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DER GOLDENE ÜBERFLUSS
Jesus' Worte scheinen nicht allzu oft auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Enttäuscht und verärgert war er darüber, dass er auch in der Gegend um Kafarnaum, die eigentlich seine neue Heimat war, nicht den ersehnten Erfolg hatte. Bei den Bewohnern der Nachbarorte Chorazin und Betsaida war er auf taube Ohren gestoßen, obwohl er dort viele Wunder vollbracht hatte. Und auch Kafarnaum selbst nahm er nicht von seiner Schelte aus: Die Leute dort sollten sich nicht einbilden, besser zu sein als ihre Nachbarn, meinte er sinngemäß. (Mt 11, 20-24) Offenbar hörten ihm die Menschen dort fasziniert, betroffen und manchmal schockiert zu, sie waren dankbar, wenn sie von ihren Leiden befreit wurden, aber auf die innere Umkehr, die er sich bei ihnen erhoffte, wartete er oft vergebens.
Jesus erging es wie dem Mann in einem seiner Gleichnisse, der ein großes Festmahl veranstaltet. (Lk 14, 15-24) Jeder der geladenen Gäste hat eine andere Ausrede, um nicht zu kommen. Der eine hat gerade einen Acker gekauft, den er besichtigen muss. Der andere hat vor Kurzem geheiratet und darum keine Zeit. Der Gastgeber ist über die undankbaren Gäste so wütend, dass er seine Diener auf die Straße schickt, um Arme, Krüppel, Blinde und Lahme in sein Haus zu bitten. Die Kranken und Ausgestoßenen vom Rand der Gesellschaft sind nun die Festgäste, von den ursprünglich Eingeladenen will der Hausherr nichts mehr wissen.
War es die Enttäuschung über die Misserfolge in seinem Heimatland Galiläa, die Jesus dazu bewegte, wieder nach Jerusalem zu gehen? Oder wurde der Boden in der Gegend um den See Gennesaret zu heiß? War es eine Frage der Zeit, bis Herodes Antipas ihn festnehmen ließ und ihm dasselbe Schicksal drohte wie Johannes dem Täufer? Oder wollte Jesus nur wie jedes Jahr am Passahfest im Tempel teilnehmen? Jedenfalls wusste er, dass er sich in große Gefahr begab, wenn er in Judäa auftauchte. Die religiösen Führer der Juden hatten längst beschlossen, ihn zu beseitigen. Und dass die Römer kurzen Prozess machten mit jedem, der auch nur im Verdacht stand, die öffentliche Ordnung zu stören, dafür gab es genügend Beispiele.
Seinen Jüngern gegenüber hat Jesus öfter davon gesprochen, dass er leiden müsse und ihm ein schreckliches Ende bevorstehe. Simon Petrus, der unter den Jüngern als Sprecher auftrat, hat das nicht wahrhaben und seinen Herrn davor bewahren wollen. Er war deshalb von Jesus scharf zurückgewiesen worden. Ihm stand klar vor Augen, was ihm drohte. Aber er wollte dieser Gefahr nicht ausweichen. Das heißt nicht, dass Jesus einem göttlichen Plan folgte. Er suchte auch nicht das Leid und schon gar nicht war er todessüchtig. Im Gegenteil. Er wollte an seiner lebensbejahenden und befreienden Botschaft festhalten und sein Verhalten nicht ändern. Aber wenn er das tat, brachte es ihn in tödliche Feindschaft zu seinen Gegnern. Das war ein Konflikt, der unvermeidbar und vorhersehbar war. Früher oder später musste dieser Konflikt ausgetragen werden. Und dass es für ihn kein gutes Ende geben würde, das stand für Jesus fest. Wollte er eine Entscheidung herbeiführen, indem er in die Höhle des Löwen, nach Jerusalem ging?
Im Frühjahr des Jahres 30 wanderten Jesus und seine Begleiter durch den Jordangraben. Am Ende des dritten Tages kamen sie nach Jericho, jene uralte Oasenstadt, die Herodes der Große zu einem luxuriösen Badeort mit Amphitheater, Pferderennbahn und künstlichen Seen ausgebaut hatte. Die Stadt war voll von Pilgern, die frühzeitig zum Passahfest nach Jerusalem wollten, um vorher die gebotenen Reinigungen vorzunehmen. Das Gedränge in den Gassen war groß, und wo Jesus mit seinem Anhang vorüberkam, bildeten sich Trauben von Schaulustigen, die einen Blick werfen wollten auf den Mann aus Nazaret, über den so viele Geschichten im Umlauf waren.
Als Jesus an einem Maulbeerbaum vorbeiging, sah er in den Zweigen einen Mann, der neugierig zu ihm hinunterspähte. (Lk 19, 1-10) Es war der Oberzöllner Zachäus, der auch schon viel von Jesus gehört hatte und ihn unbedingt sehen wollte. Weil Zachäus sehr klein war, war er auf die Idee gekommen, auf den Baum zu steigen, um eine bessere Sicht zu haben. Als Jesus ihn bemerkte, rief er zu ihm hoch: »Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.« Man kann sich vorstellen, wie der kleine, gut genährte Zöllner hastig vom Baum kletterte. Er war überglücklich, dass der bekannte Rabbi gerade bei ihm einkehren wollte. Die bösen Zungen blieben natürlich nicht aus. Dass Jesus in das Haus eines verhassten Zöllners ging, bestätigte wieder all jene, die ihn für einen gottlosen Hochstapler hielten.
Am nächsten Morgen brachen Jesus und sein Gefolge auf zur letzten Etappe nach Jerusalem, das 25 Kilometer von Jericho entfernt war. Im Strom der Pilger wanderten sie durch die tief eingeschnittene Schlucht des Wadi Qelt hinauf zum Wüstengebirge Judäas. Am Ende des anstrengenden und gefährlichen Weges erreichten sie einen Ort vor den Toren der Heiligen Stadt, der wie die Taufstelle am Jordan auch Betanien hieß. Hier hatte Jesus viele gute Freunde wie Lazarus und dessen Schwestern Maria und Marta, bei denen er während der Festtage, die in sechs Tagen beginnen sollten, eine Bleibe fand.
In Betanien lebte auch ein Mann namens Simon, der vermutlich ein Pharisäer war. So schlecht Jesus auf die Pharisäer zu sprechen war – immer wieder warnte er vor ihrer Verlogenheit und Doppelzüngigkeit –, so scherte er doch nicht alle über einen Kamm, sondern urteilte von Person zu Person. Simon hatte er von seiner Krankheit, dem Aussatz geheilt, und seitdem waren sie freundschaftlich verbunden. Als Simon hörte, dass Jesus sich in Betanien aufhielt, war er so erfreut, dass er ihn und seine Freunde zu einem großen Festessen einlud. (Mt 26, 6-13 parr) Lazarus saß mit am Tisch, und sicher wurde auch über ein Ereignis gesprochen, das immer noch in aller Munde war und weit über Betanien hinaus für Aufsehen gesorgt hatte.
Der Evangelist Johannes erzählt, dass Lazarus schwer erkrankt war und Maria und Marta eine Nachricht an Jesus gesandt hatten, damit er komme und ihren Bruder heile. Doch als Jesus in Betanien ankam, war Lazarus schon gestorben und in einer Felsenhöhle begraben. Doch Jesus hat ihn wieder zum Leben erweckt. (Joh 11, 1-44)
Nun sitzt Lazarus am Tisch im Haus des Simon und feiert fröhlich mit den anderen Gästen. Aber natürlich ist er kein Zombie, kein lebender Toter. Was sich genau im Hause des Lazarus ereignet hat, das lässt sich nicht mehr sagen. Aber die Bibel gibt zahlreiche Hinweise dafür, was unter Tod und Auferstehung zu verstehen ist. Der Schlüssel liegt dabei im Begriff der Sünde. Tod und Sünde gehören zusammen.85 Sünde bedeutet die Trennung von Gott und damit für jeden Menschen den Verlust seiner Ganzheit. Diese Trennung bewirkt auch, dass der Tod als das absolute Ende erscheint. Dieses Ende ist nicht wie der Schluss eines Buches oder eines Films, sondern das Bewusstsein davon durchzieht das ganze Leben, das nun wie von einem Stachel angetrieben wird auf dieses Ende zu. Erst wenn der Tod einen Sinn erhält und nicht mehr das Ende ist, wird auch das Leben ein ganz anderes.
Man könnte auch sagen, dass die Sünde darin besteht, dass ein Mensch mit sich selbst entzweit ist. Und das heißt, Leben bedeutet für ihn nur noch Überleben. Er ist nur noch auf Tatsachen fixiert, von den Sorgen um seinen Beruf, die Familie und die Zukunft wird er schier erdrückt. Danach zu fragen, was für einen Sinn das Ganze haben soll, hat er längst aufgegeben. Wodurch er diesen Sinn finden kann, was also seine »Wiedergeburt« oder Auferstehung bewirkt, ist die Liebe. So heißt es an einer Stelle im Neuen Testament: »Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod.« (1 Joh 3, 14)
War es also Jesus’ Liebe, die Lazarus gerettet hat? Jedenfalls war es sozusagen ein geistiges Erdbeben, das Lazarus in seiner ganzen Existenz getroffen und erschüttert hat. Der Evangelist Johannes stand nun vor der Schwierigkeit, dieses Erlebnis irgendwie in Bildern auszudrücken und verständlich zu machen. Es erging ihm dabei wie einem Dichter, der unsichtbare Gefühle und innere Erlebnisse sichtbar und erzählbar machen muss. Fantasie wird dabei zur Kunst, die richtigen Bilder zu finden. Die Evangelisten waren Kinder ihrer Zeit. Sie waren an das Weltbild gebunden, wie es vor zweitausend Jahren bestand. Dieses Weltbild hat sich seitdem gewaltig verändert. Und wir müssen heute zu anderen Bildern und Geschichten greifen, um zu verstehen, was die Bibel uns sagen will.
Beim Festessen in Betanien geht es wohl recht locker und entspannt zu. In Jesus’ Nähe scheint es Menschen leichtgefallen zu sein, Rollenbilder abzulegen und Konventionen fallen zu lassen. Äußerst ungewöhnlich ist auch, wie sich Maria, eine der beiden Schwestern des Lazarus, benimmt. (Lk 10, 38-42) Während ihre Schwester Marta voll und ganz damit beschäftigt ist, die Gäste und vor allem Jesus zu versorgen, setzt sich Maria einfach zu ihm und hört ihm zu. Das ist ein Verhalten, wie es sich für eine jüdische Frau nicht gehörte.86 Und verständlicherweise ist Marta sauer, dass sie die ganze Arbeit alleine machen soll. Sie wendet sich an Jesus und fordert ihn auf, Maria zu sagen, dass sie ihr helfen solle. Wider Erwarten nimmt Jesus jedoch Maria in Schutz und kritisiert Marta. »Marta, Marta«, sagt er – und man darf hier einen liebevoll tadelnden und neckischen Ton hinzudenken –, »du machst dir viele Sorgen und Mühen.«
Marta hätte sich eigentlich denken können, dass Jesus so reagiert. Auch in anderen Situationen hat er deutlich gemacht, dass es ihm wichtiger ist, wenn Leute mit ihm zusammen sein wollen, statt dass sie irgendwelche Pflichten als Gastgeber erfüllen. Denn es ist doch ein freudiges Ereignis, dass Jesus da ist, und Marta will doch eigentlich seine Gegenwart auskosten und nicht einen anstrengenden Abend verbringen. Aber was macht sie? Sie werkelt in der Küche herum, macht Feuer, holt Wasser, bereitet das Essen, stellt Geschirr bereit.87 Offenbar will sie als tüchtige Hausfrau bewundert werden. Jesus aber wäre es lieber, wenn Marta ihren ganzen Aufwand sein lässt und sich, wie Maria, auch zu ihm setzt.
Im Johannesevangelium wird von einem zweiten Zwischenfall an diesem Abend in Betanien erzählt, bei dem wieder Maria im Mittelpunkt steht. Sie ist es, die Jesus mit einer äußerst kostbaren und wohlriechenden Nardensalbe einreibt. Nun ist es nicht Marta, die sich darüber aufregt. Es ist einer der Jünger namens Judas Ischarioth, der das für eine unverzeihliche Verschwendung hält. Er hätte es für richtiger gefunden, wenn man die Salbe verkauft hätte, um das Geld den Armen zu geben.
Auch dieses Mal ist Jesus anderer Meinung und ergreift wieder Partei für Maria. Er will, dass man sie in Ruhe lässt und dass sie mit ihrer »schönen Tat« weitermacht. Und das Argument mit den Armen lässt er nicht gelten. »Denn die Armen habt ihr allezeit bei euch«, meint er, »mich aber habt ihr nicht allezeit.«
Mancher wird verblüfft gewesen sein über diese Worte. Denn sie passen so gar nicht zu dem Bild von Jesus, der Entbehrung und Armut predigt, der seine Jünger aussandte und ihnen verbot, mehr mitzunehmen als einen Rock, einen Stab und Sandalen. (Mk 6, 8-9) Im Hause des Simon begegnet man einem Jesus, der den Augenblick genießt, der ganz präsent ist, der den Luxus, die »schöne Tat« und das Überflüssige verteidigt und nicht gleich danach fragt, ob damit die Not der Welt beseitigt wird. Jenseits der Frage, ob eine Tat sinnvoll und nützlich ist, öffnet Jesus den Blick für das Zwecklose, für das, was der Dichter Gottfried Keller den »goldenen Überfluss der Welt«88 genannt hat.
In diesem Überfluss spiegelt sich für Jesus auch die Güte Gottes, die sich verströmt wie das Licht der Sonne, die aufgeht über Gut und Böse, die niemand sich verdienen und niemand herbeizwingen kann. Und nur, wer an diese grundlose und maßlose Güte Gottes glaubt, der wird auch selber fähig sein, absichtslos Gutes zu tun, ohne Hintergedanken und ohne Dank und Beifall zu erwarten. Und nur, wer so handeln kann, der kann auch verstehen, was in den Evangelien mit Tod und Auferstehung gemeint ist.
In Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow ist es eine vornehme Dame, die dem greisen Mönch Sosima gesteht, dass sie nicht mehr an ein Leben nach dem Tod glaubt. Sie liebt zwar die Menschheit, aber sich um einen einzelnen Menschen zu kümmern, das schafft sie nicht, weil sie dessen Launen nicht erträgt und für ihre Mühe gelobt und belohnt werden will. Für den Mönch Sosima können die Zweifel der Dame nicht durch Worte und Beweise überwunden werden, sondern nur, indem sie ihrem Nächsten mit selbstloser Liebe begegnet. »Geben Sie sich Mühe«, so rät er der Frau, »Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben. In dem Maße, wie Sie Fortschritte machen in der Liebe, werden Sie sich vom Dasein Gottes überzeugen wie auch von der Unsterblichkeit der Seele.«89
In den Tagen vor dem Passahfest ist Jerusalem im Ausnahmezustand. Die Atmosphäre ist angespannt. Die Angst vor Unruhen liegt in der Luft. Von überall her strömen die Pilger in die überfüllte Stadt. Vor den Mauern lagern die Menschen in Zelten. Unter den Pilgern, die fröhlich singend vom Ölberg hinab ins Kidrontal wandern und von dort hinaufsteigen zu den Toren der Heiligen Stadt, ist auch Jesus mit seinen Jüngern. Jesus reitet auf einem Esel. Das ist eine Geste der Demut. Kein Vergleich zu Pontius Pilatus, der ansonsten in Caesarea residiert und wie jedes Jahr an den Festtagen mit seinen Truppen in Jerusalem einzieht. Jesus’ Begleiter rufen laut »Hosanna!« und schwenken Palmzweige. Aber in dem ganzen Trubel, inmitten der singenden und jubelnden Menschen, fällt das nicht besonders auf.
Im Tempel ist Jesus ein gefragter Mann. Jüdische Männer aus Griechenland wollen ihn unbedingt kennenlernen und mit ihm sprechen. Aber vor allem sind es die religiösen Führer des Volkes, Priester und Schriftgelehrte, die sich ihm in den Weg stellen und ihn in Streitgespräche verwickeln. Immer wieder geht es um die Frage, woher Jesus das Recht nimmt, im Namen Gottes zu sprechen und zu handeln. Die Fragesteller wollen Jesus in die Enge treiben und ihn der Gotteslästerung überführen. Mit den Schriftgelehrten verbündet haben sich die Anhänger der Nachkommen des Königs Herodes, Herodianer genannt. Sie vertreten eine romfreundliche Politik und befürchten Unruhen, wenn die Menge eine charismatische Figur wie Jesus zum Messias ausruft.
Eine Gruppe von Pharisäern und Herodianern ist es dann auch, die im Tempelvorhof auf Jesus zukommt. Die Männer tragen lange, wallende Gewänder und rühmen zunächst Jesus’ Weisheit. Doch dann stellen sie eine Frage, die es in sich hat: »Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuern zu zahlen oder nicht?« (Mat 22, 15-22 parr). Diese Frage ist natürlich eine Falle, eine ziemlich perfide Falle. Denn egal, wie Jesus antwortet, liefert er einen Grund, gegen ihn vorzugehen. Sagt er Ja, dann gilt er beim Volk als Verräter, der die Gesetze der Römer akzeptiert. Sagt er Nein, dann wahrt er zwar beim Volk sein Ansehen, macht sich aber in den Augen der römischen Besatzer zum Aufwiegler.
Wie sich Jesus aus dieser Zwickmühle befreit, das spricht für seine souveräne Gelassenheit, für seinen Humor und für sein schauspielerisches Talent. Denn zunächst bittet er seine Gegner, ihm einen Denar zu geben, so als hätte er diese kleine römische Silbermünze noch nie gesehen. Mit gespielter Naivität fragt er dann auch noch, wer auf dem Geldstück abgebildet ist und was für eine Aufschrift es trägt. Natürlich weiß Jesus, dass auf der Vorderseite des Denars das lorbeergeschmückte Brustbild des Kaisers Tiberius zu sehen ist. Und der umlaufende Text lautet: »Kaiser Tiberius, der verehrungswürdige Sohn des göttlichen Augustus«.90
Eine Münze mit diesem Bild und dieser Inschrift ist für einen gläubigen Juden wie ein Schlag ins Gesicht und eine ständige Provokation. Indem Jesus in vorgeblicher Ahnungslosigkeit seine Widersacher dazu bringt, ihm die verpönte Münze zu zeigen, dreht er den Spieß um und konfrontiert sie mit den Tatsachen. Denn die Pharisäer und Herodianer tragen den »Zinsgroschen« in ihren eigenen Taschen, benutzen also dieses Geld und geben damit zu, dass sie sich schon längst mit der römischen Herrschaft arrangiert haben. Die Frage für Jesus ist nur, wie man sich in dieser Situation verhält. Und darauf gibt er die einfache und zugleich geniale Antwort: »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!«
Jesus spricht sich mit dieser Antwort nicht dafür aus, Politik von Religion zu trennen. Ihm geht es darum, die Bedeutung von Politik und Wirtschaft zu relativieren. Der Kaiser hat Macht und die Menschen müssen sich dieser Macht bis zu einem gewissen Grad beugen. Ebenso profitieren Menschen von politischen Maßnahmen und sollen den Forderungen, die daraus an sie entstehen, auch nachkommen. Aber dieser Einfluss und diese Forderungen dürfen nie so weit gehen, dass ein Machthaber oder Politiker totale Macht über Menschen gewinnt. Und umgekehrt dürfen Menschen vor politischen Gewalten nie so viel Angst oder Respekt haben, dass sie sich ihnen total ausliefern. So wie in die römische Münze das Bild des Kaisers eingeprägt ist, so sollte in das Herz eines jeden Menschen das Bild Gottes eingesenkt sein. Darin bestehen die unvergleichliche Würde eines jeden Menschen und seine Freiheit, die ihn gegenüber allen weltlichen Mächten unabhängig macht. Der Mensch gehört Gott und niemandem und nichts sonst, und das macht ihn frei.
Diese Freiheit bewahrt die Menschen aber auch davor, ihre Fähigkeiten zu überschätzen und Ziele anzustreben, die sie Gott überlassen sollten. Ein Politiker soll mit Kompromissen für möglichst friedliche Verhältnisse sorgen, aber er soll nicht das Paradies auf Erden herstellen. Ein Arzt sollte Krankheiten heilen und nicht Seelen retten. Und ein Jurist sollte nach bestem Wissen und Gewissen Recht sprechen, aber nicht das Jüngste Gericht vollstrecken. Auch das heißt es, dem Kaiser zu geben, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört.
In den Gesprächen mit den Schriftgelehrten lässt sich Jesus nicht in eine Falle locken. Meistens müssen seine Widersacher beschämt oder ratlos wieder abziehen. Dessen ungeachtet ist das Urteil über Jesus längst gefällt. Die Frage ist nur noch, wann und wie man ihn beseitigt. Die Mitglieder des Hohen Rates, der höchsten geistlichen Behörde, versammeln sich im Haus des Hohepriesters Kaiphas und beschließen, die Sache nun möglichst schnell und heimlich zu erledigen. Auf alle Fälle soll das noch vor dem Passahfest geschehen, um keine Unruhen auszulösen. Ebenso will man auffällige Razzien vermeiden.
In ihren Plänen kommt den Männern des Hohen Rates das Angebot eines Mannes sehr gelegen, der seine Hilfe anbietet, um Jesus unauffällig festzunehmen. Es ist jener Judas, der zum engsten Kreis der Leute um den Mann aus Nazaret gehört. Warum dieser Judas seinen Meister ausliefern will, das interessiert die geistlichen Führer nicht. Für sie ist er eben ein nützlicher Handlanger, der für seine Dienste dreißig Silberstücke erhält.
Judas, der aus Karioth stammt und darum Judas Ischarioth genannt wird, ist eine schwer zu durchschauende Gestalt. Zu leicht macht man es sich aber, wenn man ihn nur als Verräter sieht. Judas war ein gesetzestreuer Jude und ein glühender Patriot. Er hat alle seine Hoffnungen in Jesus gelegt. Von ihm hat er erwartet, dass er sich an die Spitze einer Bewegung stellt, um endlich die heidnischen Römer aus dem Land zu verjagen. Dass Jesus solche Pläne von sich gewiesen hat und also passiv geblieben ist, das hat Judas noch verzweifelter und ungeduldiger gemacht. Mit seiner Aktion hat er sicher nicht beabsichtigt, Jesus ans Messer zu liefern. Wahrscheinlicher ist, dass er die Gefahr für Jesus auf die Spitze treiben wollte, um ihn zum Handeln zu zwingen. Judas wollte, dass Jesus endlich der Messias wird, den er sich immer ersehnt hat.
Tagsüber hielt sich Jesus in Jerusalem auf, abends kehrte er zu seinem Quartier nach Betanien zurück. Zwei Tage vor dem Fest, am dreizehnten Tag des jüdischen Monats Nisan, schickte er zwei Jünger, Petrus und Johannes, voraus, damit sie in Jerusalem einen Raum anmieten, in dem Jesus mit seinen Jüngern ein gemeinsames Festmahl feiern wollte. Ob dieses »Abendmahl« ein traditionelles Passahmahl war, ist bis heute umstritten. Für diese Annahme spricht, dass dieses Festmahl in Jerusalem stattfand. Das Passahmahl durfte nicht außerhalb der Heiligen Stadt abgehalten werden, und auch die darauf folgende Nacht musste man dort verbringen. Die beiden Jünger fanden in der überfüllten Stadt tatsächlich ein geeignetes Zimmer im Obergeschoss einer Herberge und bereiteten alles vor. Abends kam Jesus mit den übrigen Jüngern nach.
Die Männer liegen auf Polstern an einem niedrigen Tisch, auf dem der Wein und die Speisen aufgetragen sind, die alle eine symbolische Bedeutung haben und an die Befreiung Israels aus ägyptischer Gefangenschaft und an Gottes Bund mit seinem Volk erinnern. Das nun beginnende Essen folgt einem festgelegten Ritus. Jedes Mal, wenn vom Wein getrunken wird, spricht Jesus in seiner aramäischen Muttersprache die vorgeschriebenen Gebete. Doch er fügt den überlieferten Texten etwas Neues hinzu. Als er das ungesäuerte Brot, die Matze, austeilt, sagt er: »Nehmt und esst; das ist mein Leib.« Und als er den Kelch mit dem Wein herumreicht, sagt er: »Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.« (Mt 26, 26-29)
Jesus erinnert an den alten Bund, den Gott nach dem Auszug aus Ägypten mit seinem Volk geschlossen hat, und gleichzeitig will er einen neuen Bund schließen, mit seinen Jüngern und mit allen Menschen. Was ist das aber für ein neuer Bund?
Der alte Bund wurde geschlossen, als Mose auf dem Berg Sinai von Gott die Zehn Gebote erhielt und mit den auf Steintafeln geschriebenen Gesetzen zu seinem Volk zurückkehrte. Der neue Bund gründet sich nicht mehr auf Gebote und Gesetze, die von außen her im Namen Gottes den Menschen vorschreiben, was gut und böse ist. Dieser neue Bund besteht darin, dass Gott den Menschen ganz innerlich wird. Sein Geist ist ihnen wie »ins Herz geschrieben« (Röm 2, 15). Er wird zu der befreienden und tragenden Kraft, wie sie Jesus bei der Taufe am Jordan erfahren hat. Dieser Vorgang ist freilich ein geistiger und lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Schon eher lässt er sich ganz sinnlich nachvollziehen in der Art, wie Jesus beim letzten Abendmahl handelt: So wie wir Brot essen und in uns aufnehmen und wie wir Wein trinken und ihn uns einverleiben, so wird auch Gott ein »Gott in uns«. Und mit diesem innerlichen Gott verwandelt sich unsere ganze Existenz.
Diese Verwandlung zeigt sich auch daran, wie Gott im alten und neuen Bund handelt. Im Alten Testament tritt Gott manchmal auch zornig, ja rachsüchtig auf. Als ihm das sündhafte Treiben der Menschen zu viel wird, lässt er die Menschen in der Sintflut untergehen. Und die Bewohner der Städte Sodom und Gomorra vernichtet er im Schwefel- und Feuerregen. Im neuen Bund rächt sich Gott nicht an den Menschen, obwohl sie seine Botschaft nicht annehmen und sogar seinen Sohn umbringen wollen. Gott lässt das alles geschehen. Er durchbricht damit die ewige Spirale der Gewalt, die Abfolge von Tat und Rache, von Gewalt und Gegengewalt, die wie ein Naturgesetz die menschliche Geschichte durchzieht und scheinbar bis in alle Ewigkeit nicht gestoppt werden kann. Damit siegt die Liebe über Hass und Zorn, und das Leben über den Tod.
Über dem letzten Abendmahl hing der Schatten von Jesus' Todesahnung. Aber indem er sich in Form von Brot und Wein an seine Jünger weitergab, machte er deutlich, dass der Tod nicht das letzte Wort haben wird. Jesus würde weiterleben – in seinen Jüngern. Schon in den ersten christlichen Gemeinden begingen die Menschen ein gemeinsames Essen, um ihre Gemeinschaft zu stärken, zur Erinnerung an das letzte Abendmahl und um Jesus wieder gegenwärtig werden zu lassen. Und so ist es bis heute.
In der Wiederholung des letzten Abendmahles wird auch die Frage gestellt, wie Gottes Liebe vereinbar ist mit Jesus’ Leiden, und nach dem Sinn von Leid überhaupt. Aber diese Frage wird nicht mit Worten und Begriffen beantwortet, weil alle Worte und alle rationalen Erklärungen hier zu kurz greifen. Stattdessen wird eine Antwort gegeben durch zeichenhafte Handlungen wie dem Trinken von Wein und dem Essen einer Hostie. In solchen äußeren Verrichtungen kann ein anderes Verstehen geschehen, ein Verstehen, das einen Menschen tiefer erfasst und auch bis in seine unbewussten Bereiche hinabreicht.91
In solchen religiösen Handlungen können sich Mensch und Gott begegnen. Eine Verwandlung, wie Jesus sie gefordert und erhofft hat, wird möglich. Die unsichtbare Wirklichkeit des Göttlichen wird sinnlich erfahrbar. Das Geheimnis der göttlichen Liebe wird auf diese Weise greifbar, fassbar, sichtbar und spürbar. Und gleichzeitig kann ein Mensch durch diese festgelegte Handlung aus der Enge seines Alltags herausgerissen werden, und er entgeht der Gefahr, in den Sorgen und Pflichten seiner Lebenswelt zu versinken.92