KAPITEL FÜNFZEHN

FAMILIENLEBEN

Von Mutter- wie von Vaterseite spielte der Zionismus eine wesentliche Rolle in meiner Familie. Alida, eine Schwester meines Vaters, arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Assistentin von Nahum Sokolow und Chaim Weitzmann, den damaligen Führern des Zionismus in England. Aufgrund ihrer Sprachbegabung wurde sie 1917 mit der Übersetzung der Balfour-Deklaration ins Französische und Russische betraut. Ihr Sohn Aubrey war schon als Kind ein kundiger und beredter Zionist (später wurde er als Abba Eban der erste israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen).Von meinen Eltern, Ärzten mit einem großen Haus, wurde erwartet, dass sie für die zionistischen Treffen einen Versammlungsort, ein gastfreundliches Heim, zur Verfügung stellten. In meiner Kindheit fanden solche Zusammenkünfte häufig statt, und ich konnte sie von meinem Zimmer oben im Haus deutlich hören - erregte Stimmen, endlose Auseinandersetzungen, Fäuste, die leidenschaftlich auf den Tisch hämmerten. Hin und wieder stürzte auch ein Zionist, rot vor Ärger oder Begeisterung, in mein Zimmer, auf der Suche nach einem Klo.

Diese Treffen schienen meine Eltern arg mitzunehmen - jedes Mal sahen sie hinterher bleich und erschöpft aus -, trotzdem fühlten sie sich verpflichtet, sie auszurichten. Ich hörte nie, dass sie sich untereinander über Palästina oder den Zionismus unterhielten, daher nahm ich an, dass sie das Thema nicht besonders interessierte, jedenfalls nicht bis Kriegsende, als die Schrecken des Holocaust sie zu der Überzeugung brachten, man müsse eine «nationale Heimat» schaffen. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich von den Organisatoren dieser Versammlungen unter Druck setzen ließen und auch den erpresserischen Evangelisten gegenüber viel zu nachgiebig waren, die an die Haustür pochten und für die Yeshivas, die «Schulen in Israel», große Summen verlangten. Meine Eltern, die in fast jeder Hinsicht klar und unabhängig dachten, schienen angesichts dieser Forderungen weich und hilflos zu werden, vielleicht aus einem Gefühl der Pflicht oder Ängstlichkeit heraus. Meine eigenen Gefühle (die ich nie mit ihnen diskutierte) waren entschieden negativ: Ich entwickelte eine starke Abneigung gegen Zionismus, Evangelismus und Politisiererei jeder Art, da sie mir laut, lästig und zudringlich vorkamen. Stattdessen sehnte ich mich nach dem ruhigen Diskurs und der Vernunft der Wissenschaft.

In ihrer religiösen Praxis waren meine Eltern gemäßigt orthodox (obwohl ich mich kaum daran erinnern kann, dass sie jemals über die Dinge sprachen, an die sie wirklich glaubten), während einige unserer Verwandten extrem orthodox waren. Man erzählte, der Vater meiner Mutter sei nachts aufgewacht, wenn ihm seine Jarmulke heruntergefallen sei, und der Vater meines Vaters soll noch nicht einmal ohne sie zum Schwimmen gegangen sein. Einige meiner Tanten trugen Sheitl - Perücken -, die ihnen ein merkwürdig jugendliches, puppenhaftes Aussehen verliehen: Ida hatte eine buttergelbe und Gisela eine rabenschwarze und sie veränderten sich nicht im Mindesten, selbst als sich viele Jahre später mein eigenes Haar grau zu färben begann.

Annie, die älteste Schwester meiner Mutter, war in den neunziger Jahren nach Palästina gegangen und hatte in Jerusalem eine Schule gegründet, eine Schule «für englische Damen mosaischen Glaubens». Annie war eine Frau von bestimmendem Wesen und außerordentlich orthodox. Vermutlich glaubte sie, mit Gott auf äußerst vertrautem Fuße zu stehen (wie sie es in Jerusalem mit dem Oberrabbiner, dem Mandat und dem Mufti tat).[38] In regelmäßigen Abständen kam sie nach England, begleitet von so riesigen Schrankkoffern, dass zu ihrer Beförderung sechs Träger erforderlich waren. Annie brachte eine Atmosphäre einschüchternder religiöser Strenge ins Haus - meine Eltern, die weniger orthodox waren, scheuten ihre tadelnden Blicke.

Einmal - an einem schwülen Samstag im politisch angespannten Sommer des Jahres 1939 - fuhr ich mit meinem Dreirad die Exeter Road in der Nähe unseres Hauses auf und ab, als ein plötzlicher Wolkenbruch niederging und ich völlig durchnässt wurde. Annie hob mahnend den Finger und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf: «Am Schabbes Dreirad fahren! Das kann nicht ungestraft bleiben», sagte sie. «Er sieht alles, er beobachtet dich die ganze Zeit!» Fortan hatte ich etwas gegen Samstage und auch gegen Gott (zumindest den rachsüchtigen, strafenden Gott, den Annie mit ihrer Warnung angerufen hatte). Ich hatte an Samstagen das unangenehme, ängstliche Gefühl, beobachtet zu werden (ein Gefühl, das sich ansatzweise bis heute gehalten hat).

Im Allgemeinen - jener Samstag war eine Ausnahme - ging ich mit der Familie zur Schul, der geräumigen Synagoge in der Wahn Lane, deren Gemeinde damals mehr als zweitausend Mitglieder umfasste. Wir wurden alle so lange geschrubbt, bis wir vor Sauberkeit glänzten, und in unser «Sonntagszeug» gekleidet. Anschließend ging es im Gänsemarsch hinter unseren Eltern die Exeter Road entlang. Meine Mutter stieg mit mehreren Tanten zur Frauengalerie empor. Als ich noch ganz klein war, drei oder noch nicht einmal drei Jahre alt, ging ich mit ihr hinauf, doch als «großer» Junge von sechs musste ich unten bei den Männern bleiben (wo ich verstohlene Blicke zu den Frauen nach oben warf und gelegentlich auch zu winken versuchte, was streng verboten war).

Mein Vater war sehr bekannt in der Gemeinde - die Hälfte der Mitglieder waren seine Patienten oder die meiner Mutter und stand in dem Ruf, eine Stütze der Gemeinde und ein gelehrter Mann zu sein, obwohl seine Gelehrsamkeit, wie er mir sagte, nichts im Vergleich zu der von Wilensky auf der anderen Seite des Gangs sei. Der kenne jedes Wort im Talmud so genau auswendig, dass er sagen könne, welcher Satz auf jeder Seite von einer Nadel getroffen werde, die man in den Talmud steche.

Wilensky folgte nicht dem Gottesdienst, sondern irgendeinem inneren Programm, einer eigenen Liturgie, wobei er vor und zurück schwankte, während er seine eigenen Gebete aufsagte. Er hatte lange Pajess - Schläfenlocken -, die ihm am Gesicht herabhingen. Ehrfürchtig bestaunte ich ihn, für mich war er eine übermenschliche Erscheinung.

An den Samstagmorgenden wurde der Gottesdienst sehr lang, selbst bei hohem Tempo dauerten die Gebete mindestens drei Stunden - und das Gebet war gelegentlich unglaublich schnell. Ein stummes Gebet, die Amidah oder das Achtzehn-Gebet, musste stehend, mit dem Gesicht gen Jerusalem aufgesagt werden. Ich vermute, es war zehntausend Wörter lang, aber die Schnellsten in der Schul schafften es in glatten drei Minuten. Ich las, soviel ich konnte (mit häufigen Blicken in Richtung der Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite, um zu sehen, was das alles bedeutete), aber ich schaffte kaum mehr als einen oder zwei Absätze, bevor die Zeit vorüber war und sich der Gottesdienst dem nächsten Punkt näherte. Meistens versuchte ich gar nicht, Schritt zu halten, sondern blätterte nach eigenem Gutdünken im Gebetbuch. Auf diese Weise erfuhr ich von Myrrhe und Weihrauch und den Gewichten und Maßen, die vor dreitausend Jahren im Land Israel verwendet wurden. Es gab viele Abschnitte, die mich ansprachen mit ihrer opulenten Sprache, ihrer Schönheit, ihrem poetischen und mythischen Charakter, in denen die Gerüche und Gewürze verschiedener Opfer in allen Einzelheiten geschildert wurden. Augenscheinlich hatte Gott eine feine Nase.[39]

Ich mochte den Gesang, den Chor, in dem Cousin Dennis sang und der von Onkel Moss geleitet wurde, den virtuosen Vortrag des Chasans, des Kantors, manchmal auch die heftigen Predigten des Rabbiners und hin und wieder das Gefühl, mit allen anderen Teil einer großen Gemeinschaft zu sein. Doch im Großen und Ganzen bedrückte mich die Synagoge; die Religion erschien mir zu Hause weit realer und unendlich viel angenehmer. Ich liebte Passah und seine Vorbereitungen (wenn wir allen Chametz, gesäuertes Brot, aus dem Haus entfernten und es, manchmal gemeinsam mit unseren Nachbarn, verbrannten), das besondere Besteck und Geschirr, die Tischtücher, die nur während dieser acht Tage benutzt wurden, das Ernten des Meerrettichs, der in unserem Garten wuchs und der Tränen fließen ließ, wenn man ihn rieb.

An den Abenden des Seder-Mahls waren wir fünfzehn, manchmal zwanzig Personen bei Tisch: meine Eltern, die unverheirateten Tanten - Birdie, Len und, vor dem Krieg, Dora, manchmal auch Annie -, Cousins verschiedenen Grades, die aus Frankreich oder der Schweiz zu Besuch kamen, und immer ein Fremder oder zwei. Annie hatte ein schönes, besticktes Tischtuch aus Jerusalem mitgebracht, das in Weiß und Gold erstrahlte. In der weisen Voraussicht, dass es früher oder später zu Unfällen kommen würde, verursachte meine Mutter einen «Präventivklecks» - schon sehr früh am Abend vergoss sie Rotwein aus einer geschickt ungeschickt gehaltenen Flasche auf dem Tischtuch, sodass es keinem Gast mehr peinlich sein musste, wenn er sein Glas umwarf. Obwohl ich wusste, dass sie es absichtlich tat, konnte ich nie vorhersagen, wann der «Unfall» geschehen würde. Er sah immer vollkommen zufallig und echt aus. (Augenblicklich streute sie Salz über den Weinfleck, woraufhin er sehr viel blasser wurde und fast verschwand. Ich fragte mich, warum das Salz diese Fähigkeit hatte.)

Anders als das Ritual in der Schul, das so rasch wie möglich abgehandelt wurde und weitgehend unverständlich für mich war, wurde das Seder-Ritual langsam vollzogen, mit langen Diskussionen, Abhandlungen und Fragen zur symbolischen Bedeutung der einzelnen Gänge - das Ei, das Salzwasser, das Bitterherbe, das Haroseth (Mus aus Äpfeln, Nüssen und Wein). Die vier Söhne, von denen im Ritual die Rede ist - der Weise, der Böse, der Naive und der, der zu jung ist, um Fragen zu stellen -, habe ich immer mit uns Vieren identifiziert, obwohl dies David gegenüber besonders unfair erschien, da er nicht böser als jeder andere Fünfzehnjährige war. Ich liebte das rituelle Händewaschen, die vier Gläser Wein, die Rezitation der zehn Plagen (während man sie hersagte, tauchte man bei jeder Plage einen Zeigefinger in den Wein, um bei der zehnten Plage, der Erschlagung der Erstgeborenen, den Wein auf der Fingerspitze über die Schulter zu werfen). Als jüngstes Familienmitglied stellte ich die Vier Fragen in zitterndem Diskant und versuchte später zu erkennen, wo mein Vater die mittlere Matze, das Afikomen, versteckte (konnte ihn dabei aber ebenso wenig ertappen wie meine Mutter beim Verschütten des Weins).

Ich liebte auch die Gesänge und Rezitationen der Seder-Zeremonie, dieses Gefühl, das geprägt war von Erinnerung, von einem Ritual, das seit Jahrtausenden vollzogen wurde - die Geschichte von der Gefangenschaft in Ägypten, dem Kind Moses im Weidenkorb, das von der Tochter des Pharaos gerettet wird, dem Gelobten Land, in dem Milch und Honig fließen. Ich wurde, wir alle wurden in ein mythisches Reich entrückt.

Das Seder-Mahl zog sich bis nach Mitternacht hin, manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht, sodass ich als Fünf- oder Sechsjähriger regelmäßig einschlief. Wenn die Tafel endlich aufgehoben wurde, ließ man noch ein Glas Wein - das fünfte – für «Elija» zurück (er komme in der Nacht, erzählte man mir, und trinke den Wein, den man ihm hingestellt habe). Da mein hebräischer Name Eliahu, Elija, lautete, gelangte ich zu der Überzeugung, ich sei berechtigt, diesen Wein zu trinken, und nach einem der letzten Seder-Mahle vor dem Krieg schlich ich mich bei Nacht die Treppe hinunter und trank das ganze Glas aus. Man hat mich nie danach befragt, und ich habe die Tat nie gebeichtet, aber mein Kater am nächsten Morgen und das leere Glas machten jedes Geständnis überflüssig.

Ich hatte an allen jüdischen Festen Freude, ganz besonders aber an Sukkoth, dem Laubhüttenfest oder jüdischen Erntedankfest, denn dann errichteten wir im Garten eine Hütte aus Laub und Zweigen, die Sukka, deren Dach wir mit Gemüse und Obst behängten. Wenn das Wetter es erlaubte, durfte ich in der Sukka schlafen und durch das obstverhangene Dach auf die Sterne über mir blicken.

Doch die ernsteren Feste und die Fastenzeiten riefen mir wieder die bedrückende Atmosphäre der Synagoge ins Gedächtnis, eine Atmosphäre, die sich für mich am Versöhnungstag, Jom Kippur, zum Schrecken verdichtete, denn dann wurden (wie man uns erklärte) unsere Sünden gewogen. Man hatte zwischen Neujahr und Versöhnungstag zehn Tage, um Buße zu tun und seine Vergehen und Sünden wieder gutzumachen, und diese Buße erreichte ihren kollektiven Höhepunkt an Jom Kippur. Natürlich wurde während dieser Zeit gefastet, fünfundzwanzig Stunden lang durfte weder Speise noch Trank unsere Lippen berühren. Wir schlugen uns auf die Brust und riefen: «Wir haben dieses getan und jenes getan» - dabei wurden alle denkbaren Sünden erwähnt (viele, an die ich noch nie gedacht hatte), normale Sünden und Unterlassungssünden, absichtliche und unabsichtliche Sünden. Schrecklich daran war, dass man nicht wusste, ob das Auf-die-Brust-Schlagen Gott überzeugte, ob die Sünden, die man begangen hatte, überhaupt zu vergeben waren. Man wusste nicht, ob Gott einen wieder in das Buch des Lebens aufnehmen würde, wie es in der Liturgie hieß, oder ob man sterben und in die Dunkelheit hinausgestoßen würde. Die heftigen, unruhigen Gefühle der Gemeinde wurden von der eindrucksvollen Stimme unseres alten Chasans Schlechter zum Ausdruck gebracht - als junger Mann hatte Schlechter Opernsänger werden wollen, es jedoch nie dazu gebracht, außerhalb der Synagoge zu singen. Ganz am Ende des Gottesdienstes blies Schechter das Schofar, und damit ging Jom Kippur zu Ende.

Als ich vierzehn oder fünfzehn war - ich bin mir nicht ganz sicher -, endete der Jom-Kippur-Gottesdienst auf eine unvergessliche Weise, denn Schechter, der sich beim Blasen des Schofars immer sehr verausgabte - er bekam ein rotes Gesicht vor Anstrengung -, entlockte dem Horn einen langen, scheinbar endlosen Ton von überirdischer Schönheit und fiel dann tot von der Bema, dem erhöhten Podium, auf dem er sang. Ich hatte das Gefühl, Gott habe Schechter getötet, einen Blitz gesandt, der ihn niederstreckte. Der Schock wurde für alle durch die Überlegung gemildert, dass, wenn es überhaupt einen Augenblick gäbe, in dem die Seele rein, unbefleckt, von allen Sünden befreit sei, es eben der Augenblick sei, wo das Schofar zur Beendigung des Fastens geblasen werde, und dass Schechters Seele seinen Körper wohl mit Sicherheit in diesem Augenblick verlassen habe und direkt zu Gott gelangt sei. Es sei ein heiliger Tod gewesen, sagten alle: Möge es Gott gefallen, wenn ihre Zeit käme, sie ebenso sterben zu lassen.

Merkwürdigerweise sind meine beiden Großväter ebenfalls an Jom Kippur gestorben (wenn auch nicht unter so dramatischen Umständen), und zu Beginn jedes Jom Kippurs entzündeten meine Eltern flache Trauerkerzen für sie, die während des Fastens langsam niederbrannten.

1939 reiste Tante Violet, eine ältere Schwester meiner Mutter, mit ihrer Familie aus Hamburg an. Ihr Mann Moritz war Chemielehrer und ein hochdekorierter Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Er hinkte, seitdem ihn damals Granatsplitter verwundet hatten. Als ein patriotischer Deutscher hätte er nie geglaubt, eines Tages aus seinem Vaterland fliehen zu müssen. Doch die Kristallnacht hatte ihm schließlich klar gemacht, welches Schicksal ihn und seine Familie erwartete, wenn sie im Lande blieben, daher flohen sie im Frühjahr 1939 nach England - gerade noch rechtzeitig (ihr gesamter Besitz wurde von den Nazis beschlagnahmt). Sie wohnten bei Onkel Dave und kurze Zeit auch bei uns, bevor sie nach Manchester zogen, wo sie eine Schule und eine Herberge für Flüchtlinge eröffneten.

Mit meinem eigenen Zustand beschäftigt und davon völlig in Anspruch genommen, bemerkte ich kaum, was sich in der größeren Welt um mich her zutrug. Beispielsweise wusste ich wenig über die Evakuierung von Dünkirchen im Jahr 1940, nach der Kapitulation Frankreichs, von der eilig zusammengestellten Notflotte, die die letzten Flüchtlinge vom Kontinent herübergeschafft hatte. Doch als ich im Dezember 1940 in den Ferien aus Braefield nach Hause kam, fand ich ein flämisches Ehepaar vor, die Huberfelds, die jetzt in einem Gästezimmer in 37 wohnten. Sie waren auf einem kleinen Boot entkommen - wenige Stunden bevor die deutschen Truppen eintrafen, und hatten sich auf See fast verirrt. Sie wussten nicht, was aus ihren Eltern geworden war. Durch sie bekam ich zum ersten Mal einen Eindruck von dem Chaos und dem Schrecken, die in Europa herrschten.

Während des Krieges löste sich die Gemeinde weitgehend auf - die jungen Männer meldeten sich freiwillig zum Militär oder wurden einberufen, und Hunderte von Kindern wurden wie Michael und ich aus London evakuiert. Und nach dem Krieg nahm sie nie wieder ihre alte Form an. Viele Gemeindemitglieder kamen ums Leben, entweder bei den Kämpfen auf dem Kontinent oder während der Luftangriffe auf London, andere verließen das Viertel, das vor dem Krieg ein fast ausschließlich jüdischer Mittelschichtsvorort gewesen war. Vor dem Krieg hatten meine Eltern (und ich) fast jeden Laden und Ladeninhaber in Cricklewood gekannt: Mr. Silver in seiner Apotheke, den Lebensmittelhändler Mr. Bramson, den Gemüsehändler Mr. Ginsberg, den Bäcker Mr. Grodzinski, den koscheren Schlachter Mr. Waterman - und ich sah sie alle auf ihren Plätzen in der Schul. Doch all das wurde unter dem Einfluss des Krieges und, nach dem Krieg, der raschen sozialen Veränderungen in unserer Ecke Londons zerstört. Ich selbst hatte nach den traumatischen Erlebnissen in Braefield den Kontakt zur und das Interesse an der Religion meiner Kindheit verloren. Es war schade, dass es so früh und so plötzlich geschah, aber das Gefühl von Trauer und Nostalgie mischte sich auf merkwürdige Weise mit einem wütenden Atheismus, einer Art von Wut auf Gott, weil es ihn nicht gab, weil er sich nicht kümmerte, weil er den Krieg nicht verhinderte und ihn mit all den Schrecken zuließ.

Ihr hebräischer Name war Zipporah («Vogel»), doch für uns, die Familie, hieß sie immer Tante Birdie. Ich wußte nie so genau (und vielleicht auch alle anderen nicht), was Birdie in jungen Jahren eigentlich zugestoßen war. Es war die Rede von einer Kopfverletzung als Säugling, aber auch von einem angeborenen Leiden, einer Erkrankung der Schilddrüse, jedenfalls musste sie ihr Leben lang große Dosen Schilddrüsenextrakt einnehmen. Schon als junge Frau litt Birdie unter einer eigenartig zerknitterten und faltigen Haut. Sie war klein gewachsen und von mäßiger Intelligenz, die Einzige mit einer derartigen Behinderung unter den sonst so begabten und robusten Kindern meines Großvaters. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich sie als «behindert» ansah. Für mich war sie einfach Tante Birdie, die bei uns lebte - ein wesentliches Element des Haushalts, immer anzutreffen. Sie hatte ein eigenes Zimmer neben dem meiner Eltern, voller Fotos, Postkarten, Röhrchen mit buntem Sand und Nippes von Familienurlauben, die bis zum Beginn des Jahrhunderts zurückreichten. Ihr Zimmer hatte einen reinlichen, jungmädchenhaften Geruch und bedeutete eine Oase der Ruhe für mich, manchmal, wenn es im Haus drunter und drüber ging. Sie hatte einen dicken gelben Parker-Füller (meine Mutter einen orangefarbenen), mit dem sie langsam ihre ungelenken, kindlichen Buchstaben schrieb. Natürlich wusste ich, dass mit Birdie «etwas nicht stimmte», irgendetwas Medizinisches vorlag, ihre Gesundheit zart und ihr geistiges Vermögen eingeschränkt waren, doch all das hatte für uns nicht wirklich Bedeutung, spielte keine Rolle. Wir wussten nur, dass sie immer da wäre, treu und ergeben, und dass sie uns rückhalt- und bedingungslos zu lieben schien.

Als ich mich für Chemie und Mineralogie zu interessieren begann, besorgte sie mir kleine Mineralproben. Nie habe ich erfahren, wo oder wie sie sich diese verschafft hatte (auch nicht, wie sie, nachdem sie Michael gefragt hatte, was ich mir zur Bar-Mitzwa wünschte, ein Exemplar von Froissarts Chronicles für mich auftrieb). Als junge Frau arbeitete Birdie bei der Firma Raphael Tuck, die Kalender und Postkarten herstellte und eine Heerschar von jungen Frauen beschäftigte, die die Karten zeichneten und kolorierten - diese in zarten Farben gehaltenen Karten, die über Jahrzehnte sehr beliebt waren und gern gesammelt wurden, schienen ein fester Bestandteil des englischen Lebens zu sein, bis sie in den dreißiger Jahren allmählich von Farbfotografie und Farbdruck verdrängt wurden, womit Tucks kleine Heerschar von Frauen überflüssig wurde. Nachdem Birdie fast dreißig Jahre für die Firma gearbeitet hatte, wurde sie eines Tages entlassen, mit einem knappen Dankeschön und ohne Vorwarnung, von einer Rente oder Abfindung gar nicht zu reden. Als sie an diesem Abend im Jahr 1936 ins Haus trat, war ihr Gesicht «versteinert» (so berichtete mir Michael später), und sie kam nie wirklich darüber hinweg.

Birdie war so still, so zurückhaltend und zugleich so allgegenwärtig, dass wir alle sie für ganz selbstverständlich nahmen und übersahen, welche wichtige Rolle sie in unserem Leben spielte. Als ich 1951 ein Stipendium für Oxford bekam, war es Birdie, die mir das Telegramm gab, mich umarmte und mir gratulierte - auch ein paar Tränen vergoss, weil es mein Fortgehen von zu Hause bedeutete.

Nachts hatte Birdie häufig Anfälle von «Herzasthma» oder akutem Herzversagen, dann bekam sie keine Luft und panikartige Angst und musste sich aufrecht hinsetzen. Das genügte, solange ihre Anfalle zunächst leichterer Natur waren, doch als sie sich verschlimmerten, baten meine Eltern darum, dass sie sich eine kleine Messingklingel ans Bett stellte und läutete, sobald sie sich schlecht fühlte. Ich hörte die kleine Glocke in immer kürzeren Abständen, und allmählich wurde mir klar, es musste sich um eine schlimme Krankheit handeln. Meine Eltern standen sofort auf, um Birdie zu behandeln - sie brauchte jetzt Sauerstoff und Morphium, um die Anfälle zu überstehen -, während ich im Bett lag und ängstlich lauschte, bis wieder alles still war und ich schlafen konnte. Eines Nachts im Jahr 1951 läutete die kleine Glocke einmal mehr, und meine Eltern eilten in ihr Zimmer. Sie hatte einen außerordentlich schweren Anfall: Rosa Schaum stand ihr vor dem Mund - sie erstickte an der Flüssigkeit, die in ihre Lungen strömte, und reagierte weder auf Sauerstoff noch auf Morphium. In einem letzten, verzweifelten Versuch, ihr Leben zu retten, nahm meine Mutter an Birdies Arm mit einem Skalpell einen Aderlass vor, um den Druck auf ihr Herz zu verringern. Doch auch diese Maßnahme nützte nichts, und Birdie starb noch in den Armen meiner Mutter. Als ich das Zimmer betrat, sah ich überall Blut - Blut auf ihrem Nachthemd und ihren Armen, Blut auf meiner Mutter, die sie hielt. Für einen Augenblick dachte ich, meine Mutter hätte sie umgebracht, bevor ich das schreckliche Bild vor meinen Augen begriff.

Das war der erste Tod eines nahen Verwandten, eines Menschen, der ein wesentlicher Teil meines Lebens gewesen war, und er traf mich tiefer, als ich erwartet hätte.

Als Kind erschien mir unser Haus von Musik erfüllt. Es gab zwei Bechstein, ein Klavier und einen Flügel, und manchmal wurde auf beiden gespielt, ganz zu schweigen von Davids Flöte und Marcus' Klarinette. Zu solchen Zeiten bildete unser Haus ein Aquarium voller Töne. Wenn ich hindurchging, hörte ich erst ein Instrument und dann ein anderes (merkwürdigerweise schienen sich die verschiedenen Instrumente dabei nicht zu überschneiden; mein Ohr, meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich immer nur auf eines).

Meine Mutter war nicht so musikalisch wie wir anderen, aber nicht weniger eine große Liebhaberin von Brahms- und Schubertliedern. Sie sang sie manchmal, von meinem Vater am Klavier begleitet. Eine besondere Vorliebe hatte sie für Schuberts «Nachtgesang», den sie mit weicher Stimme vortrug, ohne die Töne immer ganz richtig zu treffen. Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen (ich verstand die Worte nicht, trotzdem berührte mich der Gesang ganz eigenartig). Heute kann ich ihn nicht hören, ohne mich mit fast unerträglicher Lebendigkeit an unseren Salon damals vor dem Krieg zu erinnern, an die Gestalt und Stimme meiner Mutter, wie sie sich auf das Klavier stützte und sang.

Mein Vater war sehr musikalisch. Wenn er aus Konzerten nach Hause kam, spielte er große Teile des Programms nach dem Gehör, übertrug Passagen daraus in andere Tonarten und verfuhr mit ihnen nach Belieben. Er mochte Musik in jeder Form, die Varietes genauso wie die Kammerkonzerte, Gilbert und Sullivan nicht weniger als Monteverdi. Besonderen Gefallen fand er an den Liedern aus dem Ersten Weltkrieg, die er mit seiner klangvollen Bassstimme auch zum Besten gab. Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Miniaturpartituren und schien immer ein oder zwei in seinen Taschen zu haben (eine von ihnen oder das Wörterbuch der musikalischen Themen, das ich ihm später einmal zum Geburtstag schenkte, nahm er immer mit zu Bett).

Obwohl mein Vater bei einem bekannten Pianisten Unterricht hatte und immer an einem der beiden Klaviere zu finden war, waren seine Finger doch so breit und kräftig, dass sie nie so recht auf die Tasten passen wollten, daher gab er sich gewöhnlich mit impressionistischen Bruchstücken zufrieden. Er legte allerdings großen Wert darauf, dass wir Kinder das Klavier beherrschten, und engagierte mit Francesco Ticciati einen exzellenten Klavierlehrer für uns. Ticciati unterwies Marcus und David in Bach und Scarlatti mit leidenschaftlicher, anspruchsvoller Intensität (Michael und ich, die jünger waren, spielten Diabelli zu vier Händen), und manchmal konnte ich hören, wie er verärgert auf das Klavier schlug und «Nein! Nein! Nein!» rief, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Hin und wieder setzte er sich dann selbst ans Instrument und spielte, und dann wusste ich plötzlich, was Meisterschaft bedeutete. Er vermittelte uns vor allem für Bach und den verborgenen Aufbau einer Fuge eine intensive Wahrnehmung. Es heißt, mit fünf habe man mich gefragt, was mir die liebsten Dinge auf der Welt seien, und ich soll geantwortet haben: «Räucherlachs und Bach.» (Heute, sechzig Jahre später, würde ich das Gleiche antworten.)

Ich fand das Haus etwas öde, musiklos, als ich 1943 nach London zurückkehrte. Marcus und David, die ihr Medizinstudium gerade aufgenommen hatten, waren selbst evakuiert -Marcus nach Leeds, David nach Lancaster; mein Vater ging, wenn er sich nicht um seine Patienten kümmerte, seinen Pflichten als Luftschutzwart nach; und meine Mutter hatte ebenfalls bis spät in die Nacht mit Notoperationen im Krankenhaus St. Albans zu tun. Manchmal blieb ich auf, um das Geräusch ihrer Klingel zu hören, wenn sie fast um Mitternacht mit dem Fahrrad vom Cricklewood-Bahnhof eintraf.

Als ein großes Vergnügen empfanden wir es in dieser Zeit, Myra Hess zu hören, die berühmte Pianistin, die die Londoner mitten im Krieg fast als Einzige, wie es schien, an die zeitlose transzendente Schönheit der Musik erinnerte. Häufig versammelten wir uns im Wohnzimmer am Radio, um der Übertragung ihrer Mittagskonzerte zu lauschen.

Als Marcus und David nach dem Krieg zurückkehrten, um ihr Medizinstudium in London fortzusetzen, hatten sie das Flöte- und Klarinettespielen schon lange aufgegeben. Doch David besaß ganz offenkundig außergewöhnliche musikalische Gaben, er war derjenige, der wirklich nach unserem Vater schlug. David entdeckte Blues und Jazz, begeisterte sich für Gershwin und brachte eine völlig neue Art von Musik in unser zuvor rein «klassisches» Haus. Er war bereits ein sehr guter Improvisator und ein Pianist mit einer besonderen Vorliebe für Liszt, doch jetzt schwirrten plötzlich völlig neue Namen durchs Haus, Namen, die ich noch nie gehört hatte: «Duke» Ellington, «Count» Basie, «Jelly Roll» Morton, «Fats» Waller - und aus dem Trichter des neuen aufziehbaren Decca-Grammophons in seinem Zimmer hörte ich zum ersten Mal die Stimmen von Ella Fitzgerald und Billie Holliday. Manchmal, wenn David am Klavier saß, wusste ich nicht, ob er einen der Jazzpianisten spielte oder etwas Eigenes improvisierte - ich glaube, er hat sich halb im Ernst gefragt, ob er nicht Komponist werden sollte.

David und Marcus freuten sich darauf, Ärzte zu werden, schienen aber auch, wie ich bemerkte, mit einer gewissen Traurigkeit, einem Gefühl des Verlustes und des Verzichts an Dinge zu denken, die sie hatten aufgeben müssen. Für David war es die Musik, während Marcus' Leidenschaft seit frühester Kindheit den Sprachen galt. Er hatte eine außerordentliche Sprachbegabung und ihn faszinierte immer wieder die Struktur. Mit sechzehn beherrschte er nicht nur Latein, Griechisch und Hebräisch fließend, sondern auch Arabisch, das er sich selbst beigebracht hatte. Vielleicht hätte er wie sein Cousin Aubrey orientalische Sprachen studiert, wenn nicht der Krieg ausgebrochen wäre. Genau wie David erreichte er 1941/42 das Einberufungsalter, woraufhin sie sich beide zum Medizinstudium entschlossen, teilweise, um ihre Einberufung hinauszuschieben. Doch damit haben sie, denke ich, auch ihre anderen Interessen hinausgeschoben, eine Vertagung, die in dem Moment, als sie nach London zurückkehrten, dauerhaft und unwiderruflich erschien.

Unser Klavierlehrer Mr. Ticciati starb im Krieg, und nach meiner Rückkehr nach London 1943 besorgten mir meine Eltern eine neue Lehrerin, Mrs. Silver, eine rothaarige Frau mit einem zehnjährigen Sohn namens Kenneth, der von Geburt an gehörlos war. Nachdem ich einige Jahre lang bei ihr Unterricht gehabt hatte, wurde sie wieder schwanger. Die schwangeren Patientinnen meiner Mutter hatte ich zu Hause oft gesehen, da sie fast täglich in ihre Praxis kamen, aber Mrs. Silver war die erste Frau aus meiner unmittelbaren Umgebung, die ich in allen Stadien der Schwangerschaft miterlebte. Gegen Ende gab es ein paar Probleme - ich hörte sie von «Toxämie» sprechen und dass meine Mutter das Kind werde «wenden» müssen, damit es mit dem Kopf zuerst kam. Schließlich setzten bei Mrs. Silver Wehen ein und sie wurde ins Krankenhaus gebracht (zwar entband meine Mutter ihre Patientinnen gewöhnlich zu Hause, aber in diesem Fall war mit Komplikationen, möglicherweise sogar einem Kaiserschnitt zu rechnen). Ich kam gar nicht auf den Gedanken, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte, doch nach der Schule erzählte mir mein Bruder, Mrs. Silver sei während der Geburt gestorben, «auf dem OP-Tisch».

Ich war entsetzt und wütend. Wie konnte eine gesunde Frau auf diese Weise sterben? Wie konnte meine Mutter eine solche Katastrophe geschehen lassen? Ich erfuhr nie irgendwelche Einzelheiten, aber die bloße Tatsache, dass meine Mutter die ganze Zeit zugegen gewesen war, weckte in mir die Phantasie, sie habe Mrs. Silver getötet, obwohl ich natürlich hinreichend wusste, wie erfahren und verantwortlich meine Mutter war und dass etwas geschehen sein musste, das ihr Vermögen, menschliches Vermögen überhaupt, überstieg und sich ihrer Kontrolle entzog.

Ich machte mir große Sorgen um Kenneth, Mrs. Silvers gehörlosen Sohn, dessen Kommunikation im Wesentlichen auf der selbst erfundenen Gebärdensprache beruhte, in der er sich allein mit seiner Mutter verständigt hatte. All das führte dazu, dass ich jede Lust am Klavierspielen verlor - ein ganzes Jahr lang rührte ich keines mehr an und wollte danach auch keinen Klavierlehrer mehr haben.

Ich hatte nie das Gefühl, meinen Bruder Michael wirklich zu kennen oder zu verstehen, obwohl er mir im Alter am nächsten und mit mir in Braefield war. Natürlich gibt es einen großen Unterschied zwischen sechs und elf Jahren (unser Alter in der Braefieldzeit), aber es haftete ihm auch etwas Besonderes an, dessen ich mir (und vielleicht auch andere) bewusst war, ohne dass wir es leicht hätten beschreiben oder gar verstehen können. Er war verträumt, geistesabwesend und äußerst in sich gekehrt. Er schien (mehr als wir anderen) in seiner eigenen Welt zu leben, obwohl er ständig und leidenschaftlich las und außerordentlich gut behielt, was er gelesen hatte. In Braefield entwickelte er gerade eine besondere Vorliebe für Dickens' Nicholas Nickleby und David Copperfield, und er kannte diese beiden extrem umfangreichen Bücher auswendig. Zwar zog er nie einen expliziten Vergleich zwischen Braefield und Dotheboys oder Mr. B. und dem schrecklichen Dr. Creakle, aber implizit und vielleicht sogar unbewusst stellte er diesen Vergleich ganz gewiss an.

1941 verließ Michael, der jetzt dreizehn Jahre alt war, Braefield und ging ans Clifton College, wo er gnadenlos schikaniert wurde. Darüber beklagte er sich ebenso wenig wie über Braefield, doch die Anzeichen des Traumas wurden für jeden erkennbar, der aufmerksam hinsah. Im Sommer 1943, kurz nach meiner Rückkehr nach London, erspähte Auntie Len, die zu Besuch war, Michael, als er halb nackt aus dem Bad kam. «Schaut euch seinen Rücken an!», sagte sie zu meinen Eltern, «er ist voller blauer Flecke und Striemen! Wenn das mit seinem Körper geschieht», fuhr sie fort, «was geschieht dann mit seinem Geist?» Meine Eltern schienen aus allen Wolken zu fallen und meinten, sie hätten nichts bemerkt, sondern immer geglaubt, Michael mache die Schule Spaß, er hätte keine Probleme und fühle sich «wohl».

Bald danach wurde Michael psychotisch. Er fühlte sich von einer magischen und bösartigen Welt umschlossen. (Einmal erzählte er mir, die Schrift auf dem Bus 60 nach Aldwych habe sich «verwandelt», dort stehe das Wort Aldwych nun in runenartigen, oldwitchy - altverhexten - Buchstaben.) Bezeichnenderweise gelangte er zu der Überzeugung, er sei «der Liebling eines flagellomanischen Gottes», wie er sich ausdrückte, Objekt der besonderen Aufmerksamkeit einer «sadistischen Vorsehung». Wieder gab es keine explizite Bezugnahme auf unseren flagellomanischen Schulmeister in Braefield, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mr. B. hier zu einer monströsen Vorsehung oder Gottheit aufgebläht und kosmisch überhöht wurde. Messianische Phantasien oder Wahnvorstellungen traten um die gleiche Zeit auf - wenn er gequält oder gezüchtigt wurde, dann, weil er der Messias war (oder sein könnte), der, auf den wir schon so lange warteten. Hin- und hergerissen zwischen Beseligung und Qual, Phantasie und Wirklichkeit, in dem Gefühl, verrückt zu werden (oder es möglicherweise schon zu sein), fand Michael keinen Schlaf und keine Ruhe mehr, sondern geisterte unruhig im Haus herum, stampfte mit den Füßen auf, starrte zornig, halluzinierte und schrie.

Ich bekam Angst vor ihm und um ihn, vor dem Albtraum, der Wirklichkeit für ihn wurde, und das um so mehr, als ich ähnliche Gedanken und Gefühle in mir selbst entdecken konnte, obwohl sie verborgen und tief in meinem Innersten verschlossen waren. Was würde mit Michael geschehen? Und würde auch mit mir etwas Ähnliches passieren? Etwa zu dieser Zeit richtete ich mir mein Labor im Haus ein und verschloss die Türen, verschloss die Ohren vor Michaels Wahnsinn. Und zu dieser Zeit auch bemühte ich mich (manchmal sogar mit Erfolg) um eine intensive Konzentration und eine völlige Vertiefung in die Welten von Mineralogie, Chemie, Physik und anderen Naturwissenschaften - ein Bollwerk gegen das Chaos. Nicht dass mir Michael gleichgültig gewesen wäre, ich hatte großes Mitleid mit ihm, ich konnte weitgehend nachempfinden, was er durchmachte, aber ich musste auch Distanz wahren, aus der Neutralität und Schönheit der Natur heraus meine eigene Welt schaffen, damit ich nicht in das Chaos, den Wahnsinn, das Verlockende seiner Welt hineingezogen würde.

KAPITEL SECHZEHN

MENDELEJEWS GARTEN

1945 wurde das Science Museum in South Kensington wieder geöffnet (den größten Teil des Krieges war es geschlossen gewesen), und als Erstes sah ich die riesige Tafel des Periodensystems, die dort hing. Sie bedeckte eine ganze Wand über der Treppe und war eigentlich eine Vitrine aus dunklem Holz mit rund neunzig Kästchen. In jedem stand der Name, das Atomgewicht und das chemische Symbol des Elements. Außerdem befand sich in jedem dieser Kästchen eine Probe des betreffenden Elements (jedenfalls für die Elemente, die man in reiner Form gewinnen und ohne Gefahr ausstellen konnte). Die Inschrift der Tafel lautete: «Die periodische Klassifizierung der Elemente - nach Mendelejew».

Zuerst erblickte ich die Metalle, Dutzende in jeder nur denkbaren Form: Stäbe, Klumpen, Würfel, Drähte, Scheiben, Kristalle. Die meisten waren grau oder silberfarben, einige hatten einen blauen oder rosa Einschlag. Andere hatten polierte Flächen, die schwach gelb glänzten, schließlich die kräftigen Farben von Kupfer und Gold.

In der oberen rechten Ecke befanden sich die Nichtmetalle -Schwefel in spektakulären gelben Kristallen und die durchscheinenden roten Kristalle des Selens; Phosphor, wie blasses Bienenwachs unter Wasser; dann Kohlenstoff in Gestalt winziger Diamanten und glänzenden schwarzen Graphits. Bor war ein bräunliches Pulver, und Silizium hatte die Form fester Kristalle, die in kräftigem Schwarz schimmerten wie Graphit oder Galenit.

Links die Alkali- und Erdalkalimetalle, die Humphry-Davy-Metalle - alle (ausgenommen Magnesium) in schützenden Naphthabädern. Besonders eindrucksvoll fand ich das Lithium in der oberen Ecke, das dank seiner Leichtigkeit auf dem Naphtha schwamm, und, weiter unten, das Zäsium, das eine glitzernde Pfütze am Grund des Naphthas bildete. Zäsium hatte, wie ich wusste, einen sehr niedrigen Schmelzpunkt, und es war ein heißer Sommertag. Anhand der winzigen, teilweise oxidierten Klümpchen, die ich bisher gesehen hatte, war mir nicht klar geworden, dass reines Zäsium goldfarben war - zunächst war es nur ein Goldschimmer, ein Aufblitzen von Gold, ein flüchtiges Schillern. Doch aus einem tiefer gelegenen Blickwinkel wurde es reines Gold, ein gülden funkelnder See oder goldenes Quecksilber.

Dann gab es Elemente, die bis dahin nur Namen für mich gewesen waren (oder, genauso abstrakt, Namen, die mit einigen physikalischen Eigenschaften und Atomgewichten verknüpft waren). Zum ersten Mal erblickte ich nun die ganze Bandbreite ihrer Vielfalt und tatsächlichen Erscheinung. Bei diesem ersten, sinnlichen Blick erschien mir die Tafel als ein üppiges Bankett, eine riesige Festtafel, die mit gut achtzig verschiedenen Gerichten gedeckt war.

Zu diesem Zeitpunkt war ich mit den Eigenschaften vieler Elemente vertraut und wusste, dass sie eine Anzahl natürlicher Familien bildeten - zum Beispiel die Alkalimetalle, die Erdalkalimetalle und die Halogene. Diese Familien (Mendelejew nannte sie «Gruppen») bildeten die Senkrechten der Tabellen, die Alkali- und die Erdalkalimetalle auf der linken, die Halogene und Edelgase auf der rechten Seite, während alles andere in vier Zwischengruppen untergebracht war. Der «Gruppencharakter» dieser Zwischengruppen war etwas weniger klar. So sah ich etwa in Gruppe VI Schwefel, Selen und Tellur. Ich kannte diese drei (meine «Stinkogene») als sehr ähnliche Elemente, aber was tat der Sauerstoff dort, der die Gruppe anführte? Es musste irgendein tieferes Prinzip geben - und das gab es tatsächlich. Es stand über der Tafel, doch in meiner Ungeduld, mir die Elemente selbst anzusehen, hatte ich darauf überhaupt nicht geachtet. Das tiefere Prinzip war, wie ich erkannte, die Valenz oder Wertigkeit. Der Begriff Valenz fand sich nicht in meinen alten viktorianischen Büchern, denn er war erst Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Mendelejew hatte sich als einer der Ersten seiner bedient und ihn als Grundlage seiner Klassifizierung verwendet, womit er etwas völlig Neues schuf: ein Grundprinzip, eine Erklärung für die Tatsache, dass Elemente offenbar natürliche Familien bilden, deren Mitglieder weitreichende chemische und physikalische Verwandtschaften erkennen lassen. Anhand ihrer Valenzen identifizierte Mendelejew acht solche Gruppen.

So hatten die Elemente in Gruppe I, die Alkali-Elemente, eine Valenz von eins: Ein Atom konnte sich mit einem Wasserstoffatom zusammentun und Verbindungen bilden wie LiH, NaH, KH und so fort. (Oder mit einem Chloratom, um Verbindungen wie LiCl, NaCl oder KC1 zu bilden.) Die Elemente der Gruppe II, die Erdalkalimetalle, hatten eine Valenz von zwei und bildeten entsprechend Verbindungen wie CaCl2, SrCh, BaCl2 und so fort. Die Elemente der Gruppe VIII hatten eine maximale Wertigkeit von acht.

Doch während Mendelejew die Elemente nach der Wertigkeit organisierte, war er gleichzeitig von den Atomgewichten fasziniert und von dem Umstand begeistert, dass das Atomgewicht für jedes Element etwas Besonderes und Einzigartiges darstellte, sozusagen das atomare Kennzeichen jedes Elements. Und wenn er im Geiste die Elemente nach ihren Valenzen ordnete, so tat er es gleichzeitig in Übereinstimmung mit ihren Atomgewichten. Wie durch Zauberhand fügten sich beide Ordnungen zusammen. Denn wenn er die Elemente ganz einfach nach ihren Atomgewichten ordnete, in waagerechten «Perioden», wie er sie nannte, dann kam es in regelmäßigen Intervallen zur Wiederkehr bestimmter Eigenschaften und Valenzen.

Jedes Element führte die Eigenschaften des Elementes über ihm fort, war also ein etwas schwereres Mitglied der gleichen Familie. In jeder Periode wurde gewissermaßen die gleiche Melodie gespielt - zuerst ein Alkalimetall, dann ein Erdalkalimetall, dann sechs weitere Elemente, jedes mit seiner eigenen Valenz, seinem eigenen Ton -, aber in einer anderen Tonart (es war unmöglich, hier nicht an Oktaven oder Tonleitern zu denken, schließlich lebte ich in einer musikalischen Familie, und Tonarten waren die Periodizität, die ich täglich hörte). Bestimmt wurde die Tafel vor mir von der Zahl acht, obwohl ich sehen konnte, dass im unteren Teil der Tafel zusätzliche Elemente zwischen den regelmäßigen Oktetten eingefügt waren: je zehn Extraelemente in den Perioden 4 und 5 sowie zehn plus vierzehn in der Periode 6.

So ging es weiter, jede Periode vervollständigte sich selbst und führte in einer Reihe sinnverwirrender Schleifen zur nächsten - jedenfalls nahm das Periodensystem für mich diese Form an. Die nüchterne, rechtwinklige Tafel verwandelte sich in meiner Vorstellung zu Spiralen und Schleifen, in eine Art kosmischer Treppe, eine Jakobsleiter, die in einen pythagoreischen Himmel hinauf- und aus ihm herabführte.

Plötzlich wurde mir mit überwältigender Deutlichkeit klar, wie erstaunlich das Periodensystem auf diejenigen gewirkt haben musste, die es zum ersten Mal sahen - auf Chemiker, die sehr vertraut waren mit sieben oder acht chemischen Familien, sich aber nie überlegt hatten, was die Basis dieser Familien sei (die Valenz), noch wie sie sich alle in ein einziges umfassendes System bringen ließen. Ich fragte mich, ob sie wohl beim ersten Anblick der Tafel reagiert hatten wie ich: «Natürlich! Das liegt doch auf der Hand! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?»

Egal, ob man das System in Hinblick auf die Vertikalen oder die Horizontalen betrachtete - stets gelangte man zum gleichen Gitter. Es war wie ein Kreuzworträtsel, das sich «senkrecht» und «waagerecht» gleichermaßen lösen ließ, nur dass ein Kreuzworträtsel ein willkürliches, rein menschliches Konstrukt war, während das Periodensystem eine tiefere Ordnung der Natur widerspiegelte, denn es ordnete alle Elemente nach einer fundamentalen Beziehung. Warum war diese Beziehung so und nicht anders? Ich hatte das Gefühl, es berge ein wunderbares Geheimnis, doch es war ein Kryptogramm ohne Schlüssel.

In der Nacht, nachdem ich die Periodentafel gesehen hatte, konnte ich vor Aufregung kaum schlafen - es schien mir eine unvorstellbare Leistung zu sein, das ganze riesige und scheinbar chaotische Universum der Chemie in eine einzige allumfassende Ordnung gebracht zu haben. Einen ersten wichtigen Ansatz zur Klärung der Verhältnisse leistete Lavoisier mit der Definition der Elemente, Proust mit der Entdeckung, dass sich Elemente nur in konstanten Proportionen verbinden, und Dalton mit der Hypothese, dass Elemente Atome mit besonderen Atomgewichten besitzen. Damit war die Chemie erwachsen, zur Chemie der Elemente geworden. Doch die Elemente selbst ließen sich in keine überzeugende Ordnung bringen. Man konnte sie alphabetisch auflisten (wie es Pepper in seinem Playbook of Metals tat) oder zu isolierten lokalen Familien und Gruppen zusammenstellen. Darüber hinaus bestand keine Möglichkeit einer Ordnung, bis Mendelejew kam. Die umfassende Organisation wahrzunehmen, ein übergreifendes Prinzip zu erkennen, das alle Elemente vereinigte und aufeinander bezog, grenzte ans Wunderbare, hatte etwas Geniales. Es vermittelte mir zum ersten Mal ein Gefühl für die transzendente Macht des menschlichen Geistes, sein Vermögen, die tiefsten Geheimnisse der Natur zu entziffern, vielleicht sogar Gottes Gedanken zu lesen.

Tafel des periodischen Systems der Elemente

In dem aufgeregten Halbschlaf dieser Nacht träumte ich vom Periodensystem - es verwandelte sich in ein Funken sprühendes, wirbelndes Feuerrad, einen großen Sternennebel, der vom ersten bis zum letzten Element reichte und sich über das Uran hinaus ins Unendliche drehte. Am nächsten Tag konnte ich die Öffnungszeit des Museums kaum erwarten und lief dann sogleich ins obere Stockwerk, wo die Tafel hing.

Bei diesem zweiten Besuch betrachtete ich die Tafel fast als geographisches Gebilde, ein Gebiet, ein Reich mit verschiedenen Territorien und Grenzen.

Auf diese Weise konnte ich von den einzelnen Elementen absehen und allgemeine Tendenzen und Richtungen erkennen. Metalle galten schon lange als Sonderkategorie der Elemente. Jetzt ließ sich mit einem einzigen, synoptischen Blick erkennen, dass sie dreiviertel des Reiches besetzt hielten, den ganzen Westen und große Teile des Südens. Nur ein kleineres Gebiet, überwiegend im Nordosten gelegen, blieben den Nichtmetallen. Eine gezackte Linie, wie der Hadrianswall, trennte die Metalle vom Rest der Elemente, ausgenommen einige «Halbmetalle», Metalloide - Arsen, Selen -, die rittlings auf dem Wall saßen. Man konnte die Tendenz zu Säuren und Basen erkennen, die Neigung der Oxide von «westlichen» Elementen, mit Wasser zu reagieren und Alkalien zu bilden, der Oxide von «östlichen» Elementen, vorwiegend Nichtmetallen, Säuren zu bilden. Ebenfalls auf einen Blick war zu erkennen, wie die Elemente zu beiden Seiten der Grenze - die Alkalimetalle und Halogene, beispielsweise Natrium und Chlor - förmlich nacheinander gierten und sich explosionsartig miteinander verbanden, wobei sie kristalline Salze mit hohen Schmelzpunkten bildeten, die sich lösten und zu Elektrolyten wurden; die Elemente in der Mitte fanden sich zu ganz anderen Verbindungen zusammen - flüchtigen Flüssigkeiten oder Gasen, die elektrischen Strom kaum oder gar nicht leiteten. Die Tafel erinnerte mich auch daran, wie Volta, Davy und Berzelius die Elemente zu einer elektrischen Reihe angeordnet hatten - die elektropositivsten Elemente alle links, die elektronegativsten alle rechts.

Der Anblick der Tafel vermittelte mir also nicht nur einen Eindruck von der Anordnung der einzelnen Elemente, sondern auch von Tendenzen aller Art.

Die Tafel zu sehen, sie zu «kapieren», veränderte mein Leben. Ich suchte sie auf, sooft ich konnte. Ich zeichnete sie in mein Heft ab und trug sie auf diese Weise stets mit mir herum. Schließlich kannte ich sie so gut - visuell und begrifflich -, dass ich allen ihren Wegen und Verzweigungen im Kopf nachspüren konnte. Ich ging in einer Gruppe nach oben, bog dann nach rechts in eine Periode ab, hielt inne, wandte mich nach unten und wusste immer genau, wo ich mich befand. Es war wie ein Garten, wie der Garten der Zahlen, den ich als Kind so geliebt hatte - nur dass dieser hier, im Gegensatz zu dem früheren, real war, ein Schlüssel zum Universum. Verzaubert, völlig vertieft umherwandernd und auf immer neue Entdeckungen stoßend, verbrachte ich jetzt Stunden in Mendelejews Garten.[40]

Im Museum hing neben der Tafel des Periodensystems eine Fotografie von Mendelejew. Er sah aus wie eine Mischung aus Fagin und Svengali, mit ungebärdigem Kopf- und Barthaar und durchdringenden, hypnotischen Augen. Eine wilde, extravagante, barbarische Erscheinung - aber auf seine Weise so romantisch wie der byronhafte Humphry Davy. Ich wollte unbedingt mehr von ihm wissen und sein berühmtes Werk Principles lesen, in dem er sein Periodensystem zum ersten Mal veröffentlicht hatte.

Sein Buch, sein Leben enttäuschten mich nicht. Er war ein Mann von enzyklopädischen Interessen, ein Musikliebhaber und enger Freund von Borodin (der ebenfalls Chemiker war). Und er war der Autor des wunderbarsten und lebendigsten chemischen Lehrbuchs, das je geschrieben wurde - The Principles of Chemistry.[41]Wie meine Eltern kam Mendelejew aus einer sehr großen Familie - wie ich las, war er das jüngste von vierzehn Kindern. Seine Mutter hat offenbar seine früh erwachte Intelligenz erkannt und gelangte, als er vierzehn war, zu der Überzeugung, dass er ohne eine geeignete Ausbildung nicht weiterkommen würde, daher machte sie sich mit ihm auf den Weg und legte von Sibirien aus viele tausend Kilometer zu Fuß zurück - zuerst zur Universität Moskau (die er als Sibirier nicht besuchen durfte) und von dort nach St. Petersburg, wo er ein Stipendium für die Lehrerausbildung erhielt. (Sie selbst starb wenig später, kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag, offenbar an Erschöpfung nach dieser ungeheuren Anstrengung. Mendelejew, der sehr an ihr gehangen hatte, widmete ihr später die Principles.)

Schon als Student in St. Petersburg bewies Mendelejew nicht nur eine unersättliche Neugier, sondern auch den Drang, Prinzipien aller Art zu organisieren. Im 18. Jahrhundert hatte Linné Tiere und Planzen klassifiziert und dies auch mit den Mineralien versucht (allerdings mit weit geringerem Erfolg). Dana hatte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die alte physikalische Klassifizierung der Mineralien durch eine chemische Klassifizierung nach etwa einem Dutzend Hauptkategorien ersetzt (natürlich vorkommende Elemente, Oxide, Sulfide und so fort). Doch für die Elemente selbst, von denen mittlerweile schon rund sechzig bekannt waren, gab es noch keine derartige Klassifizierung. Einige Elemente schienen sich jeder Kategorisierung zu entziehen. Wohin gehörte das Uran oder dieses merkwürdige, extrem leichte Metall, das den Namen Beryllium trug? Einige der erst kurz zuvor entdeckten Elemente erwiesen sich dabei als besonders schwierig - Thallium beispielsweise, 1862 entdeckt, war in mancherlei Hinsicht dem Blei ähnlich, in anderer dem Silber, dem Aluminium und auch dem Kalium.

Nachdem Mendelejews Interesse an einer Klassifizierung der Elemente erwacht war, vergingen noch fast zwanzig Jahre, bis er 1869 sein Periodensystem vorlegte. Dieser langen Vorbereitungs- und Inkubationszeit (eine gewisse Parallele zu Darwin, bevor er Über die Entstehung der Arten veröffentlichte) ist es wohl zu verdanken, dass Mendelejew, als er seine Principles schließlich veröffentlichte, aus einer Fülle von Wissen und Einsichten schöpfen konnte, die weit über die seiner Zeitgenossen hinausging - einige hatten zwar eine klare Vorstellung von der Periodizität der Elemente, doch niemand verfügte über sein beispielloses Detailwissen.

Mendelejew schilderte, wie er die Eigenschaften und Atomgewichte der Elemente auf Karten schrieb, über ihnen brütete, sie hin und her schob und auf seinen langen Zugreisen durch Russland eine Art Patience oder (wie er es nannte) «chemisches Solitaire» spielte, um eine Ordnung zu finden, ein System, das die Elemente, ihre Eigenschaften und Atomgewichte in einen sinnvollen Zusammenhang brachte.

Es gab noch einen anderen entscheidenden Faktor. Jahrzehntelang hatte beträchtliche Verwirrung in Bezug auf die Atomgewichte vieler Elemente geherrscht. Erst als diese Frage auf der Karlsruher Konferenz von 1860 geklärt worden war, konnten Mendelejew und andere an eine vollständige Taxonomie der Elemente denken. Mendelejew war mit Borodin nach Karlsruhe gereist (nicht nur eine chemische, sondern auch eine musikalische Reise, denn sie machten unterwegs an vielen Kirchen Halt, um dort die Orgeln auszuprobieren). Mit den alten Atomgewichten, die vor Karlsruhe galten, konnte man lokale Triaden oder Gruppen bestimmen, aber man konnte nicht erkennen, dass es auch eine numerische Beziehung zwischen den Gruppen gab.[42] Erst als Cannizzaro nachwies, wie zuverlässig man die Atomgewichte ermitteln konnte, und beispielsweise zeigte, dass die richtigen Atomgewichte für die Erdalkalimetalle (Kalzium, Strontium und Barium) 40, 88 und 137 sind (nicht 20, 44 und 68, wie man glaubte), wurde klar, wie ähnlich sie denen der Alkalimetalle -Kalium, Rubidium und Zäsium - sind. Diese Ähnlichkeit und die Ähnlichkeit mit den Atomgewichten der Halogene - Chlor, Brom und Jod - veranlassten Mendelejew 1868, eine kleine Tabelle zu entwerfen, in der die drei Gruppen nebeneinander gestellt waren:

 

Cl 35,5 K 39 Ca 40
Br 80 Rb 85 Sr 88
I 127 Cs 133 Ba 137

 

Als an diesem Punkt erkennbar wurde, dass die Anordnung der drei Gruppen von Elementen nach dem Atomgewicht zu einem repetitiven Muster führte - ein Halogen gefolgt von einem Alkalimetall, gefolgt von einem Erdalkalimetall -, gewann Mendelejew die Überzeugung, es müsse sich um das Bruchstück eines größeren Musters handeln. Das brachte ihn auf den entscheidenden Einfall: Es gab eine Periodiziät, die für alle Elemente galt - ein periodisches Gesetz.

Mendelejews erste kleine Tabelle musste ergänzt werden und expandierte dann in alle Richtungen, als würde ein Kreuzworträtsel ausgefüllt. Das allein setzte schon einige kühne Annahmen voraus. Welches Element, so fragte er sich, war chemisch verwandt mit den Erdalkalimetallen, folgte aber dem Lithium im Atomgewicht? Augenscheinlich existierte kein solches Element - oder war es möglicherweise Beryllium, das gewöhnlich als dreiwertig galt, mit einem Atomgewicht von 14,5? Und wenn es nun stattdessen zweiwertig war, dafür aber ein Atomgewicht von 9 und nicht 14,5 hatte? Dann würde es dem Lithium folgen und hervorragend in die Leerstelle passen.

Zwischen bewusster Berechnung und Ahnung, Intuition und Analyse verfahrend, gelang es Mendelejew innerhalb weniger Wochen, rund dreißig Elemente nach steigendem Atomgewicht in einer Tabelle einzuordnen, einer Tabelle, die nun darauf schließen ließ, dass sich die chemischen Eigenschaften bei jedem achten Element wiederholten. Und am Abend des 16. Februar, so heißt es, hatte er einen Traum, in dem er fast alle bekannten Elemente in einer großen Tabelle vereinigt sah. Am folgenden Morgen soll er diesen Traum dann zu Papier gebracht haben.[43]

Logik und Muster in Mendelejews Tabelle waren so klar, dass bestimmte Anomalien sofort ins Auge fielen. Bestimmte Elemente schienen an der falschen Stelle zu stehen, während andere Stellen keine Elemente enthielten. Mendelejew konnte aus der Fülle seines chemischen Wissens schöpfen und wies einem halben Dutzend Elementen ungeachtet ihrer allgemein anerkannten Valenzen und Atomgewichte einen neuen Platz zu. Dabei bewies er eine solche Kühnheit, dass einige seiner Zeitgenossen schockiert waren. (Julius Lothar Meyer beispielsweise hielt es für grotesk, Atomgewichte zu verändern, nur weil sie nicht «passten».)

Von höchstem Selbstbewusstsein zeugte Mendelejews Entschluss, mehrere Plätze in seiner Tabelle für «noch unbekannte» Elemente zu reservieren. Er behauptete, wenn man die Eigenschaften der Elemente oben und unten (und in gewissem Umfange auch die derjenigen zu beiden Seiten) extrapoliere, könne man die Eigenschaften dieser unbekannten Elemente zuverlässig vorhersagen. Genau dies tat er in seiner Tabelle aus dem Jahr 1871, wo er in allen Einzelheiten ein neues Element («Eka-Aluminium») vorhersagte, das in Gruppe III unter Aluminium gehöre. Vier Jahre später wurde genau solch ein Element von dem französischen Chemiker Lecoq de Boisbaudran entdeckt und (entweder aus patriotischen Gründen oder in versteckter Anspielung auf den eigenen Namen - gallus, le coq, «Hahn») Gallium genannt.

Mendelejews Vorhersage war verblüffend genau. Er prognostizierte ein Atomgewicht von 68 (Lecoq: 69,9), ein spezifisches Gewicht von 5,9 (Lecoq: 5,94) und traf noch bei einer Vielzahl der anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften des Galliums ins Schwarze - seiner Schmelzbarkeit, seinen Oxiden, seinen Salzen, seiner Wertigkeit. Anfänglich gab es einige Unterschiede zwischen Lecoqs Beobachtungen und Mendelejews Vorhersagen, aber sie alle klärten sich rasch zu Mendelejews Gunsten. Es hieß, Mendelejew habe eine klarere Vorstellung von den Eigenschaften des Galliums - eines Elements, das er nie gesehen hatte - als derjenige, der es tatsächlich entdeckt hatte.

Plötzlich galt Mendelejew nicht mehr als Phantast oder Träumer, sondern als jemand, der ein Grundgesetz der Natur entdeckt hatte, während das Periodensystem von einem hübschen, aber unbewiesenen Entwurf zu einem unverzichtbaren Leitfaden avancierte, mit dessen Hilfe sich enorme Mengen bislang unzusammenhängender chemischer Informationen koordinieren ließen. Auch eine Fülle künftiger Forschungsfelder ergaben sich daraus, unter anderem die systematische Suche nach «fehlenden» Elementen. «Vor der Veröffentlichung dieses Gesetzes», sollte Mendelejew fast zwanzig Jahre später sagen, «waren chemische Elemente rein fragmentarische, zufallige Gegebenheiten der Natur; es gab keinen besonderen Grund, die Entdeckung neuer Elemente zu erwarten.»

Mit Hilfe von Mendelejews Periodensystem konnte man jetzt nicht nur deren Entdeckung erwarten, sondern sogar deren Eigenschaften vorhersagen. Mendelejew machte noch zwei weitere ebenso detaillierte Vorhersagen, die sich einige Jahre später mit der Entdeckung von Scandium und Germanium bestätigten.[44] Wie beim Gallium gründete er seine Vorhersagen hier auf die Basis von Analogie und Linearität, wobei er von der Annahme ausging, die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser unbekannten Elemente und ihre Atomgewichte würden zwischen denen der benachbarten Elemente in ihren senkrechten Gruppen liegen.[45] Merkwürdigerweise hat Mendelejew den Schlussstein der ganzen Tafel nicht vorhergesehen, vielleicht nicht vorhersehen können, denn es handelte sich nicht um ein vereinzeltes fehlendes Element, sondern um eine ganze Familie oder Gruppe. Als man Argon im Jahr 1894 entdeckte - ein Element, das nirgendwo in die Tafel passte -, bestritt Mendelejew zunächst, dass es sich um ein Element handelte, und dachte, es sei eine schwerere Form des Stickstoffs (N3, analog zum Ozon, O3). Aber dann wurde klar, dass es doch einen freien Platz für ein solches Element gab: zwischen Chlor und Kalium. Wie sich herausstellte, nicht nur für ein Element, sondern für eine ganze Gruppe, die in jeder Periode zwischen den Halogenen und den Alkalimetallen lag. Das wurde von Lecoq erkannt, der später die fünf anderen noch zu entdeckenden Gase vorhersagte - die dann auch kurz hintereinander gefunden wurden. Mit der Entdeckung von Helium, Neon, Krypton und Xenon war klar, dass diese Gase eine eigene periodische Gruppe bildeten, eine Gruppe, die so reaktionsträge, so bescheiden, so unauffällig war, dass sie sich der Aufmerksamkeit der Chemiker jahrhundertelang entzogen hatte.[46] Alle Edelgase schienen gleichermaßen unfähig zu sein, Verbindungen einzugehen. Offenbar hatten sie eine Valenz von null.[47] Die Tafel des Periodensystems war unglaublich schön, das Schönste, was ich je zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte nie genau analysieren, was ich hier unter Schönheit verstand - Einfachheit? Schlüssigkeit? Rhythmus? Zwangsläufigkeit? Vielleicht war es die Symmetrie, der übergreifende Zusammenhang, der jedem Element seinen Platz zuwies, ohne Lücken, ohne Ausnahme, dergestalt, dass er alles andere bedingte.

Zu meiner Bestürzung bezeichnete J. W. Mellor, ein außerordentlich gelehrter Chemiker, in dessen umfangreicher Abhandlung über anorganische Chemie ich herumlas, das Periodensystem als «oberflächlich» und «illusorisch», nicht richtiger, nicht grundlegender als jede andere Adhoc-Klassifikation. Das versetzte mich kurzzeitig in Panik und weckte den brennenden Wunsch herauszufinden, ob für die Idee der Periodizität noch etwas anderes sprach als chemischer Charakter und Wertigkeit.

Die Klärung dieser Frage führte mich fort aus meinem Labor, führte mich zu einem neuen Buch, das augenblicklich meine Bibel wurde, zum CRC Handbook of Physics and Chemistry, einem dicken, fast würfelförmigen Werk von nahezu dreitausend Seiten, das Tabellen zu jeder denkbaren physikalischen und chemischen Eigenschaft enthielt, von denen ich viele geradezu obsessiv auswendig lernte.

Ich lernte die Dichten, die Schmelzpunkte, Siedepunkte, Brechungskoeffizienten, Löslichkeitskoeffizienten und Kristallformen aller Elemente und Hunderter ihrer Verbindungen kennen. Fasziniert begann ich, sie graphisch darzustellen, die Atomgewichte in Beziehung zu jeder ihrer physikalischen Eigenschaften abzubilden. Je genauer ich diese Eigenschaften kennen lernte, desto begeisterter und hingerissener war ich, denn fast alles, was ich betrachtete, offenbarte Periodizität: nicht nur Dichte, Schmelzpunkt, Siedepunkt, sondern auch die elektrische und die Wärmeleitfähigkeit, die Kristallform, Härte, Volumenveränderung durch Schmelzen, die Ausdehnung bei Wärme, die Elektrodenpotenziale und so weiter und so fort. Es ging also nicht nur um die Valenz, sondern auch um die physikalischen Eigenschaften. In meinen Augen trugen diese Entdeckungen erheblich zur Macht, zur Universalität des Periodensystems bei.

Es gab Ausnahmen von den Tendenzen, die das Periodensystem zeigte - zum Teil sogar erhebliche Anomalien. Warum hatte Mangan beispielsweise eine so miserable elektrische Leitfähigkeit, während die Elemente zu beiden Seiten recht gute Leiter waren? Warum blieb starker Magnetismus auf die Eisenmetalle beschränkt? Und doch war ich irgendwie davon überzeugt, dass diese Ausnahmen auf das Wirken zusätzlicher Mechanismen zurückgingen und keinesfalls das Gesamtsystem beeinträchtigten.[48] Mit Hilfe des Periodensystems versuchte ich mich selbst in Prognosen. So versuchte ich, die Eigenschaften mehrerer noch unbekannter Elemente vorherzusagen, wie Mendelejew es für Gallium und andere getan hatte. Auf der Museumstafel hatte ich gesehen, dass sie vier Lücken enthielt. Das letzte der Alkalimetalle, Element 87, fehlte noch, genauso wie das letzte Halogen, Element 85. Element 43, unter Mangan, war nicht vorhanden, obwohl an dieser Stelle «?Masurium» stand, ohne Atomgewicht.[49] Schließlich fehlte noch eine seltene Erde, Element 61.

Die Eigenschaften des unbekannten Alkalimetalls ließen sich leicht vorhersagen, denn die Alkalimetalle sind sich alle sehr ähnlich, sodass ich nur die Merkmale der anderen Elemente in der Gruppe extrapolieren musste. 87 musste das schwerste, niedrigstschmelzende, reaktivste Element der Gruppe sein, bei Raumtemperatur flüssig und wie Zäsium golden schimmern, vielleicht auch lachsrosa, wie geschmolzenes Kupfer. Es würde noch elektropositiver als Zäsium sein und einen noch stärkeren lichtelektrischen Effekt haben. Wie andere Alkalimetalle würde es Flammen kräftig färben - wahrscheinlich bläulich, weil die Flammenfärbung von Lithium bis Zäsium in diese Richtung tendierte.

Ebenso leicht konnte ich die Eigenschaften des unbekannten Halogens prognostizieren, denn auch die Halogene glichen sich weitgehend, und die Gruppe zeigte einfache, lineare Tendenzen.

Schwieriger verhielt es sich mit den Eigenschaften von 43 und 61, denn das waren keine «typischen» Elemente (im Mendelejewschen Sinne). Und genau mit solchen nicht typischen Elementen hatte Mendelejew Schwierigkeiten bekommen, woraufhin er sich veranlasst sah, seine ursprüngliche Tabelle zu revidieren. Die Übergangsmetalle zeigten eine gewisse Homogenität. Alle dreißig waren sie Metalle, und die meisten waren, wie Eisen, hart und fest, dicht und unschmelzbar. Das galt in besonderem Maße für die schweren Übergangselemente, etwa die Platinmetalle und die Glühfadenmetalle, mit denen Onkel Dave mich vertraut gemacht hatte. Mein Interesse an Farben brachte mich zu einer weiteren Erkenntnis: Während die Verbindungen typischer Elemente im Allgemeinen farblos waren, wie das Tafelsalz, besaßen die Verbindungen der Übergangsmetalle häufig lebhafte Farben: die rosa Mineralien und Salze von Mangan und Kobalt, das Grün der Nickel- und Kupfersalze, die vielen Farben des Vanadiums. Und zu ihren vielen Farben gesellten sich auch ihre vielen Valenzen. Alle diese Eigenschaften zeigten mir, dass es sich bei den Übergangselementen um eine besondere Spezies handelte, von ganz anderer Natur als die Hauptgruppenelemente.

Trotzdem durfte ich die Vermutung wagen, dass Element 43 einige Merkmale von Mangan und Rhenium aufwies, den anderen Metallen in seiner Gruppe (so hatte es wahrscheinlich eine Maximalvalenz von 7 und bildete farbige Salze), dass es aber auch eine allgemeine Ähnlichkeit mit den benachbarten Übergangsmetallen in ihrer Periode gab - mit Niob und Molybdän zur Linken und den leichten Platinmetallen zur Rechten. Daher ließ sich vorhersagen, dass es ein glänzendes, hartes, silberfarbenes Metall mit vergleichbarer Dichte und ähnlichem Schmelzpunkt sein würde. Es musste sich um genau die Art von Metall handeln, an der Onkel Wolfram Gefallen gefunden hätte, um genau die Art von Metall, die Scheele in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts entdeckt haben würde - wenn es denn in vernünftigen Mengen existierte.

Am schwierigsten war eine genauere Vorhersage zu Element 61, das fehlende seltene Erdenmetall, denn diese Elemente waren in vielerlei Hinsicht am verwirrendsten.

Ich glaube, zum ersten Mal hat mir meine Mutter von den seltenen Erden erzählt. Sie war Kettenraucherin und zündete sich mit ihrem kleinen Ronson-Feuerzeug eine Zigarette nach der anderen an. Eines Tages zeigte sie mir den «Feuerstein», sie zog ihn heraus und erklärte, es handle sich nicht um einen echten Feuerstein, sondern um ein Metall, das Funken erzeuge, wenn man an ihm kratze. Dieses «Mischmetall» - überwiegend Zer - setzte sich aus einem halben Dutzend verschiedener Metalle zusammen, alle sehr ähnlich, alle seltene Erden. Der merkwürdige Name - seltene Erden - hatte einen mythischen, märchenhaften Klang für mich, und ich stellte mir vor, die seltenen Erden seien nicht nur selten und kostbar, sondern hätten auch besondere, geheime Eigenschaften, die ihr Privileg seien.

Später erzählte mir Onkel Dave von den außerordentlichen Schwierigkeiten, die die Chemiker gehabt hatten, die einzelnen seltenen Erden zu trennen - es gab ein Dutzend oder mehr -, weil sie sich erstaunlich ähnlich waren, manchmal sogar in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften nicht zu unterscheiden. Ihre Erze (die aus irgendeinem Grund alle aus Schweden zu kommen schienen) enthielten nie nur eine seltene Erde, sondern immer eine ganze Reihe, als hätte die Natur selbst Probleme, sie zu unterscheiden. Ihre Analyse bildete eine eigene Legende in der Geschichte der Chemie, eine Legende von besessener Forschung (und manchmal bitterer Enttäuschung), die über hundert Jahre währte. Die Trennung der wenigen letzten seltenen Erden überstieg die Möglichkeiten der Chemie im 19. Jahrhundert. Erst als physikalische Methoden wie Spektroskopie und fraktionierte Kristallisation zur Verfügung standen, ließen sie sich schließlich trennen. Nicht weniger als fünfzehntausend fraktionierte Kristallisationen, die sich die infinitesimalen Unterschiede zwischen der Lösbarkeit ihrer Salze zunutze machten, waren erforderlich, um die letzten beiden, Ytterbium und Lutetium, zu trennen - ein Unterfangen, das Jahre in Anspruch nahm.

Trotzdem gab es Chemiker, die von diesen schwer greifbaren seltenen Erden fasziniert waren und ihr Leben lang versuchten, sie zu isolieren, weil sie glaubten, ihre Untersuchung könnte unerwartetes Licht auf alle Elemente und ihre Periodizität werfen.

Die seltenen Erden, schrieb William Crookes, verstören uns in unserer Forschung, strafen unsere Spekulationen Lügen und verfolgen uns bis in unsere Träume. Sie breiten sich wie ein unbekanntes Meer vor uns aus, führen uns in die Irre, umgeben sich mit Geheimnissen, verheißen seltsame Enthüllungen und Möglichkeiten.

Wenn die seltenen Erden die anderen Chemiker verblüfften, hinters Licht führten und verfolgten, so trieben sie Mendelejew fast in den Wahnsinn, als er versuchte, ihnen einen Platz in seinem Periodensystem zuzuweisen. Als er 1869 seine erste Tabelle konstruierte, waren nur fünf seltene Erden bekannt, doch dann wurden in den folgenden Jahrzehnten immer mehr entdeckt, und mit jeder Entdeckung wurde das Problem größer, weil sie (wie es schien) allesamt mit ihren aufeinander folgenden Atomgewichten an eine einzige Position in der Tabelle zu gehören schienen, gewissermaßen eingequetscht zwischen zwei aneinander grenzende Elemente in der Periode 6. Auch andere Forscher bemühten sich um die Einordnung dieser so täuschend ähnlichen Elemente, zusätzlich verunsichert durch die Ungewissheit, wie viele seltene Erden letztlich entdeckt würden.

Viele Chemiker waren Ende des 19. Jahrhunderts geneigt, sowohl die Übergangselemente als auch die seltenen Erden in getrennte «Blöcke» einzuordnen, denn man brauchte ein Periodensystem mit mehr Platz, mehr Dimensionen, um diese «Extraelemente» aufzunehmen, die das grundlegende Schema der acht Gruppen aufzubrechen schienen. Ich versuchte, Periodensysteme verschiedener Form zu entwerfen, in die diese Blöcke hineinpassten, wobei ich spiralförmige und dreidimensionale ausprobierte. Viele andere hatten, wie ich später entdeckte, das Gleiche getan: Mehr als hundert Versionen des Periodensystems erschienen zu Mendelejews Lebzeiten.

Alle Tabellen, die ich entwarf, alle Tabellen, die ich sah, endeten in Ungewissheit, endeten mit einem Fragezeichen, das sich auf das «letzte» Element, das Uran, bezog. Es interessierte mich außerordentlich und mit ihm seine Periode, die Periode 7, die mit einem noch unbekannten Alkalimetall, Element 87, begann, aber nur bis Uran, Element 92, reichte. Warum, so fragte ich mich, sollte hier Schluss sein, nach lediglich sechs Elementen? Gab es nicht vielleicht noch mehr Elemente, jenseits des Urans?

Das Uran selbst war von Mendelejew unter Wolfram gestellt worden, das schwerste Übergangselement der Gruppe VI, weil es chemisch große Ähnlichkeit mit Wolfram hatte. (Wolfram bildete ein flüchtiges Hexafluorid, ein sehr dichtes Gas, genau wie Uran - und diese Verbindung UF6 wurde im Krieg verwendet, um die Uranisotopen zu isolieren.) Uran erschien wie ein Übergangsmetall, erschien wie Eka-Wolfram - und dennoch befriedigte mich diese Lösung nicht recht. Daher beschloss ich, mich etwas eingehender damit zu beschäftigen und die Dichten und Schmelzpunkte aller Übergangsmetalle zu untersuchen. Schon bald entdeckte ich eine Anomalie; während die Dichte der Metalle in den Perioden 4, 5 und 6 ständig anstieg, ging sie bei den Elementen in Periode 7 überraschenderweise zurück. So war Uran weniger dicht als Wolfram, obwohl man bei ihm eigentlich eine größere Dichte erwartet hätte (bei Thorium verhielt es sich ähnlich, es war weniger dicht als Hafnium und nicht etwa dichter, was man erwartet hätte). Das gleiche Bild bei den Schmelzpunkten: Sie erreichten einen Höhepunkt in Periode 6 und gingen dann plötzlich zurück.

Ich war ganz aus dem Häuschen, denn ich hatte das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. War es trotz aller Ähnlichkeiten zwischen Uran und Wolfram denkbar, dass Uran in Wirklichkeit gar nicht der gleichen Gruppe angehörte, dass es noch nicht einmal ein Übergangsmetall war? Und galt dies möglicherweise auch für die anderen Elemente der Periode 7, Thorium und Protactinium sowie die (imaginären) Elemente jenseits des Urans? Konnte es sein, dass diese Elemente stattdessen der Anfang einer zweiten Reihe seltener Erden waren, der ersten in Periode 6 exakt analog? In diesem Fall wäre Eka-Wolfram nicht Uran, sondern ein noch unentdecktes Element, das erst erkennbar sein würde, wenn die zweite Reihe der seltenen Erden vollständig vorlag. Im Jahr 1945 war dies noch unvorstellbar, allenfalls Stoff für Science-Fiction-Romane.

Hoch erfreut vernahm ich bald nach dem Krieg, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte, denn Glenn Seaborg und seinen Mitarbeitern in Berkeley war es gelungen, zahlreiche Transurane zu gewinnen - die Elemente 93, 94, 95 und 96 -, und sie hatten festgestellt, dass diese Elemente tatsächlich zu einer zweiten Reihe seltener Erden gehörten.[50]

Die Anzahl der Elemente in der zweiten Reihe seltener Erden, so meinte Seaborg, würde entsprechend der ersten Reihe ebenfalls vierzehn betragen. Nach dem vierzehnten (Element 103) seien zehn Übergangselemente zu erwarten und erst dann das abschließende Element der Periode 7, ein Edelgas als Element 118. Danach würde eine neue Periode wie alle anderen mit einem Alkalimetall beginnen, Element 119.

Offenbar ließ sich das Periodensystem auf diese Weise auf neue Elemente weit jenseits des Urans ausdehnen, Elemente, die es möglicherweise noch nicht einmal in der Natur gab. Ob diese Transurane irgendeine Grenze hatten, war nicht klar: Vielleicht würden die Atome solcher Elemente zu groß, um noch zusammenzuhalten. Doch das Prinzip der Periodizität war von grundlegender Bedeutung und ließ sich offenbar endlos ausdehnen.

Zwar begriff Mendelejew das Periodensystem in erster Linie als ein Werkzeug zur Organisation und Vorhersage der Eigenschaften von Elementen; er war aber auch der Meinung, es verkörpere ein fundamentales Gesetz, und dachte auch schon mal «über die unsichtbare Welt der Atome» nach. Denn so viel war klar, im Periodensystem kamen beide Seiten zum Ausdruck: nach außen die manifesten Eigenschaften der Elemente, nach innen eine noch unbekannte atomare Eigenschaft, die diese bestimmte.

Schon bei der ersten, langen, versunkenen Begegnung im Science Museum war ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Tafel des Periodensystems weder willkürlich noch oberflächlich, sondern eine Darstellung von Wahrheiten war, welche nie überholt sein würden, sondern sich ganz im Gegenteil fortwährend bestätigen, immer neue Tiefen mit immer neuen Einsichten offenbaren würden; denn die Tafel war so tief und so einfach wie die Natur selbst. Diese Erkenntnis löste in meinem zwölfjährigen Selbst eine Art von Ekstase aus, das Gefühl (um mit Einstein zu sprechen), «ein Zipfel des großen Schleiers» sei gelüftet worden.

KAPITEL SIEBZEHN

EIN TASCHENSPEKTROSKOP

Vor dem Krieg veranstalteten wir an Guy Fawkes abends stets ein kleines Feuerwerk. Am liebsten hatte ich das bengalische Feuer, das strahlend grün oder rot leuchtete. Das Grün, so hatte meine Mutter mir erzählt, werde von einem Element hervorgerufen, das Barium heiße, das Rot von Strontium. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, was Barium und Strontium seien, aber ihre Namen blieben mir, wie ihre Farben, im Gedächtnis.

Als meine Mutter sah, wie hingerissen ich davon war, zeigte sie mir, wie die Gasflamme plötzlich aufflackerte und strahlend gelb wurde, wenn man eine Prise Salz hineinwarf. Das sei auf die Anwesenheit eines anderen Elementes - Natrium - zurückzuführen (schon die Römer hätten es verwendet, sagte sie, um ihren Flammen und Leuchtfeuern kräftigere Farben zu verleihen). In gewissem Sinne wurde ich also schon vor dem Krieg mit «Flammproben» vertraut gemacht. Doch erst Jahre später in Onkel Daves Labor erfuhr ich, dass sie ein unverzichtbarer Teil des chemischen Lebens waren, weil sie die Möglichkeit eröffneten, bestimmte Elemente zu entdecken, selbst wenn diese nur in kleinsten Mengen vorhanden waren.

Man brauchte nur eine winzige Probe des Elements oder einer seiner Verbindungen auf eine Öse aus Platindraht zu nehmen und sie dann in die farblose Flamme eines Bunsenbrenners zu halten, schon zeigte sich die entsprechende Färbung. Ich untersuchte eine Reihe von Flammenfarben: die azurblaue Farbe des Kupferchlorids und das Hellblau - das «giftige» Hellblau, wie ich fand von Blei, Arsen und Selen. Es gab viele grüne Flammen: ein Smaragdgrün bei den meisten anderen Kupferverbindungen, ein Gelbgrün bei Bariumverbindungen, auch bei einigen Borverbindungen - Boran, Borhydrid, war hochentflammbar und brannte mit einer ganz eigenen, unheimlichen Flamme. Und dann die roten: die karminrote Flamme der Lithiumverbindungen, das Scharlachrot des Strontiums, das gelbliche Ziegelrot des Kalziums. (Später las ich, dass auch Radium Flammen rot färbt, doch das habe ich natürlich nie gesehen. Ich stellte mir ein extrem strahlendes Rot vor, ein finales, tödliches Rot. Der Chemiker, der es zuerst gesehen hätte, so malte ich mir aus, sei kurz darauf erblindet und habe das radioaktive, die Netzhaut zerstörende Rot des Radiums als letztes Bild mit in die Dunkelheit genommen.)

Diese Flammproben waren sehr empfindlich - weit empfindlicher als viele chemische Reaktionen, die «Nassproben», die ebenfalls zur Analyse von Stoffen verwendet wurden - und verstärkten den Eindruck, dass die Elemente fundamentalen Charakter besaßen, behielten sie doch in allen Verbindungen ihre besonderen Eigenschaften. Das Natrium ging «verloren», so konnte man meinen, wenn es sich mit Chlor zu Salz verband -, doch das unübersehbare Natriumgelb in einer Flammprobe erinnerte mich daran, dass es noch immer vorhanden war.

Zu meinem zehnten Geburtstag hatte mir Tante Len James Jeans Buch The Stars in Their Courses geschenkt, und ich war wie berauscht gewesen von der dort geschilderten imaginären Reise ins Herz der Sonne und der beiläufigen Erwähnung, dass die Sonne Platin, Silber, Blei und die meisten anderen Elemente enthalte, die wir auf der Erde haben.

Als ich Onkel Abe davon berichtete, gelangte er zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, mich mit der Spektroskopie vertraut zu machen. Er schenkte mir das 1873 erschienene Buch The Spectroscope von J. Norman Lockyer und lieh mir sein kleines Spektroskop. Lockyers Buch enthielt wunderhübsche Abbildungen, die nicht nur verschiedene Spektroskope und Spektren zeigten, sondern auch bärtige viktorianische Wissenschaftler in Gehröcken, die mit dem neuen Apparat Kerzenflammen untersuchten - es vermittelte einen sehr persönlichen Eindruck von der Geschichte der Spektroskopie, von Newtons ersten Experimenten bis hin zu Lockyers eigenen bahnbrechenden Beobachtungen der Sonnen- und Sternenspektren.

Die Spektroskopie hatte tatsächlich im Himmel begonnen, im Jahr 1666 mit der prismatischen Zerlegung des Sonnenlichts durch Newton, der zeigte, dass es aus Strahlen «unterschiedlicher Brechbarkeit» bestand. Newtons Sonnenspektrum setzte sich durchgehend aus leuchtenden Farbstreifen zusammen, die sich wie ein Regenbogen von Rot bis Violett spannten. Hundertfünfzig Jahre später erkannte Joseph Fraunhofer, ein junger deutscher Optiker, der ein viel feineres Prisma und einen engen Spalt benutzte, dass das Newtonsche Spektrum auf ganzer Länge von merkwürdigen dunklen Linien unterbrochen war - «eine unendliche Zahl senkrechter Linien von verschiedener Dicke». (Am Ende zählte er über fünfhundert.)

Man brauchte helles Licht, um ein Spektrum zu erhalten, aber es musste kein Sonnenlicht sein. Es genügte auch das Licht einer Kerze, Kalklicht oder das farbige Licht von Alkalimetallen oder Erdalkalimetallen. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch diese untersucht, woraufhin sich ein vollkommen anderes Spektrum zeigte. Während das Sonnenlicht einen Leuchtstreifen mit jeder Spektralfarbe darin hervorrief, erzeugte das Licht von verdampftem Natrium nur eine einzige gelbe Linie, eine sehr schmale Linie von großer Leuchtkraft vor einem tiefschwarzen Hintergrund. Ähnlich verhielt es sich mit den Flammenspektren von Lithium und Strontium, nur dass diese eine Vielzahl heller Linien enthielten, vorwiegend im roten Bereich des Spektrums.

Woher kamen die dunklen Linien, die Fraunhofer 1814 sah? Standen sie in irgendeiner Beziehung zu den hellen Spektrallinien brennender Elemente? Diese Frage stellten sich damals viele Forscher, doch die Antwort fand sich erst 1859, als Gustav Kirchhoff, ein junger deutscher Physiker, sich mit Robert Wilhelm Bunsen zusammentat. Bunsen war zu diesem Zeitpunkt schon ein namhafter Chemiker und ein unermüdlicher Erfinder - zu seinen Entwicklungen gehörten Fotometer, Kalorimeter, das Kohlezinkelement (das noch mit geringfügigen Änderungen in den Batterien verwendet wurde, die ich in den vierziger Jahren zerlegt hatte) und natürlich der Bunsenbrenner, den er erfunden hatte, um die Farberscheinungen besser untersuchen zu können. Sie bildeten ein ideales Paar: Bunsen, ein hervorragender Experimentator - praktisch, technisch brillant, einfallsreich - und Kirchhoff mit seinem breiten theoretischen Hintergrund und mathematischen Fähigkeiten, die Bunsen möglicherweise abgingen.

1859 führte Kirchhoff ein einfaches und sehr elegantes Experiment durch, aus dem hervorging, dass das Spektrum mit den hellen Linien und das mit den dunklen Linien - das Emissions- und das Absorptionsspektrum - ein und dasselbe waren, einfach entgegengesetzte Aspekte desselben Phänomens: der Fähigkeit der Elemente, bei Verdampfung Licht von charakteristischer Wellenlänge zu emittieren oder Licht von genau der gleichen Wellenlänge zu absorbieren, wenn sie damit bestrahlt wurden.

Die charakteristische Linie des Natriums zeigte sich entweder als helle gelbe Linie in seinem Emissionsspektrum oder als dunkle Linie an genau derselben Stelle im Absorptionsspektrum.

Als Kirchhoff sein Spektroskop auf die Sonne richtete, bemerkte er, dass sich eine der zahllosen dunklen Fraunhoferlinien im Sonnenspektrum an genau derselben Position befand wie die helle gelbe Linie des Natriums - woraus zu schließen war, dass die Sonne Natrium enthielt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war man allgemein der Auffassung, dass man über das hinaus, was die einfache Beobachtung zeige, nie etwas über die Sterne in Erfahrung bringen werde - insbesondere ihre Zusammensetzung und Chemie menschlicher Erkenntnis auf immer verschlossen bleiben werde, daher löste Kirchhoffs Entdeckung höchstes Erstaunen aus.[51]

In der Folgezeit fanden Kirchhoff und andere (und vor allem Lockyer selbst) noch eine Vielzahl weiterer irdischer Elemente in der Sonne. Damit war das Fraunhofer-Rätsel - die vielen hundert schwarzen Linien im Sonnenspektrum - gelöst: Es handelte sich um die Absorptionsspektren dieser Elemente in den äußersten Schichten der Sonne, die von innen her durchleuchtet wurden. Andererseits, so die Vorhersage, müsse eine Sonnenfinsternis, bei der die mittleren Lichtstrahlen der Sonne abgeblockt würden und nur die Sonnenkorona sichtbar sei, glänzende Emissionsspektren hervorrufen, die den dunklen Linien entsprächen.

Mit Onkel Abes Hilfe - er besaß ein kleines Observatorium auf dem Dach seines Hauses und hatte eines seiner Teleskope an ein Spektroskop angeschlossen - konnte ich all dies nun selbst in Augenschein nehmen. Das ganze sichtbare Universum - Planeten, Sterne, ferne Galaxien - bot sich der spektroskopischen Analyse dar, und es bereitete mir eine schwindelerregende, nahezu ekstatische Befriedigung, die irdischen Elemente draußen im Weltraum zu sehen, konkret zu sehen, was ich theoretisch schon wusste, dass die Elemente nicht nur irdisch, sondern kosmisch waren und tatsächlich die Bausteine des Universums bildeten.

Damit war das Interesse von Bunsen und Kirchhoff am Himmel erschöpft, und sie wandten ihre Aufmerksamkeit wieder der Erde zu, weil sie wissen wollten, ob sie mit Hilfe ihrer neuen Technik auch irgendwelche neuen oder unentdeckten Elemente auf der Erde finden konnten. Bunsen hatte bereits festgestellt, dass sich mit der großen Stütze des Spektroskops komplexe Mischungen untersuchen ließen - es sich also um ein Instrument handelte, welches eine optische Analyse chemischer Verbindungen ermöglichte. Wenn beispielsweise Lithium in kleinen Mengen zusammen mit Natrium auftrat, gab es keine Möglichkeit, das Lithium zu entdecken. Selbst die Flammenfarben waren hier keine Hilfe, weil die leuchtend gelbe Flamme des Natriums in der Regel alle anderen Flammenfarben überdeckte. Doch mit einem Spektroskop ließ sich das charakteristische Spektrum des Lithiums sofort erkennen, selbst wenn es mit der zehntausendfachen Menge Natrium gemischt war.

Dies ermöglichte Bunsen den Nachweis, dass bestimmte Mineralwässer, die reich an Natrium und Kalium waren, auch Lithium enthielten (verblüffenderweise, waren doch seine einzigen Vorkommen bisher bestimmte seltene Mineralien gewesen). Enthielten sie möglicherweise auch andere Alkalimetalle? Als Bunsen sein Mineralwasser konzentrierte, indem er 44 Tonnen auf wenige Liter einengte, entdeckte er zwischen den Linien vieler anderer Elemente zwei bemerkenswerte blaue Linien, eng beieinander, die er nie zuvor gesehen hatte. Das musste seiner Meinung nach das Erkennungszeichen eines neuen Elements sein. «Wegen seiner schönen blauen Spektrallinie werde ich es Zäsium nennen», schrieb er im November 1860, als er seine Entdeckung bekannt gab.

Drei Monate später fanden Bunsen und Kirchhoff ein weiteres neues Alkalimetall. Sie nannten es Rubidium, aufgrund «der prachtvollen dunkelroten Farbe seiner Strahlen».

Im Laufe weniger Jahrzehnte nach den Entdeckungen von Bunsen und Kirchhoff wurden mit Hilfe der Spektroskopie zwanzig weitere Elemente gefunden - Indium und Thallium (die man ebenfalls nach der strahlenden Färbung ihrer Spektrallinien benannt hatte), Gallium, Scandium und Germanium (die drei Elemente, die Mendelejew vorhergesagt hatte), alle noch ausstehenden seltenen Erden und in den neunziger Jahren dann die Edelgase.

Doch die wohl romantischste Geschichte dieser Entdeckungen, jedenfalls diejenige, die mich als Jungen am stärksten ansprach, betraf das Helium. Lockyer selbst war es, der während einer Sonnenfinsternis im Jahr 1868 eine leuchtend gelbe Linie in der Sonnenkorona wahrnahm, eine Linie in der Nähe der gelben Natriumlinien, aber doch deutlich von ihnen unterschieden. Er glaubte, diese neue Linie müsse zu einem Element gehören, das auf der Erde unbekannt sei, und nannte es Helium (er gab ihm das metallische Suffix ium, weil er annahm, es handle sich um ein Metall). Dieses Ergebnis löste großes Staunen und Aufregung aus, und man vermutete sogar, jeder Stern habe seine eigenen besonderen Elemente. Erst fünfundzwanzig Jahre später fand man in bestimmten irdischen (Uran-)Mineralien ein seltsames, leichtes Gas, das rasch freigesetzt wurde. Als man es einer spektroskopischen Untersuchung unterzog, erwies es sich als eben dieses Helium.

Das Wunder der Spektralanalyse, der Fernanalyse, schlug sich auch in der Literatur nieder. Ich hatte Unser gemeinsamer Freund von Charles Dickens gelesen (es war 1864, nur vier Jahre nach der Entwicklung der Spektroskopie durch Bunsen und Kirchhoff, geschrieben worden), und darin war von einer «moralischen Spektroskopie» die Rede. Mit ihrer Hilfe waren die Bewohner ferner Galaxien und Sterne in der Lage, das Licht der Erde zu analysieren und darin Gut und Böse zu bestimmen, mit anderen Worten, das moralische Spektrum seiner Bewohner zu erfassen.

«Ich habe wenig Zweifel», schrieb Lockyer am Ende seines Buches, «dass das Spektroskop… im Laufe der Zeit… im Taschenformat zu unser aller ständigem Begleiter werden wird.» Jedenfalls wurde ein kleines Spektroskop mein ständiger Begleiter, der stets greifbare Schlüssel zu den Rätseln der Welt, der bei jeder Gelegenheit zum Einsatz kam: um das neuartige Fluoreszenzlicht zu betrachten, das damals in Londons U-Bahn-Stationen eingeführt wurde, um Lösungen und Flammen in meinem Labor zu analysieren oder um die Kohlefeuer und Gasflammen bei uns im Haus genauer in Augenschein zu nehmen.

Außerdem untersuchte ich die Absorptionsspektren von Verbindungen aller Art, von einfachen anorganischen Lösungen bis hin zu Blut, Blättern, Urin und Wein. Fasziniert beobachtete ich, wie charakteristisch die Spektralfarben von Blut waren, selbst wenn es geronnen war, und wie klein die Menge nur sein musste, um es auf diese Weise zu analysieren - man konnte einen über fünfzig Jahre alten schwachen Blutfleck erkennen und ihn von einem Rostfleck unterscheiden. Das eröffnete ungeahnte forensische Möglichkeiten; ich fragte mich, ob Sherlock Holmes neben anderen chemischen Untersuchungsmethoden auch ein Spektroskop verwendet hatte. (Ich hatte eine große Schwäche für die Sherlock-Holmes-Geschichten und noch mehr für die Professor-Challenger-Erzählungen, die Conan Doyle später geschrieben hat. Mit Challenger konnte ich mich identifizieren, mit Holmes nicht. In Professor Challenger und das Ende der Welt spielt die Spektroskopie eine entscheidende Rolle, denn eine Veränderung in den Fraunhoferschen Linien des Sonnenspektrums macht Challenger auf das Herannahen einer Giftwolke aufmerksam.)

Doch es waren die hellen Linien, die strahlenden Farben, die Emissionsspektren, auf die ich immer wieder zurückkam. Ich ging mit meinem Taschenspektroskop zum Piccadilly Circus und Leicester Square und betrachtete die neuen Natriumlampen, die zur Straßenbeleuchtung verwendet wurden, die scharlachroten Neonreklamen und die anderen Leuchtstoffröhren gelb, blau, grün, je nach dem verwendeten Gas -, die nach der langen Verdunkelung des Krieges das Westend nun in eine bunte Lichterpracht tauchten. Jedes Gas, jeder Stoff hatte sein eigenes Spektrum, seine eigene Signatur.

Bunsen und Kirchhoff waren der Auffassung, die Position der Spektrallinien sei nicht nur das unverwechselbare Erkennungszeichen eines jeden Elementes, sondern auch eine Manifestation seiner innersten Natur. Diese Linien erschienen ihnen als «eine Eigenschaft von ähnlich unveränderlicher und grundlegender Natur wie das Atomgewicht», ja, als eine - wenn auch noch hieroglyphische und unentzifferbare - Manifestation ihrer inneren Beschaffenheit.

Die Komplexität der Spektren (das des Eisens enthielt beispielsweise mehrere hundert Linien) ließ darauf schließen, dass Atome kaum die kleinen, dichten Massen sein konnten, die Dalton sich vorgestellt hatte, praktisch nur durch ihre Atomgewichte unterschieden.

Der Chemiker W. K. Clifford brachte diese Komplexität 1870 durch eine der Musik entlehnte Metapher zum Ausdruck:

… ein Piano muss im Vergleich zu einem Eisenatom ein sehr einfacher Mechanismus sein. Denn das Eisenspektrum bietet eine schier unübersehbare Fülle von separaten hellen Linien, von denen jede einer eindeutigen Schwingungsperiode des Eisenatoms entspricht. Statt der rund hundert Schallschwingungen, die ein Flügel aussenden kann, scheint ein einzelnes Eisenatom mehrere Tausend exakt festgelegter Lichtschwingungen zu emittieren.

Damals war eine Vielzahl solcher Bilder und Metaphern im Umlauf, die sich alle mit den Verhältnissen, mit den Harmonien beschäftigten, die sich in den Spektren zu verbergen schienen, und nach einer Möglichkeit suchten, sie in einer Formel auszudrücken. Die Natur dieser «Harmonien» blieb bis 1885 im Dunkeln - bis es Balmer gelang, eine Formel zu finden, die die Positionen der vier Linien im sichtbaren Spektrum des Wasserstoffs zueinander in Beziehung setzte; eine Formel, die es ihm ermöglichte, die Existenz und Position weiterer Linien im ultravioletten und infraroten Bereich richtig vorherzusagen. Auch Balmer dachte in musikalischen Begriffen und fragte sich, ob es möglich sei, «die Schwingungen der einzelnen Spektrallinien gewissermaßen als Obertöne eines bestimmten Grundtons zu interpretieren». Dass Balmer auf einen Sachverhalt von fundamentaler Bedeutung gestoßen war und nicht einfach irgendeinen numerologischen Hokuspokus betrieb, wurde sogleich erkannt, doch die Bedeutung seiner Formel blieb genauso rätselhaft wie Kirchhoffs Entdeckung, dass die Emissions- und Absorptionslinien der Elemente gleich sind.

 

KAPITEL ACHTZEHN

KALTES FEUER

Meine vielen Onkel, Tanten und Cousinen dienten mir als eine Art Archiv oder Handbücherei, es gab immer jemanden, an den ich mich mit einem bestimmten Problem wenden konnte: meistens an Tante Len, meine botanische Tante, die eine derart lebensrettende Rolle in den schlimmen Tagen von Braefield gespielt hatte, oder an Onkel Dave, meinen chemischen und mineralogischen Onkel, und schließlich an Onkel Abe, meinen Physikonkel, der mich auf die Spektroskopie gebracht hatte. Onkel Abe wurde selten als Erster konsultiert, weil er einer der älteren Onkel war, sechs Jahre älter als Onkel Dave und fünfzehn Jahre älter als meine Mutter. Er galt als der begabteste unter den achtzehn Kindern seines Vaters. Seine geistigen Fähigkeiten waren ganz außerordentlich, obwohl er sein Wissen durch eine Art Osmose erworben hatte, nicht durch reguläre Ausbildung. Wie Dave hatte er schon früh Geschmack an der Physik gefunden, und wie Dave war er in jungen Jahren als Geologe nach Südafrika gegangen.

Die großen Entdeckungen - Röntgenstrahlen, Radioaktivität, das Elektron und die Quantentheorie - waren alle in seinen jungen Jahren gemacht worden und bildeten für den Rest seines Lebens seinen Interessenschwerpunkt. Außerdem hegte er eine Leidenschaft für die Astronomie und die Zahlentheorie. Er war aber durchaus in der Lage, sich auch praktischen und wirtschaftlichen Fragen zuzuwenden. So hatte er an der Entwicklung von Marmite mitgewirkt, dem weithin geschätzten vitaminreichen Hefeextrakt, der Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde (meine Mutter aß es für ihr Leben gern, ich konnte es nicht ausstehen), und als im Zweiten Weltkrieg normale Seife knapp wurde, half er, eine brauchbare fettfreie Seife zu entwickeln.

Obwohl sich Abe und Dave in mancherlei Weise ähnelten (beide hatten sie das breite Landau-Gesicht, die weit auseinander liegenden Augen und die unverkennbare, volltönende Landau-Stimme - Merkmale, die noch die Ururenkel meines Großvaters aufweisen), waren sie in anderer Hinsicht sehr verschieden. Dave war groß und stark, mit militärischer Haltung (er hatte im Ersten Weltkrieg und im Burenkrieg gedient) und immer sorgfaltig gekleidet. Sogar an seinem Labortisch trug er einen Klappkragen und blank polierte Schuhe. Abe war kleiner, etwas knorrig und gebeugt (zumindest in den Jahren, in denen ich ihn kannte). Mit seinen braunen, angegrauten Haaren, der rauen Stimme und dem chronischen Husten wirkte er wie ein alter Großwildjäger. Er achtete kaum auf seine Kleidung, meist trug er einen zerknitterten Laborkittel.

Formal waren sie beide Direktoren von Tungstalite, doch Abe überließ die wirtschaftliche Seite Dave und widmete sich ausschließlich der Forschung. Er hatte Anfang der zwanziger Jahre eine sichere und effektive Methode zur «Mattierung» von Glühlampen mit Flusssäure gefunden - und auch die entsprechenden Maschinen für das Werk in Hoxton entwickelt.

Auch an der Verwendung von «Gettern» in Vakuumröhren hatte er mitgearbeitet - reaktionsfreudigen, sauerstoffgierigen Metallen wie Zäsium und Barium, die die letzten Luftreste aus einer Vakuumröhre entfernten. In früheren Jahren hatte er die Verwendung von Hertzit, sein synthetisches Kristall, für Kristallradios patentieren lassen.

Auch eine Leuchtfarbe hatte er entwickelt und patentieren lassen, sie war im Ersten Weltkrieg für Zielvorrichtungen von Geschützen verwendet worden (möglicherweise sei sie in der Skagerrakschlacht von entscheidender Bedeutung gewesen, erzählte er mir). Seine Farbe wurde auch für die Zifferblätter von Ingersoll-Uhren verwendet. Wie Onkel Dave hatte er große, kräftige Hände, doch während Onkel Daves Hände von Wolfram zerschrammt zu sein schienen, waren Onkel Abes von Radiumverbrennungen und bösartigen Warzen geschunden, die von seinem langen, sorglosen Umgang mit radioaktiven Stoffen zeugten.

Wie ihr Vater waren Onkel Dave und Onkel Abe sehr an Licht und Beleuchtung interessiert, doch während es bei Dave «heißes» Licht war, ging es Abe um «kaltes» Licht. Onkel Dave hatte mich mit der Geschichte des Glühlichts bekannt gemacht. Mit den seltenen Erden und den Metallfäden, die glühten und hell leuchteten, wenn sie erhitzt wurden. Er hatte mir die Energetik chemischer Reaktionen nahe gebracht - wie in ihrem Verlauf Wärme absorbiert oder emittiert wird, eine Wärme, die manchmal so sichtbar wird wie Feuer und Flammen.

Onkel Abe hatte mir die Geschichte des «kalten» Lichts - der Lumineszenz - nahe gebracht, eine Geschichte, die möglicherweise begann, bevor es eine Sprache gab, um Ereignisse aufzuzeichnen; die mit Glühwürmchen und phosphoreszierenden Ozeanen begann, mit Irrlichtern, diesen merkwürdigen, wandernden, fahlen Lichterscheinungen, die der Legende nach Reisende in ihren Untergang locken. Und mit dem Elmsfeuer, diesen unheimlichen leuchtenden Entladungen, die sich bei Gewitter an Schiffsmasten zeigten und den Seeleuten das Gefühl gaben, sie seien verhext. Weiter gab es das Polarlicht im Norden und im Süden mit seinen Farbvorhängen, die am Himmel schimmerten. Diese kalten Lichterscheinungen hatten etwas Unheimliches, Geheimnisvolles - ganz anders als die tröstliche Vertrautheit von Feuer und warmem Licht.

Es gab sogar ein Element, Phosphor, das spontan leuchtete. Phosphor übte durch seine Leuchtkraft eine seltsame, gefährliche Anziehung auf mich aus. Manchmal schlich ich mich nachts in mein Labor, um mit diesem Stoff zu experimentieren. Sobald ich meinen Abzugschrank eingeschaltet hatte, legte ich ein Stück weißen Phosphor ins Wasser und brachte es zum Sieden, wobei ich das Licht herunterdrehte, damit ich den sacht blaugrün leuchtenden Dampf aus den Glaskolben kommen sah. Ein anderes sehr hübsches Experiment bestand darin, Phosphor mit Ätzkali in einer Retorte zum Sieden zu bringen ich hatte bemerkenswert wenig Bedenken, derart bösartige Substanzen zu kochen -, woraus Phosphorwasserstoff (der alte Begriff) oder Phosphin entstand. Wenn die Phosphinblasen entwichen, fingen sie spontan Feuer und bildeten schöne weiße Rauchringe.

Ich konnte Phosphor (mit Hilfe einer Lupe) in einem Uhrglas entzünden, woraufhin sich das Glas mit einem «Schnee» aus Phosphorpentoxid füllte. Wenn dies über Wasser geschah, zischte das Pentoxid wie rotglühendes Eisen, sobald es das Wasser berührte, und löste sich auf; das Ergebnis war Phosphorsäure. Durch Erhitzen von weißem Phosphor konnte ich ihn in sein Allotrop verwandeln, den roten Phosphor der Zündhölzer.[52] Als Kleinkind hatte man mir erzählt, dass Diamant und Graphit verschiedene Formen, Allotrope, des gleichen Elements seien. Jetzt konnte ich im Labor einige dieser Verwandlungen selbst bewirken, etwa indem ich weißen Phosphor in roten verwandelte und dann (durch Kondensierung seines Dampfes) wieder in weißen zurück. Bei solchen Transformationen kam ich mir vor wie ein Zauberkünstler.[53]

Vor allem aber die Leuchtkraft des Phosphors zog mich immer wieder an. Ein bisschen davon ließ sich leicht in Nelken- oder Zimtöl oder auch Alkohol auflösen (wie Boyle es getan hatte) - das beseitigte nicht nur seinen knoblauchähnlichen Geruch, sondern ermöglichte auch ein sicheres Experimentieren mit seiner Leuchtkraft, denn eine solche Phosphorlösung leuchtete auch noch bei einer Konzentration von eins zu einer Million. Man konnte sich ein bisschen davon auf Gesicht oder Hände reiben, dann verströmte man im Dunkeln ein geisterhaftes Leuchten. Es war kein gleich bleibendes Leuchten, sondern schien (wie Boyle es formulierte) «starken Schwankungen unterworfen zu sein… und manchmal plötzlich aufzuflackern».

1669 gelang es Heinrich Brand in Hamburg zum ersten Mal, dieses wundersame Element zu gewinnen. Er destillierte es aus Urin (offenbar mit alchimistischen Absichten) und war fasziniert von der seltsamen leuchtenden Substanz, die er da isoliert hatte. Er nannte sie kaltes Feuer oder liebevoll mein Feuer.

Brand ging ziemlich sorglos mit seinem neuen Element um und war offenbar überrascht, als er seine Gefährlichkeit entdeckte, denn am 30. April 1679 schrieb er an Leibniz:

Als ich in diesen Tagen etwas von eben demselben in der Hand hielt und nicht mehr tat, als es mit meinem Atem anzublasen, entzündete es sich von allein, so wahr mir Gott helfe; die Haut meiner Hand verbrannte und wurde hart wie Stein, sodass meine Kinder schrien und riefen, es sei schrecklich anzuschauen gewesen.

Doch obwohl sich alle frühen Forscher schwere Verbrennungen mit Phosphor zuzogen, sahen sie in ihm zugleich eine magische Substanz, versehen mit der Leuchtkraft des Glühwürmchens, vielleicht des Mondes, einem Geheimnis, einem unerklärlichen eigenen Glanz. Leibniz fragte sich in seiner Korrespondenz mit Brand, ob sich das Glühen des Phosphors nicht zur nächtlichen Beleuchtung von Innenräumen nutzen ließe (damit sei, so Onkel Abe, möglicherweise zum ersten Mal vorgeschlagen worden, kaltes Licht für Beleuchtungszwecke zu nutzen).

Niemand war davon faszinierter als Boyle, der sich mit der Lumineszenz des Phosphors eingehend beschäftigte - unter anderem der Tatsache, dass sie auf Luft angewiesen oder merkwürdigen Schwankungen unterworfen war. Boyle hatte bereits eingehende Untersuchungen über «Leuchterscheinungen» angestellt, von Glühwürmchen über phosphoreszierendes Holz bis hin zu verdorbenem Fleisch, und dieses «kalte» Licht sorgfältig mit dem glühender Kohlen verglichen (wobei er festgestellt hatte, dass beide Erscheinungen nicht ohne Luft auskamen).

Einmal wurde Boyle von seinem erschreckten und verblüfften Diener aus seinem Schlafzimmer gerufen, weil der in der Speisekammer Fleisch entdeckt hatte, das hell leuchtete. Fasziniert zog Boyle sich an und machte sich sogleich an die Untersuchung, die in einen hübschen Aufsatz mündete: «Some Observations about Shining Flesh, both of Veal and Pullet, and that without any sensible Putrefaction in those Bodies» (Einige Bemerkungen über leuchtendes Fleisch vom Kalb und Hühnchen, und das ohne merkliche Fäulnis in diesen Geweben). Das Leuchten wurde vermutlich von lumineszierenden Bakterien hervorgerufen, doch von solchen Organismen ahnte man zu Boyles Zeiten noch nichts.

Auch Onkel Abe interessierte sich für diese chemische Lumineszenz. Als junger Mann hatte er viele derartige Experimente vorgenommen, auch mit Luciferinen, den Licht erzeugenden chemischen Stoffen, die in lumineszierenden Organismen vorkommen. Er hatte sich gefragt, wie man sie praktisch verwerten könne, um eine wirklich strahlende Leuchtfarbe herzustellen. Das chemische Leuchten konnte in der Tat einen erstaunlichen Glanz entfalten, hatte nur den Nachteil, dass es von vorübergehender, flüchtiger Natur war, und verschwand, sobald die Reaktionsteilnehmer aufgebraucht waren - wenn nicht (wie bei den Glühwürmchen) eine ständige Produktion lumineszierender Stoffe stattfand. Wenn die Chemie keine Antwort lieferte, brauchte man eine andere Form von Energie, etwas, was sich in sichtbares Licht umwandeln ließ.

Abes Interesse an der Lumineszenz war in seiner Jugend durch die Leuchtfarbe angeregt worden, die im Haus seiner Eltern in der Leman Street verwendet wurde - Balmain's Luminous Paint hieß sie -, um Schlüssellöcher, Gas- und elektrische Schalter zu markieren, sodass man sie auch im Dunkeln finden konnte. Abe fand diese leuchtenden Schlüssellöcher und Schalter wunderbar, wie sie noch Stunden, nachdem sie dem Licht ausgesetzt gewesen waren, sanft vor sich hin leuchteten. Dieses Leuchten, Phosphoreszenz genannt, war im 17. Jahrhundert von einem Schuhmacher in Bologna entdeckt worden, der Kieselsteine gesammelt, sie mit Holzkohle erhitzt und dann beobachtet hatte, dass sie noch stundenlang im Dunkeln nachleuchteten, wenn sie zuvor von Tageslicht beschienen worden waren. Dieser «Bologneser Phosphor», wie man ihn nannte, war Bariumsulfid, das durch Reduktion des Minerals Schwerspat entstanden war. Kalziumsulfid ließ sich leichter herstellen - man brauchte nur Austernschalen mit Schwefel zu erwärmen -, und dies, mit verschiedenen Metallen «dotiert», bildete die Grundlage von Balmain's Luminous Paint. (Diese Metalle, so erzählte mir Abe, würden das Kalziumsulfid «aktivieren» und ihm zugleich verschiedene Farben verleihen. Vollkommen reines Kalziumsulfid leuchtete paradoxerweise nicht.)

Während einige Substanzen in der Dunkelheit langsam Licht abgaben, nachdem sie dem Tageslicht ausgesetzt worden waren, leuchteten andere nur, während sie bestrahlt wurden. Das war die Fluoreszenz (nach dem Mineral Fluorit, das diese Lichterscheinung häufig zeigt). Ursprünglich war diese seltsame Leuchtkraft bereits im 16. Jahrhundert entdeckt worden, als man feststellte, dass ein schräger Lichtstrahl, der durch Tinkturen bestimmter Hölzer geleitet wurde, einen farbigen Schimmer auf seinem Weg zurückließ - Newton hatte dies «innerer Reflexion» zugeschrieben. Mein Vater führte es gern an Chininwasser -Tonic - vor, das bei Tageslicht eine schwache Blaufärbung und unter ultraviolettem Licht ein strahlendes Türkis aufwies. Doch egal, ob ein Stoff fluoreszierend oder phosphoreszierend war (viele waren beides), die Lumineszenz ließ sich nur mit blauem oder violettem Licht oder mit Tageslicht hervorrufen (in dem Licht aller Wellenlängen vertreten war) - rotes Licht war ohne jeden Nutzen. Die wirksamste Beleuchtung war unsichtbar - das ultraviolette Licht, das jenseits des violetten Endes des sichtbaren Spektrums liegt.

Meine ersten Erfahrungen mit Fluoreszenz vermittelte mir die UV-Lampe, die mein Vater in der Praxis hatte: eine Quecksilberdampflampe mit einem Metallreflektor, die ein dunkles, bläulich violettes Licht und unsichtbare ultraviolette Strahlen erzeugte. Man verwendete sie zur Diagnose mancher Hautkrankheiten (bestimmte Pilze fluoreszierten in ihrem Licht) und zur Behandlung anderer - wobei meine Brüder sie auch zur Bräunung benutzten.

Diese unsichtbaren ultravioletten Strahlen waren ziemlich gefährlich - man konnte sich ernsthafte Verbrennungen zuziehen, wenn man zu lange unter der Lampe saß, und man musste eine Art Fliegerbrille aufsetzen, die ganz aus Leder und Wolle bestand und dicke Gläser aus Spezialglas hatte, die den größten Teil der ultravioletten (aber auch der sichtbaren) Lichtstrahlen abfingen. Selbst mit der Brille durfte man nicht direkt in die Lampe schauen, weil man sonst ein merkwürdiges, verschwommenes Leuchten sah, das auf die Fluoreszenz in den Augäpfeln zurückging. Betrachtete man andere Menschen, die sich in dem ultravioletten Licht aufhielten, sah man ihre Zähne und Augen strahlend weiß leuchten.

Onkel Abes Haus lag nur wenige Schritte von dem unseren entfernt und war ein magischer Ort, mit allen möglichen Apparaten ausgestattet: Geissler-Röhren, Elektromagneten, Elektrisiermaschinen und Elektromotoren, Batterien, Dynamos, Drahtspulen, Röntgenröhren, Geigerzählern und einer Vielzahl von Teleskopen, von denen er viele eigenhändig gebaut hatte. Manchmal, besonders an den Wochenenden, nahm er mich mit in sein Labor auf dem Dachboden. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich mit den Geräten umgehen konnte, ließ er mir freie Hand mit den phosphoreszierenden und fluoreszierenden Stoffen und der kleinen UV-Handlampe von Wood's, die er verwendete (sie war viel leichter zu handhaben als die alte Quecksilberdampflampe, die wir zu Hause hatten).

Auf seinem Dachboden hatte Abe ganze Regale voll mit Leuchtstoffen, die er mischen konnte wie ein Maler seine Farben - das tiefe Blau des Kalziumwolframats, das blassere Blau des Magnesiumwolframats, das Rot der Yttriumverbindungen. Wie die Phosphoreszenz ließ sich die Fluoreszenz häufig durch «Dotierung» hervorrufen, durch die Zugabe von Aktivatoren (Luminogenen) verschiedener Art. Hierauf konzentrierte sich Abes Forschungsinteresse, denn die technische Entwicklung des fluoreszierenden Lichtes setzte gerade ein, und man suchte nach geeigneten Leuchtstoffen, die ein sichtbares Licht erzeugten, das weich, warm und angenehm für das Auge war.[54] Besonders intensiv beschäftigte sich Abe mit den sehr reinen und zarten Farben, die man dadurch herstellte, dass man verschiedene seltene Erden als Aktivatoren hinzufügte - Europiumoxid, Erbiumoxid, Terbiumoxid. Auch wenn sie nur in winzigen Mengen vorhanden seien, so erzählte er, verliehen sie gewissen Mineralien ihre besondere Fluoreszenz.

Es gab aber auch Stoffe, die sogar im absoluten Reinzustand fluoreszierten, was in besonderem Maße für die Uransalze (genauer, die Uranylsalze) galt. Selbst wenn man Uranylsalze in Wasser auflöste, waren die Lösungen fluoreszierend - eine Konzentration von eins zu einer Million genügte. Diese Fluoreszenz ließ sich auf Glas auftragen, so war von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Uranglas oder «Kanarienglas» sehr beliebt in englischen Häusern (die Glasart, die mich im Farbfenster unserer Haustür so fasziniert hatte). Kanarienglas war gewöhnlich gelb, wenn man hindurchblickte, fluoreszierte aber unter dem Einfluss der kürzeren Wellenlängen des Tageslichts in kräftigem Samaragdgrün, daher schien es oft zu changieren: Je nach Lichteinfall wechselte es zwischen Grün und Gelb. Und obwohl die farbigen Glasfenster unserer Haustür bei einem Bombenangriff zerstört wurden (man ersetzte sie durch hässliches, langweiliges Weißglas), hat sich ihre Farbe meinem Gedächtnis, vielleicht nostalgisch verstärkt, mit außerordentlicher Lebhaftigkeit eingeprägt - besonders nachdem mir Onkel Abe ihr Geheimnis erklärt hatte.[55]

Zwar hatte Abe sich viel mit der Entwicklung von Leuchtfarben beschäftigt, später auch mit der Herstellung von Leuchtstoffen für Kathodenstrahlröhren, doch sein Hauptinteresse galt wie bei seinem Bruder Dave der Beleuchtung. Seit seiner Jugend hegte er die Hoffnung, es würde eines Tages möglich sein, ein kaltes Licht zu entwickeln, das so ergiebig, angenehm und regulierbar sei wie heißes. Während sich Onkel Wolframs Sinnen und Trachten ganz auf das Glühlicht richtete, war Onkel Abe von Anfang an klar, dass sich ohne Elektrizität kein wirklich starkes kaltes Licht erzeugen ließ, dass also, mit anderen Worten, die Elektrolumineszenz der Schlüssel zum Erfolg war.

Dass verdünnte Gase und Dämpfe leuchteten, wenn sie elektrisch geladen wurden, war seit dem 17. Jahrhundert bekannt, als man beobachtete, dass das Quecksilber in einem Barometer durch Reibung am Glas elektrisch aufgeladen werden konnte, woraufhin in dem verdünnten Quecksilberdampf des Fast-Vakuums darüber ein schönes bläuliches Leuchten zu beobachten war.[56]

Durch die starken Entladungen der Induktionsspulen, die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfunden wurden, gelang es, lange Säulen von Quecksilberdampf zum Leuchten zu bringen. (Becquerel hatte schon früh die Vermutung geäußert, die Beschichtung der Entladungsröhre mit einer fluoreszierenden Substanz könne sie für die Beleuchtung geeigneter machen.) Doch als 1901 die Quecksilberdampflampen für spezielle Zwecke eingeführt wurden, waren sie gefährlich und unzuverlässig, und ihr Licht erwies sich - ohne eine fluoreszierende Beschichtung als zu blau, um für den privaten Gebrauch infrage zu kommen. Alle Versuche, die vor dem Ersten Weltkrieg unternommen wurden, um solche Röhren mit fluoreszierendem Pulver zu beschichten, scheiterten an einer Vielzahl von Problemen. Unterdessen erprobte man andere Gase und Dämpfe: Kohlendioxid erzeugte ein weißes Licht, Argon ein bläuliches, Helium ein gelbes und Neon natürlich ein karminrotes. In den zwanziger Jahren wurde es in London üblich, Neonröhren für Reklamezwecke einzusetzen, doch erst Ende der dreißiger Jahre nahm die Verwendung von Leuchtstoffröhren (mit einer Mischung aus Quecksilberdampf und Edelgas) wirtschaftlich nennenswerte Ausmaße an, eine Entwicklung, an der Abe beträchtlichen Anteil hatte.

Um zu zeigen, dass er kein unbelehrbarer Fanatiker war, hatte Onkel Dave Leuchtstoffröhren in seiner Fabrik anbringen lassen, und die beiden Brüder, die in ihrer Jugend den Kampf zwischen Gas und Elektrizität erlebt hatten, stritten jetzt gelegentlich über die Vor- und Nachteile von Glühlampen und Leuchtstoffröhren. Abe meinte, auf die Glühlampen warte das Schicksal der Gasbeleuchtung, Dave hielt dagegen, Leuchtstoffröhren würden immer unförmig bleiben und nie so bequem und kostengünstig wie Glühlampen werden. (Beide wären wohl sehr überrascht, wenn sie sehen könnten, dass heute, fünfzig Jahre später, die Leuchtstofflampen zwar alle Lebensbereiche erobert haben, die Glühlampen aber trotzdem so beliebt sind wie eh und je und dass beide Beleuchtungsformen eine friedliche und brüderliche Koexistenz führen.)

Je mehr mir Onkel Abe zeigte, desto rätselhafter wurde die ganze Sache. Ich besaß einige Grundkenntnisse über das Licht: Ich wusste, dass Farben durch die Art und Weise zustande kamen, wie wir einige Frequenzen oder Wellenlängen sahen, und dass die Farben von Gegenständen davon abhingen, wie diese Licht absorbierten oder durchließen, welche Frequenzen sie blockierten und welche sie passieren ließen. Mir war klar, dass schwarze Stoffe alles Licht absorbierten und nichts durchließen, während es sich bei Metallen und Spiegeln umgekehrt verhielt die Wellenfront der Lichtteilchen, so stellte ich mir vor, prallt gegen den Spiegel wie ein Gummiball und wird augenblicklich zurückgeworfen.

Aber keiner dieser Begriffe half mir, als ich mich den Erscheinungen von Fluoreszenz und Phosphoreszenz zuwandte, denn hier konnte man ein Objekt mit einem unsichtbaren Licht, einem «schwarzen» Licht bestrahlen, und es leuchtete weiß, rot, grün oder gelb, wobei es ein eigenes Licht emittierte, eine Lichtfrequenz, die in der Lichtquelle nicht vorhanden war.

Und dann war da noch die Frage der Verzögerung. Normalerweise schien das Licht augenblicklich zu wirken. Doch bei der Phosphoreszenz wurde die Energie des Sonnenlichts scheinbar eingefangen, gespeichert, in Energie anderer Frequenz umgewandelt und dann langsam in kleinen Portionen emittiert, was Stunden dauern konnte (ähnliche Verzögerungen gebe es, berichtete Onkel Abe, bei der Fluoreszenz, doch dort seien sie sehr viel kürzer und dauerten nur Sekundenbruchteile). Wie war das möglich?

 

KAPITEL NEUNZEHN

MA

In einem Nachkriegssommer in Bournemouth gelang es mir, einen sehr großen Tintenfisch von einem Fischer zu bekommen und ihn in der von mir mit Seewasser gefüllten Badewanne unseres Hotelzimmers unterzubringen. Ich fütterte ihn mit lebenden Krebsen, die er mit seinem harten Maul aufriss, und ich glaube, er hing an mir. Mit Gewissheit erkannte er mich, wenn ich das Badezimmer betrat - durch veränderte Färbung brachte er seine Emotionen zum Ausdruck. Zwar hielten wir Hunde und Katzen zu Hause, doch ein eigenes Tier besaß ich nie. Jetzt hatte ich eines, und mir erschien mein Tintenfisch genauso intelligent und liebevoll wie irgendein Hund. Ich wollte ihn mit nach London nehmen, ihm ein Zuhause geben, einen riesigen Behälter, der mit Seeanemonen und Tang hergerichtet wäre - er sollte mein persönliches Haustier werden.

Ich las viel über Aquarien und künstliches Meerwasser, aber dann wurde mir die Entscheidung doch abgenommen, denn eines Tages stand das Zimmermädchen im Badezimmer, sah den Tintenfisch in der Wanne, bekam einen hysterischen Anfall und stocherte mit einem langen Besenstiel heftig auf das arme Tier ein. Das stieß in seiner Not eine riesige Tintenwolke aus, und als ich etwas später zurückkehrte, lag es tot in seiner eigenen Tinte. Tieftraurig sezierte ich ihn nach unserer Rückkehr nach London, um so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen, und bewahrte seine zerteilten, in Formalin schwimmenden Reste noch viele Jahre in meinem Zimmer auf.

Da ich in einem Arzthaushalt lebte, hörte ich meine Eltern und älteren Brüder oft über Patienten und Krankheiten sprechen, was mich faszinierte und (manchmal) auch abstieß, doch mein neues chemisches Vokabular gestattete mir, in gewissem Sinne mit ihnen zu konkurrieren. Wenn sie etwa über ein Empyem sprachen (ein wohlklingendes dreisilbiges Wort für eine hässliche Vereiterung der Brusthöhle), dann konnte ich mit Empyreuma, dem prachtvollen Ausdruck für den Geruch brennender organischer Stoffe, noch einen draufsetzen. Dabei hatte es mir nicht nur der Laut dieser Worte angetan, sondern auch ihre Etymologie - ich lernte jetzt Griechisch und Latein in der Schule und bemühte mich stundenlang, den Ursprung und die Herkunft der chemischen Fachbegriffe herauszufinden und die manchmal verschlungenen und indirekten Wege nachzuzeichnen, auf denen sie ihre gegenwärtigen Bedeutungen angenommen hatten.

Meine beiden Eltern neigten dazu, medizinische Geschichten zu erzählen - Geschichten, die mit der Beschreibung eines krankhaften Zustands beginnen mochten und sich dann zu einer ganzen Biographie auswuchsen. Besonders meine Mutter liebte solche Geschichten, sie erzählte sie ihren Studenten und Kollegen, unseren Dinnergästen und jedem, der greifbar war. Für sie war das Medizinische immer ins Leben eingebettet. Gelegentlich beobachtete ich den Milchmann oder den Gärtner, wie sie gebannt einer ihrer klinischen Erzählungen lauschten.

In der Praxis stand ein großer Bücherschrank mit medizinischer Fachlektüre. Ich las mich kreuz und quer hindurch, häufig mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Einige Bücher nahm ich immer wieder in die Hand: etwa Bland-Suttons Tumours Innocent and Malignant - das Werk hatte es mir angetan wegen seiner Strichzeichnungen von monströsen Teratomen und Tumoren, von siamesischen Zwillingen, die in der Leibesmitte oder mit den Gesichtern zusammengewachsen waren, von Kälbern mit zwei Köpfen, einem Baby, das einen winzigen Extrakopf in der Nähe eines Ohrs hatte (einen Kopf, der, wie ich las, in winziger Nachbildung den Gesichtsausdruck des Hauptgesichtes widerspiegelte), von «Trichobezoaren» - bizarren Bällen voller Haar und anderen Dingen, die verschluckt werden und sich, manchmal mit fatalen Folgen, im Magen ansammeln -, von einer Eierstockzyste, so groß, dass sie mit einem Handkarren davongefahren werden musste, und natürlich von dem Elefantenmenschen, von dem mein Vater mir bereits erzählt hatte (er war wenige Jahre, nachdem John Merrick dort gelebt hatte, Student am London Hospital gewesen). Kaum weniger schrecklich erschien ein Atlas of Dermachromes, der jede scheußliche Hauterkrankung abbildete, von der Erdenbewohner befallen werden können. Doch das aufschlussreichste und meistgelesene war Frenchs Differential Diagnosis - die winzigen Strichzeichnungen darin taten es mir an. In diesem Buch entdeckte ich ungeahnte Schrecken, am entsetzlichsten wohl der Artikel über Progerie, eine rasch fortschreitende Senilität, die dazu führen konnte, dass ein zehnjähriges Kind in wenigen Monaten eine ganze Lebensspanne durchmaß, sodass es sich in ein kahlköpfiges, hakennasiges, keuchendes Geschöpf mit zerbrechlichen Knochen verwandelte und aussah wie der runzlige, affenähnliche Gagool - der dreihundertjährige Zauberer aus König Salomons Schatzkammer - oder die wahnsinnigen Struldbrugs im Land Luggnagg, zu denen es Gulliver verschlug.

Zwar waren mit meiner Rückkehr nach London und der «Lehrzeit» (wie ich es manchmal nannte) bei meinen Onkeln viele der Ängste von Braefield wie ein böser Traum verschwunden, trotzdem blieb ein Rest von Furcht und Aberglaube zurück, das Gefühl, dass mir irgendetwas Schreckliches vorherbestimmt sei und es mich jeden Augenblick ereilen könnte.

Ich vermute, die besonderen Gefahren der Chemie hatte ich mir bis zu einem gewissen Grade deshalb ausgesucht, weil sie es mir erlaubten, mit solchen Ängsten zu spielen, mich davon zu überzeugen, dass es mit Sorgfalt und Wachsamkeit, Vorsicht und Umsicht möglich war, diese gefährliche Welt zu beherrschen oder zumindest zu bestehen. Und tatsächlich ist es mir dank Vorsicht (und Glück) gelungen, mich nie allzu sehr zu verletzen; so behielt ich immer das Gefühl, die Dinge zu meistern und zu kontrollieren. Doch im Hinblick auf die Gesundheit und das Leben im Allgemeinen ließen sich keine derartigen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Jetzt wurde ich von anderen Formen der Angst und der Furcht heimgesucht: Ich bekam Angst vor Pferden (die der Milchmann immer noch vor seinen Wagen spannte), dass sie mich mit ihren großen Zähnen beißen könnten; Angst, die Straße zu überqueren, besonders nachdem unser Hund Greta von einem Motorrad getötet worden war; Angst vor anderen Kindern, die (wenn sie sonst nichts taten) mich zumindest auslachten; Angst, auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten, und vor allem Angst vor Krankheit und Tod.

Die medizinischen Bücher meiner Eltern nährten diese Ängste, verstärkten einen beginnenden Hang zur Hypochondrie. Etwa mit zehn bekam ich eine rätselhafte, wenn auch kaum lebensbedrohliche Hautkrankheit, bei der ich hinter den Ellenbogen und Knien Serum absonderte, das meine Kleidung beschmutzte und dafür sorgte, dass ich mich nicht mehr unbekleidet zeigte. War es mein Schicksal, so fragte ich mich panisch, eine dieser Hautkrankheiten oder monströsen Tumore zu bekommen, von denen ich gelesen hatte - oder war die Progerie meine entsetzliche Bestimmung?

Ich liebte den Morrison-Tisch, einen riesigen Eisentisch, der im Frühstückszimmer stand und der vermutlich stabil genug war, um das Gesamtgewicht des Hauses zu tragen, falls wir von einer Bombe getroffen würden. Es gab viele Geschichten, in denen derartige Tische das Leben von Menschen gerettet hatten, die sonst durch die Trümmer ihrer Häuser erschlagen worden oder in ihnen erstickt wären. Die ganze Familie suchte während der Luftangriffe Zuflucht unter dem Tisch, und so nahm dieses abschirmende, schützende Möbelstück für mich fast menschliche Züge an. Dieser Tisch würde uns Schutz bieten, für uns sorgen, uns behüten.

Ich fand es dort sehr behaglich - fast ein kleines Haus im Haus -, und als ich mit zehn Jahren aus dem St. Lawrence College zurückkam, kroch ich manchmal, auch wenn kein Luftangriff war, darunter und blieb dort still sitzen oder liegen.

Meine Eltern erkannten, dass ich mich in keinem sehr stabilen Zustand befand damals, und verloren keinen Kommentar, wenn ich mich zurückzog und unter den Tisch krabbelte. Eines Abends, als ich unter ihm hervorkroch, entdeckten sie jedoch voller Entsetzen eine kahle, kreisförmige Stelle auf meinem Kopf - Ringelflechte lautete ihre augenblickliche medizinische Diagnose. Meine Mutter untersuchte mich eingehender und beriet sich flüsternd mit meinem Vater. Sie hatten noch nie gehört, dass Ringelflechte mit solcher Plötzlichkeit auftreten konnte. Ich sagte nichts dazu, versuchte unschuldig auszusehen und versteckte das Rasiermesser, Marcus' Rasiermesser, das ich mit unter den Tisch genommen hatte. Am folgenden Tag brachten sie mich zu Dr. Muende, einem Hautarzt. Der musterte mich mit einem durchdringenden Blick - ich war mir sicher, dass er mich sofort durchschaute -, nahm eine Haarprobe von der kahlen Stelle und legte sie unter sein Mikroskop. Nach einer Sekunde hieß es «Dermatitis artefacta», womit er zum Ausdruck brachte, dass der Haarverlust selbst verschuldet war, und als er dies sagte, wurde ich über und über rot. Doch auch dieses Mal gab es keine Diskussion darüber, warum ich mir den Kopf rasiert oder warum ich gelogen hatte.

Meine Mutter war eine außerordentlich schüchterne Frau, die gesellschaftliche Zusammenkünfte kaum ertragen konnte. Waren sie beim besten Willen nicht zu vermeiden, dann zog sie sich ins Schweigen oder ihre eigene Gedankenwelt zurück. Doch sie hatte auch eine andere Seite. Im ungezwungenen Kreise ihrer Studenten bewies sie einen überraschenden Hang zu Ausgelassenheit, Übertreibung, ja Theatralik. Viele Jahre später, als ich mein erstes Buch im Verlagshaus Faber ablieferte, fragte mich die Lektorin: «Wissen Sie eigentlich, dass wir uns schon einmal gesehen haben?»

«Ich glaube mich nicht zu erinnern», antwortete ich verlegen. «Ich habe leider kein Gedächtnis für Gesichter.»

«Wie sollten Sie auch», meinte sie, «es ist schon viele Jahre her. Ich habe damals bei Ihrer Mutter studiert. Sie hat einmal über das Stillen gelesen, und plötzlich, nach ein paar Minuten, unterbrach sie sich und sagte: ‹Am Stillen gibt es nichts Problematisches oder Peinliches.› Mit diesen Worten beugte sie sich hinab, nahm ein kleines Baby hoch, das hinter ihrem Pult versteckt geschlafen hatte, wickelte es aus und stillte es vor der versammelten Hörerschaft. Das war im September 1933, und Sie waren das Baby.»

Von meiner Mutter habe ich die Schüchternheit, die Scheu vor gesellschaftlichen Ereignissen, aber auch genauso ihren Hang zum extrovertierten, übertriebenen Agieren vor Zuhörern geerbt.

Es gab noch eine andere, tiefere Ebene in ihrem Leben: Sie ging vollkommen in ihrer Arbeit auf. Sie war absolut konzentriert, wenn sie operierte (auch wenn sie das fast andächtige Schweigen von Zeit zu Zeit unterbrach, indem sie einen Witz erzählte oder einer ihrer Assistentinnen ein Rezept gab). Sie hatte viel Gefühl für die Struktur der Dinge, für die Art ihrer Zusammensetzung - egal, ob es sich um menschliche Körper, um wissenschaftliche Apparate oder profanere Geräte handelte. Sie benutzte noch immer das alte Zeiss-Mikroskop, das sie als Studentin bekommen hatte und das sie liebevoll pflegte und ölte. Mit großem Vergnügen sezierte sie Gewebeproben, härtete, fixierte und färbte sie verschieden ein - das heißt, sie brachte die ganze Fülle der Techniken zur Anwendung, um sezierte Gewebe haltbar und gut sichtbar zu machen. Anhand solcher Objektträger führte sie mich in einige Wunder der Histologie ein, und ich lernte - in den kräftigen Farben von Hämotoxylin und Eosin oder den dunklen Schattierungen des Osmiums -, eine Vielzahl gesunder und bösartiger Zellen zu erkennen. Ich konnte die abstrakte Schönheit dieser Gewebeproben würdigen, ohne mir viele Gedanken über die Krankheiten oder chirurgischen Eingriffe zu machen, denen sie ihre Existenz verdankten. Ich liebte auch die stark riechenden Klebstoffe und Flüssigkeiten, mit denen sie präpariert wurden. Der Geruch von Nelkenöl, Zedernöl, Kanadabalsam und Xylol ist in meiner Vorstellung noch immer mit dem Bild meiner Mutter assoziiert, die sich völlig vertieft über ihr Mikroskop beugt.

Obwohl meine Eltern beide dem Leiden ihrer Patienten mit großem Mitgefühl begegneten - größer als dem für ihre Kinder, wie ich manchmal fand -, war ihr Ansatz, ihre Einstellung grundverschieden. Mein Vater verbrachte seine Freizeit ausschließlich mit Büchern. Umgeben von biblischen Kommentaren oder gelegentlich auch seinen Lieblingsdichtern aus dem Ersten Weltkrieg, saß er in seiner Bibliothek. Menschen, menschliche Verhaltensweisen, menschliche Mythen und Kulturen, menschliche Sprachen und Religionen nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nichtmenschliches, die «Natur», interessierte ihn im Gegensatz zu meiner Mutter kaum. Ich glaube, mein Vater hatte sich für die Medizin entschieden, weil sie von zentraler Bedeutung für die menschliche Gesellschaft ist und weil er sich selbst vor allem in einer sozialen und rituellen Rolle sah. Mein Mutter hingegen wurde wohl Ärztin, weil die Medizin eng mit der Naturgeschichte und Biologie verschwistert ist. Sie konnte die Anatomie und Physiologie des Menschen nicht betrachten, ohne an Parallelen und Vorläufer anderer Primaten, anderer Wirbeltiere zu denken. Das beeinträchtigte jedoch nicht ihre Sorge und ihr Empfinden für den Einzelnen - es stellte ihn einfach in einen größeren Zusammenhang, den der Biologie und Naturwissenschaft im Allgemeinen.

Ihr Interesse an der Struktur und dem Aufbau der Dinge erstreckte sich in alle Richtungen. Unsere alte Standuhr mit ihren komplizierten Zeigern und Zahnrädern war sehr empfindlich und bedurfte ständiger Pflege. Meine Mutter übernahm dies ganz allein und wurde dabei regelrecht zur Uhrmacherin. Sie erledigte auch andere Arbeiten, die im Haus anfielen, sogar Klempnerarbeiten. Nichts machte ihr mehr Freude, als einen leckenden Wasserhahn zu reparieren oder eine Toilette, mit dem Ergebnis, dass wir die Dienste gelernter Klempner fast nie in Anspruch nehmen mussten.

Doch ihre schönsten, ihre glücklichsten Stunden verbrachte sie im Garten. Hier fanden ihr Sinn für Struktur und Funktion, ihr ästhetisches Empfinden und die Zartheit ihres Wesens zusammen - Pflanzen waren schließlich Lebewesen, weit wunderbarer, aber auch bedürftiger als Uhren oder Abflussrohre. Als ich Jahre später auf die Formulierung «ein Gefühl für den Organismus» stieß - ein Ausdruck, der gern von der Genetikerin Barbara McClintock verwandt wird -, wurde mir klar, dass er genau auf meine Mutter zutraf, denn dieses Gefühl für den Organismus bildete die Grundlage ihrer Existenz, vom grünen Daumen, den sie im Umgang mit ihrem Garten bewies, bis hin zu dem Erfolg, den sie mit ihren Operationen hatte.

Meine Mutter liebte den Garten, die hohen Platanen, die ihn zur Exeter Road begrenzten, den Flieder, der ihn im Mai mit seinem Duft erfüllte, und die Kletterrosen, die an seiner Ziegelmauer emporrankten. Sie arbeitete im Garten, wann immer sie konnte, wobei sie eine besondere Vorliebe für die von ihr selbst gepflanzten Obstbäume hegte - einen Quittenbaum, einen Birnbaum, zwei Holzapfelbäume und einen Walnussbaum. Auch Farne liebte sie, die «Blumenbeete» waren fast übersät davon.

Der Wintergarten am Ende des Salons gehörte zu meinen Lieblingsorten. Hier zog meine Mutter vor dem Krieg ihre empfindlichsten Pflanzen, und als später, nach dem Krieg, den er unbeschadet überstanden hatte, mein eigenes botanisches Interesse erwachte, beteiligte ich mich an seiner Pflege. Ich habe zärtliche Erinnerungen an den wolligen Baumfarn Cibotium, den ich dort 1946 zu ziehen versuchte, und an einen Palmfarn, Zamia, mit Blättern so steif wie Pappe.

Als mein Neffe Jonathan einige Monate alt war, fand ich im Wohnzimmer einen Stapel Röntgenaufnahmen, auf dem «J. Sacks» stand. Ich begann sie mir anzusehen, zunächst neugierig, dann verblüfft, schließlich entsetzt - denn Jonathan war ein hübsches kleines Baby. Ohne die Röntgenaufnahmen wäre niemand auf die Idee gekommen, dass er schreckliche Missbildungen hatte. Sein Becken, die kleinen Beine - das sah kaum noch menschlich aus.

Die Röntgenaufnahmen in der Hand, wanderte ich zu meiner Mutter und schüttelte den Kopf. «Armer, kleiner Jonathan…», begann ich.

Meine Mutter sah mich erstaunt an. «Jonathan? Jonathan geht es gut.»

«Aber die Röntgenaufnahmen», sagte ich. «Ich habe mir die Röntgenaufnahmen angesehen.»

Zunächst verstand sie mich nicht, dann brach sie in schallendes Gelächter aus, sie lachte, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Das «J» stehe nicht für Jonathan, stieß sie schließlich hervor, sondern für ein anderes Familienmitglied - Jezebel. Jezebel, unsere neue Boxerhündin, litt an Blut im Urin, deshalb hatte meine Mutter sie mit ins Krankenhaus genommen und Röntgenaufnahmen von ihrer Niere machen lassen. Was ich für eine grauenhaft missgebildete menschliche Anatomie gehalten hatte, war in Wirklichkeit der vollkommen normal gewachsene Bewegungsapparat eines Hundes. Wie hatte ich einen so absurden Fehler begehen können? Ein Mindestmaß an Kenntnissen, ein bisschen gesunder Menschenverstand hätte mir doch alles klar machen müssen - meine Mutter, eine Anatomieprofessorin, schüttelte ungläubig den Kopf.

Irgendwann in den dreißiger Jahren verlegte sich meine Mutter von der allgemeinen Chirurgie auf die Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie liebte die Herausforderung einer schwierigen Geburt - ein Armvorfall, eine Steißlage, die sie zu einem guten Ende brachte. Gelegentlich aber nahm sie missgebildete Feten mit nach Hause - Geschöpfe mit Anenzephalie, denen herausquellende Augen oben auf den abgeflachten, hirnlosen Köpfen saßen, oder mit Spina bifida, bei denen das gesamte Rückenmark und der Hirnstamm offen lagen. Einige waren tot geboren, andere hatten die Krankenschwester und sie stillschweigend bei der Geburt ertränkt («wie ein Kätzchen», sagte sie einmal), in dem Wissen, dass diese armen Wesen zu keinem bewussten oder geistigen Leben in der Lage waren. Eifrig bestrebt, mich möglichst früh in Anatomie und Medizin zu unterweisen, sezierte sie mehrere dieser Feten für mich und bestand dann darauf, dass ich, obwohl erst elf, sie selbst sezierte. Ich glaube, sie hat nie gemerkt, wie sehr mich das mitnahm, wahrscheinlich hat sie gedacht, es würde mir genauso viel Freude machen wie ihr. Zwar hatte ich aus eigenem Antrieb angefangen, Regenwürmer, Frösche und meinen Tintenfisch zu sezieren, aber das Sezieren dieser menschlichen Feten erfüllte mich mit Abscheu. Meine Mutter erzählte mir oft, dass sie sich, als ich ein Säugling war, über das Wachstum meines Schädels Sorgen gemacht habe, denn sie habe befürchtet, die Fontanellen hätten sich zu früh geschlossen und ich könnte nun ein mikrozephaler Idiot werden. Folglich sah ich in diesen Feten, was ich (zumindest in meiner Vorstellung) selbst hätte werden können. Das erschwerte es mir, die nötige Distanz zu gewinnen, und vergrößerte meinen Schrecken.

Obwohl praktisch schon bei meiner Geburt feststand, dass ich Arzt würde (Chirurg, wie meine Mutter hoffte), nahmen mich diese verfrühten Erfahrungen gegen die Medizin ein, weckten den Wunsch in mir, mich ihr zu entziehen und den Pflanzen zu widmen, die keine Gefühle hatten, und mich vor allem mit Kristallen, Mineralien und Elementen zu beschäftigen, die in einem Reiche zu Hause waren, in dem es nicht Elend oder Leid, nicht Krankheit noch Tod gab.

Als ich vierzehn wurde, verabredete meine Mutter mit einer Kollegin, einer Anatomieprofessorin am Royal Free Hospital, dass sie mich in die Anatomie einführe. Professor G. geleitete mich also in den Seziersaal - und dort lagen auf langen Tischen die Leichen, in gelbe Ölleinwand eingewickelt (um die freigelegten Gewebe am Eintrocknen zu hindern, solange sie nicht seziert wurden). Es war das erste Mal, dass ich einen Leichnam sah, und die Körper wirkten seltsam geschrumpft und klein auf mich. In der Luft hing ein schrecklicher Geruch nach brandigem Fleisch und Konservierungsmitteln, sodass ich beim Eintritt fast ohnmächtig wurde - mir wurde schwarz vor Augen und sehr übel. Professor G. sagte, sie habe schon einen Leichnam für mich ausgesucht, den Körper eines vierzehnjährigen Mädchens. Ein Teil war bereits seziert worden, aber es gab noch ein hübsches, unberührtes Bein, an dem ich mich versuchen dürfe. Ich hätte gern gewusst, wer das Mädchen war, woran sie gestorben, was an ihrem frühen Tod schuld war - doch Professor G. hielt es für besser, mich nicht zu informieren, und in gewisser Weise erleichterte es mich, denn ich hätte mich vor den Antworten gefürchtet. Das hier musste ein Kadaver für mich sein, ein namenloses Ding aus Nerven und Muskeln, Geweben und Organen, das es zu sezieren galt, wie ich Regenwürmer und Frösche sezierte - um zu lernen, wie die organische Maschine aufgebaut war. Am Kopf des Tisches befand sich ein anatomisches Handbuch, Cunninghams Manual. Es war das Exemplar, das die Medizinstudenten beim Sezieren benutzten; seine Seiten waren gelb und fleckig von Menschenfett.

Eine Woche zuvor hatte mir meine Mutter einen Cunningham gekauft, daher verfügte ich über gewisse Vorkenntnisse, doch die bereiteten mich nicht im Geringsten auf die konkrete emotionale Erfahrung vor, auf die Sektion meines ersten Leichnams. Mit einem energischen Schnitt den Oberschenkel hinab zerteilte Professor G. die Haut und das Fett und legte die Muskelhaut darunter frei. Sie gab mir verschiedene Tipps und drückte mir das Skalpell in die Hand - in einer halben Stunde sei sie zurück, sagte sie, dann werde sie schauen, wie weit ich gekommen sei.

Einen Monat brauchte ich, um das Bein zu sezieren. Am schwierigsten waren der Fuß mit seinen kleinen Muskeln und zähen Sehnen und das Kniegelenk in seiner ganzen Komplexität. Gelegentlich konnte ich würdigen, wie wunderbar alles zusammengefügt war, konnte ich das intellektuelle und ästhetische Vergnügen nachempfinden, das die Chirurgie und Anatomie meiner Mutter bereiteten. Sie hatte bei dem namhaften vergleichenden Anatom Frederic Wood-Jones studiert und schätzte seine Bücher - Arboreal Man, The Hand und The Foot - und hielt die handsignierten Exemplare, die sie besaß, hoch in Ehren. Es erstaunte sie, als ich sagte, ich könne den Fuß nicht «verstehen». «Aber er ist wie ein Torbogen», entgegnete sie und begann, einen Fuß zu skizzieren - eine Zeichnung, wie sie ein Ingenieur angefertigt hätte. Sie stellte den Fuß aus jedem Blickwinkel dar, um mir klar zu machen, wie er Stabilität mit Flexibilität verband, wie ideal er nach Plan oder Evolution für das Gehen geschaffen war (obwohl er offensichtlich auch Reste seiner ursprünglichen Greiffunktion bewahrt hatte).

Mir fehlte die Vorstellungskraft meiner Mutter, ihr Sinn für mechanische und technische Zusammenhänge, aber ich fand es wunderbar, wenn sie vom Fuß sprach und in rascher Folge die Füße von Eidechsen und Vögeln, Pferdehufe oder Löwenpranken und eine Reihe von Primatenfüßen zeichnete. Doch diese Freude an anatomischen Einblicken und Erkenntnissen ging bei den Schrecken des Sezierens größtenteils verloren, und diese Empfindungen griffen auch auf das Leben außerhalb des Seziersaals über - ich wusste nicht, ob ich je in der Lage sein würde, die warmen, geschmeidigen Körper der Lebenden zu lieben, nachdem ich vor der formalingetränkten Leiche eines Mädchens meines Alters gestanden, ihren Geruch eingeatmet und sie zerschnitten hatte.