eingangstür hat, die von etwas eingerahmt wird, das einmal eine Art Säulengang gewesen ist. Er trägt Kleidung, die vor langer Zeit ganz anständig gewesen sein muß, der die Jahre des Dreks und des Mißbrauchs aber offenbar ziemlich zugesetzt haben. Sein Gesicht paßt zu seiner Kleidung.

Das Merkwürdige an Elfen ist, daß sie sich irgendwie von allen anderen Metatypen zu unterscheiden scheinen. Das hat nichts mit einem offensichtlichen Merkmal wie ihren ach so kostbaren spitzen Ohren zu tun. Nein, es ist etwas Profunderes als das, eine Atmosphäre oder Aura, die sie mit sich herumtragen. Wenn ein Ork oder ein Mensch in der Gosse liegt, wirkt er einfach nur verkommen. Doch wenn es einer dieser seltenen heruntergekommenen Elfen ist, meint man, Zeuge einer großartigen und edlen Tragödie zu sein.

Aber Schluß mit der verdammten Soziologie. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.

In gewisser Hinsicht habe ich Glück - die Straßenlaterne direkt vor der Absteige und die beiden direkt gegenüber auf meiner Straßenseite sind kaputt. Die Lampen in der Eingangshalle der Absteige werfen einen Lichtkreis nach draußen - was der Grund dafür sein könnte, warum sich der heruntergekommene Elf ausgerechnet diese Stelle zum Schlafen ausgesucht hat -, aber die Straße selbst und der Bürgersteig vor mir liegen im Dunkeln. Ich kann erkennen, daß die Plexiglastüren der Eingangshalle geschlossen sind, was bedeutet, daß jeder, der von drinnen die Straße beobachtet, vom Hellen ins Dunkle sehen muß. Selbst mit Cyberaugen wird ein etwaiger Beobachter kaum mehr sehen können als sein eigenes Spiegelbild in der Plexiglastür.

Ich hole tief Luft und mache mich daran, die Straße zu überqueren. Natürlich nicht direkt vor der Verheißung. So verrückt bin ich nicht. Nein, ich bin ein Stück weitergegangen, wobei ich wieder so tue, als sei mein Ziel weit von der schäbigen Absteige entfernt.

Der heruntergekommene Elf rührt sich. Sein Kopf kommt langsam hoch, als sei er gerade aus einem tiefen Rausch erwacht. Er dreht langsam den Kopf, und in seinen Augen glitzert das Licht aus der Eingangshalle.

Man sieht es an den Augen, immer an den Augen, wenn ein Profi studiert, was in seiner Umgebung vorgeht. Es ist nicht die Stetigkeit des Blicks, sondern eher der Eindruck, als seien die Augen das Ende eines hochentwickelten und aufgabenorientierten Analysegeräts. Wenn Sie es einmal gesehen haben, werden Sie wissen, was ich meine. Sie werden es nie mit etwas anderem verwechseln, und Sie werden es nie vergessen.

Ich betrete den Bürgersteig auf der Straßenseite der Verheißimg und wende mich nach rechts und von der Absteige ab. Ich will rennen, ich will Haken nach rechts und links schlagen, um mich zu einem schwerer zu treffenden Ziel zu machen, falls bereits ein Laserzielpunkt auf meinen Rücken gerichtet ist. Doch statt dessen behalte ich meinen stetigen Schritt bei. Als ich die nächste Kreuzung erreiche - eine verdammte Ewigkeit später, in der ich jeden Augenblick damit rechne, von einer Kugel getroffen zu werden -, biege ich nach links ab. Kaum bin ich um die Ecke, als ich mich flach gegen die Hausmauer drücke und dem Zittern in meinen Händen freien Lauf lasse.

Ich habe das erste Mitglied des Teams gefunden, das auf der Lauer liegt.

Ein Elf. Hat das irgendwas zu bedeuten? Taucht die Tir-Connection vielleicht wieder auf? Oder handelt es sich nur um eine gut durchdachte Teamauswahl? Schließlich sind wir hier in Tarislar...

Okay, ich weiß etwas. Ich weiß, daß jemand Finni-gans Leitung abgehört, den Anruf zu dem Taschensekretär in der Absteige zurückverfolgt und dann ein Team von Leuten losgeschickt hat. (Greifen oder gee-ken? Wie lauten ihre Befehle? Sollen sie mich lebendig fangen oder abservieren? Nach den beiden vorangegangenen Anschlägen auf mein Leben neige ich zu der Annahme, daß sie mich tot sehen wollen.) Das Kommando hat schnell reagiert, was entweder auf weitreichende Mittel oder einfach darauf hinweist, daß zufällig ein Team in der Nähe war. Es ist kaum fünf Minuten her, daß ich mein Gespräch mit Finnigan beendet habe, und ich glaube nicht, daß der Anruf viel länger gedauert hat als drei. Alles in allem etwa acht Minuten. Rechnen wir eine, höchstens zwei Minuten ab, um den Anruf bis zu einem bestimmten Gebäude zurückzuverfol-gen. Vielleicht eine weitere Minute, um das mobile Team zu verständigen. Damit bleiben dem Team fünf bis sechs Minuten, um sich in Bewegung zu setzen und Die Verheißung zu erreichen. Eng, sehr eng, aber wahrscheinlich nicht genug Zeit, um herauszufinden, daß ich mich im Augenblick nicht in Zimmer 2LR aufhalte.

Aber was hat es zu bedeuten, daß sie einen Beobachter vor der Absteige postiert haben? Insbesondere da kein Wagen auf der Straße parkt und nichts auf Unruhe innerhalb des Gebäudes hindeutet. Keiner der anderen Anschläge auf mein Leben läßt sich als subtil bezeichnen: zuerst ein Killer-Kommando der Cutters und dann eine aus dem Hinterhalt abgefeuerte Rakete. Die entsprechende Reaktion wäre jetzt, das Zimmer auszumachen, in dem ich wohne, und dann Granaten durch das Fenster zu jagen. Aber das tun sie nicht. Und was sagt mir das?

Nicht viel, abgesehen davon vielleicht - und nur vielleicht -, daß sie diesmal den Auftrag haben, mich zu greifen anstatt zu geeken. Aber es ist wohl besser, wenn ich mich nicht darauf verlasse.

Ohne mich wirklich bewußt dazu zu entschließen, schlage ich einen Bogen zur Rückseite der Absteige. Zimmer 2LR geht nach hinten raus und befindet sich auf der linken Seite, wenn man die Treppe heraufkommt. Wenn drinnen irgendwelche Aktivitäten stattfinden, kann ich vielleicht durch das Fenster sehen oder hören, was vorgeht, insbesondere dann, wenn Schußwaffen oder Sprengstoff eingesetzt werden. Ich biege in die schmale, dreckige Gasse hinter der Verheißung ein.

Es ist dunkel, aber nicht stockdunkel. Der Himmel über Seattle scheint immer in einem kränklichen, fahlen Licht zu leuchten. Klar, es sind nur die Wolken und der Drek in der Luft, die die Innenstadtlichter reflektieren, aber manchmal sieht es so aus, als leuchte der Himmel aus sich heraus, als sei er radioaktiv oder so. Die Dunkelheit reicht, um mir Deckung zu geben, aber es gibt noch genug Licht, um mich davon abzuhalten, gegen Müllcontainer zu stoßen oder über Ratten zu stolpern. Natürlich haben diese Verhältnisse auch ihre Schattenseiten. Deckung für mich bedeutet auch Deckung für andere, und während ich mich auf meine normalen Augen verlassen muß, kann ich davon ausgehen, daß die Gegner über Cyberverstärkungen verfügen, welche die Nacht zum Tage machen.

Die Verheißung ist noch einen halben Block entfernt. Die anderen Häuser auf beiden Seiten der Gasse ähneln der Absteige, sie sind niedrig - höchstens drei Stockwerke hoch - und ziemlich heruntergekommen. Anders als einige der anderen verfallenen Häuser, an denen ich vorbeigekommen bin, sind diese mehr oder weniger intakt und wahrscheinlich voller Penner. Die ursprünglichen Bestimmungen der Häuser sind wegen des fortgeschrittenen Verfalls nicht mehr zu erkennen, sieht man einmal von einem Gebäude gegenüber der Verheißung und etwas weiter zum Ende des Blocks hin ab. Auf den Überresten eines Schildes über der Hintertür steht: Fi nes Que t. Ein paar Sekunden lang versuche ich mir einen Reim darauf zu machen, dann trifft mich die Erkenntnis: Fitness Quest ist das einzige, was paßt.

Dann schüttle ich den Kopf. Drek, was das Unterbewußtsein nicht alles anstellt, um das Bewußtsein von etwas abzulenken, das es eigentlich nicht tun will - es geht sogar so weit, das verdammte Neue Glücksrad mit Häuserschildern zu spielen. Schluß mit dem Quatsch. Ich schleiche mich an Fi nes Que t vorbei und tiefer in den Schatten der Gasse und weg von der teilweise erleuchteten Straße hinter mir.

Abgesehen von dem trüben Licht über der Hintertür der Absteige ist alles dunkel. In Zimmer 2LR brennt kein Licht...

Auch alle anderen Fenster sind dunkel. Bevor der Gedanke richtig ins Bewußtsein dringen kann, habe ich mich bereits flach gegen die Mauer des Gebäudes gegenüber von Fi nes Que t gepreßt. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Noch nicht ganz 2045. Ich weiß, Die Verheißung ist fast vollständig belegt. Wie wahrscheinlich ist es, daß alle Gäste in die Stadt oder vor neun Uhr ins Bett gegangen sind? Nicht sehr. Irgendwo müßte doch ein Licht brennen, oder nicht?

Mir wird kalt. Wer meine Gegner auch sind, sie haben das ganze verdammte Haus gesichert - und seit meinem Anruf bei Finnigan sind immer noch nicht mehr als zwölf Minuten vergangen - höchstens fünfzehn. Drek, das ist schnell. Der Star könnte es mit einigen Taktischen Einsatzkommandos schaffen, und das gleiche gilt für jede Konzernsicherheit, die ihren Namen zu Recht trägt. Aber leise? So leise, daß die einzigen Hinweise ein Beobachter vor dem Haus und die unbeleuchteten Fenster sind? Keine Chance, Priyatel.

Wer, zum Teufel, sind diese Burschen?

Eine Bewegung. Ich drücke mich noch fester an die Mauer, und die Elektronik läßt mich die H&K ziehen, bevor ich es bewußt registriere.

Plötzlich sehe ich eine Gestalt in den kleinen Lichtkreis vor der Hintertür der Verheißung treten. Groß, dünn - ein Elf? Keine offensichtlichen Waffen, die Hände in den Taschen eines langen, dunklen Dusters. Natürlich gepanzert.

Ich beobachte ihn, um festzustellen, was er weiter unternimmt, aber der Kerl bleibt einfach direkt im Licht stehen.

Und sieht in meine Richtung. Als wüßte er, daß ich da bin.

Schnell wie der Blitz ducke ich mich hinter einem ehemaligen Barkühlschrank. Ehemalig deshalb, weil unternehmungslustige Seelen den Kompressor, die Tür und noch ein paar andere Kleinigkeiten gestohlen haben. Der Kühlschrank ist eine lausige Deckung -alles mit einer halbwegs normalen Durchschlagskraft wird ihn durchlöchern wie nichts -, aber mehr habe ich im Augenblick nicht. Ich hocke mich hin und warte darauf, daß der Drek zu dampfen anfängt.

Nichts durchschlägt den Kühlschrank oder meinen Körper. Ich bewege mich, strecke den Kopf für einen Augenblick auf Kniehöhe heraus. Dann ziehe ich ihn zurück und lasse mir durch den Kopf gehen, was ich in diesem Augenblick gesehen habe.

Die Gestalt steht immer noch da, hat sich offenbar keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Keine irgendwie geartete Bewaffnung. Er steht einfach nur im Licht, als sei die Gasse eine Bühne und das trübe Licht über der Hintertür ein Scheinwerfer. Als wolle er gesehen werden. Als wolle er, daß ich ihn beobachte. Und auch weiterhin beobachte...

Mein Kopf ruckt so schnell herum, daß ich mir den Halsmuskel zerre. Die Elektronik sorgt dafür, daß die H&K meiner neuen Blickrichtung folgt.

Und ich sehe zwei Gestalten in der Gasseneinmündung. Groß, schlank - wiederum kann ich nicht mit Sicherheit sagen, daß es Elfen sind, aber es wäre eine verdammt gute Wette. Sie tasten sich langsam vor. Vor dem Hintergrund der Straßenbeleuchtung kann ich nicht genau erkennen, ob sie Waffen gezogen haben, aber auch das wäre eine gute Wette. Ihre Art, sich zu bewegen - langsam, zielstrebig, sechs oder sieben Meter voneinander entfernt, so daß sie nicht gleichzeitig von einer Salve getroffen werden können -, hat etwas an sich, das geradezu nach Profi schreit. Profis aus welchem Stall? Nicht von den Cutters - ihren Bewegungen fehlt das Machohafte, Schwankende. Vom Star? Lightbringer? TIC? Oder jemand anders - Irrel-Konzern, vielleicht?

Die Elektronik will sie beide umnieten, die ganze Gegend in Schutt und Asche legen. Das Magazin durchjagen, ein neues einlegen, und den ganzen Vorgang wiederholen. Aber das wäre dumm, selbstmörderisch. Wenn sie Profis sind, muß ich davon ausgehen, daß sie gepanzert sind. Sie sind zu weit weg, und es ist zu dunkel für einen sicheren, sauberen Kopfschuß, der einzig sicheren Möglichkeit, sie auszuschalten. Und selbst wenn ich ihre Rüstung durchschlagen könnte, würde einer von ihnen das Feuer erwidern und in Deckung gehen, während ich den anderen geeke. Ganz zu schweigen davon, daß Mr.

Scheinwerfer hinter mir mit Sicherheit das gleiche tun würde.

Nein, das Duell am O.K. Corral ist hier nicht die richtige Vorgehens weise. Ich ducke mich tiefer und wäge meine Möglichkeiten ab.

Was nicht lange dauert, weil ich nicht viele habe. Hinter mir ist eine Mauer mit einer Tür darin - einer massiven Feuertür aus irgendeinem Metall —, die verschlossen sein könnte oder auch nicht. Die Tür ist ein ganzes Stück rechts von mir, und um zu ihr zu gelangen, müßte ich in Richtung der beiden Profis vorrücken, die langsam durch die Gasse gehen, und mich dann ein paar Sekunden lang zeigen, während ich die Tür öffne. Nicht lange, nur ein oder zwei Augenblicke, aber das ist mehr als genug, um ein paar hundert Gramm stahlummanteltes Blei in Empfang zu nehmen. Und das natürlich nur, wenn die Tür nicht verschlossen ist... Nein, danke, ich passe.

Etwa ein Dutzend Meter links von mir ist ein schmaler Durchgang, der Die Verheißung mit dem Nebengebäude verbindet. Wenn ich dort hineinlaufe, lande ich wieder auf der Hauptstraße - und direkt im Schußfeld des Beobachters vor der Eingangshalle der Absteige. Falls ich es überhaupt so weit schaffe. Zwischen mir und diesem Durchgang befindet sich nicht das kleinste Fleckchen Deckung, und ich müßte direkt auf Mr. Scheinwerfer zulaufen, um dorthin zu gelangen. Was Sie auch im Trid zu sehen bekommen, den Kanonen der Schurken entgegen anstatt quer durch ihr Schußfeld zu laufen, ist keine taktisch empfehlenswerte Möglichkeit. Passe.

Fast direkt gegenüber von mir auf der anderen Seite der Gasse befindet sich noch einer von diesen schmalen Durchgängen, der zwischen Fi nes Que t und dem Haus daneben verläuft. Dieser Durchgang ist wahrscheinlich meine beste Wette, obwohl er weit davon entfernt ist, eine gute zu sein. Um es zu schaffen, muß ich die Deckung des Kühlschranks aufgeben, quer über die Gasse laufen - schnell, es gibt keine Deckung, und ich bin in der Schußlinie von allen dreien - und in Bewegung bleiben. Wenn ich die Straße erreiche - einen Block südlich der Verheißung, so daß ich nicht mehr mit Beobachtern rechnen muß -, kann ich entscheiden, was ich als nächstes tue. Der Vorteil dieser Möglichkeit liegt darin, daß ich mich schnell und im rechten Winkel zu allen drei Schußlinien bewege. Das bedeutet, der Schütze muß dem Ziel mit dem Lauf der Waffe folgen, der schwierigste Schuß auch für jemanden, der stark vercybert ist. (Lassen Sie sich auch in diesem Punkt nichts vom Trid vormachen.)

Ich könnte meine Chancen verbessern, wenn ich eine Möglichkeit hätte, diese Kerle ein paar Augenblicke abzulenken, aber ich weiß nicht, wie, zum Teufel. Klar, wenn dies Trideo wäre, würde ich ganz in meiner Nähe etwas finden, das sich in eine Ablenkung verwandeln ließe. Einen Stein in einer Blechbüchse, zum Beispiel, oder einen Soykaffilter, den ich in eine verdammte Handgranate verwandeln könnte. Oder ich könnte irgendwas rufen, wie: »Seht mal! Der Hal-leysche Komet!« Und in der daraufhin entstehenden Verwirrung zu dem verdammten Durchgang schlendern.

Null! Dies ist die Wirklichkeit, Priyatel. Keine Steine, keine Blechbüchsen, nicht mal ein Soykaffilter.

Also springe ich auf, bevor ich es mir ausreden kann, den Kopf weit vorgestreckt, und schieße vor wie ein Sprinter aus den Blöcken. Mit weit nach vorn verlagertem Schwerpunkt, jederzeit bereit, mit dem dreckigen Asphalt Bekanntschaft zu machen, wenn meine Beine nicht mehr mitkommen oder ich mich irgendwie verheddere. Mein Blickfeld ist eingeengt, so daß ich nur das dunkle Rechteck des Durchgangs vor mir sehen kann. Ich gebe alles, alles, was ich habe, jedes Fünkchen Energie in meinem Körper. Rechne damit, jeden Augenblick von drei Salven aus automatischen Gewehren aus den Stiefeln gehauen zu werden.

Keine Schüsse, und ich habe die Gasse überquert und tauche in den schmalen Durchgang zwischen den Häusern. Keine überraschten Schreie oder Alarmrufe hinter mir, nur das Geräusch schneller Schritte. (Profis, wie ich schon sagte. Profis müssen nicht rufen: »Da läuft er!«)

Ich werde für einen Moment langsamer, da ich damit rechne, den Durchgang voller Drek und vielleicht Penner vorzufinden. Doch wunderbarerweise ist er leer, eine freie Rennbahn für mich, die zum Licht einer anderen Straße führt. Ich gebe wieder Gas.

Und trete einen Augenblick später auf die Bremse. Ich sehe jemanden, eine Gestalt, die in die Einmündimg des Durchgangs tritt, eine weitere große, schlanke Gestalt, deren Umrisse sich vor dem Hintergrund der Straßenbeleuchtung abzeichnen. Direkt vor mir.

Ich bin tot.

Ich komme zum Stehen. Die H&K ruckt hoch, aber ich schieße nicht. Die gleiche Situation wie in der Gasse. Vielleicht gelingt es mir, den Kerl vor mir umzu-nieten, aber es ist eher unwahrscheinlich. Und mich damit aufzuhalten, gibt den anderen dreien nur Gelegenheit, zu mir aufzuschließen. Ich sitze in der Falle. Es sei denn...

Eine solide Mauer zur Linken. Fenster, aber vier Meter über dem Boden. Zur Rechten...

Eine Tür. Massiv, Metall. Keine Klinke. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, spüre, wie etwas in meiner Schulter nachgibt. Wie durch ein Wunder fliegt die Tür auf, und ich fliege Hals über Kopf ins Fi nes Que t. Während ich mit dem Betonboden Bekanntschaft mache, schlägt die Tür gegen die Wand und schwingt zurück, bis sie fast wieder geschlossen ist.

Ich befinde mich in einem schmalen Flur, der so finster ist wie das Herz eines Orks. Draußen warten bewaffnete Profis auf mich, von denen ein oder zwei jeden Moment hereinplatzen dürften. Meine Situation ist nur unwesentlich besser als noch vor ein paar Augenblicken, es sei denn, ich kann irgendwas tun, um meine Chancen zu verbessern. Das muß jedoch warten, bis ich weiter von der Tür weg bin.

Ich springe auf und haste durch den Flur. Es ist so dunkel, daß ich sowieso nicht das geringste vor mir sehen kann, also schaue ich mich um. Die Statuslämp-chen der H&K leuchten in der Dunkelheit wie kleine rote Glühwürmchen. Der erste, der durch diese Tür kommt, frißt zweiunddreißig Schuß Neun-Millimeter-Munition.

Und wahrscheinlich haben sich die Profis draußen gedacht, daß genau das passieren würde, weil sich die Tür nicht öffnet und keine Silhouetten in der Tür erscheinen.

Da stoße ich auf das Ende des Flurs, indem ich dagegen laufe. Noch eine Tür. Ich wende meine Aufmerksamkeit so lange von der Tür hinter mir ab, bis ich die Klinke von dieser gefunden habe, dann öffne ich sie und schleiche geduckt und in Kampfhaltung hindurch.

Noch ein verdammter Flur, der zur Abwechslung in Querrichtung verläuft. Zumindest schließe ich das aus den Echos. Meine Gedärme fühlen sich an, als seien sie mit Eiswasser gefüllt, und meine Haut kribbelt so stark, daß es sich anfühlt, als trage ich ein Unterhemd aus Klettverschlüssen. Ich kann immer noch nichts sehen, aber für jemanden mit Infrarotsicht bin ich eine große leuchtende Zielscheibe. Ich gebe mir alle Mühe, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob Elfen diese Fähigkeit besitzen. Falls ja, kann ich ohnehin nicht viel dagegen tun.

In welche Richtung? Einen Moment lang spielt mein Orientierungssinn verrückt und kreiselt wie eine Kompaßnadel am Nordpol. Dann pendelt er sich wieder ein.

Die Tür, durch die ich gekommen bin, befindet sich näher zur Vorderfront des Hauses als zur Gasse, und die war rechts von mir. Das bedeutet, die Straße ist jetzt links von mir, und dorthin will ich.

Doch dann höre ich ein Geräusch von links. Ein Klicken - eine Tür vermute ich, hoffe ich, und nicht der Lademechanismus einer MP oder Pistole - und das leise Scharren vorsichtiger Schritte. Wiederum wird mir die Entscheidung abgenommen. Ich wende mich nach rechts, indem ich die Dunkelheit vor mir mit dem Lauf meiner H&K und der linken Hand sondiere und mich gleichzeitig so schnell und lautlos wie möglich bewege.

Die Finger meiner linken Hand berühren etwas -noch eine verdammte Tür, jedenfalls fühlt es sich so an. Ja, da ist die Klinke. Ich habe ein ganz mieses Gefühl, was meine Lage betrifft, aber jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, es zu analysieren.

Ich bin hin und her gerissen. Ich hasse Türen in diesen Situationen. Ich haßte sie schon auf der Akademie, als wir im Häuserkampf ausgebildet wurden. Jetzt hasse ich sie noch mehr. Sie unterdrücken Geräusche, sie unterdrücken Licht. Nach allem, was ich weiß, wartet auf der anderen Seite der Tür eine ganze Kompanie schußbereiter Elfen nur darauf, daß ich sie öffne.

Wieder ein Geräusch hinter mir, weiter in Richtung Vorderfront des Hauses. Noch ein Klicken, und diesmal hört es sich tatsächlich so an, als würde eine Waffe durchgeladen. Ich schaue mich um. Nichts, nur Schwärze - kein Licht, kein Ziel, keine Wahl. Mit der linken Hand packe ich die Klinke, drücke sie herunter und versetze der Tür einen Stoß. Gleichzeitig ducke ich mich so tief wie möglich - die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, so daß ich (theoretisch) nicht geblendet werde, falls auf der anderen Seite der Tür Licht brennt.

Mehr Dunkelheit. Aber kein weiterer Flur. Es fühlt sich wie ein Raum an, möglicherweise ein großer. Ich will nicht, aber ich schleiche mich hinein, immer noch tief geduckt. Dabei schließe ich die Tür hinter mir mit der linken Hand so leise, wie ich kann. Mein Blick und der Lauf meiner H&K irren in der Dunkelheit hin und her, der eine so nutzlos wie die andere ohne Licht. Ich reiße die Augen so weit wie möglich auf.

Und dann wird es Licht. Ein lautloses Aufflammen, so jäh und so hell, daß es mir vorkommt, als würden mir Fingernägel in die Augen gerammt. Ich höre mich aufkeuchen, als ich zurückzucke. Beide Hände kommen unwillkürlich hoch, bevor ich sie aufhalten kann, und ich stoße mir das Magazin der H&K gegen die Stirn. Die Schmerzen in meinen Augen sind so stark, daß ich wimmern möchte. Ich sinke zurück gegen die Tür und gleite langsam zu Boden. Ich kann nichts tun, nicht das geringste. Nur auf die Kugel warten, die die Schmerzen in meinen Augen auslöscht. Selbst mit geschlossenen Augen und darübergelegten Händen ist das Licht so hell, daß ich es noch sehen kann.

Dann wird das Licht trüber. Es erlischt nicht völlig, doch verglichen mit der blendenden Grelle zuvor kommt es mir fast so vor. Meine Augen fühlen sich immer noch so an, als würden sie mit Nadeln gestochen, und sie tränen unentwegt. Versuchsweise nehme ich die Hände herunter und öffne die Augen einen Spalt weit.

Der Helligkeitsgrad ist sehr niedrig und wahrscheinlich niedriger als in einem normalen Büro, aber wegen der großen blauen Kreise, die vor meinen Augen tanzen, kann ich immer noch nichts sehen. Ich schließe die Augen wieder und reibe sie mit der linken Hand. Die Elektronik will unbedingt losballern - blind um sich schießen, damit die Party endlich anfängt -, aber ich beherrsche mich.

Ich öffne wieder die Augen, und diesmal kann ich etwas mehr erkennen. Alles ist noch verschwommen, und die Schmerzen sind noch genauso schlimm wie zuvor. Aber ich kann erkennen, daß ich recht hatte: Ich befinde mich in einem großen Raum, wahrscheinlich einer ehemaligen Turnhalle, die jetzt jedoch nicht mehr als nackte Betonwände aufweist.

Abgesehen von der Merkwürdigkeit in der Mitte des Raumes. Ein Tisch. Ein einfacher, schreibtischgroßer Makroplasttisch. Und dahinter sitzt eine nach Konzern aussehende Frau. Lange blonde Haare, die hinter den spitzen Ohren zusammengebunden sind, streng geschnittener Anzug. Instinktiv richtet die Elektronik die H&K auf sie, aber ich schieße nicht. Sie sitzt ganz ruhig da und beobachtet mich, die leeren Hände vor sich auf die Tischplatte gepreßt. Keine Waffen, keine Leibwächter. Nur wir drei - sie, ich und die H&K. Mumm, Priya-tel. Diese Lady hat verdammt viel Mumm.

Ich komme mir wie ein dämlicher Idiot vor, als ich meine Kanone senke und den Sicherungshebel umlege. Dann stehe ich langsam auf.

Und da meldet sich meine Gastgeberin endlich zu Wort. »Mr. Larson«, sagt sie mit einer Stimme wie Seide. »Ich denke, es ist höchste Zeit für eine kleine Unterhaltung.«