19
Gut, was soll's, genau das mache ich. Ich fange ganz von vorne an, von dem Augenblick, als ich diesen Burschen sah, der sich Nemo genannt hat, und höre mit dem Vorschlag der Elfenschnalle auf, den Shadowrun-ner zu kontaktieren.
Argent nickt zögernd. »Ich habe mich schon gefragt, woher du die Nummer hast«, sagt er leise. Dann verziehen sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Diese Elfe hat dich ganz schön herumgeschubst, was?«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Ja«, knirsche ich. »Das hat sie.«
Sein Grinsen verliert sich. »Nichts gegen dich, Wolf«, sagt er. »Ich bewundere nur die Vorgehensweise eines Profis, weißt du?«
Ich nicke schroff. Drek, ich wünschte, er würde das lassen - sich wie ein anständiges menschliches Wesen zu verhalten, meine ich, und Anteil an meinen Gefühlen zu nehmen. Das hat er nämlich getan, als ich ihm in allen Einzelheiten den Anschlag Lone Stars und Cats Tod geschildert habe, und jetzt tut er es wieder. Dazu hat er, verdammt noch mal, nicht das Recht.
Aber ich verdränge meine Gefühle. Jetzt ist keine Zeit für sie. »Alles begriffen?« frage ich ihn barsch.
Er runzelt die Stirn angesichts meines Tonfalls, sagt jedoch nur: »Fürs erste reicht es.« Er lehnt sich zurück, und der Stuhl quietscht. »Schön, was wissen wir also?«
»Drek!«
»Nicht ganz. Wir wissen, daß es irgendeine Verbindung zwischen einem Konzern in Tir und den Seattier Cutters gibt. Das war schon klar, bevor der Drek zu dampfen anfing, also glaube ich, daß wir diese Tatsache so akzeptieren können, wie sie sich darstellt.« Ich nicke widerwillig. »Wir wissen außerdem, daß dich der Star für untragbar erklärt hat.«
Daraufhin schüttle ich den Kopf. »Nicht notwendigerweise«, korrigiere ich ihn. »Wenn jemand die Datenfestung des Star unterwandert hat - Telestrian Industries zum Beispiel -, könnte dieser Jemand den Anschlag befohlen und meine Personalakte in eine weniger sichere Datenbank kopiert haben.«
Argent schüttelt den Kopf.
»Warum nicht, zum Teufel?«
Er seufzt schwach und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Das mit dem Anschlag könnte ich noch akzeptieren«, sagt er, »weil es zu der umfassenden Vertuschung paßt, obwohl ein Beweis für diese Theorie fehlt. Aber die Sache mit deiner Personalakte?« Er schüttelt wieder den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, daß irgend jemand sie in die Datenbank für die normalen Angestellten kopiert. Aber warum hat sie der Star nicht längst gelöscht? Und warum haben sie keine Möglichkeit gefunden, dich reinzuholen? Nein«, fährt er nachdenklich fort, »vielleicht hat dich der Star nicht von Anfang an für untragbar erklärt - vielleicht war das Telestrian oder jemand anders. Aber der Star hat auch nichts getan, um den Schaden wiedergutzumachen, oder?« Er wartet nicht auf eine Antwort - was er auch nicht muß, er kann sie mir wahrscheinlich am Gesicht ablesen. »Ich kann mir das alles nur so erklären, daß deine Vorgesetzten zu dem Schluß gekommen sind, es ist wahrscheinlich insgesamt das beste, wenn du einen endgültigen Abgang machst.«
Ich spüre die kalte Hand der Angst nach mir greifen. »Warum?«
Der Shadowrunner zuckt die Achseln. »Vielleicht, weil du weißt, daß sie unterwandert sind?« sinniert er. »Das ist eine Möglichkeit. Hast du daran gedacht, wie sehr es dem Lone Star-Konzern schadet, wenn bekannt würde, daß er unterwandert ist?«
Ich muß nicken. Ja, ich habe daran gedacht. Und es würde ihm ganz extrem schaden.
»Also hat der Star vielleicht nicht das ursprüngliche Todesurteil verkündet«, fährt er fort, »aber für mich sieht es so aus, als hätte er beschlossen, es bestehen zu lassen.«
Drek. Es widerstrebt mir, aber ich muß es zugeben: »Ja, da ist was dran.«
»Es könnte auch noch andere Gründe geben. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.«
»Wir?«
Er grinst trocken. »Ich meinte natürlich, ›du‹.«
»Natürlich.« Ich setze mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Und, o großer und mächtiger Shadow-runner?« frage ich sarkastisch. »Wie lautet das Urteil?«
Argent fixiert mich mit zusammengekniffenen Lippen, vielleicht eine halbe Minute lang. Zuerst glaube ich, er wird mich auflaufen lassen - Drek, genau das will ich doch, so, wie ich ihn reize, oder? Aber er tut es nicht. Schließlich zuckt er kaum merklich die Achseln. »So oder so«, sagt er gelassen, »stimmt irgendwas mit Lone Star nicht. Entweder ist der Konzern ernstlich unterwandert worden oder...« Seine Stimme verliert sich.
»Oder was?«
»Oder...« Er zuckt wieder die Achseln. »Oder es geht irgendwas vor, das wir ganz einfach nicht verstehen. So oder so ist der Konzern mehr oder weniger außer Kontrolle, und diese Vorstellung will mir absolut nicht gefallen.«
»Ach?« Das überrascht mich zutiefst.
Der Shadowrunner setzt wieder ein ironisches Grinsen auf. »Woher hast du nur deine Vorstellungen von Runnern, Wölf?« fragt er leise.
Darauf habe ich keine Antwort, außer einem verlegenen Achselzucken.
»Es ist nicht so, daß Lone Star der Feind ist oder so«, fährt er fort - leise, nachdenklich, als rede er mit sich selbst und nicht mit mir. »Lone Star ist wie jeder andere Konzern. Manchmal arbeite ich gegen ihn, meistens habe ich nichts mit ihm zu tun, und manchmal arbeite ich fiir ihn.«
Ich versuche meine Reaktion darauf zu vinterdrücken, doch Argents Grinsen verrät mir, daß es mir nicht gelungen ist.
»Du hast wohl nicht gewußt, daß Lone Star manchmal Shadowrunner anwirbt, was?« fragt er mich. »Aber es stimmt. Vielleicht nicht so oft wie andere Konzerne. Aber es gibt Zeiten, in denen Bedarf an inoffiziellen Mitarbeitern besteht.« Sein Lächeln ist plötzlich wie weggewischt. »Und manchmal auch nach entbehrlichen.«
»Schwachsinn«, entgegne ich.
»Ich habe keinen Grund, dich deswegen zu belügen, Chummer«, fährt er fort, als hätte ich ihn nicht unterbrochen. »Ich habe bisher ungefähr ein halbes Dutzend Lone Star-Kontrakte vermittelt und zwei selbst übernommen. Und ich habe keinen Grund zu glauben, daß ich der einzige Schieber im Plex bin, mit dem der Konzern Geschäfte macht.« Er zögert. »Das ist überhaupt ein Gedanke«, sagt er einen Augenblick später. »Wenn Lone Star beschlossen hat, dich abzuservieren, besteht die Möglichkeit, daß sie nicht ihre eigenen Leute einsetzen.« Er hebt eine mattschwarze Hand, um meinem Einwand zuvorzukommen, und fährt fort: »Ich weiß, daß sie den ersten Anschlag verübt haben, aber so, wie ich das sehe, war das ein eiliger Job. Jetzt hatten sie Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, und wenn sie immer noch hinter dir her sind, werden sie wahrscheinlich Leute einsetzen wollen, die keine offizielle Verbindung zu Lone Star haben.« Er deutet mit einem Metalldaumen auf seine Brust. »Wie mich und meine Kollegen. Ich sollte ein paar Fühler ausstrecken«, sinniert er, »und sehen, ob sie Leute anwerben.«
»Damit du den Kontrakt selbst übernehmen kannst?«
»Hör endlich mit dem Blödsinn auf, ja?« sagt er matt. »Es ist nur eine Möglichkeit herauszufinden, wie ernst es ihnen damit ist, dich umzulegen.«
Ich nicke zögernd. Ich reize ihn immer wieder und weiß nicht mal, warum. Es ist idiotisch, es ist kontraproduktiv - er ist die einzige Hilfe, die ich im Augenblick habe -, aber ich weiß, ich werde es wieder tun. »Du sagtest gerade...?« bringe ich ihn zum Thema zurück.
»Ich sagte gerade, ich habe keinen Grund, Lone Star zu hassen. Manche Leute haben Grund, die Messer zu wetzen, aber die echten Profis - die echten Shadowrun-ner - können es sich nicht leisten, solch einen Groll zu hegen.« Er kichert leise. »Klingt das söldnermäßig, Wolf?« fragt er. »Wie zum Beispiel: ›Ich kann Lone Star nicht böse sein, weil sie mir sonst kein Geld mehr geben.‹ Aber es steckt mehr dahinter.«
»Was?« Ich stelle fest, daß es mich gegen meinen Willen interessiert.
»Lone Star ist... ›der Deckel auf der Mülltonnen« Er lächelt wieder, diesmal jedoch ein wenig befangen. »Besser kann ich es nicht formulieren. Lone Star hält alles unter Kontrolle. Jedes Geschäft erfordert eine stabile, berechenbare Umgebung, in der es betrieben werden kann...«
»Also reduziert sich alles aufs Geschäft.«
Er wirft mir einen komplizierten Blick zu. »Ich muß hier auch leben, Wolf. Würdest du noch im Plex bleiben wollen, wenn Lone Star die Kontrolle verlöre?«
Ich schüttle langsam den Kopf. »Und ist das Grund genug, um mir zu helfen?«
»Im Augenblick schon.« Er richtet sich auf. Die Nachdenklichkeit ist gewichen, und er ist wieder ganz Geschäftsmann. Der vollendete Shadowrunner. »Ich werde Peg, meine Deckerin, auf Timothy Telestrian ansetzen«, sagt er, »aber das könnte eine Weile dauern. In die Datenbanken eines Tir-Konzerns zu decken, ist kein leichtes Unterfangen. Mindestens zwölf Stunden, würde ich sagen.« Ich hebe eine Augenbraue. Diese Peg muß ja novaheiß sein. Ich hätte eher mit ein paar Tagen gerechnet. »Hast du einen sicheren Schlafplatz?«
Ich denke einen Augenblick darüber nach. »Keinen, an dem ich mich besonders sicher fühlen würde«, gebe ich zu.
Argent nickt. »Ich rede mit Jean. Sie hat eine Bude oben, die du wahrscheinlich benutzen kannst.«
Echt Sahne. Eine Bude über einer Bar, die von Schattenabschaum besucht wird. Dort werde ich mich verdammt sicher fühlen. Ganz bestimmt.
»Wolf.« Die Stimme ist leise und ganz nah.
Ich tauche aus dem Abgrund des Tiefschlafs auf -desorientiert wie nur was, aber zu sehr damit beschäftigt, mich herumzuwälzen und nach meiner H&K neben dem Bett zu greifen, um mir deswegen Gedanken zu machen. Elektronik und Smartgun synchronisieren sich, bevor ich die Augen geöffnet habe. Dann öffnen sich meine Augen, und ich sehe, wer gesprochen hat.
Drek, Drek, Drek... Meine Waffenhand fällt herunter, und ich lasse mich wieder auf das Bett sinken. Mein Herz hämmert wie verrückt, und ich habe das Gefühl, gerade noch einem idiotischen Unfall entgangen zu sein. »Du Arsch«, keuche ich.
Argent der Shadowrunner sitzt gemütlich auf einem Sessel an der gegenüberliegenden Wand der Zimmer-mit-Klo-Bude über dem Loch in der Wand. Ich hatte alle Fenster geschlossen, von denen sowieso keines groß genug ist, daß sich mehr als eine Ratte hindurchquetschen könnte. Was bedeutet, Argent muß durch die einzige Tür gekommen sein und dabei irgendwie den Holzstuhl entfernt haben, den ich unter die Türklinke gestemmt habe. Und das alles, ohne mich zu wecken.
»Du hast einen tiefen Schlaf«, stellt der verchromte Runner fest.
»Eigentlich nicht«, kontere ich, wobei ich immer noch an die Decke starre und versuche, meinen Herzschlag zu beruhigen, bevor ich einen Anfall bekomme. »Du verdammtes Arschloch. Ich hätte dich wegpusten können.«
Argent grinst wie ein verdammter Bandit. »Eigentlich nicht«, sagt er mit einer Stimme, die er für eine Imitation meiner eigenen zu halten scheint.
Ich hebe die H&K wieder, und diesmal achte ich darauf, was mir die Elektronik über den Status der Waffe zu sagen hat. Mit einem matten Seufzer lasse ich die Waffe zu Boden sinken und halte Argent die Hand hin. Er wirft mir etwas zu. Ich fange es und drehe und wende es träge in der Hand herum. Das Magazin von meiner H&K. Er hat nicht nur meine - zugegebenermaßen rudimentären - Vorsichtsmaßnahmen überwunden und ist in das Zimmer eingedrungen, sondern hat mir auch noch die Munition aus der verdammten Waffe gestohlen, und das alles, ohne mich zu wecken. Ich schüttle den Kopf. Ich werde langsam zu alt für diesen Drek.
Ich wälze mich herum und fixiere ihn mit, wie ich hoffe, stählernem Blick. »Also schön«, sage ich mit kalter, harter Stimme. »Alles klar. Du hättest mich umlegen können. Die Botschaft ist angekommen.«
Sein Lächeln verblaßt ein wenig. »Aber ich habe es nicht getan«, stellt er fest. »Und das ist die Botschaft.«
»Wenn du versuchst, mich zu beruhigen, laß dir was anderes einfallen«, knurre ich. Was ich nicht sage, ist die Tatsache, daß er seine Botschaft tatsächlich klar und deutlich übermittelt hat. Wenn er mich tot oder gefangen oder was auch immer sehen wollte, wäre ich jetzt nicht wach - oder wenn doch, dann nicht hier.
Ohne hinzusehen, ramme ich das Magazin in den Kolben der H&K und lasse mir von der Elektronik be- stätigen, daß alles Sahne ist. Dann sehe ich mich in dem schäbigen Zimmer um. Nach dem Licht zu urteilen, das durch die winzigen Fenster fällt, ist es Mittag. Um das zu bestätigen, nehme ich meine Uhr vom Nachtschrank. Es ist 1235, was bedeutet, daß ich fast zwanzig Stunden lang geschlafen habe. Ich reibe mir die verklebten Augen, während ich mich aufraffe und mich auf die Bettkante setze.
Argent beobachtet mich abschätzend. »Fühlst du dich besser?« fragt er.
Ich mache eine rasche geistige Bestandsaufnahme und fahre das Äquivalent einer Selbstdiagnose. Mein Verstand ist nicht annähernd so zerschlagen wie gestern, aber mein Körper braucht noch mehr Ruhe, um die Anstrengungen der letzten Tage endgültig zu verarbeiten. Bruchstücke eines Traums - eines echten Alptraums - gehen mir durch den Kopf. Ich bin gestorben und zur Hölle gefahren, aber die Hölle war nicht die stereotype Flammen- und Foltergrube. Sie war ein verdammter Parkplatz - ein planetengroßer Parkplatz -, wo jeder in seinem Wagen wohnte und darauf wartete, daß ... nun, ich weiß nicht, worauf sie - wir - warteten, und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Ich erinnere mich nur, daß Cat in dem Wagen neben mir wohnte und ziemlich überzeugt davon war, daß ich sie umgelegt hatte.
Spinnerei. Mit einem Schnauben schüttle ich den Kopf und verdränge die Erinnerungen. Ich fixiere Argent mit einem harten Blick. »Hast du mir irgendwas zu sagen?« frage ich ihn. »Oder ist das nur ein Höflichkeitsbesuch?«
»Ich hab was«, sagt er zögernd. »Peg war ziemlich emsig. Aber ich glaube, du wirst mir helfen müssen, daraus schlau zu werden.«
»Ich kann's ja versuchen.« Während ich mich vom Bett erhebe, steht Argent ebenfalls auf, und wir gehen beide zu dem großen Schreibtisch, der den Raum dominiert.
Im Gegensatz zu dem Zimmer ist das hochentwickelte Telekom auf dem Schreibtisch in tadellosem Zustand. Die Tech ist von diesem Jahr und der letzte Schrei. Argent setzt sich davor und schaltet das Gerät ein, während ich einen weiteren Stuhl heranziehe, mich seitlich hinter Argent setze und die Unterarme auf die Lehne seines Stuhls lege.
Argent legt einen Chip in das Laufwerk des Tele-koms ein und hämmert eine Reihe von Anweisungen in die Tasten. Ich sehe ihm interessiert zu. Er hat zwei Cyberarme und modifizierte Augen - und, wer weiß, vielleicht verdrahtete Reflexe und andere Spielereien -, aber keine Datenbuchse. Warum wohl, frage ich mich. Interessanter Widerspruch.
»Peg hat etwas länger gebraucht, als sie dachte«, erklärt Argent fast entschuldigend. »Sie ist in San Francisco, und der Tir hat die Datenleitungen zum Freistaat Kalifornien besonders stark gesichert. Das ist verständlich, wenn man die Situation bedenkt, aber trotzdem ärgerlich. Sie mußte es über Seattle versuchen.« Er grinst trocken. »Nicht, daß die Sicherheit auf diesen Leitungen viel geringer ist, aber bei diesen Dingen hilft jede Kleinigkeit.«
Ich nicke wortlos. Ich schätze, es sollte mich nicht überraschen, daß Argents Decker sich nicht im Sprawl aufhält - ein Decker kann überall arbeiten, sofern ihm Datenleitungen zur Verfügung stehen -, aber das tut es trotzdem. Ich war der Ansicht, Argent - und jeder andere Shadowrunner - würde nur Leuten trauen, über die er eine gewisse physische Kontrolle hat. Vielleicht hat er diese Peg irgendwie in der Hand und kann ihr deshalb ›blind‹ vertrauen. Darüber muß ich noch mal nachdenken, wenn ich mehr Zeit habe.
Der Telekomschirm füllt sich mit Text - so ungefähr jedes zweite Wort ist gekennzeichnet, was auf eine Hy-permediaverbindung zu anderen Dateien hinweist. Ich schüttle den Kopf. Verdammt schnelle Arbeit. Diese Peg muß echt was drauf haben. Ich versuche erst gar nicht zu lesen, was auf dem Schirm steht. Argent rast durch den Text und springt von einer Stelle zur anderen. Ich beschließe ganz einfach zu warten, bis er fertig ist.
Nachdem er sich die Datei vielleicht eine Minute lang angesehen hat, dreht sich der verchromte Runner zu mir um. »Das ist alles, was Peg über Timothy Tele-strian ausgegraben hat.« Er zuckt die Achseln. »Eine Menge Hintergrunddrek, mehr, als du wahrscheinlich brauchst.«
»Gib mir eine Zusammenfassung«, schlage ich vor.
Einen Moment lang hat es den Anschein, als wolle er sich weigern, dann zuckt er die Achseln. »Timothy Te-lestrian«, sagt er. »Elfischer Metatyp, Alter dreißig Jahre.« Ein digitalisiertes Bild - kein Holo, sondern zweidimensional, so gut ist das Telekom nicht - erscheint auf dem Schirm. Schmales Gesicht, glattes blondes Haar, so fein wie das eines Babys, kühle blaue Augen, arroganter Gesichtsausdruck. Typisch Elf. Ich nicke, und Argent fährt fort. »Der Sohn von James Tele-strian III, ebenfalls elfischer Metatyp ...«
»Augenblick mal«, unterbreche ich ihn. »Das paßt nicht zusammen. Elfen werden geboren, richtig? Sie goblinisieren nicht. Und das Erwachen war 2011. Das heißt also...«
Er grinst. »Das heißt, James Telestrian war dreizehn, als er Vater wurde?« Er kichert. »Ja, das ist mir auch aufgefallen, aber ich habe tiefer gegraben. James Telestrian war ein ›Spikebaby‹und ist vor dem Erwachen geboren. Selten, aber es kam vor. James ist fünfundfünfzig, laut Pegs Nachforschungen Jahrgang 1999. Das heißt, er ist wahrscheinlich der älteste Elf auf der ganzen Welt.«
Ich seufze. »Schon gut, schon gut. Vergiß, daß ich es erwähnt habe.«
Argent nickt, aber sein drekkiges Grinsen verblaßt nicht. »James Telestrian III hat Telestrian Industries Corporation gegründet, eines der größten und aggressivsten Konglomerate in Tir. Er ist Präsident und Geschäftsführer. Timothy ist sein einziger Sohn...«
»Was wahrscheinlich bedeutet, Timothy ist Vizepräsident von dem ganzen Laden«, sage ich.
»Habe ich auch gedacht«, sagt Argent achselzuckend. »Aber so läuft das nicht. Überraschend wenig Vetternwirtschaft bei TIC.«
Ich runzle die Stirn. »Ach?«
»Was nicht heißen soll, daß Timothy ganz auf sich allein gestellt ist«, fährt Argent fort. »Er ist Teil des TIC-Imperiums - so könnte man es wohl nennen -, nur nicht ganz oben. Chummer Timothy ist Präsident von BioLogic Technologies, einer Tochter von TIC, aber keiner besonders großen oder erfolgreichen.«
»Und das ist keine Vetternwirtschaft?«
»Nicht, wenn man es mit dem ganzen Kuchen vergleicht«, sagt Argent kategorisch. »BioLogic ist ein kleiner Fisch.«
Ich zucke die Achseln und bedeute ihm fortzufahren.
»Peg glaubt nicht, daß sich James und Timothy jemals nahegestanden haben, aber vor ungefähr einem Jahr oder etwas früher haben sie sich noch weiter voneinander entfernt. Der oberste Pinkel einer größeren TIC-Tochter namens« - er wirft einen Blick auf den Schirm - »Novalis Optical Technologies hat die Pferde gewechselt und sich einem Konkurrenten angeschlossen, so daß eine Spitzenposition frei war. Scheint so, als sei Timothy der Ansicht gewesen, der Job stehe ihm zu.«
»Aber Daddy hat ihn überrascht?«
»Massiv«, bestätigt Argent. »Vielleicht könnte man das Vetternwirtschaft nennen, weil der Posten von einem Familienmitglied besetzt wurde. Aber die Braut, die er sich ausgesucht hat, ist wirklich vielversprechend, außerordentlich fähig und hat echte Erfolge auf-zuweisen. Eine gewisse Lynne Telestrian, Timothys Cousine.«
»Und Timothy war mit Daddys Wahl nicht einverstanden?«
Argent kichert. »Man könnte sagen, er hat sich kritisch in bezug auf James' geschäftlichen Weitblick geäußert. Und zwar sehr laut und in aller Öffentlichkeit. Was James natürlich wenig Anlaß gab, seine Meinimg zu ändern.« Er lehnt sich zurück und lächelt. »Also bekam Lynne den Posten und die Aktienoptionen und das Gehalt und Timothy nichts. Und dann hat er ihnen den Krieg erklärt.«
Das läßt mich auffahren. »Was?«
»Wahrscheinlich nicht so, wie du denkst«, fügt der Runner rasch hinzu. »Keine gegeekten Pinkel oder gesprengten Fabriken. Nein, er hat einen Konzernkrieg angefangen - Aktienmanipulationen, Industriespionage und einen der häßlichsten Grabenkriege um Einfluß und Vollmachten, den du je gesehen hast.
Scheint so, als sei Timothy kein so großer Versager gewesen, wie Daddy sich das gedacht hat«, fährt Argent fort, der sich anscheinend langsam für die Rolle des Geschichtenerzählers zu erwärmen scheint. »Sobald der Drek zu dampfen anfing, versuchte James, Timothy als Präsident von BioLogic zu feuern.«
»Versuchte?« mische ich mich ein. »James ist doch der Oberbonze von dem ganzen verdammten Tele-strian-Imperium, oder nicht?«
Argent nickt. »Stimmt, aber die verschiedenen Tochtergesellschaften genießen einen gewissen Grad von Autonomie. So hat er den Laden aufgebaut. Sie stehen unter TICs Schirmherrschaft, aber sie haben ihren eigenen Vorstand, eigene Aktionäre und so weiter. James ging zum Vorstand von BioLogic und sagte ihm, sie sollten Timothy feuern. Daraufhin sagte der Vorstand zu James, er solle sich zum Teufel scheren.«
Ich nicke langsam. »Timothy muß den Vorstand von BioLogic in der Tasche haben.«
»Auf jeden Fall. Es scheint so, als sei James an dieser Stelle etwas nervös geworden und hätte die... politische Zuverlässigkeit, könnte man es wohl nennen... von anderen Ablegern seines Imperiums überprüft...«
»Nur um festzustellen, daß Timothy dort ebenfalls den Fuß in der Tür hatte«, beende ich den Satz für ihn.
»Bingo. Nicht weit genug, um Timothy die totale Kontrolle zu geben, doch immerhin so weit, daß Daddy selbst nicht mehr die vollständige Kontrolle besaß. Er war daraufhin wohl etwas genervt.«
»Kein Wunder.« Ich denke einen Augenblick nach und nicke dann. »Okay, also ein Kampf um Macht und Einfluß zwischen Vater und Sohn. Wo steht Cousine Lynne?«
»Voll und ganz auf James' Seite. Tatsächlich ist sie seine rechte Hand und, wenn man so will, sein Kriegshäuptling. James hat entweder Besseres zu tun oder hält Lynne für fähiger als sich selbst, diese Art Drek zu handhaben. Sie ist sein Erzengel Michael, der Timothys Raubzügen Einhalt gebietet.«
»Was für Raubzüge?«
Argent zuckt wieder die Achseln. »Kämpfe um Einfluß und Vollmachten, wie ich schon sagte. Einschüchterung von Aktionären, Unterbieten von Kontrakten...« Er deutet mit einem metallenen Finger auf eine bestimmte Textstelle auf dem Schirm. »Ja, da ist es. Als einer der ältesten Elfen überhaupt hat James Telestrian einen megamäßigen Ruf in Tir, den er ausgeschlachtet hat, um die Situation der Geschäftswelt in Tir zumindest teilweise einzufrieren. Das bedeutet, wenn Timothy seinen Marktanteil vergrößern will - und glaub mir, das will er -, muß er das außerhalb von Tir tun.« Er sieht mich erwartungsvoll an.
Ich nicke. Ja, es ergibt einen Sinn, nicht wahr? »Und da in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist, hatte er keine Skrupel, sich mit den Cutters einzulassen, wenn es ihm in den Kram paßte.« Dann kommt mir ein anderer Gedanke. »Hast du ein Bild von Lynne?«
Er blinzelt, dann tippt er ein Kommando ein. Ein Bild erscheint in einem Fenster. Lange, hinter den Ohren zusammengebundene blonde Haare. Kalte grüne Augen. Distanzierter, fast arroganter Gesichtsausdruck. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Lynne Tele-strian«, sage ich ruhig. »Zum zweitenmal.«
»Die Elfenschnalle?«
»Das ist sie.« Ich halte inne. »Es sei denn, jemand hat sie magisch verkörpert...« Dann schüttle ich mit einem verächtlichen Schnauben den Kopf. »Nee, das wäre einfach zu kompliziert, zu paranoid.«
Argent mustert das Bild auf dem Schirm. »Lynne Te-lestrian. Interessant.« Jetzt schaut er wieder in meine Richtung. »Und was sagt uns das?« fragt er.
Ich antworte nicht sofort. Es sagt mir ein paar Dinge, aber ich weiß nicht, warum, zum Teufel, ich das einem verdammten Shadowrunner mitteilen sollte. Dann schüttle ich den Gedanken ab. Er hat mich fair behandelt - bis jetzt, füge ich hinzu -, und es gibt keinen Grund - wiederum bis jetzt -, warum ich nicht auch fair zu ihm sein sollte. Sein Blick ruht stetig auf meinem Gesicht, und nicht zum erstenmal habe ich das Gefühl, daß er eine viel zu gute Vorstellung von dem hat, was mir im Kopf herumgeht. Ich breche den Augenkontakt ab und mustere angestrengt das Bild der Elfe. »Es sagt uns, daß wir der Timothy-Telestrian-Connection mehr Vertrauen schenken können«, sinniere ich. »Was hätte Lynne davon, uns auf eine Verbindung zwischen Timothy und Seattle anzusetzen, die nicht existiert?«
Argent nickt zustimmend. »Sonst noch was?«
»Vielleicht.« Wie hat Argent sie noch genannt? »Wenn sie James Telestrians Erzengel Michael ist, bedeutet das, daß die Seattle-Connection wichtig ist - und zwar für beide Seiten -, ansonsten würde sie nicht ihre Zeit damit verschwenden, mich herumzuschubsen.« Ich zucke die Achseln. »Das ist alles.«
»Da ist noch etwas«, sagt der Shadowrunner leise. »Du bist wichtig, Wolf.«
Mein Kopf ruckt so schnell herum, daß ich mir fast den Hals verrenke. »Häh? Schwachsinn.« Das Wort rutscht mir heraus, bevor mir klar wird, daß es gar nicht so schwachsinnig ist.
»Es ist die gleiche Logik«, sagt Argent mit Nachdruck und bestätigt damit noch einmal, was mir soeben selbst aufgefallen ist. »Du mußt wichtig sein, sonst hätte sie ihre Zeit nicht damit verschwendet, dich herumzuschubsen. Sie würde dich ignorieren oder geeken. Aber sie hat nichts von beidem getan.«
»Ja«, stimme ich widerwillig zu. »Na schön. Aber warum?«
»Ich würde sagen, du solltest einiges Gehirnschmalz investieren, das herauszufinden«, sagt der Runner. »Sie muß davon ausgehen, daß du irgendwas weißt - oder etwas tun kannst -, das Timothy die Tour vermasseln könnte, die er hier im Plex laufen hat. Irgendwelche Ideen?«
Welche Gefahr könnte ich für einen ehrgeizigen Elf-Pinkel darstellen? Es sei denn, Timothy würde im Kreuzfeuer stehen, wenn der Star und die Cutters mich zu geeken versuchen, kann ich nicht erkennen, wie ich für diesen verdammten Timothy Telestrian von Bedeutimg sein kann. »Im Augenblick nicht«, sage ich zaghaft.
Argent kichert. »Dann denk mal nach, Omae. Wenn dir kein Grund einfällt, dann wenigstens um deinetwillen.«
»Was du nicht sagst, Sherlock.« Ich reibe mir die Augen. Blöde Sache, sich direkt nach dem Aufwachen damit auseinandersetzen zu müssen, wie man in die internen Machtkämpfe eines Elfen-Konzerns paßt. »Hat Peg irgendwas über Mr. Nemo ausgegraben?«
»Nichts unter diesem Namen«, sagt Argent, indem er das Gesicht verzieht. »Was nicht weiter überraschend war. Und deine Beschreibung war nicht gerade Gold wert.«
»Es gab auch nichts zu beschreiben«, schnauze ich zurück, da ich mich plötzlich angegriffen fühle. »Braun und braun, olivfarbener Teint, mittelgroß, mittelschwer, keine besonderen Kennzeichen, Alter zwischen achtundzwanzig und vierzig. Nicht viel, woran man sich hochziehen kann, wenn du verstehst, was ich meine.« Übersetzung: Ich würde gern sehen, ob du 'ne bessere Beschreibung liefern könntest, Heißsporn ...
Einen Augenblick lang verengen sich Argents modifizierte Augen und nehmen einen frostigen Glanz an. Ich weiß, er hat die letzte Botschaft ganz genau verstanden, und ich glaube, diesmal bin ich zu weit gegangen. Aber die Spannung hält nur einen Augenblick an, dann entspannt sich Argent wieder und nickt. »Nichts für ungut, Wolf.«
»Ist schon in Ordnimg«, lüge ich zurück, und der Ehre ist genüge getan. Zum Teufel mit diesem Macho-Drek. Er stört einfach zu oft. »Echt schade.«
»Shoganai«, sagt der Runner. »Japanisch für ›Drek, wir können's nicht ändern.«
Ich schweige eine Weile, dann sage ich: »Weißt du, manchmal kann auch die Tatsache ein besonderes Kennzeichen sein, daß es keine besonderen Kennzeichen gibt. Zum Beispiel scheiden wir beide aus. Ich bin zu groß, du...« Ich beende den Satz nicht.
Argent grinst raubtierhaft, und es klickt metallisch, als er die Fäuste ballt. »Schon verstanden.«
»Nehmen wir also mal an, Nemo arbeitet irgendwo im TIC-Imperium«, fahre ich fort. Der Runner nickt bestätigend. »Zu Personalakten gehören immer auch Fotos. Könnte Peg Fotos von allen besorgen, die männlich und völlig nichtssagend sind und keine besonderen Kennzeichen haben? Es ist zwar ein Schuß ins Blaue, aber vielleicht finde ich ihn.«
Argent ist nicht überzeugt. »Weißt du, wie groß das TIC-Imperium ist, Omae?«
»Dann grenzen wir's auf Timothys Revier ein«, sage ich ungehalten.
»Vielleicht.«
»Weißt du was Besseres?«
Schließlich schüttelt der Shadowrunner den Kopf. »Nein«, gesteht er ein. Aber er gibt sich noch nicht geschlagen. »Glaubst du, Nemo ist die Mühe wert?«
»Keine Ahnimg, könnte aber gut sein. Wir haben einander erkannt, weißt du noch?«
»Ich weiß auch noch, daß du keine Ahnung hast, woher du ihn kennst.«
Ich schlucke meine Ungeduld hinunter. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Ich weiß nur, es könnte wichtig sein. Hast du 'ne bessere Idee?«
Argent sagt kein Wort, aber seinem steten Blick entgeht die Botschaft nicht: Ja, schaff deine traurige Visage hier raus und kriech wieder den Konzernen für die dicke Kohle in den Arsch wie ein guter kleiner Shadowrunner.
Wir sitzen vielleicht fünfzehn Sekunden lang so da und starren einander nieder, und langsam will die Elektronik Argent echt ans Leder. Doch es ist der Shadowrunner, der zuerst den Blick abwendet und kaum merklich nickt. »Okay, es ist möglicherweise eine Spur«, sagt er leise. »Ich leite es an Peg weiter.«
Und mir wird klar, daß ich gerade einen Streit mit einem Shadowrunner zu meinen Gunsten entschieden habe.