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ENGEL UND SOLDATEN IN NAZARET
Nazaret, das auf Hebräisch Nazerat und im Arabischen El-Nasra heißt, gehört heute zum festen Besuchsprogramm eines jeden Israel-Touristen. Hunderttausende kommen jedes Jahr in die Stadt, um die heiligen Stätten zu besichtigen, und sorgen dafür, dass das Verkehrschaos in dieser Stadt noch größer wird. Rund 70 000 Einwohner hat das moderne Nazaret. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung ist moslemisch. Die Christen sind in der Minderheit, aber sehr präsent. Die Altstadt wird überragt von der riesigen Kuppel der katholischen Verkündigungskirche, die geformt ist wie der umgedrehte Kelch einer Lilie, das Symbol für die Reinheit der Gottesmutter Maria.
Die Basilika ist ein moderner Bau und wurde erst in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts errichtet, an einer Stelle, wo schon seit dem zweiten Jahrhundert Kirchen standen. Eine Grotte im Untergeschoss der Kirche gilt nach der Überlieferung als der Ort, wo sich die Geschichte ereignet hat, die in den Evangelien von Matthäus und Lukas erzählt wird. Maria, die mit Josef verlobt, aber noch Jungfrau war, erschien ein Engel, der ihr verkündete, dass sie ein Kind bekommen werde, das sie Jesus nennen soll. Josef, der sich hintergangen fühlte, wollte sich zuerst in aller Stille von Maria trennen. Doch dann erschien auch ihm ein Engel und weihte ihn in die göttlichen Pläne ein. Daraufhin legte Josef sein Misstrauen ab und behielt Maria bei sich. (Mt 1,18-25, Lk 1,26-38)
Im Verkehrslärm des heutigen Nazaret, umgeben von unentwegt hupenden Autos, fällt es schwer, an einen Engel zu denken, der vom Himmel herabsteigt, um einer einfachen Frau zu sagen, dass sie auserwählt sei, die Mutter des Gottessohnes zu werden. Am 4. Mai 2009 war es ein Helikopter, der am Himmel über Nazaret kreiste und dann am Stadtrand landete. Ihm entstieg der Nachfolger von Papst Johannes Paul II., Papst Benedikt XVI. Im Papamobil fuhr er durch die jubelnde Menge zu einer gigantischen überdachten Bühne, wo er eine Messe hielt. Die Bühne mit dem Altar war aufgebaut am Fuß eines Berges, von dem man glaubt, dass er auch im Neuen Testament erwähnt wird. Lukas berichtet dort nämlich, dass der erwachsene Jesus in seinem Heimatort ganz und gar nicht umjubelt und verehrt war. Zu einer Zeit, als er bereits als Wanderprediger umherzog und an verschiedenen Orten Wunder gewirkt hatte, kam er wieder nach Nazaret. Die Leute, die ihn seit frühester Kindheit kannten, hielten ihn nun für einen verrückten Spinner und trieben ihn zu einem Abhang, wo sie ihn hinunterwerfen wollten. Nur mit knapper Not konnte er entkommen. (Lk 4,16-30)
Zweitausend Jahre später stand der Papst, der Stellvertreter Christi auf Erden, an diesem Abhang, wo sich jene Geschichte zugetragen haben soll. Viel hatte sich verändert seit den Tagen, als Jesus aus seinem eigenen Dorf verjagt worden war. Nun war Jesus kein Ärgernis mehr. Er galt nicht mehr als größenwahnsinniger Träumer, sondern als Sohn Gottes, als Heiland, und zur Erinnerung an das geheimnisvolle Geschehen vor seiner Geburt waren Kirchen gebaut worden.
Es gibt allerdings in Nazaret einen Konkurrenzkampf darüber, wo Maria der Engel erschienen ist. Geht man von der katholischen Verkündigungskirche durch den Basar der Altstadt, so kommt man zu der orthodoxen St. Gabrielskirche. Die griechischen Mönche dort erzählen den Pilgern, dass die erste Begegnung Marias mit dem Engel bei einer Quelle nahe ihrer Kirche stattgefunden habe, und sie verweisen auf eine Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, auf das sogenannte Protoevangelium des Jakobus. Der Verfasser schildert darin, wie Maria mit einem Krug zur Quelle ging, um Wasser zu schöpfen, und plötzlich eine Stimme hörte. Verwirrt schaute sie nach links und rechts, konnte aber nicht sehen, woher die Stimme kam. Erst als sie wieder zu Hause war, stand der Engel vor ihr und sagte, dass sie ein Kind bekommen werde und sie solle es Jesus nennen.18
Wie gesagt, diese Schrift ist erst mindestens hundertfünfzig Jahre nach Jesus’ Geburt entstanden, und sie wurde damals verfasst, um die Angriffe von Ungläubigen abzuwehren, die teilweise mit Hohn und Spott reagierten auf die Geschichte von der Jungfrau, die ein Kind vom Heiligen Geist bekommt. Von jüdischer Seite wurde sogar das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Jesus in Wirklichkeit das uneheliche Kind eines römischen Soldaten namens Panthera gewesen sei. Maria, eine einfache Frau, die ihren Verlobten Josef mit einem römischen Soldaten betrog? Und Jesus, ein Hochstapler, der die Geschichte von seiner göttlichen Herkunft erfunden hat, um die peinlichen Umstände seiner Geburt zu vertuschen?
Solche gotteslästerlichen Geschichten wollten die Christen natürlich nicht hinnehmen, und so machte jener Jakobus im Gegenzug Maria zur Tochter aus reichem Hause, die von ihren Eltern in den Tempel gegeben wird, dort aufwächst und lebenslange Enthaltsamkeit gelobt. Später wird in dieser Geschichte Maria dem Handwerker Josef anvertraut, der Witwer ist und schon Kinder hat. Ohne sein Zutun und gegen das ausdrückliche Verbot der Tempelpriester wird Maria schwanger. Der angeklagte Josef beteuert seine Unschuld. Schließlich unterzieht der oberste Priester die beiden einer Probe, die den Beweis erbringt, dass Josef unschuldig ist und Marias Jungfräulichkeit unverletzt geblieben ist.
Schon in den Anfängen des Christentums traf die Lehre von der Jungfrauengeburt, die nur an zwei Stellen des Neuen Testaments erwähnt wird, 19 auf Unverständnis oder sogar empörte Ablehnung. Dass sich diese Vorstellung heute, im aufgeklärten einundzwanzigsten Jahrhundert, noch fremder ausnimmt als damals, ist verständlich. Welchem halbwegs vernünftigen Menschen kann man zumuten zu glauben, dass sich vor zweitausend Jahren eine »biologische Sensation« ereignet hat und eine Frau ohne sexuellen Kontakt mit einem Mann ein Kind zur Welt brachte.
Kritische Theologen haben versucht, diese Geschichte auch für den modernen Menschen nachvollziehbar zu machen. Sie wiesen darauf hin, dass es schon im alten Ägypten und Griechenland mythische Geschichten gab von einer Jungfrau, die von einem Gott auserwählt wurde und ein Kind gebar, das zum Retter der Welt wurde. Die Jungfrauengeburt also nur eine abgewandelte Version eines alten Mythos von der Verbindung eines Gottes mit einem Menschen? Eine Geschichte, hinter der sich der ewige Wunsch der Menschen nach einem göttlichen Erlöser verbirgt?
Für den jungen Theologen Joseph Ratzinger, der noch nicht Papst war, beruhte die Abneigung moderner Menschen gegen die Jungfrauengeburt auf einem »gründlichen Missverständnis«20. Dieses Missverständnis konnte nur entstehen, weil man dieses Ereignis biologisch auffasste. Dass Jesus Gottes Sohn ist, wurde dann so verstanden, als ob Gott Josef von Marias Seite verdrängt und dann mithilfe des Heiligen Geistes seinen Sohn Jesus zeugt. Solche Vorstellungen existieren bis heute, und manche ihrer Anhänger gehen so weit, sich auf wissenschaftliche Tierversuche zu berufen, die beweisen sollen, dass sich eine weibliche Keimzelle auch ohne männliche Befruchtung entwickeln kann.21
Für Ratzinger ist das barer Unsinn. Dass Jesus Gottes Sohn ist, habe nichts mit Biologie und Fortpflanzung zu tun. Vielmehr sei Jesus schon immer der Gottessohn, sozusagen von Anfang an, nicht erst durch seine Geburt. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn Josef und Maria die leiblichen Eltern von Jesus wären. Seine Beziehung zu Gott wird dadurch nicht berührt. Was sich durch diese Geburt ereignet, ist etwas anderes: Gott wird Mensch, oder anders gesagt, er wendet sich den Menschen zu, und dadurch wird umgekehrt deutlich gemacht, dass jeder Mensch eine besondere Würde hat. Eine Würde, die wir gemeinhin meinen, wenn wir davon sprechen, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist.
Und das bedeutet, dass er nach christlicher Auffassung immer mehr ist als alle Definitionen, die ihn endgültig zu erklären versuchen: Er ist mehr als das bloße Kind seiner Eltern. Er ist mehr als das Produkt seiner Gene. Er ist mehr als das Ergebnis seiner Erziehung und der Prägung durch die Gesellschaft. Er ist mehr als die Summe seiner unbewussten Triebe, Wünsche und Komplexe.
Was nach christlicher Überzeugung für jeden einzelnen Menschen zutrifft, dass er nämlich nach »oben« hin offen ist, dass der Grund seines Seins und der Sinn seines Lebens jenseits der Welt liegen und er damit auch nicht mit Maßstäben der Welt begreifbar ist – das gilt besonders für Jesus. Er ist der »wahre Mensch«. Er hat so gelebt, wie jeder Mensch leben sollte und könnte.
Wenn also Jesus immer Gottes Sohn ist, auch wenn Josef sein leiblicher Vater wäre – warum braucht es dann eine Jungferngeburt? Oder beruht der Glaube daran nur auf einem Fehler, da in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel der Ausdruck »junge Frau« mit »Jungfrau« wiedergegeben wurde?
Der Theologe Joseph Ratzinger hielt an der Jungfrauengeburt fest. Für ihn ist dieses Ereignis allerdings Ausdruck dafür, dass Gottes Menschwerdung etwas ist, das die Gesetze der menschlichen Geschichte sprengt und das nicht durch menschliches Handeln herbeigeführt werden kann. Dass Jesus von einer Jungfrau geboren wird, bedeutet dann, dass der Mensch alles, was für sein Leben wichtig und entscheidend ist, nur empfangen kann. Die Haltung, die er dazu einnehmen muss, ist die, welche Maria zugeschrieben wird. Eine Haltung der Demut und Dankbarkeit. »Das Heil der Welt«, so schreibt Ratzinger, »kommt nicht vom Menschen und von dessen eigener Macht; der Mensch muss es sich schenken lassen und nur als reines Geschenk kann er es empfangen.«22
In der Gabrielskirche führt eine steile Treppe hinab zu einer Krypta, wo in einem Steinbecken das Wasser einer Quelle gesammelt wird, die Marienquelle genannt wird. Besucher füllen sich ihre Flaschen mit dem Wasser und zünden Kerzen an. Außerhalb der Kirche, nur wenige Meter von ihr entfernt, steht ein neuer Marienbrunnen. Bei Bauarbeiten stieß man auf den Ursprung der Quelle in einer zehn Meter unter dem Boden gelegenen Höhle, von der aus ein Aquädukt das Wasser an die Oberfläche leitete.
An diesem Ort befand sich wahrscheinlich zu Jesus’ Zeiten die Schöpfstelle. Der Brunnen war der Mittelpunkt des Dorfes, und man kann sich gut vorstellen, wie hier die Kinder spielten und wie die Frauen mit ihren Krügen, die sie auf dem Kopf trugen, hierherkamen, um Wasser zu holen und Neuigkeiten auszutauschen. Auch Maria muss das Wasser für ihren Haushalt aus diesem Brunnen geschöpft haben.
Im Nazaret des einundzwanzigsten Jahrhunderts können Touristen eine Zeitreise machen und sich zurückversetzen in das Nazaret vor zweitausend Jahren. Am Hang vor dem Krankenhaus liegt »Nazaret Village«23, ein Freilichtmuseum, das unter der wissenschaftlichen Anleitung von Historikern und Archäologen errichtet worden ist. Häuser, Felder, Ställe und die Werkstätten von Handwerkern eines typischen jüdischen Dorfes aus dem ersten Jahrhundert sind hier nachgebaut. Einheimische Statisten, gekleidet wie die Landbewohner dieser Zeit, demonstrieren, wie sich das Leben damals abgespielt hat. Männer hüten Schafe, schneiden Getreide mit Sicheln, schütteln Oliven mit langen Stangen von den Bäumen, beackern mit einem Esel und Holzpflug ein Feld oder arbeiten als Zimmermann mit Hobel und Stemmeisen in einer Werkstatt. Frauen backen Brotfladen, weben Wolle zu Stoffen und mahlen Getreide mit einem Mühlstein. Und wenn man Glück hat, kann man auch Josef und Maria sehen, wie sie mit einem kleinen Jesus-Baby und einem Esel durch das Dorf ziehen.
»Nazaret Village« ist sicher kein christliches Disneyland, dazu hat man sich zu genau an historisches Wissen und die Ergebnisse der Ausgrabungen gehalten. Doch lässt es sich wohl nicht vermeiden, dass die ganze Szenerie etwas Idyllisches und Theaterhaftes an sich hat. Schwer kann man sich vorstellen, wie entbehrungsreich, mühselig und primitiv das Leben damals gewesen sein muss. In späteren Jahrhunderten berichteten Pilger darüber, wie schmal und uneben die ungepflasterten Gassen in Nazaret waren, wie dreckig der Ort in der Regenzeit war und wie staubig im Sommer.
Nazaret war ein kleines Nest mit kaum zweihundert Einwohnern am südlichen Rand von Galiläa. Nirgendwo im Alten Testament oder bei den antiken Historikern wird der Ort erwähnt. Nicht einmal bei Flavius Josephus, der sich in Galiläa gut auskannte und viele Orte beschrieb. Darum hat man lange angenommen, dass es diese Ansiedlung zu Zeiten Jesu überhaupt nicht gegeben hat. Erst neuere Ausgrabungen haben das Gegenteil bewiesen.
Nazaret war einfach zu unbedeutend. Es lag abseits der großen Straßen und Städte. Für die Leute in den Zentren des Landes waren die Menschen aus Dörfern wie Nazaret nur die »am-ha-aretz«, die gewöhnlichen Leute vom Lande. Hinzu kam, dass man in diesem Teil Galiläas einen starken Akzent sprach, der überall gleich auffiel und über den man sich schnell lustig machte. Wer im ländlichen Galiläa lebte, der war eben ein Hinterwäldler. Und wer aus Nazaret kam, der galt den Stadtbewohnern nur als schlichter Bauerntölpel. »Aus Nazaret zu kommen«, so meinte der französische Historiker Robert Aron, »heißt bei ihnen so viel wie aus Hintertupfing stammen.«24
Ausgrabungen in neuerer Zeit haben belegt, dass Nazaret ein schlichtes Bauerndorf war, ohne jeden Luxus oder Komfort. Die Archäologen stießen weder auf Steinfußböden noch auf Dachziegel und schon gar nicht auf Mosaike oder Fresken. Viele Wohnungen waren in den Felsen gehauene Höhlen, die man mit großen Steinen verschloss. Im Sommer war es hier angenehm kühl und im feuchtkalten Winter trocken. Im hinteren Teil dieser Grotten wurden Schafe, Ziegen, Esel und Hühner gehalten. Im vorderen Teil befand sich die Kochstelle, damit der Rauch durch die schmale Tür abziehen konnte. Eine etwas erhöhte Fläche war sozusagen das Wohn- und Schlafzimmer, wo die Menschen sich bei Hitze oder Regen aufhielten und wo sie sich nachts hinlegten. Die Einrichtung war denkbar einfach. Im Felsboden Löcher für die Vorräte. In den Wänden Nischen für die Öllampen und Leuchter. Neben der Kochstelle stand eine Handmühle aus zwei runden Steinen, um frisches Mehl zu bereiten. Zum Schlafen legten sich die Bewohner auf einfache Matten, die tagsüber zusammengerollt in der Ecke verstaut wurden.25
Viele dieser Wohnhöhlen hatten auch einen Vorbau, ein einfaches Haus aus Feldsteinen, in dem es luftiger und heller war als in den Grotten. Diese Vorhäuser hatten ein Flachdach aus Balken mit einer dicken Lage Stroh darauf. Im Sommer konnte man mit einer Leiter auf das Dach steigen, um dort Wäsche oder Früchte zu trocknen oder um darauf in warmen Nächten zu schlafen.
Die Wohnhöhle und das Haus davor waren meist der Lebensraum für eine große Hausgemeinschaft. Erwachsene, Kinder und Tiere lebten hier auf engstem Raum zusammen. Auch die Familie von Jesus dürfte in Nazaret so gelebt haben. An mehreren Stellen im Neuen Testament ist davon die Rede, dass Jesus mehrere Geschwister hatte. Bis heute gibt es einen Streit darüber, ob nun leibliche Brüder und Schwestern gemeint sind oder nur Verwandte oder Kinder aus der ersten Ehe von Josef. Dieser Streit hat natürlich theologische Hintergründe. Besonders die katholische und die orthodoxe Kirchen halten daran fest, dass Maria zeit ihres Lebens Jungfrau war und darum nach Jesus keine weiteren Kinder mehr zur Welt brachte. Wie gesagt, man sollte bei solchen Fragen sehr vorsichtig sein und religiöse Aussagen nicht ins Biologische übersetzen, sonst kommt man in Teufels Küche und muss die Wirklichkeit nach dogmatischen Vorgaben zurechtbiegen.
Halten wir uns also lieber an die Sitten und Gebräuche zu Jesu Zeiten. Und da war es nicht nur normal, sondern es wurde erwartet, dass eine junge Frau wie Maria viele Kinder bekam. Der Evangelist Markus nennt Jakobus, Joses, Judas und Simon als Brüder Jesu. Die Schwestern nennt er nicht beim Namen, was auch zeitgemäß ist, weil damals in jüdischen Familien Mädchen nicht sehr viel zählten. (Mk 6,3)
Jesus war der Älteste unter seinen Geschwistern, der »Erstgeborene«, wie man sagte. Als solcher wird er schon früh seinem Vater zur Hand gegangen sein. Josef war ein »tekton«, so heißt es in der griechischen Fassung der Bibel, was meistens mit »Zimmermann« übersetzt wird. Zutreffender wäre es aber, wenn man Josef einen Bauhandwerker nennen würde, denn er hat nicht nur Holz verarbeitet, sondern auch Stein und Metall. Als Schreiner hat er Pflüge oder Dreschschlitten gefertigt oder die Dachbalken für die Häuser gehobelt. Daneben hat er auch die für die Gegend typischen, würfelförmigen Hütten gebaut oder erneuert, Zisternen abgedichtet oder Wohngrotten vergrößert. Diese Arbeiten verlangten viel handwerkliches Geschick und viel Kraft. Vielleicht hängt damit zusammen, dass Josef in Jesus’ späteren Jahren nicht mehr erwähnt wird. Mag sein, dass er aufgrund seiner anstrengenden Arbeit nicht sehr alt geworden und früh gestorben ist.
Als sicher gilt jedenfalls, dass Josef sein Handwerk an seinen Sohn Jesus weitergegeben hat. Nicht nur, weil er mit Jesus einen Helfer in seiner Werkstatt hatte. Nach jüdischem Glauben war es die Pflicht eines Vaters, dafür zu sorgen, dass die Söhne ein Handwerk erlernten. »Wer seinem Sohn kein Handwerk beibringt«, so heißt es im Talmud, dem jüdischen Wegweiser religiösen Lebens, »der ist wie einer, der ihn zum Straßenräuber erzieht.« Abgesehen davon genoss ein Handwerker in der jüdischen Welt hohes Ansehen und brauchte sich nicht vor den gelehrten Schriftkennern zu verstecken. Im Gegenteil, auch für berühmte Gelehrte war es ehrenhaft und selbstverständlich, einen Brotberuf zu haben. Manche waren Holzfäller oder Bäcker. Der spätere Apostel Paulus, ein hochgebildeter Schriftkenner, verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Zeltmacher.
Hand in Hand mit der handwerklichen Ausbildung ging die religiöse Erziehung, gemäß dem Leitsatz, dass man ein Kind mit der Thora mästen muss, wie man den Ochsen im Stall mästet. Das Gesetz schrieb auch vor, dass ein Kind seine ersten Unterweisungen im Elternhaus erhalten soll. Das war in erster Linie die Aufgabe des Vaters. Von seinem Vater Josef wird auch Jesus gelernt haben, dass es nur einen Gott gibt, Jahwe, und nicht viele Götter, wie die Heiden es glauben, und dass dieser Gott seinem Volk Gesetze gegeben hat. Wie jeder Jude war Josef stolz auf das Gesetz. Er empfand es nicht als Last, sondern als eine Gabe, denn die sechshundertdreizehn Gebote des Alten Testaments waren der Weg zum Heil.
Allerdings waren Josef und seine Familie einfache Leute, die die Vielzahl der Gesetze nicht so streng einhalten konnten wie die Pharisäer. Jesus wird aber gelernt haben, die wichtigsten Gebete zu sprechen, die Sabbatruhe und die Reinheitsvorschriften einzuhalten. Und er wird erfahren haben, auf was für eine lange Geschichte das Volk Israel zurückschauen konnte und wie Gott immer wieder seine Treue zu diesem Volk bewiesen hatte. Vor allem damals, als die Israeliten Knechte des Pharaos in Ägypten waren und Gott sie mit mächtiger Hand aus der Gefangenschaft befreit und in das gesegnete Land geführt hatte.
Wie alle Kinder in diesem Alter, kam Jesus mit fünf Jahren in die Schule, das heißt, er ging in die Synagoge, die es in jeder Gemeinde in Palästina gab, auch wenn sie noch so klein war. Die Synagoge war keine Kirche und kein Tempel, sie war eher ein Versammlungsraum, wo die Gläubigen zusammenkamen, um zu beten oder die Schriften zu studieren. Die Synagoge in Nazaret war kein prunkvoller Bau, sondern ein schlichtes rechteckiges Gebäude, dessen Eingang nach Süden wies, nach Jerusalem. Mittelpunkt des Raumes war eine hölzerne Lade, der Thoraschrein, in der die Schriftrollen verwahrt wurden. Davor stand ein Pult, an dem bei den Gottesdiensten aus den Schriften vorgelesen wurde.
Die Synagoge war zugleich auch Schulhaus für die Kinder oder, genauer gesagt, für die Jungen, denn Mädchen und Frauen waren vom Unterricht ausgeschlossen. »Besser, das Gesetz geht in Flammen auf, als dass es in die Hände von Frauen gerät«, war ein Spruch, der viel über die Stellung der Frau in der damaligen jüdischen Welt aussagt. Es waren also die Jungen des Dorfes, die auf dem Boden im Kreis um den Lehrer saßen und in der Thora unterrichtet wurden, indem sie im Chor laut die Sätze wiederholten, die der Lehrer vorsprach.
In welcher Sprache? Die Muttersprache von Jesus war Aramäisch. Teile der Thora waren auch in diese Sprache übersetzt, aber ursprünglich war sie in hebräischer Sprache verfasst. Es ist wahrscheinlich, dass Jesus in der Schule auch Hebräisch lernte, jedenfalls die Grundlagen. Bei seiner religiösen Volljährigkeit, der Bar Mizwa, musste er aus der hebräischen Thora vorlesen. Als Erwachsener bewies Jesus oft, wie gründlich er sich in der Bibel auskannte. Er war nie Schüler eines berühmten Lehrers gewesen, alles, was er wusste, hatte er in der Synagoge in Nazaret gelernt oder es sich selber beigebracht. Wenn später die Leute miterlebten, wie Jesus die Heiligen Schriften auslegte, waren sie so beeindruckt, dass sie ihn mit »Rabbi« anredeten, obwohl er kein Schriftgelehrter war, sondern Jesus aus Nazaret, der »Sohn des Zimmermanns«.
Jesus verbrachte seine Kindheit und Jugend in der kleinen Welt seines Heimatdorfes. Doch obwohl Nazaret abgelegen lag, war es doch nicht aus der Welt. Die Zeiten waren unruhig, und von den Machtkämpfen, die sich in Jerusalem zutrugen, blieb auch das ferne Galiläa nicht unberührt. Wenn Jesus auf die nahen Berghügel stieg, hatte er einen weiten Blick ins Land und konnte bis zur nur wenige Kilometer entfernten Stadt Sepphoris sehen, wo inzwischen Antipas, ein Sohn Herodes’ des Großen, residierte. Antipas hatte Sepphoris wieder aufbauen lassen, nachdem es völlig zerstört worden war. Der von der brennenden Stadt rot gefärbte Himmel muss weithin sichtbar gewesen sein. Und die Nachrichten von den schrecklichen Ereignissen in dieser Stadt waren sicher bis nach Nazaret gedrungen. Vielleicht waren auch Leute aus Nazaret bei den Kämpfen ums Leben gekommen oder es hatten sich Flüchtende hier versteckt.
Die Unruhen waren nach Herodes’ Tod ausgebrochen, als keiner wusste, wer Palästina in Zukunft regieren würde. Die drei noch lebenden Söhne, Archelaus, Antipas und Philippus, beanspruchten das Erbe des Vaters. Während Archelaus und Antipas nach Rom eilten, um sich die Gunst des Kaisers zu sichern, kam es in Jerusalem zu einem blutigen Aufstand der Juden gegen die verhassten Besatzer. Die Römer griffen hart durch. Sie zerstörten viele Bauwerke und raubten den Tempelschatz. Viele Juden sahen nun in diesem Machtvakuum die Stunde gekommen, endlich die »Freiheit der Väter« wiederzugewinnen.26 Im ganzen Herodesreich scharten sich Freiheitskämpfer zusammen, um die Römer endgültig aus dem Land zu werfen. In Sepphoris in Galiläa war es ein Mann namens Judas, dessen Vater schon gegen Herodes gekämpft hatte, der einen Haufen Leute um sich sammelte. Sie erstürmten die königlichen Waffenlager, zogen als bewaffnete Freischärler durchs Land und verbreiteten Angst und Schrecken.
Der Finanzverwalter Sabinus, der vom Kaiser nach Jerusalem geschickt worden war, um bis zur geklärten Machtfrage die Schätze des Herodes zu sichern, rief den Statthalter von Syrien, Publius Quinctilius Varus, zu Hilfe. Varus zog mit zwei Legionen Richtung Jerusalem. Ein Teil des Heeres eroberte Sepphoris. Die Stadt wurde in Brand gesteckt und die Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft. Nachdem Varus auch in Jerusalem den Aufstand niedergeschlagen hatte, ließ er seine Soldaten in Richtung Norden ausschwärmen, um wie mit einem Netz alle Rebellen einzufangen. Die Soldaten durchkämmten die Dörfer, durchsuchten jedes Haus und nahmen jeden fest, der ihnen auch nur ein wenig verdächtig vorkam. Mit den Gefangenen machten sie kurzen Prozess und schlugen sie ans Kreuz. Nach glaubwürdigen Schätzungen standen an den Wegen auf den Hügeln und in den Tälern Judäas und Galiläas an die zweitausend Kreuze. Damit war die »Pax Romana«, der römische Frieden, wiederhergestellt.
Kaiser Augustus in Rom fällte im Streit um die Zukunft Palästinas eine salomonische Entscheidung. Er teilte das Reich unter den drei Herodessöhnen auf. Archelaus wurde zum Herrscher über Judäa, Samaria und Idumäa ernannt. Philippus wurden die Gebiete im Nordosten zugesprochen. Und Antipas, der sich nun auch Herodes nannte, erhielt die Regionen östlich des Jordans, Galiläa und Peräa. Antipas baute das zerstörte Sepphoris wieder auf, siedelte Tausende Menschen hier an und machte die Stadt zu seiner Residenz.
Nur eine Stunde Fußmarsch von Nazaret entfernt entstand eine neue Stadt. Und das dürfte auch für den Zimmermann Josef ein Segen gewesen sein. Handwerker wie er wurden dringend gesucht und er hat sich diese Einnahmequelle wohl kaum entgehen lassen. Ob er auch seinen ältesten Sohn nach Sepphoris mitgenommen hat? Dann hätte das Landei Jesus auch einmal eine Stadt gesehen, in der es Tempel, riesige Marktplätze und ein Theater gab.
War Jesus ein ganz normaler Junge oder war etwas Besonderes an ihm? Verhielt er sich manchmal merkwürdig? Oder war er irgendwie anders als seine Geschwister und die anderen Kinder im Dorf? Später haben sich Gelehrte darüber gestritten, ob Jesus eine Entwicklung durchgemacht hat oder nicht. Manche hielten das für undenkbar, weil er doch von Anfang an Gottes Sohn gewesen sei und eine Entwicklung nur jemand brauche, der noch nicht fertig, unvollkommen ist.
Der Philosoph und Theologe Romano Guardini meinte, dass man auch bei Jesus nicht vor dem Gedanken einer Entwicklung zurückschrecken soll.27 Denn auch diese Eigenschaft gehöre zum »wahren Menschen«. Und ein Mensch, der keine Krisen, Kämpfe, Stürze und Aufstiege erlebt, in dessen Leben fehlt nach Guardini etwas. Allerdings warnt er davor, Jesus psychologisch zu betrachten, als wäre er nur ein Mensch gewesen. Entwicklung ist bei Jesus anders zu verstehen, eher in dem Sinne, dass etwas in ihm angelegt war, das mit der Zeit immer stärker und deutlicher wurde. Ganz in dem Sinne, wie der Evangelist Lukas es beschreibt: »Das Kind wuchs heran und wurde kräftig; Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm.«