5. Neue Horizonte
Es war bereits vier Uhr. Lange konnte es also nicht mehr
dauern, bis Istvan vor meiner Tür stehen würde. Zeit genug,
um eine Bilanz über die letzten Tage zu ziehen. So konn-
te ich mich in Gedanken beschäftigen und die Unruhe des
Wartens etwas vertreiben. Was hatte ich in den letzten bei-
den Tagen für Sünden begangen?
Ich hatte Carla belogen. Ich hatte meinen Bruder belo-
gen. Ich brachte Istvan mit einer vorgetäuschten Erpressung
dazu, sein Geheimnis zu offenbaren. Ich hatte ganze Arbeit
geleistet.
Was würde Pfarrer Martin dazu sagen, mein ältester
Freund aus Kindergartentagen? Würde er verstehen, dass
meine Verfehlungen gerechtfertigt waren? Vermutlich nicht.
Wie ich Martin kannte, und ich kannte ihn immerhin seit
zwanzig Jahren, würde er mir eine profunde Kirchenweis-
heit vor den Latz knallen wie: Das Falsche aus den richtigen
Gründen zu tun, macht es noch lange nicht richtig!
Ich würde wieder den Kopf schütteln und einen halb
ernsten Streit mit ihm anfangen, dass wir nicht in einer
schwarz-weißen Welt lebten und er versuchen solle, die
Grautöne wahrzunehmen. Er würde mir widersprechen und
mich zu liberal nennen. Verärgert über seine religiöse Ver-
bohrtheit würde ich das Weite suchen. So war es zwischen
uns, seit er die Weihe erhalten hatte. Ich kam einfach nicht
damit klar, dass mein ältester Freund ein Mann der Kirche
geworden war – Pfarrer Heidt. Deshalb sahen wir uns auch
so selten. Er war nach der Schule auf das Priesterseminar
gegangen und ich ging zur Uni. Wir trafen einander kaum
noch, obwohl wir uns versprochen hatten, trotz unserer re-
ligiösen Differenzen Freunde zu bleiben. Aber eine Freund-
70
schaft zwischen einem Pfarrer und einer Agnostikerin wie
mir war einfach schwer zu erhalten.
Doch seit ich wieder zu Hause lebte, sahen wir uns ab
und zu. Manchmal sogar in der Kirche, ein Friedensangebot
meinerseits. Wir versuchten, unsere Differenzen außen vor
zu lassen und uns auf die gemeinsame Vergangenheit zu kon-
zentrieren. Es verband ungemein, dieselben Kindheitserin-
nerungen zu teilen. Und abgesehen von Carla war Martin der
einzige Mensch, den ich ohne Zögern einen wahren Freund
nennen würde. Es nagte dennoch an mir, dass ausgerech-
net der erste Junge, den ich je geküsst hatte, beschloss, sein
Leben Gott zu widmen. Ich hatte mir nie erklären können,
wie ein tief gläubiger Mensch wie Martin jemals Interesse
an jemandem wie mir haben konnte. Aber in der frühen Ju-
gend unterläuft uns allen die eine oder andere Entgleisung.
So wussten wir beide sofort, schon mit zwölf Jahren, nach
unserem ungeschickten ersten Kuss, dass wir beide nur zu
einem taugten, und das war Freundschaft.
Ich fragte mich, was Martin dazu sagen würde, wenn ich
ihm gegenüber andeuten würde, es gäbe Werwölfe und dass
ich mich zu einem von ihnen irgendwie hingezogen fühlte?
Ob er wohl den Scheiterhaufen betreten oder ob er die Män-
ner in Weiß verständigen würde?
Es würde jedenfalls sein ganzes Weltbild erschüttern.
Und auch wenn ich seinen Glauben nicht teilte, respektierte
ich ihn doch und könnte ihm niemals das wegnehmen, was
ihn ausmachte. Aber seine Sichtweise zu dem Thema inte-
ressierte mich brennend.
Ob auch Istvan an Gott glaubte? Unwahrscheinlich bei
dem, was er war. Andererseits könnte er Trost im Glauben
finden bei der Bürde, die er anscheinend tragen musste.
Schon komisch. Da trat ein Wolfsmann in mein Leben
und schon verfolgten mich philosophische Gedanken über
Glauben, Gott und Wahrheit.
Ich hatte gedacht, diese Fragen für mich schon seit Lan-
gem geklärt zu haben. Ich glaubte nicht an einen Gott, wie
71
ihn die Christen oder andere Religionsgruppen darstellten,
aber ich glaubte an eine philosophische Art von Gott, einen
Urgrund des Seins, an etwas, das größer war als ich selbst.
Ich hatte nie viel über Schicksal oder Bestimmung nachge-
dacht, ehe Istvan in mein Leben trat. Es kam mir unwahr-
scheinlich vor, dass es einen unumstößlichen Plan geben
sollte, in dem wir alle nur unseren Part erfüllen mussten.
Dazu kam mir das Leben zu chaotisch vor. Ich hatte viel eher
das Gefühl, dass alles sich immer veränderte, dass alles im
Fluss war und wir selbst mit jeder Entscheidung, sei sie auch
noch so gering, immer wieder unseren Weg vorzeichneten.
Würde ich davon noch überzeugt sein nach dem, was Ist-
van mir bald schon offenbaren würde?
Ich konnte kaum noch geradeaus denken. Meine Ge-
danken kreisten von A nach Z, zurück zu B und vorbei an F.
Ich verlor mich vollkommen in meinen philosophischen
Selbstbetrachtungen wie damals als Teenager, als mir alles
so unzusammenhängend und verwirrend vorgekommen war.
Irgendwie hatte die Bekanntschaft mit Istvan in mir eine
Unsicherheit ausgelöst, die mein ganzes Wesen betraf. Ich
konnte fühlen, dass ich dabei war, mich zu verändern. Ich
hatte nur noch keine Vorstellung, wie sehr.
Es war nun kurz vor halb fünf. Lange konnte es nicht mehr
dauern. Er hatte Abend gesagt und dabei keine genaue Uhr-
zeit genannt. Das machte es etwas schwierig. Ich hatte be-
reits meine Schuhe an und saß in der Küche bei einer heißen
Tasse Kaffee.
Heute Morgen hatte ich verzweifelt nach der passenden
Kleidung für den heutigen Abend gesucht. Es gab ja nicht den
geringsten Anhaltspunkt, nach dem ich mich richten konnte.
Worauf sollte ich achten? Er wollte mir etwas zeigen. Aber
fuhren wir irgendwo hin oder spazierten wir zu Fuß? Würde
es lange dauern? Brauchte ich spezielle Schuhe dazu? Ich
wünschte, ich hätte ihn deshalb gefragt und mich nicht wie-
der einmal von seiner Gegenwart einschüchtern lassen.
72
Nach langem Zögern entschied ich mich für eine graue
Skinny-Jeans, bequeme Boots, einen blauen Rollkragenpul-
lover und meine schwarze Lederjacke, die ich auf die Stuhl-
lehne in der Küche legte. So war sie leicht griffbereit. Handy
und Geld steckte ich in die Taschen der Lederjacke und
fragte mich, ob ich nicht noch mal ins Bad gehen sollte, um
mich besser herzurichten. Es schien mir eine gute Idee. Ich
öffnete meine Haare nochmals, nachdem ich ewig gebraucht
hatte, den Pferdeschwanz richtig zu stylen.
Mit schnellen Strichen bürstete ich meine Haare zum
hundertsten Mal und kam mir dabei extrem lächerlich vor.
Ich bereitete mich ja nicht auf eine Verabredung vor, son-
dern auf ein Interview der besonderen Art.
Es würde Istvan bestimmt völlig egal sein, dass ich es wie-
der mal nicht geschafft hatte, meiner blonden Mähne einen
Mittelscheitel zu verpassen, und die Haare, wie so oft, locker
nach hinten frisiert trug.
Ich gehörte eigentlich nicht zu den oberflächlichen
Frauen, die stundenlang im Bad an sich herumfeilten, bevor
sie dann wie aus dem Ei gepellt das Haus verließen. Doch
jetzt legte ich zum zweiten Mal den kirschroten Lippenstift
auf, der meine pfirsichfarbene Haut heller aussehen ließ.
Warum wollte ich für Istvan unbedingt gut aussehen?
Er hatte mich doch schon in übelster Verfassung gesehen.
Vom Regen zerzaust und mit tiefen Schatten um die Augen.
Wem wollte ich etwas vormachen und wieso?
Es war jetzt fünf. Die Uhr an meinem Handgelenk piepte
alle halbe Stunde und erinnerte mir so daran, wie spät es
war. In meinem Magen breitete sich ein flaues, aufgeregtes
Gefühl aus, das ich seit meinen Uni-Prüfungen nicht mehr
gehabt hatte. Das Gefühl, panische Angst vor dem Unge-
wissen zu haben, kam nun mit voller Wucht über mich. Wie
sollte ich mich nur heute ihm gegenüber verhalten und wie
sollte ich auf seine Erzählungen reagieren, ohne ihn zu ver-
schrecken oder mich selbst?
73
Ich stand mit diesem panischen Ausdruck in den Augen
noch immer vor dem Badezimmerspiegel und der Anblick
von neulich Nacht trat nun wieder auf mein Gesicht. Ich war
vollkommen in meinen Befürchtungen gefangen und zuckte
erschrocken zusammen, als ich das laute Klopfen hörte. Es
kam von der Terrassentür. Jemand stand vor der Glastür des
Wintergartens. Es musste Istvan sein.
Er war früh dran. Ich hatte erst weit nach fünf mit ihm
gerechnet. Ich hetzte vom Bad ins Wohnzimmer und betrat
den Wintergarten mit den vielen Pflanzen und der Rattan-
garnitur. Es war sehr hell und ich konnte schon von Weitem
seine dunkle Silhouette vor dem durchsichtigen Glas ausma-
chen. Der schlanke Körper, der lange Rücken mit den brei-
ten Schultern, ich erkannte ihn sofort. Es konnte nur Istvan
sein. Ich betrat den Wintergarten und merkte, wie er sich da-
raufhin sofort umdrehte und mir sein Gesicht zuwandte. Er
musste meine Schritte auf dem Parkett gehört haben. Sein
Hörvermögen war bestimmt außergewöhnlich. Er lächel-
te mir durch das Glas zu und ich konnte sehen, dass auch
er versuchte, einen leicht nervösen Ausdruck zu verbergen.
Wenig erfolgreich. Man konnte seine Anspannung, trotz sei-
nes warmen, einladenden Lächelns, deutlich wahrnehmen.
Ich öffnete die Tür und stand, wie so oft, zu dicht vor ihm.
Ich war etwa zehn oder zwölf Zentimeter kleiner als er und
musste hochsehen, um ihn zu begrüßen. Dabei bemerkte
ich zum ersten Mal die schöne Form seines Unterkieferkno-
chens. Eine V-Form am Ende eines schlanken Halses mit
vielen dichten, sandfarbenen Stoppeln. Mein Blick heftete
sich auf seinen Mund, der etwas angespannt wirkte. Und
wieder strömte von ihm dieser Honig-Wald-Geruch aus. Jetzt
nur nicht einatmen!
„Hi! Ich hatte noch nicht mit dir gerechnet. Abends heißt
bei mir eigentlich erst ab fünf“, begrüßte ich ihn und ver-
suchte dabei, ein wenig zurückzuweichen.
„Hi! Ich musste schon jetzt kommen. Wenn es dunkel ist,
kann ich es dir nicht mehr zeigen. Wir müssen uns beeilen“,
74
erklärte er mir und sah dabei auf mich herunter, ständig mei-
ne Augen fixierend.
„Jetzt bin ich aber neugierig. Wo geht es eigentlich hin?
Brauche ich irgendetwas Bestimmtes dazu?“, fragte ich mit
nervöser Stimme.
Er taxierte meinen Blick noch immer, was meine Unsi-
cherheit ins Unermessliche steigerte. Dann ließen seine grü-
nen Augen endlich von meinen ab und streiften über meine
Kleidung.
„Nein. Das wird gehen. Die Schuhe sehen recht robust
aus. Hast du noch eine Jacke? Es könnte länger dauern und
ich möchte nicht, dass dir kalt wird.“
„Dann hole ich schnell meine Jacke. Warte hier!“, forder-
te ich ihn auf. Er ging zurück auf die Terrasse, um dort auf
mich zu warten. Er selbst trug nur ein weißes Hemd, ohne
etwas darunter.
Diesmal ging ich langsam und mit vorsichtigen Schritten
in die Küche zurück und schnappte mir die zurechtgeleg-
te Lederjacke. Auf meinem Rückweg schloss ich noch das
Haus ab und steckte den Schlüssel in meine Jeanstasche.
Wieder im Wohnzimmer angelangt, tat ich den ersten
Schritt auf das Parkett und versuchte diesmal, besonders lei-
se zu sein. Es war zwecklos. Schon als meine Schuhspitze
auf die erste Diele trat, bemerkte ich eine rasche Seitwärts-
drehung seines Kopfes. Er hatte es gehört. Wie eine Katze,
die sofort bereit war davonzulaufen, wenn sie ein verdäch-
tiges Geräusch in der Ferne vernahm.
Wieder drehte er sich zu mir um. Ich ging hinaus zu ihm
auf die Terrasse und zog dabei die Glastür hinter mir fest
zu, damit sie sich von selbst verschloss. Die Jacke nahm ich
von meinem Unterarm und war gerade dabei, sie mir überzu-
streifen, als ich bemerkte, dass er an mich herangetreten war,
um meine Haare hochzuhalten, damit sie mir beim Anziehen
nicht im Weg waren. Mein Haar zwischen seinen Händen.
Ein überwältigender Gedanke.
„Danke“, sagte ich mit schwacher, aufgewühlter Stimme.
75
„Gern geschehen“, antwortete er höflich und ließ meine
Haare sanft über meinen Rücken fallen. Mir fiel auf, dass
dabei sein Blick etwas zu lange auf meinen Haarspitzen ver-
weilte, was meine Aufregung noch weiter steigerte.
Wieder einmal breitete dieses unangenehme Schweigen
zwischen uns aus, ausgelöst von einem unbedachten Blick
oder einer impulsiven Geste. So kam es, dass wir schweigend
durch meinen Garten gingen und dabei stur auf den Boden
sahen, als wären wir rein zufällig auf demselben Weg und
nicht, als hätten wir uns zu einer ganz besonderen Ausspra-
che verabredet.
Ich durchbrach diese Schweigsamkeit zwischen uns mit
einer Frage, die mir relativ harmlos schien.
„Werden wir dorthin fahren? Wir könnten mein Auto neh-
men“, schlug ich Istvan vor.
„Ja, wir fahren dorthin. Aber dein Auto wird uns dort
nicht hinbringen. Eigentlich fahre ich ja nicht viel. Ich laufe
eher. Nicht dass ich etwas gegen deine Fahrkünste habe,
doch ich ziehe meinen Wagen vor!“, meinte er und hatte
dabei einen Unterton in der Samtstimme, der schwer ein-
zuordnen war.
Doch als ich den schwarzen Camaro am Ende der Straße
sah, wusste ich genau, was seine Andeutung mir sagen woll-
te. Auf meiner staubigen Straße stand ein kohlenschwarzer,
glänzender Camaro, wie ich ihn aus den Filmen kannte, die
mein Bruder ständig anschleppte. Ein umwerfender Anblick,
wie ich zugeben musste.
„Ein Chevrolet Camaro 1969. Mein absolutes Lieblings-
modell. Das einzige Auto, das ich je unbedingt haben musste.
Das einzige Auto, das ich gerne fahre“, verkündete er stolz.
„Eines ist klar. Mein Bruder würde ausflippen, könnte er
deinen Camaro sehen“, stieß ich erstaunt über das Sammler-
modell hervor.
Ich konnte ihn gut verstehen. Das Auto war einfach atem-
beraubend. Ein breiter, silberner Kühlergrill und auf Hoch-
glanz polierter Lack stachen einem sofort ins Auge. Auffällig
76
waren auch die getönten Scheiben. Wie konnte man nur so
einen coolen Wagen fahren und dann so gut wie keine Rock-
Alben in seiner Sammlung haben? Unbegreiflich. Istvan war
offenbar ein Mann voller Widersprüche. Eines war jedenfalls
klar, mein VW Jetta hatte seinen Meister gefunden und ich
war heilfroh, dass ich ihn in der Garage geparkt hatte und er
sich nicht mehr in der Einfahrt befand.
Wir standen vor der rechten Wagenseite und er öffnete
mir die Tür. Ich stieg etwas linkisch ein und zog meinen Fuß
vom Trittbrett, damit er die Wagentür schließen konnte. Ich
war neidisch auf seinen tollen Camaro, der von innen genau-
so umwerfend aussah wie von außen.
Es war mir sofort bewusst, dass er auf seinem Wagen für
unseren „Ausflug“ bestand, weil die dunklen, getönten Schei-
ben neugierigen Blicken von außen keine Chance gaben. Es
galt schließlich, unauffällig zu bleiben. Schwierige Heraus-
forderung für einen glänzenden, amerikanischen Klassiker
mitten auf den südburgenländischen Landstraßen.
Er umrundete den Camaro und stieg ebenfalls ein. Wir
saßen nun wieder einmal zusammen in einem Wagen. Dies-
mal jedoch waren wir beide bekleidet und keiner hatte le-
bensgefährliche Verletzungen aufzuweisen.
Er startete das Auto und ein lautes, brummendes Motor-
geräusch war zu hören und zu fühlen.
„Wie kannst du dir eigentlich so ein Sammlerstück leis-
ten? Ich bin zwar kein Autokenner, aber ein Camaro aus den
späten 60ern dürfte alles andere als billig sein“, fragte ich
ihn erstaunt.
„Als ich ihn damals gekauft habe, war er eigentlich recht
günstig“, warf er knapp ein und in seinem Ton konnte man
keinerlei Anzeichen eines Zögerns hören wie sonst.
„Damals? Von welchem Damals reden wir hier eigentlich.
Wann hast du den Camaro gekauft?“, bohrte ich weiter, dies-
mal völlig perplex.
„Das ist eines der Dinge, die ich dir noch erklären muss.
Aber später. Ich möchte, dass du es verstehst und nicht nur
77
die Fakten kennst“, stellte er kryptisch fest und blickte ge-
heimnisvoll auf die Straße.
Während der ganzen Fahrt redeten wir kaum ein Wort. Es
war geradezu unerträglich still. Ich hatte das Gefühl, als wür-
de er auf dem Hinweg noch immer alle Gedanken und Ant-
worten, die er mir bald geben wollte, im Kopf durch gehen.
Seine innere Anspannung schien fast greifbar, weshalb ich
auch versuchte, auf der ganzen Fahrt nicht zu sprechen oder
ihn anzublicken. Deshalb wandte ich meine Aufmerksam-
keit dem Ausblick zu. Wir fuhren schnell, aber vorsichtig
von meiner abgelegenen Straße zur Hauptstraße von St. Ho-
das, die direkt nach Rohnitz führte. Wollte er mir etwas in
Rohnitz zeigen? Brachte er mich zum Unfallort? Nein. Ohne
auch nur einmal zu zögern, fuhr er an der Stelle unseres
nächtlichen Zusammenstoßes vorbei und der Camaro eilte,
vom kraftvollen Motorbrummen begleitet, nach Rohnitz. Die
dichte Reihe der Akazienbäume am Ende der Strecke nach
Rohnitz zog an mir als grüner Endlosstreifen vorbei. Er sah
stur auf die Straße und umklammerte dabei das Lenkrad. Er
schien innerlich sehr aufgebracht und versuchte verzweifelt,
einen ruhigen Eindruck zu erwecken. Der Versuch war zum
Scheitern verurteilt. Schon die schwache Reflexion seiner
Augen in den Fensterscheiben verriet seine Besorgnis. Das
alles ließ mich verstummen. Vom Rohnitzer Hauptplatz gin-
gen drei Wege aus. Er nahm den nach Norden in Richtung
des Geschriebensteines. Wollte Istvan mir etwas im Günser
Gebirge zeigen oder wollte er mich in einen der zahlreichen
Wälder bringen? Ich musste ihn jetzt fragen und versuchte,
meine Stimme dabei so sanft wie möglich klingen zu lassen.
„Fahren wir in den Wald?“
„Nicht ganz. Ich weiß nicht, wie gut du die Nordseite
kennst, aber ich möchte dir dort etwas zeigen“, sagte er und
blieb weiter unbestimmt und geheimnisvoll. Wir ließen die
Spitze des Geschriebensteines hinter uns und fuhren nun
abwärts Richtung Lockenburg. Auf dieser Seite kannte ich
mich weniger aus als auf den Südhängen. Dennoch war sie
78
mir vertraut. Immerhin war ich diese Strecke jede Woche
gefahren, die ganzen vier Jahre meines Studiums lang. Es
war die weniger gefährliche Seite, was den kurvigen Straßen-
verlauf anging. Es gab hier einige Wanderwege und ein paar
Aussichtsplattformen wie die zur Burg.
Nach ein paar weiteren Kurven waren wir an einer Ab-
biegung angelangt. Ich erkannte sie nicht gleich. Wir fuhren
offenbar zum Besucherparkplatz des Aussichtsturms „Marga-
rethe“. Was wollte er mir auf der Aussichtswarte bloß zeigen,
was mir half, ihn und seine Besonderheiten zu verstehen?
Er parkte bei der ersten Gelegenheit und stieg so schnell
aus, dass ich ihn nicht mehr ansprechen konnte. Ich hatte
noch nicht mal meinen Kopf umgedreht, da öffnete er mir
bereits die Beifahrertür und wartete, bis ich ausgestiegen
war. Ich stieg aus und lehnte auf dem Fensterrahmen der
Beifahrertür. Ich beugte mich weit über den Metallrahmen
und blickte ihm direkt ins Gesicht. Mit flüsterndem Ton
fragte ich ihn:
„Was wollen wir denn hier? Was ist so besonders an die-
ser Aussichtswarte?“
Weshalb ich flüsterte, konnte ich mir nicht erklären.
Schließlich war niemand hier außer uns. Es war September
und deshalb nicht ungewöhnlich, dass fast keine Menschen
mehr auf den Wanderwegen unterwegs waren oder die Aus-
sichtsplattformen besuchten. Die Hauptsaison für Touristen
war bereits vorüber. Wir würden bestimmt nicht gestört wer-
den. Bei was auch immer.
„Ich möchte dir ein paar Dinge zeigen, die du vielleicht
schon kennst. Aber wenn du sie mit meinen Augen siehst,
werden sie eine andere Bedeutung bekommen“, erklärte er
mir kurz und seine Stimme hatte dabei einen klaren Klang.
Ich schloss die Wagentür und folgte ihm auf dem Kies-
parkplatz zum Anfang des kurzen Waldweges, der zum Mar-
garethenturm führte. Er ging vor und ich drehte mich nach
dem Auto auf dem verlassenen Parkplatz um, das so gar nicht
auf den grauen Kies passte.
79
„Kommst du?“, ermahnte er mich und bemerkte mein Zö-
gern.
„Ja. Ich komme“, versicherte ich ihm und ging ihm nach.
Istvan stand am Anfang des Waldpfades, der von einem
Baldachin aus Birken und Buchen überdacht war. Von all die-
sen Farben des Waldes umgeben, stach das Grün seiner Au-
gen noch mehr hervor. Als ich kurz hinter ihm stand, wandte
er sich zum Trampelpfad um. Ich war erleichtert, nicht mehr
in diese hypnotischen Smaragd-Augen blicken zu müssen.
Der feuchte Waldgeruch und die Geräusche der Vögel wirk-
ten schon genug auf mich und machten mich schwindelig.
Da konnte ich nicht auch noch gegen die magnetische An-
ziehungskraft seines Blickes angehen. Das ganze kurze Stück
des Fußweges gingen wir mit gesenktem Blick zum Vorplatz
des Turms. Drei Bänke umrahmten den riesigen Holzturm
von allen Seiten und zeigten deutliche Spuren der Witte-
rung. Es war ein lauer Septemberabend, sehr hell und warm.
Deshalb hatte Istvan auf heute gewartet. Der Wetterbericht
hatte geringe Bewölkung und angenehm warme Temperatu-
ren versprochen. Perfekte Bedingungen für einen Rundum-
blick, den er mir offenbar zeigen wollte.
„Wollen wir?“, fragte er herausfordernd und trat mit einem
Fuß auf die kleine, hölzerne Vortreppe. Mein Blick schweifte
vom Fundament hinauf zur 31 m hoch gelegenen Plattform.
Es kam mir nun viel höher vor als in meiner Erinnerung.
„Ich gehe, wenn du gehst!“, antwortete ich auf seine He-
rausforderung und nahm sie damit an.
Zusammen erstiegen wir die insgesamt acht Treppen der
Margarethenwarte, wobei ich schon nach dem vierten Trep-
penabsatz schwer atmete. Istvan dagegen machte den Ein-
druck, einen vergnüglichen Spaziergang zu unternehmen. Er
stieg absichtlich langsamer hinauf, um an meiner Seite blei-
ben zu können. Ab und an begegneten sich unsere Blicke,
wobei jeder von uns diesen Kontakt sofort unterbrach und
schnell wieder wegsah. Schneller als ich dachte hatten wir
den Aufstieg geschafft und standen auf der rechten Seite der
80
Aussichtsplattform. Vor mir erhoben sich auf einer Seehöhe
von über 500 Metern die reich bewaldeten Hügel des Gün-
ser Gebirges in den verschiedensten Braun und Grüntönen.
Ich blickte tief in die Waldgebiete der ungarischen Seite,
die nur vom blauen Horizont begrenzt wurden. Der Anblick
war atemberaubend. Ich starrte gebannt auf die Landschaft,
während Istvan, direkt neben mir auf die Brüstung gelehnt,
ebenso konzentriert auf mich blickte. Nach dem ersten Er-
staunen über den wunderschönen Ausblick bemerkte ich
sein Starren und riss mich von der Landschaft los.
„Es ist wunderschön hier. Ich kann gar nicht glauben,
dass ich bisher noch nie hier oben gewesen bin.“
„Es ist doch oft so, dass die schönsten Dinge im Leben
immer direkt vor uns liegen und wir sie nicht sehen, weil wir
nicht genau genug hinsehen. Aber ich habe dich nicht wegen
des schönen Ausblicks hierhergebracht“, stellte er klar.
Ich hörte ihm aufmerksam zu. Wir beide lehnten nun auf
der Holzbrüstung und sahen uns von der Seite an. Es war
etwas kühler hier oben und der Wind wehte ständig, weshalb
meine Haare im Wind tanzten.
„Was wolltest du mir dann zeigen?“, fragte ich ihn und ver-
suchte dabei, meine Haarsträhnen unter Kontrolle zu halten.
„Du hast die Hügel der ungarischen Seite gesehen. Nun
sieh dir die andere Seite noch an“, schlug er mir als Antwort
vor.
Wir gingen zur gegenüberliegenden Seite. Von da aus konn-
te man Lockenburg sehen und dahinter bereits die Hügel der
Buckligen Welt. Ganz weit entfernt am Horizont meinte man
bereits die Rax und den Schneeberg zu erahnen.
„Man kann sehr weit sehen. Hätte ich nicht gedacht.
Aber ich verstehe immer noch nicht, was du …“ Er unter-
brach meinen leicht frustrierten Einwand.
„Was ich dir damit zeigen will, ist, dass das alles, alles was
du siehst und alles, was du auf der anderen Seite des Gebir-
ges kennst, zu meinem Stammrevier gehört. Als Wolf ist das
hier mein Territorium.“
81
Er untermauerte seine Ausführung, indem sein Arm über
den ganzen Horizont fuhr.
„Aber zusammen mit der Südseite müsste das ja, keine
Ahnung, einen Radius von 10 oder 12 Kilometern abdecken“,
stellte ich erstaunt fest.
„Und das ist nur das Territorium, das ich markiere. Es
ist, selbst für einen einzelnen Wolf, ein kleines Revier. Ich
habe die Größe danach gewählt, wie viel ich in einer Nacht
zurücklegen kann und dabei noch rechtzeitig zu meinem Ba-
sislager zurückkomme, ehe der Morgen anbricht.“
Er hatte recht damit, dass ich beginnen würde, die Dinge
anders wahrzunehmen. Schien es mir eine schier unüber-
windliche Distanz zu sein, war es für ihn eher ein Katzen-
sprung. Die Dinge bekamen langsam deutlichere Konturen.
„Das ist unglaublich. Du musst sehr schnell sein. Wie
groß wäre dann erst das Revier eines ganzen Rudels?“
„Das kann bis zu 300 Kilometern ausmachen. Je nach
Rudelgröße“, erklärte er ganz sachlich, als wäre es gar nichts
Ungewöhnliches.
„Das machst du also in den Vollmondnächten. Du durch-
streifst als Wolf die Wälder des Günser Gebirges?“
„Ja, im Grunde schon. Ich versuche, nicht zu jagen und mei-
ne animalischen Instinkte so gut ich kann im Zaum zu halten.“
„Jagen, oh. Du erlegst also Beute, wenn du ein Werwolf
bist?“, fragte ich und bereute es sofort. Die Vorstellung jagte
mir Schauer über den Rücken.
„Ich versuche, es nicht zu tun. Aber es ist schwer, sei-
nen Trieben nicht nachzugehen, wenn man in der Wolfshaut
steckt. Es ist allerdings ein Vorteil, dass die Tiere spüren,
dass ich kein gewöhnlicher Wolf bin, und sich meistens von
mir fernhalten. Ein angeborener Schutzmechanismus, der
mir sehr gelegen kommt. Doch ab und an begegne ich einem
Hasen oder etwas anderem und jage ihn. Gegen diesen Im-
puls komme ich nicht an. Ich habe es versucht!“
Der angestrengte, traurige Ausdruck auf seinem Gesicht
verriet mir, dass er die Wahrheit sagte und dass er es hasste,
82
dass ihn seine animalische Seite zwang, diese Dinge zu tun.
Ich wollte ihn sofort in den Arm nehmen, ließ es aber doch.
„Das alles tut mir so leid für dich.“
„Du bist gar nicht angeekelt oder böse deswegen?“, fragte
er verdutzt.
„Du hast er mir doch erklärt. Es ist reiner Instinkt. Dafür
kann ich dir nicht böse sein. Du kannst nicht mehr tun, als
dagegen anzugehen, und ich kann dir ansehen, wie sehr du
es versuchst“, erklärte ich ihm und legte ihm meine Hand
auf den Unterarm. Als Zeichen meines Verständnisses für
seine Zwangslage. Ich wollte ihn von seiner Selbstzermür-
bung abbringen und stellte schnell noch weitere Fragen.
„Wie stellst du es eigentlich an, nach einer Vollmond-
nacht unbemerkt nach Hause zu kommen? Ich meine, wie
machst du das mit deiner Kleidung?“
„Ach das. Ich habe zwei verschiedene Basislager einge-
richtet. Eines für die Nordseite, nahe dem Geschrieben-
stein. Es liegt in einem Waldstück, das sich ‚Wolftanz‘ nennt.
Das andere Lager ist näher an St. Hodas, für den Südhang
gedacht. Es ist im Wald beim St. Hodas’er Steinbruch. Etwa
einen Kilometer von deinem Haus entfernt.“
„Ja, ich weiß, wo das ist“, wandte ich erschrocken ein.
„Dachte ich mir. Ich deponiere Kleidung, Wasser und
Zelte bei jedem Lager, versteckt in einer Kiste, die ich in den
Boden eingegraben habe.“
Er sprach nun, mit dem Blick weit in die Ferne schweifend,
als wäre er kilometerweit weg und nicht dicht neben mir.
Plötzlich ging mir ein Licht auf. Er hatte damals gleich
gewusst, wo mein Haus war. Ich wollte es genau wissen.
„Wusstest du deshalb, wo mein Haus ist, weil du es von
deinem Lager aus schon kanntest?“
„Ja, ich laufe dort auf meinen Patrouillen oft vorbei“, ge-
stand er etwas eingeschüchtert.
„Moment mal, wenn du erst seit ein paar Wochen hier
lebst, wieso kennst du dich hier so gut aus? Wann hast du
den verdammten Camaro nun gekauft?“
83
Meine Fragen brachen in einem Anfall von begreifender
Panik aus mir heraus und wühlten mich so auf, dass ich das
Gefühl bekam, keine Luft mehr zu kriegen. Er war wieder
einmal von meiner Seite gewichen und drängte sich in die
Ecke der Holzbrüstung, damit der Schatten seinen Gesichts-
ausdruck verdeckte. Was jetzt kam, wollte er mir nicht ge-
stehen, aber er tat es dennoch.
„Den 69er Camaro habe ich genau dann gekauft. 1969.
Ich kenne mich hier so gut aus, weil ich hier geboren wurde.“
Seine Stimme klang hohl, leise und gebrochen.
„1969? Dann bist du nicht 25? Oh mein Gott. Wann wur-
dest du hier geboren?“, fragte ich ihn und trat ganz nahe an
ihn heran, sodass ich, auch vom Schatten eingehüllt, wieder
sein Gesicht sehen konnte.
„Ich wurde 1920 geboren. Kurz bevor das Burgenland
entstand. Meine Mutter lebte mit ihrer Familie in St. Ho-
das, war aber ungarischer Abstammung, daher mein unga-
rischer Vorname. Man könnte sagen, dass ich nach langer
Zeit nach Hause zurückgekehrt bin“, bemerkte er mit einem
leicht schiefen Lächeln, wobei seine Augen keine Anzeichen
eines Lächelns zeigten.
„Das bedeutet, du bist fast 90 Jahre alt. Genau so alt wäre
meine Großmutter jetzt. Wahrscheinlich hast du sie sogar
gekannt. Unfassbar!“
Ich ließ mich jetzt gegen die Brüstung fallen. Mir war, als
könnte ich jeden Moment aus den Latschen kippen. Jetzt
nur nicht den Mut verlieren.
„Ja. Ich kannte Helene tatsächlich. Du hast ihren Mund,
wenn ich mich recht erinnere“, sagte er und verschreckte
mich damit noch viel mehr.
„Ich verstehe das nicht. Ich meine, was hat das Werwolf-
sein mit dem Altern zu tun? Bist du gar unsterblich?“ Ich
war nun vollends verwirrt und bedurfte einiger Klarstellun-
gen durch Istvan.
„Nein, ich werde sterben, irgendwann. Ich altere auch.
Nur ist unser Alterungsprozess viel langsamer als der von
84
normalen Menschen. Wir benötigen etwa sieben oder acht
Jahre, um ein Menschenjahr zu altern. Ich wurde mit 15
gebissen und bin seither in den vergangenen 75 Jahren um
10 Menschenjahre gealtert.“
Er sprach darüber in einer klaren, fast unpersönlichen
Art, als würde er mir die literarischen Vor- und Nachteile
eines bestimmten Werkes erklären und nicht die Eckpfeiler
seiner Werwolfexistenz. Ich konnte nur vermuten, dass es
ihm so leichter fiel, mir diese Dinge zu offenbaren.
„Eines muss man dir lassen. Du hast dich wirklich gut
gehalten. Vor allem wenn man bedenkt, dass die meisten
Menschen, die mit dir aufgewachsen sind, bereits tot sind!“
Wieder einmal hatte meine angespannte Nervosität zu einem
unangebrachten Witz geführt.
Er ignorierte meine Bemerkung und gestand mir ein
dunkles Geheimnis.
„Ich hatte mir oft gewünscht, mit ihnen tauschen zu kön-
nen. Sehr oft sogar! Ein paar Mal hatte ich sogar daran ge-
dacht, es nicht länger dem Zufall zu überlassen und es selbst
in die Hand zu nehmen. Doch mein Glaube war zu stark,
um …“ Seine Stimme klang mir zu ernst und entschlossen,
als er das sagte. Er jagte mir mit diesem Geständnis mehr
Angst und Unbehagen ein als mit allem anderen, was er heu-
te bereits erzählt hatte.
„Sag doch so was nicht! Daran darfst du nicht einmal
denken. Du kannst doch nichts für deine Bürde. Ich versteh
nicht viel von Glaubensdingen, aber das wäre wirklich eine
Sünde. Versprich mir, dass du so was Dummes bloß nicht
versuchst!“, forderte ich streng und packte ihn fest am Ober-
arm. Ich glaube, ich schüttelte ihn sogar ein wenig.
„Du musst dir keine Sorgen machen, Joe. Ich will mir
nichts antun. Nicht mehr. Ich habe dieses dunkle Kapitel
meines Lebens überwunden und seit Kurzem habe ich das
Gefühl, dass es nicht mehr über mich kommen wird, dank
dir.“ Sein grüner Blick durchbohrte mich.
85
Mit so einem Kompliment hatte ich nicht gerechnet. Ich
hatte auch nicht das Gefühl, es zu verdienen, und seine An-
deutung trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.
„Ich verdiene das nicht. Ich habe dich angefahren und
dann so getan, als würde ich dich erpressen. Ich habe dich
gegen deinen Willen dazu gebracht, dein Geheimnis zu of-
fenbaren, wie sollte ich da …“
„Verstehst du das denn wirklich nicht? Dank dir habe ich
zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit einen Menschen,
dem ich mich anvertrauen kann, der mein Geheimnis kennt
und nicht vor mir davongelaufen ist. Einen Menschen, der
mir das Gefühl gibt, kein abnormer Freak zu sein, sondern
ein ganz normaler Mann, der ein Freund sein kann. Das alles
hast du für mich getan.“
Jedes seiner Worte traf mich wie ein heißer Blitz, mitten
in mein Herz. Er brauchte mich und ich wollte eine Vertraute
für ihn sein. Ich konnte auf seine Enthüllung keine passenden
Worte finden, ich war viel zu fassungslos dazu. Ich sah in die
Ferne und versuchte meine Fassung wiederzufinden. Der Wind
wehte mit einer solchen Wucht in mein Gesicht, dass meine
Haarsträhnen wie wilde Flammen um meinen Kopf tanzten.
Plötzlich fasste seine rechte Hand in mein haariges Flammen-
meer und meine Strähnen verfingen sich in seinen Fingern.
„Wenn du nur verstehen könntest, was du für mich bist“,
sagte er dabei. Ich versuchte, meinen rasenden Herzschlag
zu ignorieren und den Gedanken an seine schönen Hän-
de, die mein Haar liebkosten, zu verdrängen, um ihn etwas
Wichtiges wissen zu lassen.
„Brauchst du einen Freund? Der kann ich sein. Möch-
test du eine Vertraute? Ich bin immer für dich da. Möchtest
du jemanden in deinem Leben, der dir zuhört, ohne dich zu
verurteilen? Ich kann gut zuhören. Du suchst einen wahren
Freund? Du hast ihn, wenn du es willst. Ich kann all das für
dich sein, wenn du es zulässt.“
Mein Angebot wurde von einem leichten Kopfneigen be-
gleitet, das mir erlaubte, Istvans Finger auf meiner Wange
86
zu fühlen, die immer noch mit meinen Haaren verbunden
waren.
Was ich sagte und was ich anbot, meinte ich ehrlich. Auch
wenn es nur die abgeschwächte Version dessen war, was ich
ihm eigentlich zögerlich gestehen wollte. Dass ich auf Freund-
schaft nur hoffte, um in seiner Nähe bleiben zu können. Dass
ich ihm eigentlich mehr anbieten wollte als das, es aber jenseits
alles Möglichen lag. Ich erkannte mich selbst nicht mehr.
Istvan streifte ganz leicht meine Wange und schien über
mein Angebot angestrengt nachzudenken.
Er löste sich von mir und ließ sich auf den Holzboden sin-
ken. Ich tat es ihm nach und rutsche an seine Seite. So sa-
ßen wir Schulter an Schulter und ich wartete verzweifelt auf
seine Antwort. Als sie kam, war ich überwältigt von seiner
rauen, sanften Stimme, die von den Holzdielen widerhallte.
„Wie könnte ich dieses Angebot nicht annehmen! Das ist
mehr, als ich mir je erhofft habe. Mehr, als ich verdiene. Wir
könnten nur heimlich Freunde sein. Wir dürften uns öffent-
lich nur in der Bibliothek sehen. Wir müssten uns nachts
treffen und dabei immer aufpassen, dass uns niemand sieht.
Willst du das wirklich? “, fragte er mich unsicher.
„Ja. Ich möchte dein Freund sein. Die Heimlichtuerei
macht mir nichts aus. Wir werden schon einen Weg finden,
uns zu sehen“, versicherte ich ihm mehrmals und war er-
staunt darüber, dass das Wort „wir“, das er jetzt ständig ver-
wendete, mir ein warmes, vertrautes Gefühl gab.
„Eines muss ich aber noch wissen, dann lasse ich es für
heute gut sein mit den Fragen, okay?“
Istvan nickte gespannt.
„Wieso hast du mir so oft versichert, dass der Unfall nicht
meine Schuld war? Du hast sogar den Eindruck erweckt, als
würdest du dir die Schuld geben. Das verstehe ich einfach
nicht.“
Er schien sich vor der Antwort drücken zu wollen. Aber
im Sinne unserer zarten Freundschaft gab er mir doch wider-
willig eine Erklärung.
87
„Na gut. In dieser Nacht, da war ich auf meinen üblichen
Streifwegen unterwegs. Einer davon verläuft parallel zur
Straße, auf der dein Wagen fuhr. Ich konnte hören, dass du
in dem Auto gesessen hast. Dein Herzschlag war ganz leise,
aber deutlich. Es war mir gerade erst ein Reh begegnet und
ich hatte Angst, es könnte über die Straße wechseln, also lief
ich parallel zu deinem Wagen, um, wenn nötig, eingreifen zu
können. Da hörte ich schon das Schlingern deines Autos. Ich
hatte Panik und dachte nicht richtig nach. Der Sprung miss-
lang mir, und da dein Wagen ausgebrochen war, landete ich
anstatt neben deinem Wagen direkt davor. Den Rest kennst
du. Du siehst also, es war nicht deine Schuld.“
Ich hätte nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen,
dass er einen Anteil an dem Unfall gehabt haben könnte.
„Aber wie konntest du meinen Herzschlag erkennen, du
hast ihn doch erst einmal gehört?“
„Ein Herzschlag ist wie eine Signatur. Keiner gleicht dem
anderen. Und deinen Rhythmus würde ich unter Tausenden
wiedererkennen. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass
ausgerechnet dir etwas passiert.“
Diese Erklärung war eine weitere Zerreißprobe für unser
Freundschaftsabkommen. Denn hätten wir uns nicht vor ein
paar Minuten versichert, Freunde bleiben zu wollen, hätte
ich versucht ihn zu küssen. Ich schätzte, gegen diesen Im-
puls würde ich noch öfter ankämpfen müssen.
Es war jetzt schon fast dunkel und die Temperatur war deut-
lich gesunken. Ich fror leicht, trotz Jacke, während Istvan
keinerlei Notiz von der beginnenden Nachtkälte nahm. Doch
mein Bibbern bemerkte er sofort. Er rückte noch dichter an
mich und legte seinen Arm um mich.
„Ich darf dich doch wärmen? Das ist doch o. k.?“, fragt er
zögerlich und höflich.
„Mehr als nur o. k.“, verkündete ich und sah ganz kurz zu
ihm hoch. Sein sanfter Blick ließ mich noch weiter an seinen
Körper rücken. So saßen wir lange und lauschten den Ge-
88
räuschen des Waldes. Ich hatte mich noch nie so geborgen
gefühlt.
Wir sprachen kein Wort. Auch auf der Heimfahrt blieben
wir sehr ruhig, und als er mich zu Hause absetzte, bot er mir
an, bald in der Bibliothek vorbeizuschauen, was ich natürlich
gern annahm.
In dieser Nacht schlief ich tief und fest. Es war ein traum-
loser, erholsamer Schlaf, bei dem ich immer mal wieder das
Gefühl hatte, noch auf dem Turm zu sein, seine Arme um
mich gelegt, um friedlich die Stille zwischen uns zu genie-
ßen.
Beim Aufwachen bewahrte ich mir dieses Gefühl immer
noch und es begleitete mich den ganzen Tag.
89