KAPITEL FÜNF
LICHT FÜR DIE MASSEN
Onkel Wolfram war eine komplexe Mischung, zugleich intellektuell und praktisch veranlagt wie die meisten seiner Brüder und Schwestern und wie der Mann, der sie alle gezeugt hatte. Er liebte die Chemie, war aber kein «reiner» Chemiker wie sein jüngerer Bruder Mick. Onkel Dave war auch Unternehmer und Geschäftsmann. Er war ein Fabrikant, der von seinen Produkten recht gut lebte - seine Glühbirnen und Vakuumröhren fanden stets Abnehmer, und das genügte ihm. Zu seinen Mitarbeitern hatte er ein freundliches, persönliches Verhältnis. Er hatte nicht das Bedürfnis, zu expandieren, ein Riesenunternehmen aufzubauen, was ihm leicht möglich gewesen wäre. Er blieb, was er immer gewesen war, ein Liebhaber von Metallen und Substanzen, immer wieder fasziniert von ihren Eigenschaften. Er verbrachte endlose Stunden damit, die Arbeitsprozesse in seinen Betrieben zu beobachten: das Sintern des Wolframs und das Ziehen der Glühfäden, das Drehen der Doppelwendel und der Molybdänhalter für die Fäden, das Füllen der Glühlampen mit Argon in der alten Fabrik in Farringdon, das Blasen der Glaskolben und ihr Mattieren mit Flusssäure in seiner neuen Fabrik in Hoxton. Dabei hätte er sich solche Beobachtungen durchaus sparen können - seine Mitarbeiter verstanden ihr Geschäft und der Maschinenpark war gut in Schuss -, doch es machte ihm Freude, und manchmal kam ihm dabei eine Idee für weitere Verbesserungen und neue Verfahrensweisen. Eigentlich brauchte er die kleinen, dabei hervorragend ausgestatteten Labors in seinen Fabriken gar nicht, doch er war neugierig und liebte seine Experimente, von denen einige unmittelbar mit dem Herstellungsprozess zu tun hatten, viele jedoch, soweit ich es beurteilen konnte, nur seinem Spaß daran dienten. Auch wäre es nicht erforderlich gewesen, dass er, wie es der Fall war, die Geschichte der Glühlampe, der Beleuchtung im Allgemeinen und der zugrunde liegenden chemischen und physikalischen Sachverhalte in allen Einzelheiten kannte. Doch es gefiel ihm, sich als Teil einer Tradition wahrzunehmen - der Tradition von reiner Wissenschaft und zugleich angewandter Wissenschaft, Handwerk und Industrie.
Edisons Vision vom Licht für die Massen, so pflegte Onkel zu sagen, sei mit der Glühlampe endlich Wirklichkeit geworden. Wenn jemand aus dem Weltraum auf die Erde blickte und sähe, wie sie sich alle vierundzwanzig Stunden in den Nachtschatten drehte, könnte er jede Nacht Millionen, viele hundert Millionen Glühlampen aufleuchten sehen, die ihr Licht weißglühendem Wolfram verdankten - und würde wissen, dass es der Menschheit endlich gelungen war, die Dunkelheit zu vertreiben. Die Glühlampe habe mehr zur Veränderung sozialer Gewohnheiten und menschlichen Lebens getan, so Onkel Wolfram, als irgendeine andere Erfindung, die er kenne.
Und in vielerlei Hinsicht sei die Geschichte der chemischen Entdeckungen untrennbar mit der Suche nach Licht verknüpft. Vor 1800 hatte man lediglich Kerzen oder einfache Öllampen, wie es sie schon seit Tausenden von Jahren gab. Ihr Licht glimmte sehr schwach, und nachts konnte man sich auf die dunklen und gefährlichen Straßen eigentlich nur mit einer Laterne oder bei Vollmond wagen. Es gab einen enormen Bedarf an einer effizienten Form von Beleuchtung für Haus und Straße.
Anfang des 19. Jahrhunderts führte man das Gaslicht ein und experimentierte dabei mit neuen Techniken. Unterschiedliche Brenner erzeugten Gasflammen verschiedener Form. So gab es die Fledermaus-, Schmetterlings-, Schlitz- oder Schnittbrenner.
Ich fand die Namen, wenn ich sie aus dem Mund meines Onkels hörte, nicht weniger schön als die Flammen.
Doch die Gasflammen mit ihren glühenden Kohlenstoffteilchen brannten kaum heller als Kerzenflammen. Man brauchte noch irgendetwas Zusätzliches, einen Stoff, der ein besonderes Leuchten erzeugte, wenn er in einer Gasflamme erhitzt wurde. Eine solche Substanz war Kalziumoxid oder Kalk, der ein intensives grünweißes Licht ausstrahlte, wenn er erhitzt wurde. Dieses «Kalklicht» sei in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckt worden und jahrzehntelang als Bühnenbeleuchtung verwendet worden, so Onkel Dave. Deshalb spricht man in England noch heute von limelight, Kalklicht, wenn man das Rampenlicht meint, obwohl das Kalklicht schon lange nicht mehr zu Beleuchtungszwecken benutzt wird. Ein ähnlich strahlendes Licht kann man durch die Erhitzung zahlreicher anderer Erden erzeugen - Zirkonerde, Thorerde, Bittererde (Magnesiumoxid), Tonerde, Zinkoxid. («Nennt man es Zinkerde?», fragte ich. «Nein», antwortete Onkel lächelnd, «nicht dass ich wüsste.»)
Nachdem man viele Oxide durchprobiert hatte, erkannte man in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, dass einige Mischungen heller glühten als einzelne Oxide. Auer von Welsbach experimentierte in Deutschland mit zahllosen derartigen Kombinationen, bis er schließlich 1891 den idealen Stoff entdeckte: eine Mischung aus Thorerde und Zerdioxid im Verhältnis 99 zu 1. Das Mischungsverhältnis war von entscheidender Bedeutung: 100 zu l oder 98 zu l wirkte, wie Auer feststellte, weit weniger.
Bis dahin habe man Oxidstäbe oder -stifte verwendet, sagte Onkel, aber Auer habe herausgefunden, dass «ein Gewebe von geeigneter Form», ein Glühstrumpf aus Ramiefaser, eine weit größere Oberfläche bot, die mit dieser Mischung imprägniert werden und so helleres Licht liefern konnte. Diese Glühstrümpfe revolutionierten die gesamte Gasbeleuchtung und bildeten eine ernsthafte Konkurrenz zu der noch in den Kinderschuhen steckenden elektrischen Lichtindustrie.
Mein Onkel Abe, der einige Jahre älter war als Onkel Dave, konnte sich noch lebhaft an diese Entdeckung erinnern und beschrieb, wie sich das etwas schwach beleuchtete Elternhaus in der Leman Street unter dem Einfluss der neuen Glühstrümpfe plötzlich verwandelte. Er erinnerte sich auch an einen großen Thorium-Boom: In wenigen Wochen stieg der Thoriumpreis um das Zehnfache, und man begann fieberhaft nach neuen Vorkommen dieses Elements zu suchen.
Auch Edison in Amerika experimentierte als einer der Ersten mit der Glut seltener Erden, allerdings nicht mit dem gleichen Erfolg wie Auer, weshalb er seine Aufmerksamkeit Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf eine andere Lichtart, das elektrische Licht, richtete. In England hatten Swan und einige andere in den sechziger Jahren mit Platinlampen zu experimentieren begonnen (Onkel bewahrte eine dieser frühen Swan-Lampen in seiner Vitrine auf); der ehrgeizige Edison beteiligte sich an dem Wettrennen, stieß aber auf die gleichen Schwierigkeiten wie Swan: Der Schmelzpunkt von Platin war zwar hoch, aber nicht hoch genug.
Edison experimentierte mit vielen anderen Metallen, die höhere Schmelzpunkte haben, um einen brauchbaren Glühfaden zu erhalten, fand aber keinen passenden - bis ihm 1879 die zündende Idee kam: Kohlenstoff hatte einen wesentlich höheren Schmelzpunkt als jedes Metall - niemand hatte es bislang zum Schmelzen gebracht -, und obwohl es Elektrizität leitete, hatte es einen hohen Widerstand, der den Kohlenstoff rasch erwärmen und zum Glühen bringen würde. Edison versuchte, Spiralen aus elementarem Kohlenstoff herzustellen, ähnlich den Metallspiralen, aus denen die ersten Glühfaden bestanden hatten, doch diese Kohlenstoffspiralen zerfielen. Seine Lösung - fast lächerlich einfach, obwohl es eines genialen Einfalls bedurfte, um darauf zu kommen: Er nahm eine organische Faser (Papier, Holz, Bambus, einen Leinen- oder Baumwollfaden) und verbrannte sie bis auf ein Kohlenstoffskelett, das fest genug war, um zusammenzuhalten und einen elektrischen Strom zu leiten. Wenn man diese Glühfaden in luftentleerte Glaskolben einsetzte, lieferten sie Hunderte von Stunden lang ein gleichmäßiges Licht.
Edisons Glühlampen eröffneten die Möglichkeit einer echten Revolution - obwohl sie natürlich auf ein vollkommen neues System von Dynamos und elektrischen Leitungen angewiesen waren. «Das erste zentrale elektrische System der Welt wurde von Edison 1882 genau hier angelegt», sagte Onkel, während er mich ans Fenster führte und auf die Straße darunter zeigte. «Große dampfbetriebene Stromerzeuger wurden dort drüben auf dem Holburn Viaduct aufgestellt und versorgten dreitausend elektrische Glühlampen entlang des Viadukts und auf der Farringdon Bridge Road.»
Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren dann geprägt von elektrischen Glühlampen und der Errichtung eines ganzen Netzes von Kraftwerken und Überlandleitungen. Doch 1891 erwuchs der jungen elektrischen Lichtindustrie in Auers weiterentwickelten Glühstrümpfen ernsthafte Konkurrenz. Sie arbeiteten sparsam und kostengünstig (und konnten an vorhandene Gasleitungen angeschlossen werden). Meine Onkel hatten mir von dem Kampf zwischen elektrischem Licht und Gasbeleuchtung in ihrer Jugend erzählt; mal neigte sich die Waagschale zugunsten der einen und mal zugunsten der anderen Technik. Viele Häuser in diesem Gebiet - auch das unsere - wurden für beides ausgerüstet, weil man nicht wusste, welche Beleuchtungsform sich am Ende durchsetzen würde. (Noch fünfzig Jahre später, in meiner Kindheit, wurden viele Straßen in London, besonders in der City, von Gaslaternen beleuchtet. Manchmal sah man in der Dämmerung den Lampenanzünder mit seiner langen Stange von einer Straßenlaterne zur anderen wandern und sie nacheinander entzünden. Ich liebte diesen Anblick.)
Trotz aller Vorzüge hatten die Kohlenstofflampen auch ihre Nachteile. Sie waren zerbrechlich, und dies bei Gebrauch zunehmend. Außerdem hielten sie nur einer relativ niedrigen Betriebstemperatur stand, sodass sie lediglich ein gelbes Funzellicht spendeten und kein strahlend weißes.
Gab es eine Lösung dafür? Man brauchte ein Material mit einem Schmelzpunkt, der etwa so hoch wie der des Kohlenstoffs läge, mindestens um die 3000 Grad Celsius, jedoch eine viel größere Festigkeit besäße als der Kohlenstofffaden. Nur drei solche Metalle waren bekannt, sagte Onkel Dave: Osmium, Tantal und Wolfram. Hier schien er deutlich lebhafter zu werden. Er schätzte Edison und seinen Erfindungsreichtum außerordentlich, aber Kohlenstofffäden waren augenscheinlich nicht nach seinem Geschmack. Ein ordentlicher Glühfaden, so schien er zu meinen, müsse aus Metall sein, weil man nur Metall zu richtigen Drähten ziehen konnte. Ein Draht aus Ruß, so lachte er verächtlich, das sei ein Widerspruch in sich, und es sei ein Wunder, dass sie überhaupt so lange gehalten hätten.
Die ersten Osmiumlampen wurden 1897 von Auer hergestellt. Onkel Dave hatte eine von ihnen in seiner Vitrine. Doch Osmium war sehr selten und kostspielig - die gesamte Weltproduktion betrug nur sieben Kilogramm im Jahr. Außerdem war es fast unmöglich, das Osmium zu Draht zu ziehen, also musste man das Osmiumpulver mit einem Bindemittel mischen und in eine Form gießen, in der das Bindemittel nach und nach verbrannt wurde. Schließlich waren diese Osmiumfaden auch noch sehr brüchig und rissen, wenn man die Glühlampen auf den Kopf stellte.
Tantal war seit mehr als hundert Jahren bekannt, allerdings hatte es sich als äußerst schwierig erwiesen, das Metall zu reinigen und zu bearbeiten. Doch bis 1905 wurde dies immerhin ausreichend möglich, um es zu Drähten ziehen zu können. Mit Glühfaden aus Tantal ließen sich Glühlampen so massenhaft und kostengünstig herstellen, dass sie im Gegensatz zu den Osmiumlampen mit den Kohlenstofflampen konkurrieren konnten. Doch um den nötigen Widerstand zu sichern, musste man einen sehr langen, spinnwebdünnen Draht im Inneren des Glaskolbens zickzackförmig verlegen, sodass man ein kompliziertes, käfigartiges Glühfadengewebe erhielt. Zwar wurde Tantal etwas weicher, wenn man es erhitzte, trotzdem bewährten sich diese Glühfaden so hervorragend, dass sie schließlich die Vorherrschaft des Gasglühstrumpfes infrage stellten. «Plötzlich waren Tantallampen die große Mode», sagte Onkel.
Bis zum Ersten Weltkrieg blieben Tantalglühlampen der letzte Schrei, doch noch auf der Höhe ihres Erfolgs wurde ein Glühfaden aus anderem Metall erprobt, aus Wolfram. Die ersten brauchbaren Wolframlampen wurden 1911 angefertigt. Sie arbeiteten kurzzeitig bei sehr hohen Temperaturen, obwohl sie sich durch die Ablagerungen des verdampfenden Wolframs auf der Innenseite der Glasfläche rasch schwarz färbten. Der erfindungsreiche amerikanische Chemiker Irving Langmuir schlug angesichts dessen vor, ein nicht reaktionsfähiges Gas zu verwenden, das Druck auf den Glühfaden ausübe und dadurch seine Verdampfung verringere. Ein absolut inertes Gas, ein Edelgas, war gefragt, und als Kandidat bot sich offenkundig Argon an. Fünfzehn Jahre zuvor war es isoliert worden, doch bislang nur in kleinen Labormengen verfügbar. Die Gasfüllung warf noch ein anderes Problem auf: Durch die Konvektion im Gas kam es zu massivem Wärmeverlust. Der ließ sich nur verhindern, wie Langmuir erkannte, wenn man den Glühfaden so kompakt wie möglich knüpfte, sodass man eine eng gewickelte Drahtspirale erhielt und kein flächiges Spinnennetz. Eine solche enge Spirale ließ sich aus Wolfram herstellen, und 1913 fügte man dies alles zusammen: fein gezogener Wolframdraht, zu engen Spiralen gewickelt, in einem mit Argon gefüllten Glaskolben. Die Tage der Tantallampe waren damit gezählt. Das härtere, billigere, energieeffizientere Wolfram würde ganz zweifellos schon bald die Vorherrschaft antreten (tat dies allerdings erst nach dem Krieg, als Argon in den erforderlichen Mengen verfügbar wurde). Daraufhin entschieden sich viele Hersteller für Wolframlampen, und auch Onkel Dave gründete zusammen mit einigen seiner Brüder (und drei Brüdern seiner Frau, den Wechslers, die ebenfalls Chemiker waren) die Firma Tungstalite.
Onkel Dave liebte es, mir diese Saga zu erzählen, die er großenteils selbst erlebt hatte und deren Protagonisten Helden für ihn waren, nicht zuletzt, weil sie es verstanden hatten, ihre Leidenschaft für die reine Wissenschaft mit einem ausgeprägten Sinn für das Praktische und Geschäftliche zu verbinden (Langmuir, so erzählte er mir, sei der erste Industriechemiker gewesen, der einen Nobelpreis bekommen habe).
Onkel Daves Glühlampen waren größer als die von Osram, General Electric oder anderen bekannten Herstellern - größer, schwerer und fast lächerlich robust, sie schienen ewig zu halten. Manchmal hoffte ich darauf, dass sie ihren Geist aufgaben, um sie zu zerschlagen (nur schwer hinzukriegen) und ihre Wolframfäden und Molybdänhalter herauszuziehen. Dann würde ich das Vergnügen haben, aus dem dreieckigen Schrank unter der Treppe eine nagelneue Glühlampe aus ihrer zerknitterten Pappschachtel hervorzuziehen. Andere kauften ihre Glühlampen einzeln, wir bekamen sie kartonweise aus der Fabrik, Dutzende von 60-Watt- und 100-Watt-Birnen, obwohl wir auch kleine 15-Watt-Birnen für Schränke und Nachttischlampen verwendeten, außerdem eine blendend helle 300-Watt-Lampe für die Haustür. Onkel Tungsten stellte Glühlampen aller Art und Größe her, von winzigen l 1/2-Volt-Birnen für kleine Taschenlampen bis zu solch ungeheuren Glühlampen für Flutlichtanlagen und Scheinwerfer. Es gab auch Birnen von besonderer Form, die für Instrumentenfelder, Augenspiegel und andere medizinische Gerätschaften bestimmt waren, sogar Glühlampen mit Tantalfaden (trotz Onkels Liebe zu Wolfram) für Filmprojektoren und die Lampen in Zügen. Solche Fäden waren weniger energieeffizient, weniger widerstandsfähig bei höheren Temperaturen, wohl aber besser in der Lage, Vibrationen auszuhalten. Ich zerschlug auch diese gern, genoss den dumpfen Laut, mit dem sie zerplatzten, und zog den Tantaldraht heraus, um ihn meiner wachsenden Sammlung von Metallen und Chemikalien hinzuzufügen.
Onkels Glühlampen und mein Hang zur Improvisation veranlassten mich, ein eigenes Beleuchtungssystem im Innern des dunklen Schrankes unter der Treppe zu installieren. Dieser Raum hatte mich seit jeher fasziniert und ein wenig geängstigt, denn er hatte kein eigenes Licht und schien sich in seinen fernsten Winkeln in undurchdringliches Dunkel und Geheimnis zu verlieren. Eine zitronenförmige 6-Watt-Birne, wie sie in den Seitenleuchten unseres Autos verwendet wurde, verband ich mit einer 9-Volt-Batterie, die für eine elektrische Laterne bestimmt war. Ziemlich ungeschickt brachte ich einen Schalter an der Wand an und verband ihn durch Kabel mit der Glühlampe und der Batterie. Ich war absurd stolz auf diese kleine Installation und zeigte sie Besuchern, die ins Haus kamen. Doch ihr Licht drang in alle Ecken des Schranks und vertrieb mit der Dunkelheit auch sein Geheimnis. Zu viel Licht, so erkannte ich, war nicht unbedingt von Vorteil - jedenfalls nicht dort, wo man den Orten lieber ihr Geheimnis ließ.
KAPITEL SECHS
IM LAND DES ANTIMONITS
Ich glaube, ich war eine Art Einzelgänger in meiner neuen Schule in London namens The Hall, zumindest in der ersten Zeit. Mein Freund Eric Kom, der mich noch aus der Vorkriegszeit kannte wir waren fast gleich alt und wurden beide von unseren Kindermädchen zum Spielen in den Brondesbury Park gebracht -, hatte den Eindruck, dass etwas mit mir geschehen sei. Vor dem Krieg sei ich aggressiv und normal gewesen, sei Prügeleien nicht aus dem Weg gegangen, hätte mich gewehrt und meine Meinung gesagt; nun wirkte ich auf ihn verängstigt, eingeschüchtert, allen Streitereien und Unterhaltungen ausweichend, zurückgenommen und Distanz haltend. Tatsächlich hielt ich fast in jeder Hinsicht Distanz zur Schule, denn ich hatte Angst vor Schikanen und Schlägen und verstand nur langsam, dass Schulen auch angenehme Orte sein konnten. Immerhin wurde ich überredet (oder gezwungen - das weiß ich nicht mehr), den Cub Scouts (Wölflingen) beizutreten. Man meinte, das sei gut für mich, würde mich in engeren Kontakt zu Gleichaltrigen bringen und mir «notwendige» Fertigkeiten für das Leben in freier Natur vermitteln - Feuer machen, Zelte aufschlagen oder Spuren lesen. Obwohl nicht ganz ersichtlich war, wie man im städtischen London von solchen Fertigkeiten Gebrauch machen sollte. Und aus irgendeinem Grund lernte ich sie auch nie richtig. Ich hatte keinen Orientierungssinn und kein visuelles Gedächtnis - bei Kim-Spielen, wo man sich eine Reihe verschiedener Dinge einprägen musste, schnitt ich so schlecht ab, dass einige mich für geistig behindert hielten. Von mir geschichtete Holzstöße ließen sich nie entzünden oder gingen nach wenigen Sekunden aus, meine Versuche, mit zwei Stäben Feuer zu machen, indem ich sie aneinander rieb, führten nie zum Erfolg (obwohl ich das eine Zeitlang vertuschen konnte, indem ich mir das Feuerzeug meines Bruders auslieh), und meine Bemühungen, ein Zelt aufzuschlagen, ernteten allgemeine Heiterkeit.
Was mir bei den Cub Scouts wirklich gefiel, war die Tatsache, dass wir alle die gleiche Uniform trugen (was mir ein bisschen meine Befangenheit nahm, mein Gefühl, anders zu sein), die Anrufung von Akela, dem grauen Wolf, und unsere Identifikation mit dem Wolfsjungen im Dschungelbuch - ein edler Gründungsmythos, der die romantische Seite meines Wesens befriedigte. Doch das konkrete Pfadfinderleben gestaltete sich, jedenfalls für mich, auf der ganzen Linie als ein totaler Fehlschlag.
Das Ganze erreichte seinen Kulminationspunkt, als wir eines Tages aufgefordert wurden, ein Damper (Stockbrot) zu backen, eines jener speziellen Fladenbrote, die Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinderbewegung, bei seinem Aufenthalt in Afrika gebacken hatte. Damper, so hatte man mir gesagt, seien harte, flache Scheiben aus ungesäuertem Brotteig, doch als ich in unserer Küche nach Mehl suchte, fand ich den Topf leer. Ich mochte nicht fragen, ob es noch irgendwo Mehl gab, oder welches kaufen - schließlich wurde von uns erwartet, dass wir findig waren und uns selbst zu helfen wussten. Da entdeckte ich zu meiner Freude draußen ein bisschen Zement, den Maurer zurückgelassen hatten. Was ich mir eigentlich dachte, als in mir die Überzeugung reifte, ich könne Zement anstelle von Mehl nehmen, weiß ich heute nicht mehr, jedenfalls nahm ich den Zement, verarbeitete ihn zu einer Paste, würzte ihn mit Knoblauch, formte ihn zu einem Damperähnlichen Oval und buk ihn im Ofen. Er wurde hart, sehr hart - aber schließlich waren auch Damper sehr hart. Als ich ihn am folgenden Tag mit zum Wölflingstreffen nahm und Mr. Baron, dem Pfadfinderführer, aushändigte, war der erstaunt, aber auch erfreut (glaube ich) über sein Gewicht, das eine ungewöhnlich nahrhafte Mahlzeit versprach. Er führte das «Brot» zum Mund, biss herzhaft hinein und wurde mit einem lauten Knacken belohnt, als einer seiner Zähne abbrach. Sofort spuckte er den Bissen aus. Ein oder zwei Wölflinge kicherten kurz, dann herrschte tödliches Schweigen. Alle Mitglieder des Wolfsrudels schauten auf mich.
«Wie hast du den Damper gemacht, Sacks?», fragte Mr. Baron mit bedrohlich ruhiger Stimme. «Was hast du da hineingetan?»
«Zement, Sir», antwortete ich, «ich konnte kein Mehl finden.»
Das Schweigen vertiefte sich, zog sich hin; alles schien zu einem bewegungslosen Tableau zu erstarren. In dem Bemühen, sich zu beherrschen und mich nicht zu schlagen (denke ich), hielt Mr. Baron eine kurze, emotionsgeladene Rede: Ich hätte eigentlich den Eindruck eines ganz netten Jungen gemacht, anständig, wenn auch schüchtern und entsetzlich ungeschickt, aber dieser Damper werfe doch grundlegende Fragen auf. Wusste ich, was ich tat? War es meine Absicht, Unheil anzurichten? Ich wollte sagen, es sei nur ein Scherz gewesen, brachte aber kein Wort heraus. Sei ich nur unglaublich dumm, fragte Mr. Baron weiter, oder vielmehr bösartig, vielleicht verrückt? Was immer zutreffe, ich hätte mich eines groben Fehlverhaltens schuldig gemacht, meinen Pfadfinderführer verletzt und die Ideale des Wolfsrudels mit Füßen getreten. Ich verdiente es nicht, ein Pfadfinder zu sein. Mit diesen Worten verbannte mich Mr. Baron ein für alle Mal aus den Reihen der Cub Scouts.
Der Terminus «ausagieren» war noch nicht erfunden, aber das Konzept wurde schon häufig diskutiert, einen guten Kilometer von der Schule entfernt, in Anna Freuds Hampstead Clinic. Dort arbeitete sie mit Kindern und Jugendlichen, die als Folge traumatisch erlebter Evakuierungen verschiedenste Verhaltensauffälligkeiten zeigten.
Die Willesden Public Library war ein seltsam dreieckiger Bau quer zur Willesden Lane und nur ein paar Minuten von uns entfernt. Von außen wirkte das Gebäude täuschend klein, doch in seinem Inneren erwies es sich als riesig, mit Dutzenden von Erkern und Nischen voller Bücher - mehr Bücher, als ich in meinem Leben je gesehen hatte. Sobald die Bibliothekarin sich vergewissert hatte, dass ich die Bücher pfleglich behandelte und mit der Kartei umgehen konnte, ließ sie mir freie Hand in der Bücherei. Ich durfte Bücher aus der Zentralbibliothek bestellen und manchmal sogar seltene Bücher mit nach Hause nehmen. Ich verschlang alles und unsystematisch: Ich überflog und schwebte und schmökerte in den Büchern nach Herzenslust, und obwohl meine Interessen schon eindeutig in den Naturwissenschaften wurzelten, griff ich gelegentlich genauso nach Abenteuer- und Detektivgeschichten. The Hall, meine Schule, hatte keinen naturwissenschaftlichen Zweig und bot daher wenig Interessantes für mich - unser Lehrplan war damals ausschließlich humanistisch ausgerichtet. Doch das spielte keine Rolle, das Wissen, das mich wirklich bildete, bezog ich aus meiner Lektüre. Meine Freizeit verbrachte ich, wenn nicht bei Onkel Dave, wohl verteilt zwischen der Bibliothek und den Museen in South Kensington. Für meine Kindheit und Jugend hatten Letztere außerordentliche Bedeutung.
Besonders die Museen gestatteten mir meine eigenen Wege. Ich konnte von einer Vitrine zur nächsten, einer Ausstellung zur anderen wandern, ohne mich an einen Lehrplan halten, ohne Stunden besuchen, Prüfungen bestehen oder konkurrieren zu müssen. Das Dasitzen im Unterricht, in der Schule, hatte etwas Passives, Erzwungenes, während man sich in Museen aktiv verhalten, seiner Neugier folgen konnte wie in der realen Welt. Die Museen - und der Zoo und der botanische Garten in Kew weckten in mir den Wunsch, die Welt zu bereisen und für mich zu erforschen, Steine- oder Pflanzensammler zu werden, Zoologe oder Paläontologe. (Fünfzig Jahre danach besuche ich noch immer mit Vorliebe die naturkundlichen Museen und botanischen Gärten, wenn ich in eine unbekannte Stadt oder ein fremdes Land komme.)
Man betrat das Geologische Museum wie einen Tempel, durch einen großen Marmorbogen, der von riesigen Bodenvasen aus blauem Derbyshire-Flussspat flankiert war. Im Erdgeschoss standen dicht bestückte Vitrinen und Schaukästen mit Mineralien und Edelsteinen. Es gab Dioramen mit Vulkanen, Blasen werfenden Schlammlöchern, abkühlender Lava, kristallisierenden Mineralien, den langsamen Prozessen von Oxidation und Reduktion, Steigen und Fallen, Mischung und Metamorphose. Auf diese Weise erhielt man nicht nur einen Eindruck von den Produkten, die die Erdaktivitäten hervorbrachten - den Steinen und Mineralien -, sondern auch von den fortwährenden Prozessen selbst, den physikalischen und chemischen.
Im oberen Stockwerk befand sich eine riesige Sammlung von Antimoniten - glänzend schwarze, speerartige Prismen aus Antimonsulfid. In Onkel Daves Labor hatte ich Antimonsulfid als unansehnliches schwarzes Pulver kennen gelernt, doch hier sah ich Kristalle von anderthalb bis zwei Metern Höhe. Ich betete diese Prismen förmlich an, sie wurden eine Art Totem oder Fetisch für mich. Es hieß, diese wunderbaren Kristalle, weltweit die größten ihrer Art, stammten aus der Ichinokawa-Mine auf der japanischen Insel Shikoku. Ich nahm mir vor, die Insel zu besuchen, wenn ich erwachsen wäre, und diesem Gott meine Achtung zu bezeugen. Später erfuhr ich, dass Antimonit an vielen Orten gefunden wird, doch durch diese erste Begegnung hat er sich in meiner Vorstellung unauflöslich mit Japan verbunden, sodass es für immer das Land des Antimonits wurde, so wie Australien für mich nicht nur das Land des Kängurus und des Schnabeltiers ist, sondern auch das des Opals.
Das Museum verfügte auch über große Bestände an Galenit - Bleiglanz -, insgesamt sicherlich mehr als eine Tonne -, der schimmernde dunkelgraue Würfel von zehn bis fünfzehn Zentimetern Durchmesser bildete. Sie schlössen oft kleinere Würfel ein, die wiederum, wie ich durch meine Taschenlupe erkennen konnte, noch kleinere Würfel in sich trugen. Als ich Onkel Dave davon berichtete, bestätigte er, Bleiglanz sei durch und durch kubisch. Selbst wenn ich ihn eine Million Mal vergrößerte, würde ich immer noch Würfel sehen, die aus noch kleineren Würfeln bestünden. Darin komme wie bei allen Kristallen die Anordnung der Atome zum Ausdruck, die festgelegten dreidimensionalen Muster oder Gitter, die sie bildeten. Der Grund seien die Bindungen zwischen ihnen, Bindungen von elektrostatischer Natur. Und die konkrete Anordnung der Atome in einem Kristallgitter, sagte Onkel, spiegele die dichteste Packung wider, die die Anziehungs- und Abstoßungskräfte der Atome zuließen. Dass sich ein Kristall aus der Wiederholung unzähliger identischer Gitter aufbaute, dass es im Grunde ein einziges riesiges, sich selbst wiederholendes Gitter war, erschien mir wunderbar. Kristalle waren wie Riesenmikroskope, die es einem erlaubten, die Konfiguration der Atome in ihrem Inneren zu erkennen. Vor meinem geistigen Auge konnte ich die Blei- und Schwefelatome fast sehen, die den Galenit, den Bleiglanz aufbauten. Ich stellte mir vor, sie würden unter dem Einfluss der elektrischen Energie etwas vibrieren, ansonsten aber fest an ihrem Platz gehalten, mitei- nander verbunden und zu einem unendlichen würfelförmigen Gitter angeordnet.
Ich malte mir aus (vor allem, nachdem ich die Geschichten meiner Onkel aus ihrer Zeit in den Diamantenbergwerken gehört hatte), ich sei selbst eine Art Kindergeologe, der mit Hammer und Meißel nie erblickte Mineralien entdeckte. Tatsächlich ging ich in unserem Garten auf die Suche, fand aber außer ein paar merkwürdig geformten Marmor- und Feuersteinsplittern kaum etwas. Ich träumte davon, geologische Exkursionen zu unternehmen, um das Muster der Gesteinsschichten, den Reichtum der mineralischen Welt mit eigenen Augen zu sehen. Dieser Wunsch bekam zusätzliche Nahrung durch meine Lektüre, die nicht nur die Berichte der großen Naturforscher und Entdecker umfasste, sondern auch bescheidenere Bücher wie Danas schmales Bändchen The Geological Story mit seinen schönen Abbildungen und mein Lieblingsbuch aus dem 19. Jahrhundert Playbook of Metals, mit dem Untertitel Personal Narratives of Visits to Cool, Lead, Copper and Tin Mines (Persönliche Berichte über Besuche in Kohle-, Blei-, Kupfer- und Zinnbergwerken). Ich wollte die verschiedensten Bergwerke selbst sehen, aber nicht nur Kupfer-, Blei- und Zinnbergwerke in England, sondern auch die Gold- und Diamantenminen, die meine Onkel nach Afrika gelockt hatten. Das konnte mir das Museum zwar nicht geben, dafür aber einen Mikrokosmos der Welt - kompakt, anziehend, ein Konzentrat der Erfahrungen unzähliger Sammler und Forschungsreisender, ihrer materiellen Schätze, ihrer Überlegungen und Gedanken.
Ich verschlang die Informationen, die die Beschreibungen der verschiedenen Exponate lieferten. Neben der Mineralogie selbst liebte ich auch die schönen und oft altertümlichen Bezeichnungen. Vug, so erklärte mir Onkel Dave, sei ein Wort, das die Bergleute in den alten Zinnminen Cornwalls verwendet hätten. Es komme von dem kornischen Wort Vooga (Orfouga), das eine unterirdische Kammer bezeichnet habe. Letztlich leite es sich von lateinisch fovea, Grube, her. Mich faszinierte, dass dieses merkwürdige, hässliche Wort Zeugnis ablegte vom Bergbau im Altertum, von der ersten Kolonisation Englands durch die Römer, die von Cornwalls Zinnminen angelockt wurden. Auch die Bezeichnung für das Zinnerz, Kassiterit, leite sich von den Cassiterides, den «Zinninseln» der Römer her.
Besonders die Namen von Mineralien faszinierten mich ihre Laute, ihre Assoziationen, das Gefühl, das sie für Menschen und Orte vermittelten. Die älteren Namen evozierten das Empfinden von Altertum und Alchimie: Korund und Bleiglanz, Auripigment und Realgar. (Auripigment und Realgar, zwei Arsensulfide, ergaben eine so hübsche Euphonie, dass sie mir wie ein Opernpaar erschienen, wie Tristan und Isolde). Es gab Pyrite (Narrengold) in messingfarbenen, metallischen Würfeln, Chalzedon und Rubin, Saphir und Spinell. Zirkon hörte sich orientalisch an, Kalomel griechisch - seine honigartige Süße, sein zart schmelzendes «Mel» strafte seine Giftigkeit Lügen. Oder die mittelalterlich klingenden Namen - Salmiak, Zinnober, das schwere, rote Quecksilbersulfid, Massikotit und Mennige, die Zwillingsoxide des Bleis.
Ich fand Mineralien, die nach Personen hießen. Eines der häufigsten Mineralien, das großenteils für das Rot unserer Welt verantwortlich ist, das wasserhaltige Eisenoxid, trägt den Namen Goethit. War der Name Goethe zu Ehren gewählt worden, oder hatte der deutsche Dichter das Mineral entdeckt? Ich hatte gelesen, dass er für die Mineralogie und Chemie begeistert war. Viele Mineralien wurden nach Chemikern benannt - Gaylussit, Scheelit, Berzelianit, Bunsenit, Liebigit, Crookesit und Proustit - das schöne prismatische Rotgültigerz. Es gab den Samarskit, der nach dem Bergbauingenieur Oberst Samarski benannt worden ist. Manche Namen riefen aktuellere Assoziationen wach: Stolzit, ein Bleiwolframat, und Scholzit. Wer waren Stolz und Scholz? Ihre Namen klangen in meinen Ohren sehr preußisch, und das weckte so kurz nach dem Krieg antideutsche Gefühle. Ich stellte mir Stolz und Scholz als Nazioffiziere vor, mit schnarrenden Kommandostimmen, Stockdegen und Monokeln.
Andere Namen gefielen mir einfach wegen ihres Klanges oder der Bilder, die sie heraufbeschworen. Ich liebte die klassischen Namen und ihre Bezeichnung einfacher Eigenschaften -Kristallformen, Farben und Optik der Mineralien: Diaspor und Anatas, Mikrolith und Polykras. Eine große Vorliebe hatte ich für den Kryolith - den Eisstein aus Grönland, dessen Brechungsindex so gering ist, dass er fast durchsichtig bleibt, geisterhaft und im Wasser unsichtbar.[5]
Viele Elemente trugen folkloristische oder mythologische Namen, die gelegentlich ein wenig von ihrer Geschichte offenbarten. Ein Kobold war bekanntlich ein böser Elf, ein Nickel ein Teufel; beides waren Bezeichnungen, die die sächsischen Bergleute verwendeten, wenn sich Kobalt- und Nickelerze als trügerisch erwiesen und nicht hielten, was sie versprachen. Tantal verdankte seinen Namen dem Mythos des Tantalus, der in der Hölle damit gequält wurde, dass das Wasser jedes Mal vor ihm zurückwich, wenn er sich hinabbeugte, um davon zu trinken. Das Element habe diesen Namen erhalten, las ich, weil sein Oxid nicht in der Lage war, «Wasser zu trinken», das heißt, sich in Säuren aufzulösen. Niob war nach Tantalus' Tochter Niobe benannt, weil die beiden Elemente stets zusammen gefunden wurden. (Meine Bücher aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nannten noch ein drittes Element, Pelopium, aus dieser Familie - Pelops war der Sohn des Tantalus, den dieser gekocht und den Göttern vorgesetzt hatte. Allerdings stellte sich später heraus, dass Pelopium doch kein Element war.)
Andere Elemente verdankten ihre Bezeichnungen der Astronomie. Da gab es das Uran, das im 18. Jahrhundert entdeckt und nach dem Planeten Uranus benannt worden war; einige Jahre später erhielten Palladium und Zer ihre Namen nach den kurz zuvor entdeckten Asteroiden Pallas und Ceres. Tellur hatte diesen schönen, erdhaften griechischen Namen bekommen, und es war nur konsequent, dass der leichtere Vetter, als er später gefunden wurde, auf den Namen Selen getauft wurde, nach dem Mond.[6]
Begeistert las ich von den Elementen und ihrer Entdeckung - wobei mich nicht nur die chemischen, sondern auch die menschlichen Aspekte solchen Abenteuers faszinierten. All das und noch mehr entnahm ich einem wunderbaren Buch, das kurz vor dem Krieg erschienen war: The Discovery of the Elements von Mary Elvira Weeks. Hier bekam ich einen lebhaften Eindruck vom Leben vieler Chemiker, ihrem höchst vielseitigen und manchmal auch wunderlichen Charakter. Es gab Zitate aus den Briefen der frühen Chemiker, in denen sich ihre Begeisterung und Verzweiflung widerspiegelten, während sie sich mühsam an ihre Entdeckungen herantasteten, manchmal vom richtigen Weg abkamen und in Sackgassen stecken blieben, bis sie schließlich doch an das Ziel kamen, das ihnen vorgeschwebt hatte.
Geschichte und Geographie meiner Kindheit, die Geschichte und die Geographie, die mich beeindruckt haben, hatten weit mehr mit der Chemie zu tun als mit Kriegen oder weltgeschichtlichen Ereignissen. Mich interessierten die Geschicke der frühen Chemiker viel mehr als die Geschicke der rivalisierenden Kriegsmächte (vielleicht verhalfen sie mir sogar zu einer Abkapselung von der mich umgebenden erschreckenden Wirklichkeit. Ich sehnte mich nach dem «äußersten Thule» im hohen Norden, der Heimstatt des Elements Thulium, und nach dem kleinen Dorf Ytterby in Schweden, das seinen Namen nicht weniger als vier Elementen gegeben hatte (Ytterbium, Terbium, Erbium, Yttrium). Ich wäre gern nach Grönland gefahren, wo ich mir ganze Gebirgszüge aus durchsichtigem, geisterhaftem Kryolith vorstellte. Auch Strontian in Schottland hätte ich gerne gesehen, das kleine Dorf, dem Strontium seinen Namen verdankte. Die ganze Landkarte Großbritanniens ließ sich unter dem Gesichtspunkt seiner vielen Bleimineralien betrachten: Matlockit nach Matlock in Derbyshire, Leadhillit nach den Leadhills in Lanarkshire, Lanarkit ebenfalls nach Lanarkshire und das schöne Bleisulfat, der Anglesit, nach Anglesey in Wales. (Es gab sogar die Stadt Lead - Blei - in South Dakota, und ich stellte sie mir gerne aus matt glänzendem Blei erbaut vor.) Wie Lichter stachen die geographischen Namen von Elementen und Mineralien auf meiner persönlichen Weltkarte heraus.
Der Anblick der Mineralien im Museum veranlasste mich, für ein paar Pennys kleine Beutel mit «gemischten Mineralien» in einem Laden in der Nachbarschaft zu erstehen; sie enthielten kleine Stücke Pyrit, Bleiglanz, Flussspat, Rotkupfererz, Hämatit oder Eisenglanz, Gips, Eisenspat, Malachit und verschiedene Quarzarten, die Onkel Dave durch seltenere Exemplare ergänzte, winzige Stückchen Scheelit, die von seinem größeren Brocken abgebrochen waren. Die meisten meiner Mineralien wirkten ziemlich kläglich, oft waren es Winzstücke, die ein echter Sammler keines Blickes gewürdigt hätte, aber sie gaben mir das Gefühl, eine Kostprobe der Natur ganz für mich allein zu haben.
Ich betrachtete die Mineralien im geologischen Museum, beschäftigte mich mit ihren chemischen Formeln und lernte allmählich ihre Zusammensetzung kennen. Einige waren einfach und unveränderlich. Das galt für Zinnober, ein Quecksilbersulfid, das stets den gleichen Anteil von Quecksilber und Schwefel enthielt, egal, woher die Probe stammte. Bei vielen Mineralien verhielt es sich allerdings ganz anders, etwa bei dem von Onkel Dave so geschätzten Scheelit. Scheelit ist zwar ein Kalziumwolframat von idealer Reinheit, doch enthielten einige Exemplare auch eine gewisse Menge an Kalziummolybdat. Umgekehrt kommt reines Kalziummolybdat in der Natur als das Mineral Powellit vor, doch einigen Powellitexemplaren waren auch kleine Mengen von Kalziumwolframat beigemengt. Es ließe sich in der Tat jede Zwischenstufe zwischen den beiden denken, von einem Mineral aus 99 Prozent Wolfram und einem Prozent Molybdän bis zu einem aus 99 Prozent Molybdat und einem Prozent Wolframat. Zum einen liegt es daran, dass Wolfram und Molybdän Atome - Ionen - von ähnlicher Größe besitzen, sodass ein Ion des einen Elements ein Ion des anderen im Kristallgitter des Minerals ersetzen kann. Vor allem aber liegt es daran, dass Wolfram und Molybdän zur gleichen chemischen Gruppe oder Familie gehören und die Natur sie angesichts ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften weitgehend gleich behandelt. Deshalb gehen Wolfram und Molybdän mit anderen Elementen in der Regel fast identische Verbindungen ein und kommen in der Natur meist als Salze ihrer Säuren vor, die unter ähnlichen Bedingungen aus Lösungen kristallisieren.
Diese beiden Elemente erschienen mir als ein natürliches Paar, wie chemische Brüder. Eine noch engere brüderliche Beziehung unterhalten die Elemente Niob und Tantal, die in Mineralien meist gemeinsam vorkommen. Fast zu einem Zwillingsverhältnis wird die Brüderbeziehung bei den Elementen Zirkonium und Hafnium, die nicht nur stets in den gleichen Mineralien vorkommen, sondern sich auch chemisch so ähneln, dass man hundert Jahre brauchte, um sie zu unterscheiden - die Natur selbst kann sie kaum unterscheiden.
Bei meinen Streifzügen durch das geologische Museum bekam ich auch einen Eindruck von der enormen Vielfalt, den Tausenden von verschiedenen Mineralien in der Erdkruste und der relativen Häufigkeit der in ihnen vorkommenden Elemente. Sauerstoff und Silizium waren überwältigend häufig - es gab mehr Silikatmineralien als andere Mineralarten, von all dem Sand auf der Erde ganz zu schweigen. Man konnte sehen, dass zusammen mit den Standardgesteinen - den Kalken und Feldspaten, den Graniten und Dolomiten - Magnesium, Aluminium, Kalzium, Natrium und Kalium neun Zehntel oder mehr der Erdkruste ausmachen. Auch Eisen war häufig; offenbar waren riesige Gebiete Australiens so eisenrot wie der Mars. Kleine Bruchstücke all dieser Elemente konnte ich meiner eigenen Sammlung in Form von Mineralien hinzufügen.
Das 18. Jahrhundert, so erzählte mir Onkel, sei eine große Zeit der Entdeckung und Isolierung neuer Metalle gewesen (nicht nur des Wolframs, sondern auch Dutzender anderer). Die größte Herausforderung für die Chemiker des 18. Jahrhunderts bestand in der Frage, wie sich diese Metalle von ihren Erzen trennen ließen. Dadurch wurde die Chemie, die echte Chemie, erwachsen: indem sie zahllose verschiedene Mineralien untersuchte, analysierte, zerlegte, um zu sehen, was sie enthielten. Für die echte chemische Analyse - die Überprüfung, womit die Mineralien reagierten oder wie sie sich verhielten, wenn sie erwärmt oder aufgelöst würden - war natürlich ein Labor erforderlich, aber es gab elementare Beobachtungen, die fast überall vorgenommen werden konnten. Man konnte ein Mineral in der Hand wägen, seine Dichte schätzen, seinen Glanz betrachten oder die Farbe seines Strichs auf einer Porzellanplatte beurteilen. Die Härte weist große Unterschiede auf, sodass man sich leicht einen ersten Eindruck verschaffen konnte -Talk und Gips lassen sich mit einem Fingernagel ritzen, Kalzit mit einer Münze, Flussspat und Apatit mit einem Stahlmesser und gemeiner Feldspat mit einer Stahlfeile. Quarz ritzt Glas und Korund ritzt alles bis auf Diamanten.
Eine klassische Methode zur Bestimmung der relativen Dichte oder des spezifischen Gewichts einer Probe besteht darin, sie zweimal zu wiegen, einmal in der Luft und einmal im Wasser, um das Verhältnis ihrer Dichte zu der des Wassers zu ermitteln. Bei einem anderen Verfahren - einem, das mir besonderen Spaß machte - wird der Auftrieb verschiedener Mineralien in Flüssigkeiten von verschiedenem spezifischem Gewicht bestimmt. Dazu muss man «schwere» Flüssigkeiten verwenden, denn alle Mineralien, von Eis abgesehen, sind dichter als Wasser. Ich besorgte mir also eine Reihe schwerer Flüssigkeiten: zunächst Bromoform, das fast dreimal so dicht ist wie Wasser, dann Methylenjodid, das noch dichter ist, und schließlich eine gesättigte Lösung aus zwei Thalliumsalzen, die Clericische Lösung. Letztere hat ein spezifisches Gewicht von weit über vier. Und obwohl sie aussieht wie gewöhnliches Wasser, schwimmen viele Mineralien und sogar Metalle auf ihr. Ich genoss es, mein Fläschchen mit Clericischer Lösung mit in die Schule zu nehmen und jeden Beliebigen zu bitten, sie einmal zu halten. Verblüfft blickten sie mich dann an, denn das Gewicht, das sie spürten, war fast fünfmal höher, als sie erwartet hätten.
Ich war schüchtern in der Schule (in einem Zeugnis wurde ich als «scheu» bezeichnet), und Braefield hatte mich sicherlich noch ängstlicher gemacht, doch wenn es um eines meiner Naturwunder ging - einen Bombensplitter oder ein Stück Wismut mit seinen Prismenterrassen, die aussahen wie ein Aztekendorf en miniature, mein Fläschchen mit der verblüffend und verwirrend schweren Clericischen Lösung oder Gallium, das in der Hand schmolz (später besorgte ich mir eine Form und fertigte einen Teelöffel aus Gallium, der schrumpfte und schmolz, wenn man damit Tee umrührte) -, dann verlor ich all meine Scheu und ging unbekümmert auf andere Menschen zu.
KAPITEL SIEBEN
CHEMISCHE LUSTBARKEITEN
Noch vor dem Krieg hatten meine Eltern und meine Brüder mich mit ein bisschen Küchenchemie vertraut gemacht: Sie ließen ein Stück Kreide in ein Glas mit Essig fallen, sodass ich beobachten konnte, wie es sprudelte. Dann gossen sie das schwere Gas, das dabei entstand, wie einen unsichtbaren Wasserfall über eine Kerzenflamme und löschten sie damit auf der Stelle. Oder sie nahmen in Essig eingelegten Rotkohl und fügten ein bisschen Salmiakgeist hinzu, um den Essig zu neutralisieren. Das führte zu einer verblüffenden Wandlung. Der Saft nahm alle möglichen Farben an, von Rot über verschiedene Schattierungen zu Violett und Lila, dann Türkis und Blau, schließlich Grün.
Als nach dem Krieg mein Interesse an Mineralien und Farben erwachte, lernte ich von meinem Bruder David, der die Methode aus dem Chemieunterricht in der Schule kannte, wie man Kristalle züchtet. Er zeigte mir, wie man eine übersättigte Lösung herstellt, indem man ein Salz wie Alaun oder Kupfersulfat in sehr heißem Wasser auflöst und es dann abkühlen lässt. Um den Prozess in Gang zu setzen, musste ich etwas in die Lösung hängen - einen Faden oder ein Stück Metall. Das erste Mal legte ich einen Wollfaden in eine Kupfersulfatlösung. Schon nach wenigen Stunden hatte sich eine schöne Kette aus tiefblauen Kristallen gebildet, die an dem Faden emporkletterten. Doch als ich eine Alaunlösung und einen geeigneten Keimkristall als Auslöser verwendete, entdeckte ich, dass der Kristall gleichmäßig nach allen Seiten wuchs und zu einem einzigen großen Alaunkristall von regelmäßiger achtflächiger Form wurde.
Später requirierte ich den Küchentisch, um einen «chemischen Garten» anzulegen. In eine dickflüssige Lösung von Natriumsilikat oder Wasserglas säte ich verschiedenartige Eisen-, Kupfer-, Chrom- und Mangansalze. Das ergab keine Kristalle, sondern ein gewundenes, pflanzenartiges Wachstum im Wasserglas, knospende, ausgreifende, sich entfaltende Formen, die vor meinen Augen fortwährend ihre Gestalt wechselten.[7] Für diese Art von Wachstum, erläuterte David, sei Osmose verantwortlich: die gallertartige Kieselsäure des Wasserglases wirke als «halbdurchlässige Membran», sodass Wasser in die konzentrierte Minerallösung in ihrem Inneren gezogen werden könne. Solche Prozesse seien entscheidend für lebende Organismen, obwohl sie auch in der Erdkruste vorkämen.
Das erinnerte mich an die gewaltigen Hämatitmassen, knotig und nierenförmig, die ich im Museum gesehen hatte - auf dem Schild hatte Kidney Ore gestanden - «Nierenerz» (im Deutschen «Roter Glaskopf». Dieser Ausdruck hat nichts mit Glas zu tun, sondern lautete ursprünglich in der Bergmannsprache «Glatzkopf». A.d.Ü.), also Hämatit oder Roteisenstein (Marcus hatte mir allerdings einmal erzählt, es handle sich um die versteinerten Nieren von Dinosauriern).
Mir bereiteten diese Experimente Vergnügen, und ich versuchte auch, mir die Prozesse, die hier stattfanden, zu vergegenwärtigen, doch eine echte chemische Leidenschaft verspürte ich nicht - den Drang, zu verbinden, zu isolieren, zu zerlegen oder zu beobachten, wie sich die Stoffe veränderten, wie vertraute verschwanden und neue an ihrer Stelle entstanden -, bis ich Onkel Daves Labor erblickte und seine Leidenschaft für Experimente aller Art erlebte. Jetzt wollte ich ein eigenes Labor haben - nicht die Laborbank bei Onkel Dave, nicht die Familienküche, sondern einen Ort, an dem ich meine chemischen Experimente für mich allein und ungestört durchführen konnte. Zunächst einmal wünschte ich mir Kobaltglanz und Rotnickelkies, außerdem Verbindungen und Mineralien von Mangan und Molybdän, Uran und Chrom, also all den wunderbaren Elementen, die im 18. Jahrhundert entdeckt worden waren. Ich wollte sie pulverisieren, mit Säure behandeln, rösten, reduzieren - alles, was notwendig war, um ihre Metalle selbst zu extrahieren. Aus dem chemischen Katalog in der Fabrik wusste ich, dass man sie alle auch in gereinigter Form kaufen konnte, aber ich dachte, es müsse weit interessanter und viel aufregender sein, sie selbst herzustellen. Auf diese Weise wollte ich mir einen eigenen Zugang zur Chemie verschaffen, meine Entdeckungen aus eigener Kraft machen, genau so, wie es die ersten Naturforscher taten. Ich wollte die Geschichte der Chemie noch einmal selbst durchleben.
Daher richtete ich mir zu Hause ein kleines Labor ein. Ich besetzte einen ungenutzten, nach hinten gelegenen Raum, ursprünglich eine Wäschekammer, die fließend Wasser und ein Waschbecken, verschiedenene Schränke und Regale hatte. Praktischerweise führte der Raum in den Garten. Wenn ich etwas zusammengebraut hatte, was sich entzündete, überkochte oder gefährliche Dämpfe erzeugte, konnte ich nach draußen stürzen und das Ganze auf den Rasen schütten. Schon bald zeigten sich im Gras Narben und Verfärbungen - in den Augen meiner Eltern ein bescheidener Preis für meine Sicherheit und vielleicht auch die ihre. Doch da sie gelegentlich brennende Kügelchen durch die Luft fliegen sahen und wussten, wie ungestüm und unbedacht ich im Allgemeinen zu Werke ging, blieben sie beunruhigt und drängten mich, meine Experimente sorgfältig zu planen und Vorkehrungen gegen Feuer und Explosionen zu treffen.
Onkel Dave beriet mich eingehend bei der Anschaffung der Gerätschaften. So kam ich zu Reagenzgläsern, Kolben, Messzylindern, Trichtern, Pipetten, einem Bunsenbrenner, Tiegeln, Uhrgläsern, einer Platindrahtöse, einem Exsikkator, einem Lötrohr, einer Retorte, einer Reihe von Spachteln und einer Waage. Er klärte mich auch über die grundlegenden Reagenzien auf -Säuren und Alkalien, von denen er mir einige aus seinem eigenen Labor überließ, dazu einen Vorrat an Flaschen verschiedener Größe, Form und Farbe (dunkelgrün oder braun für lichtempfindliche Chemikalien), mit perfekt passenden Stöpseln aus geschliffenem Glas.
Ungefähr jeden Monat rüstete ich mein Labor durch Besuche in einer Chemikalienhandlung weit draußen in Finchley auf, einem großen Schuppen, der einen gewissen Abstand zu den Nachbarn wahrte (wahrscheinlich weil diese befürchteten, das Lager könne jeden Augenblick explodieren oder giftige Gase absondern). Wochenlang hortete ich mein Taschengeld, gelegentlich ergänzt durch ein Halbkronenstück von einem meiner Onkel, die meine geheime Leidenschaft billigten. Dann ließ ich mich von einer Reihe Zügen und Bussen in den Laden bringen.
Selbstvergessen wie ein Bücherwurm in einer Bibliothek, liebte ich es, in den Schätzen von Griffin & Tatlock herumzustöbern. Die billigeren Chemikalien wurden in riesigen verschlossenen Gefäßen aufbewahrt, die kostspieligeren Substanzen standen in kleineren Flaschen hinter dem Verkaufstisch. Flusssäure - eine gefährliche Substanz, die zum Mattieren von Glas verwendet wurde - konnte nicht in Glas gelagert werden, daher wurde sie in kleinen Spezialflaschen aus gummibrauner Guttapercha verkauft. Unter den dicht gereihten Gefäßen und Flaschen in den Regalen standen große Korbflaschen voll Säure - Schwefelsäure, Salpetersäure, Königswasser; kugelige Porzellanflaschen voller Quecksilber (gut drei Kilogramm davon gingen in eine Flasche von der Größe einer Faust), dazu Scheiben und Barren der gewöhnlicheren Metalle. Bald kannten mich die Ladeninhaber - einen faszinierten, für sein Alter ziemlich kleinen Schuljungen, der sein Geld fest umklammert hielt und Stunden zwischen den Gläsern und Flaschen verbrachte. Zwar warnten sie mich hin und wieder - «Sei vorsichtig damit!» -, gaben mir aber immer, was ich haben wollte.
Zuerst galt meine Vorliebe dem Spektakulären - dem Schäumen, Glühen, Stinken und Knallen, also den Phänomenen, die fast jede erste Begegnung mit der Chemie bestimmen. Einer meiner Leitfäden war J. J. Griffins Chemical Recreations (Chemische Lustbarkeiten), ein Buch aus den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, das ich in einem Antiquariat aufgetrieben hatte. Griffin schrieb leicht, praxisorientiert und vor allem unterhaltsam. Die Chemie machte ihm offenkundig Spaß, und er präsentierte sie so, dass sie auch für seine Leser vergnüglich wurde. Und diese Leser mussten oft Jungen wie ich gewesen sein, denn es gab Abschnitte wie «Chemie für die Ferien», dazu gehörte «Flüchtiger Plumpudding» («wenn der Deckel entfernt wird… verlässt er die Schüssel und steigt zur Decke auf»), «Ein Springbrunnen aus Feuer» (unter Verwendung von Phosphor - «der Experimentator muss Sorge tragen, sich nicht zu verbrennen»), und «Strahlende Verpuffung» (auch hier wurde der Leser gewarnt: «Zieh deine Hand sofort zurück»). Ein spezielles Rezept (für Natriumwolframat), um Damenkleider und Vorhänge feuerfest zu machen, hatte es mir angetan - waren Brände in viktorianischer Zeit so häufig? Immerhin bekam ich mit seiner Hilfe ein Taschentuch brandsicher.
Das Buch begann mit «Einfachen Experimenten», in denen zuerst einmal Pflanzenfarbstoffe verwendet wurden, die sich unter dem Einfluss von Säuren und Alkalien veränderten. Der häufigste Pflanzenfarbstoff war Lackmus. Laut Griffin wurde er aus einer Flechte gewonnen. Ich nahm mir Lackmuspapier aus dem Medizinschrank meines Vaters und beobachtete, wie es sich bei verschiedenen Säuren rot und bei alkalischem Ammoniak blau färbte.
Griffin beschrieb Bleichexperimente, bei denen ich allerdings das Bleichmittel meiner Mutter und nicht das von ihm vorgeschlagene Chlorwasser verwendete. Damit bleichte ich Lackmuspapier, Rotkohlsaft und ein rotes Taschentuch meines Vaters. Ferner schlug Griffin vor, eine rote Rose über brennenden Schwefel zu halten, das dabei freigesetzte Schwefeldioxid würde dann die Blume bleichen. Ins Wasser getaucht, erhalte sie wie durch ein Wunder ihre Farbe zurück.
Anschließend thematisierte Griffin (und ich mit ihm) «unsichtbare Tinten». Sie wurden nur sichtbar, wenn man sie erwärmte oder auf bestimmte Weise behandelte. Ich probierte verschiedene Spielarten aus - Bleisalze, die sich in Berührung mit Schwefelwasserstoff schwarz färbten; Silbersalze, die schwarz wurden, wenn man sie dem Licht aussetzte; Kobaltsalze, die bei Trocknung oder Erwärmung sichtbar wurden. All das war ein Riesenspaß, aber auch Chemie.
Im Haus fanden sich diverse alte Chemiebücher, einige stammten noch aus dem Medizinstudium meiner Eltern, andere, jüngere aus der Schulzeit meiner älteren Brüder Marcus und David. Zu ihnen gehörte Valentins Practical Chemistry, ein typisches Lehrbuch, klar, handfest, nüchtern, als praktischer Leitfaden gedacht und für mich trotzdem voller Wunder. Auf der Innenseite des Buchdeckels trug es, verblichen und verfleckt (Zeugnis seiner langjährigen Dienste im Labor), die Widmung «Mit den besten Glückwünschen, 21.1.13 - Mick». Meine Mutter hatte es an ihrem 18. Geburtstag von ihrem fünfundzwanzigjährigen Bruder erhalten, der sich damals bereits als Chemiker in der Forschung betätigte. Onkel Mick, ein jüngerer Bruder von Dave, war mit seinen Brüdern nach Südafrika gegangen und hatte nach seiner Rückkehr in einem Zinnbergwerk gearbeitet. Er habe Zinn geliebt wie Onkel Dave das Wolfram, hieß es, weshalb er in der Familie auch manchmal Onkel Zinn genannt wurde. Onkel Mick habe ich nicht mehr kennen gelernt, denn er starb - erst fünfundvierzig Jahre alt - in dem Jahr an Krebs, als ich geboren wurde. Nach Meinung der Familie wurde er ein Opfer der hohen Radioaktivität in den Uranbergwerken Afrikas. Meine Mutter hatte ihm besonders nahe gestanden, deshalb war er in ihrer Erinnerung sehr lebendig und gegenwärtig. Zu wissen, dass es das Chemiebuch meiner Mutter war und sie es von dem jungen, früh verstorbenen Onkel und Chemiker erhalten hatte, machte das Buch für mich besonders kostbar.
In viktorianischer Zeit war das Interesse an der Chemie sehr verbreitet, viele Haushalte besaßen ihre eigenen Labors, wie sie ihre Farnhäuser und Stereoskope hatten. Griffins Chemical Recreations kam um 1830 heraus und erfreute sich solcher Beliebtheit, dass es ständig neu durchgesehen und wieder verlegt wurde. Ich hatte die zehnte Auflage.[8]
Ergänzend zu Griffins Buch erschien - wie dieses in Grün und Gold gehalten - The Science of Home Life von A. J. Bernays. Ein Werk, das sich mit Kohle, Steinkohlengas, Kerzen, Seife, Glas, Porzellan, Steingut und Desinfektionsmitteln beschäftigte, mit allem, was sich in einem viktorianischen Heim so fand (und vielem, was noch hundert Jahre später zum Haushalt gehörte).
Ganz anders nach Stil und Inhalt, wenn auch verwandt in der Absicht, im Leser Staunen zu wecken («Das alltägliche Leben ist voller Wunder chemischer und physiologischer Art. Die meisten von uns gehen durch dieses Leben, ohne sie zu sehen oder für sie empfänglich zu sein…»), war The Chemistry of Common Life von J. F.W. Johnston. Es stammte ebenfalls etwa aus dieser Zeit und enthielt faszinierende Kapitel über «Die Düfte, die uns gefallen», «Die Gerüche, die uns missfallen», «Die Farben, die wir bewundern», «Der Körper, den wir pflegen», «Die Pflanzen, die wir aufziehen», und nicht weniger als acht Kapitel über «Die Rauschgifte, denen wir frönen». Auf diese Weise lernte ich nicht nur die Chemie kennen, sondern auch ein ganzes Panorama von exotischen menschlichen Verhaltensweisen und Kulturen.
Ein sehr viel früheres Buch, von dem ich nur ein ramponiertes Exemplar für sechs Penny ergattern konnte - es hatte keinen Deckel mehr, und ein paar Seiten fehlten -, war The Chemical Pocket-Book or Memoranda Chemica aus dem Jahr 1803. Als Verfasser zeichnete ein gewisser James Parkinson aus Hoxton, dem ich in meinen biologischen Tagen als Begründer der Paläontologie wieder begegnen sollte, und dann noch einmal während des Medizinstudiums als dem Autor des berühmten Essay on the Shaking Poky (Abhandlung über die Schüttellähmung) - der Krankheit, die später als Parkinson-Syndrom bekannt wurde. Doch damals - für mich als Elfjährigen - war er einfach der Verfasser des wunderschönen Chemiebüchleins. Es vermittelte mir einen lebhaften Eindruck von der fast explosionsartigen Entwicklung der Chemie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So sprach Parkinson von zehn neuen Metallen - Uran, Tellur, Chrom, Niob, Tantal, Zer, Palladium, Rhodium, Osmium, Iridium -, die alle in den zehn vorangegangenen Jahren entdeckt worden seien.
Griffin vermittelte mir die erste klare Vorstellung von dem, was unter «Säuren» und «Alkalien» zu verstehen sei und wie diese sich zu «Salzen» verbanden. Onkel Dave führte mir den Gegensatz von Säuren und Basen vor Augen, indem er exakt bestimmte Mengen Salzsäure und Ätznatron in einem Becherglas mischte. Die Mischung wurde außerordentlich heiß, doch nach ihrer Abkühlung forderte er mich auf: «Jetzt probier sie!» Das Zeug probieren? War er verrückt? Aber ich tat, wie mir geheißen, und schmeckte nichts als Salz. «Siehst du», erklärte er, «wenn eine Säure und eine Base zusammenkommen, neutralisieren sie sich und verbinden sich zu einem Salz.»
Ob sich dieses Wunder auch umgekehrt ereignen könne, wollte ich wissen. Ließen sich aus dem Salzwasser wieder die Säure und die Base gewinnen? «Nein», sagte Onkel, «dazu wäre zuviel Energie erforderlich. Du hast gesehen, wie viel Hitze sich entwickelt hat, als Säure und Base miteinander reagierten - die gleiche Hitze wäre erforderlich, um die Reaktion umzukehren. Und Salz», fügte er hinzu, «ist sehr stabil. Natrium und Chlor hängen sehr fest zusammen, sodass kein gewöhnlicher chemischer Prozess sie trennen kann. Dazu braucht man einen elektrischen Strom.»
Dies zeigte er mir eines Tages unter dramatischen Begleitumständen, indem er ein Stück Natrium in ein Glas voll Chlor legte. Es gab eine heftige Verpuffung, das Natrium entzündete sich und brannte unheimlich in dem gelbgrünen Chlor - doch als der ganze Spuk vorüber war, war das Ergebnis nichts als gewöhnliches Salz. Ich glaube, danach ist das Kochsalz erheblich in meiner Achtung gestiegen, hatte ich doch gesehen, was für gewaltige Gegensätze sich zu seiner Entstehung zusammenfinden mussten und was für enorme Energien, was für Elementarkräfte in der Verbindung eingeschlossen waren.
Auch hier zeigte mir Onkel Dave, dass das Verhältnis ganz exakt sein musste: 23 Gewichtsteile Natrium und 35,5 Teile Chlor. Diese Zahlen verblüfften mich, denn sie waren mir bereits vertraut: Ich hatte sie in den Tabellen meiner Bücher gesehen. Es handelte sich um die «Atomgewichte» der Elemente. Mechanisch hatte ich sie auswendig gelernt, auf die gleiche gedankenlose Weise, in der man sich das Einmaleins einprägt. Doch als Onkel Dave diese selben Zahlen auf so augenfällige Weise in Beziehung zur chemischen Verbindung zweier Elemente brachte, begann ich mich langsam und fast unbewusst mit dem Problem zu beschäftigen.
Neben meinen Mineralien hütete ich noch eine Münzsammlung - und zwar in einem kleinen Kasten aus glänzend poliertem Mahagoni, mit Türen, die sich wie die Tore eines Spielzeugtheaters öffneten. Er enthielt eine Reihe schmaler Holzeinsätze mit kreisrunden, samtbedeckten Vertiefungen für die Münzen - einige von noch nicht einmal einem Zentimeter im Durchmesser (für Groats, silberne Dreipennystücke und Maundy Money, winzige Silbermünzen, die am Gründonnerstag an die Armen verteilt wurden), andere von fast fünf Zentimetern im Durchmesser (für die Crowns, die ich liebte, und die noch größeren, riesigen Zweipennystücke, die Ende des 18. Jahrhunderts geprägt wurden).
Außerdem pflegte ich Briefmarkenalben, in denen ich besonders die Marken ferner Inseln bevorzugte, Briefmarken mit Bildern exotischer Landschaften und Pflanzen, die virtuelle Reisen ermöglichten. Ich schwärmte für Briefmarken, die Mineralien zeigten, und für solche, die ungewöhnlich waren - dreieckige oder ungezähnte, Exemplare mit umgekehrten Wasserzeichen, fehlenden Buchstaben oder Werbung auf der Rückseite. Mein Lieblingsstück war eine seltsame serbokroatische Marke aus dem Jahr 1914, die angeblich die Züge des ermordeten Erzherzogs Ferdinand aus einem bestimmten Blickwinkel zeigte.
Am meisten hing ich jedoch an meiner einzigartigen Sammlung von Busfahrkarten. Wenn man damals in London mit dem Bus fuhr, erhielt man ein farbiges längliches Stück Pappe mit Buchstaben und Zahlen darauf. Nachdem ich eine O 16 und eine S 32 erhalten hatte (meine Initialen und zugleich die Symbole für Sauerstoff und Schwefel - dank eines glücklichen Zufalls auch noch mit ihren Atomgewichten verknüpft), beschloss ich, eine Sammlung «chemischer» Busfahrkarten anzulegen. Ich wollte sehen, wie viele der zweiundneunzig Elemente ich zusammentragen konnte. Dank eines außerordentlichen Glückes, wie mir schien (obwohl es reiner Zufall war), wuchs meine Sammlung rasch an, und bald war sie komplett (W 184, Wolfram, bereitete mir noch einmal besonderes Vergnügen, nicht zuletzt, weil es doch meinem Mittelinitial entsprach). Natürlich gab es auch schwere Fälle: Chlor hatte dummerweise ein Atomgewicht von 35,5. Und die Fahrkarten boten nur ganze Zahlen. Doch ich wusste mir zu helfen: Als ich eine Cl355 bekam, fügte ich mit Tinte ein winziges Dezimalkomma hinzu. Die Einzelbuchstaben waren leichter zusammenzukriegen - schon bald hatte ich neben der ursprünglichen O 16 eine H l, eine B11,C12, N14 und F19. Nachdem mir klar geworden war, dass die Atomzahlen wichtiger sind als die Atomgewichte, begann ich auch diese zu sammeln. Schließlich hatte ich alle bekannten Elemente zusammen, von H l bis U 92. Jedes Element verband sich für mich unauflöslich mit einer Zahl und jede Zahl mit einem Element. Stets trug ich meine kleine Sammlung chemischer Busfahrkarten mit mir herum; sie gab mir das wunderbare Gefühl, das ganze Universum oder zumindest seine Bausteine, auf den Raum weniger Kubikzentimeter reduziert, in der Tasche zu haben.
KAPITEL ACHT
STINKEN UND KNALLEN
Angelockt von den Geräuschen, Blitzen und Gerüchen in meinem Labor, beteiligten sich David und Marcus, die jetzt Medizinstudenten waren, gelegentlich an meinen Experimenten dabei spielte der Altersunterschied von neun und zehn Jahren kaum eine Rolle. Als ich einmal mit Wasserstoff und Sauerstoff experimentierte, gab es eine laute Explosion, und eine fast unsichtbare Feuerwand verbrannte Marcus' Augenbrauen vollständig, doch er nahm es gelassen. Und häufig schlugen David und er neue Experimente vor.
Wir mischten Kaliumperchlorat mit Zucker, stellten das Gemisch auf die Hintertreppe und schlugen mit einem Hammer darauf. Es folgte eine höchst beachtliche Explosion. Gefährlicher war es bei Stickstofftrijodid, das wir leicht herstellen konnten, indem wir konzentriertes Ammoniak zu Jod gaben, das Stickstofftrijodid in Filterpapier auffingen und mit Äther trockneten. Das Stickstofftrijodid erwies sich als unglaublich berührungsempfindlich. Man brauchte nur mit einem Stock daran zu kommen - einem langen Stock (sogar eine Feder genügte) - und schon explodierte es mit Heftigkeit.
Gemeinsam schufen wir uns mit Ammoniumdichromat einen «Vulkan», indem wir eine Pyramide der orangefarbenen Kristalle ansteckten: Sie flammte gewaltig auf, wurde rotglühend, spie Funkenschauer in alle Richtungen und schwoll bedrohlich an. Eben wie ein ausbrechender Miniaturvulkan. Nachdem das Feuer schließlich erloschen war, blieb anstelle der hübschen Pyramide aus Kristallen ein lockerer Haufen aus dunkelgrünem Chromoxid zurück.
Bei einem anderen Experiment, das David vorschlug, gossen wir ölige, konzentrierte Schwefelsäure über ein wenig Zucker, der sich augenblicklich schwarz färbte, sich erhitzte, dampfte, expandierte und eine monströse Masse aus Kohlenstoff bildete, die über den Rand des Bechers quoll. «Vorsicht!», sagte David, während ich fasziniert auf diese Verwandlung starrte. »Auch du wirst zu einer Kohlenstoffsäule, wenn du mit der Säure in Berührung kommst!» Und dann erzählte er mir, wahrscheinlich erfundene, Horrorgeschichten von Vitriolattentaten im Eastend und Patienten, deren Gesichter vollkommen weggeätzt waren. (Ich hatte meine Zweifel in Bezug auf seine Glaubwürdigkeit, denn als ich kleiner war, hatte er mir erzählt, wenn ich die Kohanim anblicken würde, während sie uns in der Schul (Synagoge) segneten - ihre Köpfe blieben dabei durch den großen Gebetsschal, den Tallis, verhüllt, weil sie in diesem Augenblick von Gottes blendendem Licht erleuchtet seien -, würden meine Augen in ihren Höhlen schmelzen und mir wie Spiegeleier über die Wangen laufen.)[9]
Verhältnismäßig viel Zeit verwendete ich auf die Untersuchung chemischer Farben und ihre spielerische Erprobung. Bestimmte Farben sprachen mich auf eine besondere, geheimnisvolle Weise an - dazu gehörten vor allem sehr tiefe und reine Blautöne. Als Kind hatte ich eine Vorliebe für das kräftige, helle Blau der Fehlinglösung im Medizinschrank meines Vaters, genauso wie für den Kegel aus reinem Blau im Herzen der Kerzenflamme. Nun stellte ich fest, dass ich sehr intensive Blauschattierungen wie Preußischblau mit einigen Kobalt-, mit Kupferammonium- und mit komplexen Eisenverbindungen herstellen konnte.
Doch die geheimnisvollsten und schönsten Blautöne waren für mich diejenigen, die entstanden, wenn man Alkalimetalle in flüssigem Ammoniak auflöste, wie Onkel Dave es mir vormachte. Die Tatsache, dass sich Metalle überhaupt auflösten, fand ich zunächst verwirrend, doch die Alkalimetalle waren alle in flüssigem Ammoniak löslich (einige in erstaunlichem Maße - Zäsium löste sich in einer Ammoniakmenge von einem Drittel des eigenen Gewichts vollständig auf). Wenn ich die Konzentration der Lösungen etwas erhöhte, veränderten sie plötzlich ihren Charakter und verwandelten sich in glänzende bronzefarbene Flüssigkeiten, die auf dem Blau schwammen - und in diesem Zustand leiteten sie Elektrizität so gut wie flüssiges Metall, etwa Quecksilber. Mit den Erdalkalimetallen klappte es genauso gut, wobei es keine Rolle spielte, ob der gelöste Stoff Natrium oder Kalium, Kalzium oder Barium war - in allen Fällen ergaben die ammoniakalischen Lösungen das gleiche tiefe Blau, das auf das Vorhandensein von irgendeinem Stoff, einer Struktur, von irgendetwas Gemeinsamem schließen ließ. Es ähnelte der Farbe von Azurit im Geologischen Museum, reiner Himmelsfarbe.
Viele der so genannten Übergangselemente bewirken bei ihren Verbindungen charakteristische Farben - die meisten Kobalt- und Mangansalze sind rosa, die meisten Kupfersalze tiefblau oder grünblau, die meisten Eisensalze hellgrün und die Nickelsalze von einem dunkleren Grün. In winzigen Mengen verleihen die Übergangselemente auch vielen Edelsteinen ihre besonderen Farben. Saphire sind, wie ich herausfand, chemisch nichts anderes als Korund, ein farbloses Aluminiumoxid, das jedoch jede Farbe des Spektrums annehmen kann. Wird ein wenig Aluminium durch Chrom ersetzt, färbt es sich rubinrot, ein bisschen Titan, und die Farbe wird dunkelblau, bei zweiwertigem Eisen grün, bei dreiwertigem Eisen gelb. Und mit ein bisschen Vanadium beginnt der Korund dem Alexandrit zu ähneln. Dann wechselt er magisch zwischen Rot im Glühlicht und Grün im Tageslicht. Zumindest bei bestimmten Elementen reicht schon eine winzige Beimischung, um eine charakteristische Farbe hervorzurufen. Kein Chemiker könnte Korund derart fein «gewürzt» haben, ein paar Atome von diesem, ein paar Ionen von jenem, und es entsteht ein ganzes Spektrum von Farben.
Soweit ich sehen konnte, gab es nur eine Hand voll solcher «Färbeelemente» - Titan, Vanadium, Chrom, Mangan, Eisen, Kobalt, Nickel und Kupfer waren die wichtigsten. Mir fiel auf, dass sie alle verwandte Atomgewichte hatten - ob dies von Bedeutung oder bloßer Zufall war, entzog sich damals meiner Kenntnis. Immerhin erfuhr ich, dass für sie alle mehrere mögliche Wertigkeitsstufen charakteristisch waren, was sie von den meisten anderen Elementen (die nur eine hatten) unterschied. Natrium verband sich beispielsweise mit Chlor nur auf eine einzige Weise - ein Natriumatom mit einem Chloratom. Hingegen gab es zwei Verbindungen zwischen Eisen und Chlor: Ein Eisenatom konnte sich mit zwei Chloratomen zu Eisen(II)-Chlorid (FeC12) oder mit drei Chloratomen zu Eisen(III)-Chlorid (FeCl3) verbinden. Und diese beiden Chloride erwiesen sich in vielerlei Hinsicht als sehr verschieden, einschließlich ihrer Farbe.
Da Vanadium vier auffällig verschiedene Wertigkeits- oder Oxidationsstufen besaß und sich leicht von einer in die andere überführen ließ, war es ein ideales Element für meine Experimente. Am einfachsten ließ es sich reduzieren, indem man mit einem Reagenzglas voll (fünfwertigem) Ammoniumvanadat in Lösung begann und kleine Klümpchen Zinkamalgam hinzufügte. Das Amalgam reagierte sofort, und die Lösung wechselte die Farbe, von Gelb zu Königsblau (der Farbe von vierwertigem Vanadium). Jetzt konnte man das Amalgam entfernen oder es weiter reagieren lassen, bis die Lösung grün wurde, die Farbe von dreiwertigem Vanadium. Wenn man noch länger wartete, verschwand das Grün zugunsten eines schönen Lila, der Farbe von zweiwertigem Vanadium. Das umgekehrte Experiment bot sogar noch größeren ästhetischen Reiz, besonders wenn man eine dunkelviolette Schicht Kaliumpermanganat über das zarte Lila legte. Wartete man einige Stunden, oxidierte es und bildete verschiedene Schichten - lilafarbenes zweiwertiges Vanadium am Boden, dann grünes dreiwertiges Vanadium, darauf blaues vierwertiges Vanadium, schließlich fünfwertiges Vanadium (und ganz oben eine braune Schicht des ursprünglichen Permanganats, das jetzt braun war, weil es sich mit Mangandioxid vermischt hatte).
Diese Farbexperimente überzeugten mich davon, dass es eine sehr enge (wenn auch unverständliche) Beziehung zwischen der atomaren Beschaffenheit vieler Elemente und der Farbe ihrer Verbindungen oder Mineralien geben musste. Es zeigte sich die gleiche Farbe, egal, welche Verbindung man betrachtete. So spielte es beispielsweise keine Rolle, ob es sich um Mangankarbonat, Mangannitrat oder Mangansulfat handelte, die Verbindungen wiesen alle das gleiche Rosa des zweiwertigen Manganions auf (die Permanganate mit dem siebenwertigen Manganion waren hingegen alle dunkelviolett). Daraus gewann ich den vagen Eindruck - sicherlich keinen, den ich zu der Zeit genauer in Worte hätte fassen können -, dass die Farbe dieser Metallionen, ihre chemische Farbe, in einer Beziehung zu dem besonderen Zustand ihrer Atome stand, währenddessen sie sich von einer Oxidationsstufe zur anderen bewegten. Wie kamen insbesondere die Übergangselemente zu ihren charakteristischen Farben? Waren diese Stoffe, ihre Atome, irgendwie «gestimmt»?[10] Mir schien, ein Großteil der Chemie hatte mit Wärme zu tun - manchmal benötigte sie und manchmal produzierte sie Wärme. Häufig brauchte es Wärme, um eine Reaktion in Gang zu setzen, doch ihren Fortgang nahm sie dann aus eigener Kraft, und nicht selten mit geradezu unmäßiger Heftigkeit. Wenn ich Eisenfeilspäne und Schwefel einfach mischte, geschah gar nichts - ich konnte die Eisenfeilspäne aus der Mischung sogar mit einem Magneten herausziehen. Doch sobald man die Mischung erwärmte, begann sie plötzlich zu glühen, hell und weiß, und etwas vollkommen Neues wurde geschaffen - Eisensulfid. Dies schien eine grundlegende, fast eine Urreaktion zu sein, und ich stellte mir vor, sie finde in riesigem Maßstab im Inneren der Erde statt, wo geschmolzenes Eisen und Schwefel miteinander in Berührung kämen.
Eine meiner frühesten Erinnerungen (ich war damals erst zwei) ist der Anblick des brennenden Kristallpalastes. Meine Brüder nahmen mich mit auf den Parliament Hill, den höchsten Punkt von Hampstead Heath. Wild und schön wurde der Nachthimmel von dem brennenden Palast erleuchtet. An jedem 5. November, dem Guy Fawkes Day, dem Tag der Pulververschwörung, veranstalteten wir ein kleines Feuerwerk bei uns im Garten - kleine Wunderkerzen aus Eisenstaub, rote und grüne bengalische Lichter und Knallkörper, die mich vor Angst wimmern ließen und in mir, wie in unserem Hund, den Wunsch weckten, mich zu verkriechen. Ich weiß nicht, ob es diese Erfahrungen waren oder eine Urliebe zum Feuer, jedenfalls übten Flammen und Brände, Explosionen und Farben eine ganz besondere (manchmal auch Schrecken erregende) Anziehungskraft auf mich aus.
Gerne mischte ich Jod und Zink oder Jod und Antimon - hier bedurfte es keiner Wärme - und beobachtete, wie sich die Stoffe spontan erhitzten, woraufhin sich eine Wolke von violettem Joddampf über dem Ort des Geschehens ausbreitete. Die Reaktion fiel heftiger aus, wenn man Aluminium anstelle von Zink oder Antimon nahm. Wenn ich zwei oder drei Tropfen Wasser zur Mischung hinzufügte, fing sie Feuer, brannte mit einer violetten Flamme und bestäubte alles mit feinem braunem Jodpulver.
Magnesium war wie Aluminium ein Metall, dessen Paradoxa mich faszinierten: fest und stabil genug, um in seiner massiven Form zum Bau von Flugzeugen und Brücken verwendet zu werden, aber fast erschreckend aktiv, sobald die Oxidation, die Verbrennung, eingesetzt hatte. Man konnte Magnesium in kaltes Wasser legen, ohne dass etwas passierte; in heißem Wasser begänne Wasserstoff in Blasen aufzusteigen; doch wenn man ein Magnesiumband anzündete, brennte es auch unter Wasser oder in dem normalerweise jede Flamme erstickenden Kohlendioxid mit grellem Licht weiter. Das erinnerte mich an die Brandbomben, die während des Krieges abgeworfen wurden und die weder durch Kohlendioxid noch Wasser oder Sand gelöscht werden konnten. Wenn man Magnesium und Sand erhitzte - was konnte inaktiver sein als Siliziumdioxid? -, brannte das Magnesium mit heller Flamme, wobei es den Sauerstoff aus dem Sand herauszog, sodass elementares Silizium oder eine Mischung aus Silizium und Magnesiumsilizid zurückblieb. (Trotzdem hat man während des Krieges Sand verwendet, um gewöhnliche Feuer zu löschen, die durch Brandbomben entzündet worden waren, auch wenn der Sand gegen das brennende Magnesium selbst nicht half. Daher sah man während des Krieges überall in London Sandeimer, jedes Haus hatte seinen eigenen.) Wenn man das Suizid in verdünnte Salzsäure tauchte, erzeugte es durch seine Reaktion ein spontan entzündbares Gas, Siliziumwasserstoff oder Silan. Blasen dieses Gases stiegen in der Lösung auf, bildeten Rauchringe und fingen mit kleinen Explosionen Feuer, sobald sie an die Oberfläche gelangten.
Für Feuerzauber dieser Art verwendete ich einen sehr langstieligen «Verbrennungslöffel», den ich mit etwas Brennstoff füllen und schwungvoll in einen Zylinder mit Luft, Sauerstoff oder was auch immer absenken konnte. Am schönsten waren die Flammen, wenn man Sauerstoff verwendete. Wenn man Schwefel schmolz und ihn in Sauerstoff senkte, fing er Feuer und verbrannte mit strahlend blauer Flamme, wobei stechend riechendes, erstickendes Schwefeldioxid entstand. Stahlwolle, aus der Küche stibitzt, war überraschend entzündlich - auch sie brannte mit heller Flamme in Sauerstoff und ließ wie die Wunderkerzen am Guy Fawkes Day einen Funkenschauer aufstieben, der als schmutzig brauner Eisenoxidstaub niedersank.
Bei chemischen Experimenten solcher Art spielte ich mit dem Feuer, im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne. Gewaltige Energien, plutonische Kräfte wurden dabei entfesselt, und ich hatte das aufregende, aber immer etwas prekäre Gefühl, über diese Kräfte zu gebieten - jedenfalls manchmal. Das galt in besonderem Maße für die heftigen exothermen Reaktionen von Aluminium und Magnesium; mit ihnen ließen sich Metallerze reduzieren oder auch elementares Silizium aus Sand produzieren, doch ein bisschen Unachtsamkeit, ein kleiner Rechenfehler, und schon hielt man eine Bombe in Händen.
Diese Gefahren trugen nur zur Romantik der chemischen Versuche und Entdeckungen bei. Jungenhaften Stolz empfand ich, wenn ich mit diesen gefährlichen Stoffen hantierte, und bestürzt las ich dann, wie viele Unfälle die Pioniere erlitten hatten. Nur wenige Entdeckungsreisende waren von wilden Tieren zerrissen worden oder giftigen Pflanzen und Insekten zum Opfer gefallen; nur wenige Physiker hatten beim Blick gen Himmel ihr Augenlicht verloren oder sich auf der schiefen Ebene ein Bein gebrochen; dagegen hatten viele Chemiker Augen, Gliedmaßen und sogar ihr Leben eingebüßt, meist weil sie unabsichtlich Explosionen herbeigeführt oder gefährliche Gifte erzeugt hatten. Alle Forscher, die sehr früh mit dem Phosphor umgingen, zogen sich schwere Verbrennungen zu. Bei Experimenten mit Kakodylzyanid hat Bunsen durch eine Explosion sein rechtes Auge und um Haaresbreite auch sein Leben verloren. Später versuchten mehrere Experimentatoren, unter anderem Moissan, Diamant aus Graphit herzustellen, und fertigten zu diesem Zweck extrem erhitzte «Hochdruckbomben» an, mit denen sie leicht sich selbst und ihre Mitarbeiter ins Jenseits hätten befördern können. Humphry Davy, der zu meinen ganz besonderen Helden gehörte, war fast an Stickstoffoxid erstickt, hatte sich mit Stickstoffperoxid vergiftet und die Lungen durch Flusssäure entzündet. Davy experimentierte auch mit dem ersten «brisanten» Sprengstoff - Chlorstickstoff -, der viele Menschen um Finger und Augen brachte. Er entdeckte mehrere neue Methoden, Stickstoff und Chlor zu verbinden, und verursachte einmal eine heftige Explosion, als er bei einem Freund zu Besuch war. Davy selbst erblindete teilweise und brauchte vier Monate, um sich wieder zu erholen. (Welchen Schaden er am Haus seines Freundes anrichtete, ist nicht überliefert.)
The Discovery of the Elements widmete einen ganzen Abschnitt den «Fluormärtyrern». Während man elementares Chlor bereits in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts aus Salzsäure isoliert hatte, war sein aktiverer Verwandter, das Fluor, nicht so leicht zu gewinnen. Alle frühen Experimentatoren hätten, so las ich, «die schreckliche Tortur einer Flusssäurevergiftung» erlitten, was für mindestens zwei von ihnen tödlich ausging. Fluor wurde erst 1886, nach fast hundert Jahren lebensgefährlicher Versuche, isoliert.
Diese Geschichte faszinierte mich und weckte augenblicklich den Wunsch in mir, diesen Stoff selbst zu gewinnen. Flusssäure war leicht zu beschaffen: Onkel Wolfram verwendete sie in großen Mengen, um seine Glühlampen zu «mattieren», ich hatte sie in großen Korbflaschen in seiner Fabrik in Hoxton gesehen. Doch als ich meinen Eltern die Geschichte der Fluormärtyrer erzählte, verboten sie mir, damit im Haus zu experimentieren. (Ich entschloss mich zu einem Kompromiss, das heißt, ich stellte mir ein Guttaperchafläschchen mit Flusssäure ins Labor, hatte jedoch so viel Angst, dass ich die Flasche nicht öffnete.)
Erst als ich später darüber nachdachte, staunte ich über die sorglose Art, in der Griffin (und andere in meinen Büchern) die Verwendung hochgiftiger Substanzen vorschlug. Ich hatte nicht die mindeste Schwierigkeit, mir Kaliumzyanid aus der Apotheke in unserer Straße zu besorgen - ein Mittel, das normalerweise zur Insektenvernichtung benutzt wurde -, doch ich hätte mich mit dem Zeug leicht selbst vernichten können. Im Laufe der Jahre trug ich eine Vielzahl von Chemikalien zusammen, mit denen ich die ganze Straße hätte kontaminieren oder in die Luft jagen können, zum Glück war ich vorsichtig - oder hatte Glück.[11]
Wurde meine Nase im Labor von eher unangenehmen Gerüchen gereizt - dem stechenden Geruch von Ammoniak oder Schwefeldioxid, dem ekelhaften Gestank von Schwefelwasserstoff -, so wurde sie sehr viel freundlicher angesprochen durch den Garten draußen und die Küche drinnen mit ihrem Duft nach Lebensmitteln, Essenzen und Gewürzen. Woher bekam der Kaffee sein Aroma? Welche Duftstoffe enthielten die Gewürznelken, Äpfel, Rosen? Wie kamen Zwiebeln, Knoblauch und Radieschen zu ihrem durchdringenden Aroma? Welchem Umstand verdankte Gummi seine spezielle Nuance? Besonders mochte ich den Geruch von heißem Gummi, der für mich eine fast menschliche Note zu besitzen schien (wie ich später erfuhr, haben Gummi und Menschen das geruchsintensive Isopren gemeinsam). Warum bekamen Butter und Milch einen sauren Geruch und Geschmack, wenn sie bei warmem Wetter «schlecht» wurden? Was verlieh Terpentin seinen ansprechenden, harzigen Geruch? Neben allen diesen «natürlichen» Gerüchen gab es die von Alkohol und Azeton, die mein Vater in der Praxis verwendete, von Chloroform und Äther in der Geburtshilfetasche meiner Mutter. Da war der sanfte, angenehm medizinische Geruch von Jodoform, mit dem Verletzungen desinfiziert wurden, und der durchdringende Gestank der Karbolsäure, mit der man Toiletten desinfizierte (das Etikett der Flasche zierte ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen darunter).
Wohlgerüche ließen sich offenbar aus allen Teilen einer Pflanze gewinnen - Blättern, Blütenblättern, Wurzeln, Rinde. Ich versuchte einige Aromen durch Dampfdestillation zu extrahieren, dazu sammelte ich Rosenblätter, Magnolienblüten und gemähtes Gras aus dem Garten und kochte sie in Wasser. Ihre Fruchtessenzen verflüchtigten sich im Dampf und setzten sich auf dem Destillat ab, wenn es abkühlte (dagegen sanken die schweren braunen Essenzen von Zwiebeln und Knoblauch bis auf den Grund). Entsprechend stellte ich aus Fett - Butterfett, Hühnerfett - einen Extrakt her, eine Pomade, oder ich verwendete Lösungsmittel wie Azeton oder Äther. Alles in allem waren meine Extraktionen nicht allzu erfolgreich, immerhin brachte ich ein brauchbares Lavendelwasser zustande und gewann mit Hilfe von Azeton Gewürznelken- und Zimtöl. Die erfolgreichsten Extraktionen verdankte ich meinen Besuchen in Hampstead Heath, wo ich große Taschen voll Kiefernholz sammelte und aus ihnen ein grünes Öl voller Terpene gewann, das angenehm und belebend wirkte - der Geruch erinnerte mich immer ein wenig an Friar's Balsam, den ich unter Dampf inhalieren musste, wenn ich eine Erkältung hatte.
Ich liebte den Duft von Obst und Gemüse, an allem roch und schnüffelte ich, bevor ich es aß. Die Birnen aus unserem Garten kochte meine Mutter zu einem dicken Sirup ein, in dem sich der Geruch der Birnen noch zu verstärken schien. Doch das Aroma von Birnen, so hatte ich gelesen, ließ sich auch künstlich herstellen (es wurde beispielsweise bei der Zubereitung von Birnendrops verwendet), ohne dass man dazu Birnen brauchte. Man nahm einfach irgendeinen Alkohol - Ethyl-, Methyl- oder Amylalkohol, egal - und destillierte ihn mit Essigsäure, um den entsprechenden Ester zu gewinnen. Ich war erstaunt, dass etwas so Einfaches wie Essigester für das komplexe, köstliche Aroma von Birnen verantwortlich sein konnte und winzige chemische Veränderungen dies wiederum in andere Fruchtessenzen verwandeln konnten - man ging von Ethyl zu Isoamyl über und erhielt den Duft reifender Äpfel, noch ein paar winzige Modifikationen, und man hatte Ester, die nach Bananen, Aprikosen, Ananas oder Weintrauben rochen. So verliefen meine ersten Begegnungen mit den weit reichenden Möglichkeiten der chemischen Synthese.
Neben den angenehmen, fruchtigen Aromen gab es noch eine ganze Anzahl scheußlicher, animalischer Gerüche, die sich leicht aus einfachen Bestandteilen herstellen oder aus Pflanzen extrahieren ließen. Hier ließ mich Tante Len gelegentlich an ihren botanischen Kenntnissen teilhaben, unter anderem machte sie mich mit einer Pflanze namens Stinkender Gänsefuß bekannt, einer Chenopodium-Art. Destillierte man sie in einem alkalischen Medium - ich verwendete Soda -, erhielt man einen besonders scheußlich stinkenden Stoff, der nach verwesten Krebsen oder Fischen roch. Die flüchtige Substanz, Trimethylamin, ergab sich überraschend einfach - ich hatte gedacht, der Gestank von verwestem Fisch müsse einen komplizierteren Ursprung haben. In Amerika, so erzählte mir Len, gebe es eine Pflanze, die Stinkkohl heiße und Verbindungen enthalte, die nach Leichen und fauligem Fleisch rochen. Ich fragte sie, ob sie mir die Pflanze besorgen könne, sie konnte jedoch nicht - wohl ein eher glücklicher Umstand.
Einige dieser stinkenden Substanzen verleiteten mich zu Kinderstreichen. Jeden Freitag bekamen wir frischen Fisch, Karpfen und Hecht, den meine Mutter zerstampfte, um gefillte Fisch für Schabbes zu bereiten. Eines Freitags träufelte ich ein bisschen Trimethylamin dazu. Als meine Mutter es roch, verzog sie angeekelt das Gesicht und warf den ganzen Fisch in den Mülleimer.
Mein Interesse für Gerüche brachte mich zu der Frage, wie wir Aromen erkennen und einordnen, wie die Nase beispielsweise Ester von Aldehyden unterscheidet oder eine Stoffklasse wie die Terpene gewissermaßen auf den ersten Geruch erkennt. So armselig mir auch unser Geruchssinn im Vergleich zu dem eines Hundes erschien - unsere Hündin Greta konnte ihr Lieblingsfutter wittern, wenn die Dose am anderen Ende des Hauses geöffnet wurde -, offenbar arbeitete im Menschen eine chemische Analyse-Instanz, die mindestens genauso leistungsfähig war wie die des Auges oder des Ohrs. Allerdings schien es keine einfache Ordnung zu geben wie die Tonleiter oder das Farbenspektrum. Trotzdem leistete die Nase Bemerkenswertes bei der Bildung von Stoffklassen, die in gewisser Weise der Grundstruktur chemischer Moleküle zu entsprechen schienen. Alle Halogene hatten, so verschieden sie auch waren, einen halogenartigen Geruch. Chloroform roch genau wie Bromoform (obwohl nicht identisch) und wies einen ganz ähnlichen Geruch wie Tetrachlorkohlenstoff auf (der unter der Bezeichnung Thawpit als Fleckentferner vertrieben wurde). Die meisten Ester hatten fruchtigen Charakter; Alkohole - jedenfalls die einfachsten - rochen «alkoholisch»; auch Aldehyde und Ketone hatten ihre eigenen charakteristischen Gerüche.
(Natürlich war man auch vor Irrtümern und Überraschungen nicht gefeit. Onkel Dave erzählte mir, dass Phosgen, Carbonylchlorid, das schreckliche Giftgas, das im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde, seine Gefährlichkeit nicht etwa durch einen halogenartigen Geruch ankündigte, sondern seine Opfer durch den Duft von frisch gemähtem Gras in Sicherheit wiegte. Der süße, ländliche Duft, der sie an die Heufelder ihrer Kindheit erinnerte, war das Letzte, was die phosgenvergasten Soldaten wahrnahmen, bevor sie starben.)
Der schlechte Geruch, der Gestank, schien stets von schwefelhaltigen Verbindungen erzeugt zu werden (die Gerüche von Knoblauch und Zwiebeln waren einfache organische Sulfide, eine chemische Verwandtschaft, die sich als ebenso nah erwies wie die botanische). Den größten Gestank verursachten die Schwefelalkohole, die Merkaptane. Ich las, für den Gestank der Skunks sei Butylmerkaptan verantwortlich - ein Stoff, der in verdünnter Form angenehm und erfrischend erscheine, in hohen Konzentrationen aber widerlich und unerträglich sei. (Als ich einige Jahre später Narrenreigen las, stellte ich mit Vergnügen fest, dass Aldous Huxley eine seiner weniger angenehmen Figuren Merkaptan genannt hatte.)
Bedachte ich all die übelriechenden Schwefelverbindungen und den scheußlichen Gestank der Selen- und Tellurverbindungen, gelangte ich zu dem Schluss, dass diese drei Elemente nicht nur eine chemische, sondern auch eine olfaktorische Stoffklasse bildeten. Für mich waren sie fortan nur noch die «Stinkogene».
Ein bisschen Schwefelwasserstoff hatte ich schon in Onkel Daves Labor gerochen - er roch nach verfaulten Eiern und Fürzen - und (wie man mir sagte) nach Vulkanen. Eine einfache Methode zu seiner Herstellung bestand darin, verdünnte Salzsäure auf Eisen(II)-Sulfid zu gießen. (Das Eisen [II]-Sulfid stellte ich in großen, klumpigen Mengen her, indem ich eine Mischung aus Eisen und Schwefel erhitzte, bis die beiden Stoffe glühten und sich verbanden.) Das Eisen(II)-Sulfid bildete Blasen, wenn ich die Salzsäure darübergoss, und sonderte augenblicklich eine große Menge von stinkendem, stickigem Schwefelwasserstoff ab. Ich stieß die Tür zum Garten auf und wankte hinaus. Als ich Übelkeit und ein merkwürdiges Gefühl verspürte, erinnerte ich mich, wie giftig das Gas war. Derweil gab das teuflische Sulfid (ich hatte große Mengen davon hergestellt) immer noch Wolken des giftigen Gases ab, die durch das ganze Haus zogen. Im Großen und Ganzen verhielten sich die Eltern erstaunlich tolerant gegenüber meinen Experimenten, aber nach diesem Vorfall bestanden sie auf dem Einbau eines Abzugschranks und verlangten, dass ich bei derartigen Versuchen in Zukunft die Reagenzien in kleineren Mengen verwendete.
Als die Luft moralisch und materiell wieder rein und der Abzugsschrank eingebaut war, beschloss ich, andere Gase herzustellen, einfache Verbindungen des Wassertoffs nicht mit Schwefel, sondern mit anderen Elementen. Da ich um die enge Verwandtschaft von Selen und Tellur mit Schwefel wusste, das heißt, um ihre Zugehörigkeit zur gleichen chemischen Gruppe, ging ich nach dem gleichen Grundschema vor: Ich verband Selen oder Tellur mit Eisen und behandelte dann das Eisen(II)-Selenid oder Eisen(II)-Tellurid mit Säure. Wenn schon der Gestank von Schwefelwasserstoff scheußlich war, der von Selenwasserstoff war noch hundertmal schlimmer - ein unbeschreiblich entsetzlicher, widerlicher, Ekel erregender Gestank, der bei mir Hustenanfälle und Tränen auslöste und mich an verfaulte Radieschen und Kohlköpfe erinnerte (damals hegte ich eine tief sitzende Abneigung gegen Weißkohl und Rosenkohl, weil es sie gekocht, verkocht, in Braefield überreichlich gegeben hatte). Selenwasserstoff hatte, so mein Eindruck, den scheußlichsten Geruch der Welt. Doch Tellurwasserstoff blieb nicht weit dahinter zurück, auch ein Höllengestank. Eine Hölle, die chemisch auf der Höhe sein wollte, müsste nicht nur Flüsse von feurigem Schwefel haben, sondern auch Seen von kochendem Selen und Tellur.
KAPITEL NEUN
HAUSBESUCHE
Gefühle und Nähe waren nicht die Sache meines Vaters, jedenfalls nicht im Kontext, in den Grenzen der Familie. Doch es gab Zeiten, kostbare Zeiten, da fühlte ich mich ihm nahe. In ganz frühen Erinnerungen sehe ich ihn in unserer Bibliothek lesen. Dann war er so konzentriert, dass nichts ihn stören konnte und alles, was außerhalb des Lichtkreises seiner Lampe lag, vollkommen ausgeblendet blieb. Meistens las er die Bibel oder den Talmud, obwohl er auch eine große Sammlung von hebräischen Büchern (er sprach fließend Hebräisch) und Judaika besaß - die Bibliothek eines Sprachforschers und Schriftgelehrten. Vielleicht war es sein Anblick, die völlige Versunkenheit in seine Lektüre, das Mienenspiel in seinem Gesicht, während er las (ein unwillkürliches Lächeln, eine Grimasse, ein Ausdruck der Verblüffung oder des Entzückens), was mich früh zum Lesen veranlasste, sodass ich mich schon vor dem Krieg manchmal mit einem eigenen Buch zu ihm in die Bibliothek gesellte, in einem tiefen, unausgesprochenen Gefühl der Gemeinsamkeit.
Wenn mein Vater am Abend keine Hausbesuche mehr machen musste, widmete er sich nach dem Dinner genüsslich einer großen, torpedoförmigen Zigarre. Liebevoll massierte er sie, führte sie an die Nase, um ihr Aroma und ihre Frische zu prüfen, und wenn alles zu seiner Zufriedenheit gereichte, machte er an einem Ende mit seinem Zigarrenschneider einen V-förmigen Einschnitt. Mit einem langen Streichholz zündete er sie sorgsam an, wobei er sie drehte, damit sie gleichmäßig anbrannte. Wenn er an ihr zog, glühte das andere Ende rötlich, und das erste Ausatmen des Rauches begleitete ein Seufzer des Behagens. Während er las, paffte er gemütlich vor sich hin, die Luft wurde blau und der Qualm hüllte uns in eine wohlriechende Wolke. Ich hatte eine Vorliebe für den Duft der schönen Havannas, die er rauchte, und beobachtete gespannt, wie der graue Aschezylinder länger und länger wurde, wobei ich mich fragte, welche Länge er wohl erreichen werde, bevor er auf sein Buch fiele.
Am nächsten fühlte ich mich ihm, und ganz wirklich als sein Sohn, wenn wir zusammen schwimmen gingen. Von frühester Jugend an bewies sich mein Vater als ein leidenschaftlicher Schwimmer (wie schon sein Vater vor ihm). In jüngeren Jahren hatte er es darin sogar zu Meisterehren gebracht: Drei Jahre hintereinander gewann er das Fünfzehn-Meilen-Rennen vor der Isle of Wight. Er hatte uns alle schon als Babys in den Highgate Ponds in Hampstead Heath mit dem Wasser vertraut gemacht.
Die langsamen, raumgreifenden Züge meines Vaters waren einem kleinen Jungen nicht unbedingt angemessen. Aber ich konnte sehen, wie sich mein alter Herr, an Land so massig und schwerfällig, im Wasser in ein geschmeidiges, elegantes Geschöpf - einen Delphin - verwandelte. Und ich, befangen, nervös und ebenfalls ziemlich unbeholfen, erlebte die gleiche wundersame Verwandlung an mir selbst, entdeckte ein neues Ich, eine neue Seinsweise im Wasser. Ich kann mich noch lebhaft an einen Sommerurlaub am Meer erinnern. Es war einen Monat nach meinem fünften Geburtstag, ich lief ins Schlafzimmer meiner Eltern und zerrte an dem massigen, walfischartigen Körper meines Vaters. «Komm schon, Pop! Wir wollen schwimmen gehen.» Er drehte sich langsam um und öffnete ein Auge: «Was fällt dir ein, einen alten Mann von dreiundvierzig um sechs Uhr morgens zu wecken?» Nun, da mein Vater tot ist und ich selbst über sechzig bin, ist mir bei der Erinnerung an diese längst vergangene kindliche Quengelei zum Lachen und zum Weinen zumute.
Später schwammen wir gemeinsam in der großen Badeanstalt in Hendon oder im Welsh Harp in der Edgware Road, einem kleinen See (ich wusste nie genau, ob er natürlich oder künstlich geschaffen war), auf dem mein Vater früher auch ein Boot liegen hatte. Nach dem Krieg, als Zwölfjähriger, konnte ich meine Schwimmzüge den seinen angleichen, seinen Rhythmus übernehmen, sodass wir in vollkommenem Gleichklang schwammen.
Manchmal begleitete ich meinen Vater am Sonntagmorgen auf Hausbesuche. Hausbesuche schätzte er über alles, weil sie neben dem medizinischen auch einen gesellschaftlichen und geselligen Aspekt hatten. Durch sie fand er Zutritt zu Familien und Häusern, lernte er die Menschen und ihre Lebensverhältnisse kennen, sah alle Begleitumstände und Bedingungen einer Krankheit. Die Medizin bedeutete für ihn nie, einfach nur eine Krankheit zu diagnostizieren, sondern auch, sie im Kontext des Lebens seiner Patienten zu sehen und zu verstehen, die Besonderheiten ihrer Persönlichkeit, ihrer Gefühle und ihrer Reaktionen zu erfassen.
Er hatte eine maschinengeschriebene Liste von einem Dutzend Patienten und ihren Adressen bei sich, ich saß neben ihm auf dem Vordersitz und er erklärte mir in sehr schlichten, menschlichen Worten, was jedem Patienten fehlte. Wenn wir ankamen, stieg ich mit ihm aus und durfte meistens seine Arzttasche tragen. Manchmal betrat ich mit ihm zusammen das Krankenzimmer und setzte mich still hin, während er einen Patienten befragte und untersuchte - eine Untersuchung, die rasch und beiläufig erschien, aber dennoch außerordentlich gründlich war und ihm Einblick in die Ursachen der jeweiligen Erkrankung gewährte. Fasziniert sah ich zu, wie er mit seinen kräftigen, dicken Fingern die Brust eines Kranken abklopfte und den Zustand der Organe darunter erfühlte, ertastete. Erst als ich später selbst Medizin studierte, wurde mir so richtig klar, wie meisterhaft er dieses Abklopfen beherrschte und dass er durch das Abtasten, Abklopfen und Abhorchen einer Brust mehr über die betreffende Krankheit erfuhr als die meisten Ärzte durch eine Röntgenaufnahme.
In anderen Fällen, wenn der Patient zu krank oder seine Krankheit zu ansteckend war, setzte ich mich zur Familie in die Küche oder ins Esszimmer. Nachdem mein Vater sich den Patienten im oberen Stockwerk angeschaut hatte, kam er herunter, wusch sich sorgfaltig die Hände und betrat die Küche. Er aß für sein Leben gern und kannte sich in den Kühlschränken aller seiner Patienten aus - die Familien schienen Freude daran zu haben, den guten Doktor zu beköstigen. Die Patienten zu untersuchen, die Angehörigen kennen zu lernen, die Besuche zu genießen, zu essen - all das gehörte untrennbar zu der Medizin, die er praktizierte.
Durch die sonntäglich ausgestorbene City zu fahren bedeutete im Jahr 1946 eine ernüchternde Erfahrung, denn die Wunden, die die Bombenangriffe der Stadt geschlagen hatten, waren noch frisch. Der Wiederaufbau hatte kaum begonnen. Dies galt ganz besonders für das Eastend, wo vielleicht ein Fünftel der Bausubstanz dem Erdboden gleichgemacht worden war. Doch es gab noch immer eine sehr lebendige jüdische Gemeinde dort mit Restaurants, mit Feinkostgeschäften, wie man sie sonst nirgends auf der Welt fand. Mein Vater hatte seine Facharztausbildung am London Hospital in der Whitechapel Road absolviert und war als junger Mann zehn Jahre lang der jiddisch sprechende Arzt des jiddisch sprechenden Viertels gewesen. An diese Zeit erinnerte er sich besonders gern. Manchmal besuchten wir seine alte Praxis in der New Road - wo alle meine Brüder geboren worden waren und jetzt sein Neffe Neville praktizierte, der ebenfalls Arzt war.
Wir schlenderten die «Lane» entlang, den Abschnitt der Petticoat Lane zwischen Middlesex Street und Commercial Street, wo die Händler ihre Stände aufschlugen. Meine Eltern hatten das Eastend 1930 verlassen, doch mein Vater kannte noch immer viele Händler mit Namen. Wenn er mit ihnen plauderte, wieder ins Jiddisch seiner Jugend verfiel, wurde mein alter Vater (was heißt hier «alt»? Ich bin heute fünfzehn Jahre älter als er damals mit seinen fünfzig Jahren) wieder jugendlich, jungenhaft, und zum Vorschein kam ein früheres, lebendigeres Selbst, als ich es für gewöhnlich kannte.
In der Lane suchten wir stets Marks auf, dort konnte man Latkes (Pfannkuchen) für Sixpence das Stück kaufen und den besten geräucherten Lachs und Hering von ganz London bekommen. Der Lachs zerging so unglaublich zart auf der Zunge, dass er zu den wenigen wirklich paradiesischen Erfahrungen gehörte, die auf dieser Erde zu haben sind.
Mein Vater verfügte immer über einen sehr gesunden Appetit, daher waren die Strudel und Heringe, die er bei seinen Patienten bekam, und die Latkes, die wir bei Marks erstanden, für ihn nur ein Vorspiel der richtigen Mahlzeit. Im Umkreis von wenigen Blocks gab es ein Dutzend ausgezeichneter koscherer Restaurants, jedes mit seinen eigenen unvergleichlichen Spezialitäten. Wofür sollte man sich entscheiden? Bloom's in Aldgate, Ostwind's, wo einen die wunderbaren Düfte aus der Bäckerei im Keller umspielten, oder Strongwater's, wo es eine besondere Art von Kreplachs gab, die Varenikas, die sich bei meinem Vater schon zu einer gefährlichen Sucht ausgewachsen hatten? Gewöhnlich landete er jedoch im Silberstein's, wo es neben dem Fleischrestaurant im Erdgeschoss noch ein Dairy Restaurant im ersten Stock gab, dort bekam man wunderbare Milchsuppen und Fischgerichte. Besonders für Karpfen hatte mein Vater eine Schwäche. Geräuschvoll und mit großem Behagen lutschte er den Fischen die Köpfe aus.
Pop war auf dem Weg zu seinen Hausbesuchen ein ruhiger, unerschütterlicher Autofahrer. Damals hatte er einen behäbigen, ziemlich langsamen Wolseley, durchaus passend zur Benzinrationierung, die damals noch in Kraft war - doch vor dem Krieg sah die Sache anders aus, da fuhr er ein amerikanisches Auto, einen Chrysler, ein äußerst sportliches und für die dreißiger Jahre ungewöhnlich schnelles Gefährt. Außerdem besaß er ein Motorrad, eine Scott Flying Squirrel, mit einem wassergekühlten 600-Kubik-Zweitakter und einem Auspuff, dessen Gebrüll durch Mark und Bein ging. Fast dreißig Pferdestärken brachte die Maschine auf die Straße - sie hatte, wie er gern sagte, mehr Ähnlichkeit mit einem fliegenden Pferd (als mit einem flying squirrel, einem fliegenden Eichhörnchen). An freien Sonntagen setzte er sich morgens auf dieses Zweirad, überließ sich Fahrtwind und Straße, schüttelte die Stadt ab und vergaß Praxis und Beruf eine Zeit lang. Manchmal träumte ich davon, selbst auf dem Motorrad zu fahren oder zu fliegen, und ich war entschlossen, mir selbst eines zuzulegen, wenn ich groß war.
Als 1955 Unter dem Prägstock von T. E. Lawrence erschien, las ich meinem Vater daraus «Die Straße» vor, Zeilen von Lawrence über sein Motorrad (zu der Zeit hatte ich schon selber eines, eine Norton):
Ein ungebärdiges Motorrad mit ein bisschen Leben drin ist besser als alle Reittiere der Welt, denn es bildet die logische Erweiterung unserer eigenen Möglichkeiten und ist durch seine honigsüße, unermüdliche Bereitwilligung immer ein Ansporn, eine Herausforderung zum Übertreiben.
Vater lächelte und nickte zustimmend, als er an seine eigene Biker-Zeit zurückdachte.
Ursprünglich hatte Vater mit dem Gedanken gespielt, eine wissenschaftliche Laufbahn als Neurologe einzuschlagen. Er arbeitete (zusammen mit Jonathan Millers Vater) als Assistenzarzt am London Hospital bei Sir Henry Head, dem berühmten Neurologen. Noch im Vollbesitz seiner Kräfte hatte Head damals selbst Parkinson bekommen. Die Krankheit bewirkte gelegentlich, dass er gegen seinen Willen, wie mein Vater erzählte, die alte neurologische Station in ganzer Länge entlangzulaufen hatte - zu trippeln -, sodass er von einem seiner eigenen Patienten aufgehalten werden musste. Als ich mir das nicht vorstellen konnte, ahmte mein Vater, der über ein ausgeprägtes mimisches Talent verfügte, Heads Trippelgang nach und eilte in immer rascherem Tempo die Exeter Road entlang, wobei ich kaum mit ihm Schritt halten konnte. Mein Vater glaubte, durch das eigene Leiden sei Head einfühlsamer für die Beeinträchtigungen seiner Patienten geworden. Und ich glaube, die Nachahmungen meines Vaters ob Asthma, Krämpfe, Lähmungen oder sonst etwas -, die er seiner Fähigkeit verdankte, sich in andere hineinzuversetzen, leisteten ihm ähnliche Dienste.
Als es Zeit wurde, eine eigene Praxis zu eröffnen, beschloss mein Vater, sich trotz seiner neurologischen Ausbildung als Allgemeinmediziner niederzulassen. Er glaubte, als praktischer Arzt würde seine Tätigkeit wirklicher, «lebensnäher» sein. Vielleicht bekam er mehr Lebensnähe zu spüren, als er es sich erhofft hatte, denn im September 1918, als er seine Praxis im Eastend eröffnete, setzte gerade die große Grippeepidemie ein. Als Assistenzarzt am London Hospital hatte er verwundete Soldaten erlebt, doch das war nichts im Vergleich zu den Schrecken, die ihn jetzt erwarteten: Die Menschen erlitten entsetzliche Hustenanfälle, rangen nach Luft, erstickten an der Flüssigkeit in ihren Lungen, liefen auf der Straße blau an und fielen tot um. Es hieß, die Krankheit könne einen gesunden jungen Erwachsenen innerhalb von drei Stunden nach Ausbruch töten. In jenen drei schrecklichen Monaten Ende 1918 brachte die Grippe mehr Menschen um als der Weltkrieg. Mein Vater war, wie jeder Arzt damals, völlig überlastet und manchmal achtundvierzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen.
Er bat dann seine Schwester Alida - eine junge Witwe, die drei Jahre zuvor mit zwei Kindern aus Südafrika zurückgekehrt war -, ihm zu helfen. Etwa zur gleichen Zeit holte er Yitzchak Eban, einen jungen Kollegen, zur Unterstützung in seine Praxis.
Yitzchak war in Joniski geboren worden, demselben kleinen litauischen Dorf, in dem die Sacks-Familie gelebt hatte. Alida und Yitzchak hatten als Kleinkinder miteinander gespielt, doch 1895 war seine Familie nach Schottland gegangen, ein paar Jahre bevor die Sacks' nach London übersiedelten. Als sich Alida und Yitzchak zwanzig Jahre später hier wiedersahen und in der fieberhaften, überreizten Atmosphäre der Epidemie zusammen arbeiteten, verliebten sie sich ineinander und heirateten im Jahr 1920.
Als Kinder hatten wir relativ wenig Kontakt zu Tante Alida (obwohl ich sie für die hellste und aufgeweckteste meiner Tanten hielt - sie hatte ganz unvermittelte Einfälle und Eingebungen, die, wie ich fand, typisch für die «Sacks'sche Geistesart» waren, im Gegensatz zur methodischen, analytischen Denkweise der Landaus). Dagegen war Tante Lina, die älteste Schwester meines Vaters, ständig zugegen. Sie war fünfzehn Jahre älter als Pop, eine winzige Person - einen Meter fünfundvierzig in hochhackigen Schuhen -, aber von eisernem Willen und rücksichtsloser Entschlossenheit. Sie hatte goldgelb gefärbtes Haar, spröde wie Puppenhaar, und verströmte einen Körpergeruch in der Mischung von Knoblauch, Schweiß und Patschuli. Lina hatte, wie erwähnt, unser Haus möbliert und versorgte uns in Nummer 37 häufig mit Spezialitäten nach eigenem Rezept - Fischkuchen (weshalb Marcus und David sie Fishcake oder manchmal auch Fishface, Fischgesicht nannten), schwere krümelige Käsekuchen oder zum Passahfest Matzenknödel von einer unglaublichen, tellurischen Dichte, die wie Steine auf den Grund der Suppe sanken. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Anstandsregeln beugte sie sich zu Hause bei Tisch hinab und schnauzte sich die Nase im Tischtuch. Dessen ungeachtet war sie in Gesellschaft bezaubernd, strahlend und kokett, hörte aber auch aufmerksam zu und machte sich ein klares, unbestechliches Bild vom Charakter und den Beweggründen der Anwesenden. Waren ihre Gesprächspartner nicht auf der Hut, entlockte sie ihnen Geständnisse und behielt mit ihrem teuflischen Gedächtnis alles, was man ihr anvertraut hatte.[12]
Doch ihre Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit dienten einem edlen Zweck, denn sie setzte sie ein, um Geld für die Hebräische Universität in Jerusalem zu sammeln. Manchmal malte ich mir aus, sie hätte Dossiers über jede wichtige Persönlichkeit in England und griffe bei hinreichender Gewissheit in Bezug auf Informationen und Quellen zum Telefon. «Lord G.? Hier ist Lina Halper.» Daraufhin eine Pause, dann ein Aufstöhnen. Lord G. wusste, was ihn erwartete. «Ja», fuhr sie fröhlich fort, «aber ja, Sie kennen mich. Es gibt da so eine Angelegenheit - nein, nein, ersparen wir uns die Einzelheiten. Ich meine die kleine Geschichte in Bognor, im März 23… Nein, natürlich werde ich nicht darüber reden. Sie bleibt unser kleines Geheimnis. Was darf ich für Sie eintragen? Vielleicht fünfzigtausend? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was dies für die Hebräische Universität bedeuten würde.» Mit Erpressungen dieser Art brachte Lina mehrere Millionen Pfund zusammen, und wahrscheinlich war sie die erfolgreichste Geldbeschafferin, die die Hebräische Universität je hatte.
Lina, mit Abstand die Älteste, war für ihre jüngeren Geschwister eine «kleine Mutter», als die Familie 1899 von Litauen nach England auswanderte. Nach dem frühen Tod ihres Mannes erhob sie in gewisser Weise Anspruch auf meinen Vater und wetteiferte mit meiner Mutter um seine Gesellschaft und Gunst. Mir war die Spannung, die unausgesprochene Rivalität zwischen den beiden stets bewusst, und auch die Situation meines Vaters - er war nachgiebig, passiv und unentschlossen und wurde hin und her gerissen zwischen ihnen.
Während viele Familienmitglieder Lina für eine Art Monster hielten, hegte sie eine Schwäche für mich und ich für sie. Besonders wichtig wurde sie für mich - vielleicht für uns alle - zu Beginn des Krieges. Wir waren nämlich bei Kriegseintritt für die Sommerferien in Bournemouth, und als Ärzte mussten unsere Eltern sofort nach London aufbrechen, während wir vier in der Obhut unseres Kindermädchens zurückblieben. Bei ihrer Rückkehr zwei Wochen später war meine - unsere – Erleichterung grenzenlos. Ich weiß noch, dass ich den Gartenweg hinunterstürzte, als ich die Hupe ihres Autos hörte, und mich buchstäblich in die Arme meiner Mutter warf, so heftig, dass sie fast umfiel. «Ich habe dich vermisst», weinte ich, «ich habe dich so sehr vermisst.» Sie hielt mich lange und fest in ihren Armen, und plötzlich schwand das Gefühl des Verlustes, der Angst. Unsere Eltern versprachen, sehr bald zurückzukommen, möglicherweise schon am nächsten Wochenende, doch in London gab es viel für sie zu tun - meine Mutter kümmerte sich um die Notfallchirurgie und mein Vater organisierte die praktischen Ärzte des Viertels für die medizinische Versorgung bei Luftangriffen. Am nächsten Wochenende kamen sie nicht. Eine weitere Woche verging, noch eine und noch eine, und dann, glaube ich, zerbrach irgendetwas in meinem Inneren, denn als sie sechs Wochen nach ihrem ersten Besuch wieder kamen, lief ich meiner Mutter nicht entgegen, um sie wie beim ersten Mal zu umarmen, sondern begegnete ihr kalt und unpersönlich, als sei sie eine Fremde. Darüber war sie wohl erschrocken und bestürzt, doch wusste sie nicht, wie sie den Graben, der sich zwischen uns aufgetan hatte, überbrücken sollte.
Als die Auswirkungen der elterlichen Abwesenheit unübersehbar wurden, erschien Lina auf der Bildfläche, übernahm das Haus, kochte, organisierte unseren Alltag, wurde eine kleine Mutter für uns alle und füllte die Lücke, die durch die Abwesenheit entstanden war.
Dieses kleine Zwischenspiel dauerte nicht lange - Marcus und David setzten ihr Medizinstudium fort, während Michael und ich in Braefield untergebracht wurden. Doch ich werde nie vergessen, wie liebevoll sich Lina in dieser Zeit um mich gekümmert hat. Nach dem Krieg besuchte ich sie in London regelmäßig in ihrem hohen, brokatgeschmückten Zimmer in der Elgin Avenue. Sie setzte mir Käsekuchen, manchmal auch Fischkuchen, und ein kleines Glas süßen Wein vor, während ich ihren Erinnerungen an die alte Heimat lauschte. Mein Vater war erst drei oder vier, als die Familie fortzog, und hatte keine Erinnerungen mehr an diese Zeit, doch Lina, die damals achtzehn oder neunzehn war, wusste lebendig und faszinierend von Joniski zu erzählen, vom Schtetl bei Wilna, wo sie alle geboren wurden, und von ihren Eltern, meinen Großeltern, die damals noch verhältnismäßig jung gewesen waren. Mag sein, dass ich ihr als der Jüngste besonders am Herzen lag oder weil ich den gleichen Namen trug wie ihr Vater - Eli Velva, Oliver Wolf. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass sie sich allein fühlte und deshalb über die Besuche ihres jungen Neffen freute.
Außerdem gab es noch einen Bruder meines Vaters, Bennie. Er war exkommuniziert, aus dem Schoße der Familie ausgestoßen worden, nachdem er sich mit neunzehn nach Portugal aufgemacht und eine Nichtjüdin, eine Schickse, geheiratet hatte. Das war in den Augen der Familie ein so ungeheuerliches, so verwerfliches Verbrechen, dass sein Name fortan nicht mehr erwähnt wurde. Aber ich wusste, dass da etwas totgeschwiegen wurde, irgendein finsteres Familiengeheimnis; hin und wieder gab es ein ertapptes Verstummen, eine gewisse Verlegenheit, wenn meine Eltern flüsterten und ich hinzukam, und einmal bemerkte ich ein Foto von Bennie auf einem von Linas geschnitzten Schränken (sie sagte, es sei jemand anderes, aber ich bemerkte das Zögern in ihrer Stimme).
Mein Vater, der, wie erwähnt, schon immer ziemlich schwer und massig war, begann nach dem Krieg noch zuzunehmen und beschloss, in regelmäßigen Abständen eine Gesundheitsfarm in Wales aufzusuchen, um abzunehmen. Diese Kuren schienen nie viel an seinem Gewicht zu verändern, doch wenn er zurückkam, sah er zufrieden und wohl aus, und seine Londoner Blässe war einer gesunden Bräune gewichen. Erst nach seinem Tod, viele Jahre später, stieß ich bei Durchsicht seiner Papiere auf einen Stoß Flugzeugtickets, die mir die wahre Geschichte verrieten er war nie auf jener Diätfarm gewesen, sondern hatte in all diesen Jahren treu und heimlich Bennie in Portugal besucht.